„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“1 Schon durch Kant wird hiermit an jede Politik der Maßstab der Gerechtigkeit gelegt. Nicht ohne Grund verlangen die Bürger der modernen Demokratien, dass Politik Gerechtigkeit herstellt. Besonders das Verlangen nach der viel beschworenen „sozialen Gerechtigkeit“2 legitimiert erst die Form der modernen Wohlfahrtsstaaten; insbesondere zentral-europäischer Prägung wie der Bundesrepublik Deutschland. In der Gesundheitspolitik bricht sich seit den Kostendämpfungsversuchen der Politik – egal welcher politischen Couleur die Bundesregierung angehört(e) – in der Bevölkerung die Empfindung eines Defizits an sozialer Gerechtigkeit bahn. Dabei hat jeder einzelne andere Vorstellungen von diesem Begriff, weshalb eine Politik3, die sich selbst als sozial gerecht versteht und bezeichnet, von den Menschen zunehmend als unglaubwürdig wahrgenommen wird. Einer daraus resultierenden Politikverdrossenheit wird nicht zuletzt durch schlechte Kommunikation und Selbsterklärung der Politik Vorschub geleistet. Deshalb werden in dieser Arbeit mehrere unterschiedliche Paradigmen sozialer Gerechtigkeit vorgestellt und erläutert. Mit einer Gegenüberstellung von exemplarischen Miss-Ständen im Gesundheitswesen – sowohl auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite – werden dann die hier vorgestellten Gerechtigkeits-Paradigmen punktuell auf ihre Anwendbarkeit überprüft. Somit soll gezeigt werden, wo tatsächlich soziale Gerechtigkeit verletzt wird und mehr Gerechtigkeit möglich ist. Gleichzeitig wird damit eine politische Handlungsanweisung für eine sozial gerechte Gesundheitspolitik in ihren Grundzügen skizziert. Ziel ist es dabei die tatsächlichen Handlungsspielräume der Politik zur Schaffung und Ausweitung von sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen deutlich zu machen. 1 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61, Ziffer 437. 2 Hier stellt sich die Frage nach ihrer konkreten Definition. 3 Hier die polity-Dimension des Politischen.
Inhaltsverzeichnis
1. Das ‚gefühlte Gerechtigkeitsdefizit’. Fragestellung und Vorgehensweise
2. Paradigmen sozialer Gerechtigkeit
3. Das deutsche Gesundheitswesen im Blickwinkel der Paradigmen sozialer Gerechtigkeit
3.1 Moral-Hazard-Phänomen und Freifahrtsmentalität
3.2 Arzneimittelkosten und Ärztevergütung
4. Handlungsspielräume der Gesundheitspolitik für mehr Gerechtigkeit
4.1 Ausschöpfung der Effizienzreserven
4.2 Notwendige Eigenverantwortung der Patienten
5. Literaturverzeichnis
1. Das ‚gefühlte Gerechtigkeitsdefizit’. Fragestellung und Vorgehensweise
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“[1]
Schon durch Kant wird hiermit an jede Politik der Maßstab der Gerechtigkeit gelegt. Nicht ohne Grund verlangen die Bürger der modernen Demokratien, dass Politik Gerechtigkeit herstellt. Besonders das Verlangen nach der viel beschworenen „sozialen Gerechtigkeit“[2] legitimiert erst die Form der modernen Wohlfahrtsstaaten; insbesondere zentral-europäischer Prägung wie der Bundesrepublik Deutschland.
In der Gesundheitspolitik bricht sich seit den Kostendämpfungsversuchen der Politik – egal welcher politischen Couleur die Bundesregierung angehört(e) – in der Bevölkerung die Empfindung eines Defizits an sozialer Gerechtigkeit bahn. Dabei hat jeder einzelne andere Vorstellungen von diesem Begriff, weshalb eine Politik[3], die sich selbst als sozial gerecht versteht und bezeichnet, von den Menschen zunehmend als unglaubwürdig wahrgenommen wird. Einer daraus resultierenden Politikverdrossenheit wird nicht zuletzt durch schlechte Kommunikation und Selbsterklärung der Politik Vorschub geleistet.
Deshalb werden in dieser Arbeit mehrere unterschiedliche Paradigmen sozialer Gerechtigkeit vorgestellt und erläutert.
Mit einer Gegenüberstellung von exemplarischen Miss-Ständen im Gesundheitswesen – sowohl auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite – werden dann die hier vorgestellten Gerechtigkeits-Paradigmen punktuell auf ihre Anwendbarkeit überprüft. Somit soll gezeigt werden, wo tatsächlich soziale Gerechtigkeit verletzt wird und mehr Gerechtigkeit möglich ist. Gleichzeitig wird damit eine politische Handlungsanweisung für eine sozial gerechte Gesundheitspolitik in ihren Grundzügen skizziert. Ziel ist es dabei die tatsächlichen Handlungsspielräume der Politik zur Schaffung und Ausweitung von sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen deutlich zu machen.
2. Paradigmen sozialer Gerechtigkeit
Es gilt Unterscheidungskriterien für die unterschiedlichen (sozialen) Gerechtigkeitsbegriffe zu finden: hier bietet sich zunächst die Unterscheidung in „kommutative Gerechtigkeit“ und „distributive Gerechtigkeit“ an.[4]
Diese Begriffe gehen auf einen Gerechtigkeitsbegriff „im gesellschaftlichen Kontext“ zurück.[5] Dieser geht davon aus, dass Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit nur Maßstab von Handeln zwischen mindestens zwei Personen sein kann. Hierbei wird in eben diese zwei Kategorien unterschieden.
Kommunikative Gerechtigkeit bezeichnet die Vermeidung von Konflikten unter Gleichen. Distributive Gerechtigkeit hingegen bezieht sich auf das asymmetrische Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschtem.[6] Sie wird außerdem gemeinhin mit dem Begriff der ‚sozialen Gerechtigkeit’ gleichgesetzt.[7] Ihre hauptsächliche Verteilungsregel ist, dass Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln sind.
Dabei stellt es sich vor allem als schwierig dar, Kriterien festzumachen, wann genau Ungleichheit vorliegt und wann dies tatsächlich zu unterschiedlicher Behandlung führen muss. Timm erläutert treffend, dass der Begriff vor allem impliziert, dass bestehende Ungleichheiten auszugleichen oder zu mindest zu rechtfertigen sind. Dieses stimmt bezogen auf die Gesundheitspolitik mit aktuellen Untersuchungsbefunden der Forschungsgruppe Wahlen überein: Nur 18% der bundesdeutschen Wahlberechtigten würden ein Kopfpauschalenmodell der solidarischen Krankenversicherung vorziehen.[8] Im Vordergrund scheint für die Befragten dabei zu stehen, dass jeder Versicherte einen Beitrag entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beisteuern sollte.
Aufgrund der Komplexität und Undurchsichtigkeit des deutschen Gesundheitssystems ist es angebracht noch weitere, spezifischere Gerechtigkeitsdefinitionen vorzustellen, die helfen können ein differenzierteres Bild von den realpolitischen Vorschlägen zur Gesundheitspolitik zu zeichnen. Leisering stellt anschaulich mehrere Paradigmen sozialer Gerechtigkeit vor, die Anwendung in der Beurteilung der Gesundheitspolitik(en) finden können.[9] Dabei handelt es sich um Gerechtigkeitsdefinitionen, die sich zumeist aus einer Ideologie ableiten und sich mehrheitlich an bestimmte Personengruppen richten. Leisering teilt die Gesellschaft in diesem Zusammenhang sehr grob in Personengruppen ein, um mit viel Trendschärfe möglichst viele Unterscheidbarkeiten darstellen zu können.
Der klassischen „Verteilungsgerechtigkeit“ (distributiv) werden die konkurrierenden Paradigmen der „Bedarfs“- und „Leistungsgerechtigkeit“ zugeordnet.
Die Wertidee des Paradigmas Bedarfsgerechtigkeit ist die Menschenwürde und die daher jedem Menschen zugeschriebenen Bedarfe. Seine Adressaten sind die Armen. Das Referenzsystem der Bedarfsgerechtigkeit ist der Sozialstaat, getragen von „Sozialanwälten“, also Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, kritischen Sozialwissenschaftlern und Betroffeneninitiativen. Ziel ist die bedarfsgerechte Verteilung des Verteilungsvolumens (besonders des Sozialprodukts). Das zugrunde liegende Wohlfahrtsstaatmodell ist der „versorgende Staat“.
Im Gegensatz dazu basiert das Paradigma Leistungsgerechtigkeit auf dem normativen Maßstab des Markterfolgs, also der individuellen ‚Leistung’, wobei die Arbeitnehmer die Adressaten sind. Als Referenzsysteme dienen der Markt sowie die Sozialversicherungen und seit dem Ende der 1990er Jahre auch die Familien. Die Träger dieses Paradigmas sind Arbeitgeber und ihrer Verbände zum einen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften zum anderen, sowie alle politischen Parteien mit Ausnahme der PDS. Ziel ist die leistungsgerechte Verteilung des gegebenen Verteilungsvolumens (ebenfalls vorrangig des Sozialprodukts). Als Wohlfahrtstaatmodell dient der Sozialversicherungsstaat.
Im Gegensatz zu Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit setzt das Paradigma der „produktivistischen Gerechtigkeit“ auf die Erhöhung des Verteilungsvolumens im Zeitverlauf. Basierend auf den Gesetzmäßigkeiten des Marktes soll eine Vermehrung der Ungleichheit zu einem höheren Verteilungsvolumen in der Zukunft führen.[10] Die Wertidee des Paradigmas ist der kollektive Nutzen, vor allem ein hohes Wohlstandsniveau für alle. Den Adressat stellt die Gesamtbevölkerung dar, während Markt und Sozialstaat als Referenzsysteme fungieren. Die Träger des Paradigmas sind in offensiver Weise die Arbeitgeberverbände und verschämt auch Arbeitnehmer und Gewerkschaften, sowie alle politischen Parteien mit Ausnahme der PDS. Das Modell des Wohlfahrtsstaates ist hier ein negativ-aktivierender Staat (z. B. in Form von Kürzung sozialer Leistungen).
[...]
[1] Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61, Ziffer 437.
[2] Hier stellt sich die Frage nach ihrer konkreten Definition.
[3] Hier die polity-Dimension des Politischen.
[4] Alles weitere vgl. Kersting, Wolfgang: Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: Politische Philosophie
des Sozialstaats, hg. v. Wolfgang Kersting, Weilerwist 2000, S. 17-92.
[5] Vgl. Rawls, John: A theory of justice, Cambridge 1999.
[6] Vgl. Timm, Hans Christoph: Solidarität unter Egoisten: Die Legitimation sozialer Gerechtigkeit im liberalen Staat, Hamburg 2004, S. 28-29.
[7] Alles weitere vgl. ebd.: 173ff.
[8] Vgl. ZDF Politbarometer, 14-16 Oktober, 2004.
[9] Alles weitere vgl. Leisering, Lutz: Paradigmen sozialer Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Umbau des Sozialstaats, in: Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, hg. v. Stefan Liebig, Holger Lengfeld, Steffen Mann, Frankfurt a.M. 2004, S. 29-68.
[10] Diese teils belegbaren aber eben auch teils widerlegbaren „Markt-Gesetzmäßigkeiten“ sind Hauptbestandteil der neoliberalen Wirtschaftstheorie und -Ideologie.
- Citar trabajo
- Matthias Ilgen (Autor), 2005, Was ist eine sozial gerechte Gesundheitspolitik?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34825
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