1989 war eines der seltenen, geschichtlich bedeutsamen Jahre europäischer Politik, dem man ohne Übertreibung das Prädikat „epochale Wende“ verleihen kann. Mehr noch als zur Revolution von 1848, mit der die Ereignisse von 1989/90 des öfteren verglichen wurden, bestehen Parallelen zu 1789, 1918 und 1945, in denen ganze politische Systeme sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene grundlegende Veränderungen erfuhren. Denn im Gegensatz zu 1848 wurden die Menschen 1989 Zeugen einer fast gleichzeitigen, fundamentalen Machtveränderung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, der DDR, Rumänien, Bulgarien sowie in Ansätzen bereits auch in der Sowjetunion. 1 Die Tatsache, daß im Vergleich zu den anderen Revolutionen nur die deutsche als „Frage“ tituliert worden ist, zeigt sehr deutlich, daß es sich hierbei um ein Problem besonderer Komplexität und politischer Brisanz handelt. Die Bezeichnung „Frage“ zeugt von einer tiefen Angst, einem fundamentalen Zweifel und einem schier unlösbaren Identitäts- und Strukturkomplex, der weit über das Instrumentale eines gewöhnlichen Problems hinausreicht. 2 Seit Jahrzehnten war außer Zweifel, daß der Schlüssel für eine Lösung der Deutschen Frage in der Sowjetunion lag, die einer deutschen Wiedervereinigung im Wege stand, auch wenn sie gelegentlich nicht ernsthaft gemeinte Initiativen in diese Richtung startete oder lancierte. Als dann am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer die Deutsche Frage auf die politische Tagesordnung rückte, löste dies bei den westeuropäischen Partnern Deutschlands nicht nur Freude aus. 3 Daß Moskau dem Zerfall der DDR nicht sehr frohmütig entgegnen und sich einer Deutschen Einheit vorerst versagen würde, überraschte niemanden; die Tatsache, daß die größten Bedenken gegen die Einheit jedoch in London und Paris vorgetragen wurden, dagegen schon. Der französische Staatspräsident François Mitterand hatte bei einem Besuch in Ost-Berlin Hans Modrow zur Fortsetzung der Existenz der DDR überreden wollen, während die britische Premierministerin Margaret Thatcher von London aus ebenfalls wenig freundliche Töne von sich gab. Es ist überaus bemerkenswert, daß ausgerechnet Frankreich und Großbritannien als enge Partner Deutschlands in Europa solch eine ablehnende Haltung einnahmen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Für oder gegen die Einheit? - Die Positionen der vier alliierten Siegermächte am Morgen nach dem Mauerfall
2.1 Die sowjetischen Ahnungen
2.2 Die amerikanischen Interessen
2.3 Die französischen Sorgen
2.4 Die britischen Vorbehalte
III. Die strittigen Fragen der Zwei-plus-vier-Verhandlungen
3.1 Die Frage der Bündniszugehörigkeit Gesamtdeutschlands
3.2 Sicherheitspolitische Fragen
3.3 Die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze
IV. Schlußbetrachtung
V. Auswahlbibliographie
5.1 Quellen, Memoiren, zeitgenössische Zeitungsartikel
5.2 Literatur
I. Einleitung
1989 war eines der seltenen, geschichtlich bedeutsamen Jahre europäischer Politik, dem man ohne Übertreibung das Prädikat „epochale Wende“ verleihen kann. Mehr noch als zur Revo- lution von 1848, mit der die Ereignisse von 1989/90 des öfteren verglichen wurden, bestehen Parallelen zu 1789, 1918 und 1945, in denen ganze politische Systeme sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene grundlegende Veränderungen erfuhren. Denn im Gegensatz zu 1848 wurden die Menschen 1989 Zeugen einer fast gleichzeitigen, fundamentalen Macht- veränderung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, der DDR, Rumänien, Bulgarien sowie in Ansätzen bereits auch in der Sowjetunion.1
Die Tatsache, daß im Vergleich zu den anderen Revolutionen nur die deutsche als „Frage“ tituliert worden ist, zeigt sehr deutlich, daß es sich hierbei um ein Problem besonderer Kom- plexität und politischer Brisanz handelt. Die Bezeichnung „Frage“ zeugt von einer tiefen Angst, einem fundamentalen Zweifel und einem schier unlösbaren Identitäts- und Struktur- komplex, der weit über das Instrumentale eines gewöhnlichen Problems hinausreicht.2 Seit Jahrzehnten war außer Zweifel, daß der Schlüssel für eine Lösung der Deutschen Frage in der Sowjetunion lag, die einer deutschen Wiedervereinigung im Wege stand, auch wenn sie gele- gentlich nicht ernsthaft gemeinte Initiativen in diese Richtung startete oder lancierte. Als dann am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer die Deutsche Frage auf die politische Tagesordnung rückte, löste dies bei den westeuropäischen Partnern Deutschlands nicht nur Freude aus.3 Daß Moskau dem Zerfall der DDR nicht sehr frohmütig entgegnen und sich einer Deutschen Einheit vorerst versagen würde, überraschte niemanden; die Tatsache, daß die größten Bedenken gegen die Einheit jedoch in London und Paris vorgetragen wurden, dage- gen schon. Der französische Staatspräsident François Mitterand hatte bei einem Besuch in Ost-Berlin Hans Modrow zur Fortsetzung der Existenz der DDR überreden wollen, während die britische Premierministerin Margaret Thatcher von London aus ebenfalls wenig freundli- che Töne von sich gab. Es ist überaus bemerkenswert, daß ausgerechnet Frankreich und Großbritannien als enge Partner Deutschlands in Europa solch eine ablehnende Haltung ein- nahmen. Um die Ursachen für die jeweiligen Positionen ergründen zu können, gilt es zu alle- rerst die Haltung der Sowjetunion und der USA zu durchleuchten, die als Weltmächte im Rahmen ihrer Bündnisse NATO und Warschauer Pakt die bipolare Struktur des internationa- len Systems zum damaligen Zeitpunkt dominierten.
Der Einigungsprozeß, der am 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer einsetze und mit dem Abschluß des sog. Zwei-plus-vier-Vertrages am 12. September 1990 bzw. mit dem feier- lichen Vollzug der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 endete, vollzog sich keineswegs linear, sondern er war voller Hürden und Hindernisse. Die Tatsache, daß die Verantwortung in allen Fragen, die Deutschland als ganzes betrafen, nach wie vor bei den vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs lag, machte die Einheit unter Wiederherstellung der vollen Souverä- nität Gesamtdeutschlands von der Zustimmung Frankreichs, Großbritanniens, der USA sowie der Sowjetunion abhängig. Auch wenn zu Beginn des Jahres 1990 keine der vier Siegermäch- te noch substantielle Einwände gegen eine deutsche Wiedervereinigung hervorbrachte, formu- lierte jede Regierung ihre eigenen Bedingungen, die entweder auf heftige Widerstände trafen, wie die Frage der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze oder sich gegenseitig ausschlossen, wie die Frage der Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO - eine Forderung, die für Washington eine unabdingbare Voraussetzung für die Einheit darstellte, für Moskau dagegen völlig indiskutabel und unannehmbar war.
Die deutsche Außenpolitik stand somit vor der schweren Aufgabe, ein Spiel mit mehreren Bällen zu wagen. Ein Friedensvertrag taugte dazu am wenigsten, denn dieser hätte Deutsch- land per se in die Rolle desjenigen gedrängt, der 45 Jahre nach Kriegsende nochmals als Ver- lierer des Zweiten Weltkriegs hätte auftreten müssen. Es ging um die Beendigung der deut- schen Teilung und den Weg zu einem ungeteilten Europa. Dazu bedurfte es eines Geflechts von Verträgen, die die Interessen vieler Partner zufriedenzustellen hatten.4 Daß die Verhand- lungen der vier Mächte mit den beiden deutschen Staaten nicht als Gespräche der Sieger über Deutschland, wie es von London und Paris gefordert worden war, sondern nach dem Modus „Zwei-plus-vier“, d.h., daß die beiden deutschen Staaten die äußeren Aspekte der Vereinigung selbst entwickeln konnten und diese dann den Siegermächten vorbrachten, gestaltet wurden, trug letzten Endes wesentlich zur raschen Bewältigung der drei entscheidenden außenpoliti- schen Probleme bei: Die wohl am schwierigsten zu lösende Frage bestand in den Unverein- barkeit der Position der USA mit der Haltung Sowjetunion in der Frage der NATO- Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands. Dieser schier unüberwindbare Gegensatz konnte nur durch eine Reihe von Maßnahmen seitens des Westens sowie durch eine Fülle von Zuge- ständnissen von Seiten Gorbatschows gelöst werden. Eine große Rolle spielten dabei zweitens sicherheitspolitische Fragen, ohne deren Lösung eine Zustimmung Moskaus zur NATO- Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands nicht möglich gewesen wäre. Drittens ging es um die Fra- ge der Endgültigkeit der Nachkriegsgrenzen, in der nicht nur unter den vier Siegermächten, sondern auch mit der Bundesrepublik größtenteils Einvernehmen herrschte. Allerdings kam es schon zu Beginn der Zwei-plus-vier-Verhandlungen insbesondere zwischen Bonn auf der einen sowie Paris und Warschau auf der anderen Seite zu Unstimmigkeiten über den Zeit- punkt einer endgültigen Regelung. Kohl bestand darauf, daß eine Anerkennung der polni- schen Westgrenze und die damit verbundene endgültige Abtretung der ehemaligen Ostgebiete nur von einem gesamtdeutschen Parlament nach dem Vollzug der Einheit gebilligt werden könnte, während man auf der anderen Seite eine vorherige Regelung verlangte.
Die entscheidenden außenpolitischen Schritte zur Wiederherstellung der staatlichen Ein- heit Deutschlands sind mittlerweile hinreichend oft beschrieben worden. Fast alle Hauptakteu- re des In- und Auslandes haben Bücher darüber geschrieben oder schreiben lassen, wobei sich ihre Schilderungen nicht immer decken, in ihrer Bewertung teilweise sogar widersprüchlich sind. Dies mag nicht zuletzt am verdeckten internationalen Wettbewerb um eigene Verdienste und fremde Versäumnisse liegen.5 Entscheidend für eine erfolgreiche Untersuchung des au- ßenpolitischen Wegs zur Deutschen Einheit sind die Memoiren der wichtigsten beteiligten Personen, wobei das Augenmerk dabei weniger auf die britische und französische, sondern in erster Linie auf die amerikanische, die sowjetische sowie auf die deutsche Administrationen zu richten sind, die den Prozeß grundlegend bestimmt haben. Auf amerikanischer Seite muß dabei im Besonderen auf die Darstellung von US-Außenminister Baker verwiesen werden, der bei den entscheidenden Vorgesprächen und Verhandlungen stets zugegen war. Gleiches gilt für Kohl-Berater Teltschik sowie für Bundesaußenminister Genscher, deren Aussagen für diese Arbeit ebenso unverzichtbar sind, wie die umfangreichen und detaillierten Darstellun- gen Kohls und Gorbatschows. In der Literatur existiert in ähnlichem Maße eine schier un- überschaubare Fülle an Darstellungen, von denen im Besonderen die Arbeiten Kaisers und Maiers als grundlegend zu erachten sind. Zur Bestimmung der Positionen der vier Sieger- mächte am Morgen nach dem Mauerfall bietet sich zu allererst Weidenfelds und Kortes Handwörterbuch zur deutschen Einheit an, welches Aufsätze zu den verschiedenen am Eini- gungsprozeß beteiligten Staaten beinhaltet. Gleiches gilt auch für die Arbeiten von Thies und Wagner sowie von Becker. Zum Verlauf der Zwei-plus-vier-Gespräche sind schließlich die Darstellungen Fischers, Lieberts und Merkels sowie Kiesselers und Elbes heranzuziehen, die ihre Schwerpunkte insbesondere auf die Fragen und Probleme der Verhandlungen legen.
II. Für oder gegen die Einheit? - Die Positionen der vier alliierten Siegermächte am Morgen nach dem Mauerfall
2.1 Die sowjetischen Ahnungen
In den späten Abendstunden des 10. Februar 1990 trat Bundeskanzler Helmut Kohl in Mos- kau vor die internationale Presse: „Meine Damen und Herren, ich habe heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln. Generalsekretär Gorbatschow und ich stim- men darin überein, daß es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will. Generalsekretär Gorbatschow hat mir un- mißverständlich zugesagt, daß die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird und daß es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen“6
In der Rückschau bekennt Außenminister Eduard Schewardnadse, daß sich die sowjetische Startposition ganz wesentlich von derjenigen Haltung unterschieden habe, die Gorbatschow in jenen Februartagen des Jahres 1990 eingenommen hat. Am Morgen nach dem Mauerfall hätte in Moskau wohl niemand daran geglaubt, daß man in nur wenigen Wochen der Wiederverei- nigung Deutschlands gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zustimmen würde. Für Gorbatschow und seine Reformer war die deutsche Teilung ein Resultat des Zweiten Welt- kriegs, dessen Überwindung zu diesem Zeitpunkt nicht auf der politischen Tagesordnung stand. Die sowjetische Regierung ließ in ihren Kontakten mit der Bundesregierung auch kei- nen Zweifel darüber aufkommen, daß sie von einem Fortbestand der DDR als einem selbstän- digen Staat im Machtbereich des Warschauer Paktes ausging. Vor dem Zentralkomitee der KPdSU machte Gorbatschow diese Position unmißverständlich deutlich: „Wir unterstreichen mit aller Entschiedenheit, daß wir die DDR nicht zu Schaden kommen lassen. Sie ist unser strategischer Bündnispartner und ein Mitglied des Warschauer Vertrages. Es ist notwendig, von den nach dem Kalten Krieg entstandenen Realitäten auszugehen - der Existenz zweier souveräner deutscher Staaten, die Mitglied der UNO sind. Bei einer Abweichung hiervon droht eine Destabilisierung in Europa.“7
In einem improvisierten Meinungsaustausch mit dem französischen Staatspräsidenten Mit- terand bekräftigte Gorbatschow am 6. Dezember diesen Standpunkt und wünschte dem Volk der DDR Erfolg bei den bevorstehenden großen Aufgaben, wobei damit die Reformen in der DDR und nicht ihre Umformung zu neuen Bundesländern eines wiedervereinten Deutschland gemeint waren. Seit Anfang Januar 1990 begann sich der Charakter der Demonstrationen in der DDR zu verändern. Die Menschen auf den Straßen riefen nicht mehr nur „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk.“ Die Rufe erreichten auch den Kreml, wo man aber im- mer noch auf eine reformierte selbständige DDR setzte. Gleichheit, Nichteinmischung, Unab- hängigkeit, Erneuerung und Demokratie in der DDR, das waren die Formeln, auf die sich Gorbatschow und der neue DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am 30. Januar 1990 ver- ständigten, wobei selbst Modrow in jenen Tagen in Moskau die Parole „Deutschland einig Vaterland“ vorbrachte.8
Letzten Endes läßt sich kein genaues Datum benennen, an dem man den eigentlichen Wandel der Position der Sowjetunion zur Deutschen Frage festmachen könnte.9 Es war die ungeheure Eigendynamik des Einigungsprozesses, die dem sowjetischen Generalsekretär kei- ne andere Wahl ließ, als den veränderten Realitäten der Massenflucht aus der DDR Rechnung zu tragen. „Das Streben der Deutschen nach der Einheit konnte nur vereitelt werden, wenn die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte eingesetzt würden.“10 Solch eine chinesi- sche Lösung lehnte Gorbatschow jedoch strikt ab, schließlich hätte die Anwendung von Ge- walt seiner ganzen Politik der Perestroika einen nicht wieder gutzumachenden Schlag ver- setzt: „Was konnte ich damals tun?“11, fragt Gorbatschow. „Eine vielleicht mit Kernwaffen ausgerüstete Panzerdivision losschicken?“12
In einer Rede vor Moskauer Studenten schloß Gorbatschow bereits am 15. November eine Wiedervereinigung erstmals nicht mehr grundsätzlich aus, bezeichnete sie jedoch als hypothe- tische Frage, die von der aktuellen Politik weit entfernt liege.13 Ähnliches ließ er auch in ei- nem Vier-Augen-Gespräch mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker verlautbaren: „Was in hundert Jahren sein wird, das soll die Geschichte entscheiden.“14 Wesentlich deutlicher wurde hingegen Außenminister Schewardnadse vor dem außenpolitischen Ausschuß des Obersten Sowjets der UdSSR, wo er eine einseitige Veränderung des Status quo in Europa zwar ablehnte, jedoch hinzufügte, daß beliebige Veränderungen im allgemeinen Einverneh- men nicht auszuschließen seien. „Es gibt nichts Ewiges“15, so Schewardnadse, der darüber hinaus betonte, daß sich die europäischen Realitäten sicher verändern würden. Daß die So- wjetunion diesen veränderten Realitäten Rechnung tragen und das Recht auf Selbstbestim- mung der beiden deutschen Staaten anerkennen würde, deutete Schewardnadse nur kurze Zeit später vor dem Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments erstmals an. Schewardna- dse bezeichnete die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als eine Möglichkeit, die man in Moskau weder grundsätzlich ablehne, noch dem Gang der Geschichte überlassen wolle.16
Gorbatschow und seine Reformer hatten erkannt, daß die ungeheure Dynamik der Verän- derungen in Europa jegliche Möglichkeit, auf Zeit zu spielen, zunichte gemacht hatte. Welche Vorteile hätte Moskau angesichts eigener wirtschaftlicher Nöte und des beginnenden Zerfalls der Sowjetunion von einer künstlichen Verlängerung der Existenz der bankrotten DDR ge- habt? Vermutlich keine.17 Wenn der Kreml überhaupt noch einen Anspruch auf Mitgestaltung erheben wollte, so sah er sich zum Handeln gezwungen. Da sich die Sowjetunion ihrer Schlüsselposition bzgl. der Deutschen Frage voll bewußt war, stellte sie Bedingungen, zu de- nen sie ein moralisches und politisches Recht zu haben glaubte - nicht nur als eine der beiden Weltmächte, sondern mehr noch als das Land, das von den Folgen des durch das Deutsche Reich entfesselten Krieges am schlimmsten betroffen war und 26 Millionen Tote zu beklagen hatte.18
In einem ersten Punkt forderte Moskau politische, gesetzliche und materielle Garantien dafür, daß die deutsche Einheit keine Bedrohung für die nationale Sicherheit anderer Staaten und für den Frieden in Europa schaffen werde. „Alle Völker, besonders die Völker der So- wjetunion, müssen das Recht auf Garantien haben, daß von deutschem Boden niemals mehr die Gefahr eines Krieges ausgeht.“19 Zweitens stellte sich die Frage, ob ein vereintes Deutsch- land dazu bereit sein werde, die bestehenden Grenzen in Europa anzuerkennen und auf jed- wede Gebietsansprüche zu verzichten. „Ohne die Verpflichtung der Deutschen, die gegenwär- tigen, infolge des Krieges entstandenen Grenzen in Europa bedingungslos anzuerkennen und strikt einzuhalten und keine an wen auch immer gerichteten territorialen Ansprüche zu stellen, läßt sich […] nur schwerlich vorstellen, daß die Idee der deutschen Einheit in vielen Ländern […] nicht auf Widerstand stößt,“20 so Außenminister Schewardnadse, der in diesem Zusam- menhang auf die Erklärungen vereinzelter deutscher Politiker sowie auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1973 verwies, wonach die Grenzen des Deutschen Reiches aus dem Jahre 1937 als legitim anzuerkennen seien. Die dritte und brisanteste Forde- rung zielte auf die Bündniszugehörigkeit Deutschlands ab. Schewardnadse betonte dabei, daß man von der Sowjetunion nicht ernsthaft erwarten könne, daß sich der Status der DDR radikal ändere, während der Status der Bundesrepublik derselbe bleibe. Vielmehr verwies er auf die Notwendigkeit, daß sich beide Staaten militärisch neutral erklären müßten - eine Forderung, die nicht nur für Bonn und Washington, sondern auch für die anderen westlichen Verbündeten völlig unannehmbar war. Unter Bezugnahme auf die enorme Zahl von 26 Millionen russi- schen Todesopfern während des Zweiten Weltkriegs erhob die Sowjetunion viertens die For- derung, daß von deutschem Boden nie wieder die Gefahr eines Krieges ausgehen dürfe. Kon- kret bedeutete dies, daß Moskau eine Überprüfung des militärischen Potentials eines wieder- vereinten Deutschland sowie die Ergreifung praktischer Maßnahmen zur Senkung des Rü- stungsniveaus und zur Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten verlangte.21
2.2 Die amerikanischen Interessen
Die Vereinigten Staaten von Amerika reagierten auf die neuen Entwicklungen in Deutschland aus der Perspektive einer Weltmacht, die die Hauptverantwortung für den Aufstieg des west- lichen Teils von Deutschland zu einer erfolgreichen Demokratie und Marktwirtschaft mitge- tragen hat. Ihre Einstellung zur deutschen Einheit war nicht im gleichen Ausmaß von bela- stenden Erinnerungen aus der Vergangenheit überschattet wie jene Großbritanniens, Frank- reichs und der Sowjetunion. Darüber hinaus stellte das Potential eines vereinigten Deutsch- land für die Weltmacht USA ein weitaus geringeres Problem dar als für die deutschen Nach- barn. Während die Einheit für London und Paris in erster Linie die Frage aufwarf, wie sie mit der neuen Macht fertig werden sollten, bedeutete sie aus Sicht der USA die endlich erreichte Durchsetzung der von Amerika unterstützten Werte in Europa sowie den krönenden Erfolg des Kampfes gegen die sowjetische Hegemonie in Mittel- und Osteuropa.22
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, daß die Vereinigten Staaten der wich- tigste Fürsprecher der deutschen Einheit waren. In der öffentlichen Meinung wurde die deut- sche Einigung sehr stark befürwortet. Umfragen, die einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer erhoben worden sind, stellten eine überwältigende Unterstützung für die deutsche Wiedervereinigung durch die amerikanische Öffentlichkeit fest. Eine Umfrage der New York Times und CBS News zweigte beispielsweise, daß 67 Prozent die These, West und Ost- deutschland sollten wieder zu einer Nation vereinigt werden, bejahten.23 In anderen Umfragen fiel die Unterstützung des amerikanischen Volkes noch deutlicher aus, wobei der höchste ge- messene Wert bei 88 Prozent lag.24 Diese überwältigende Zustimmung mag nicht zu überra- schen, schließlich hat Deutschland seit der Berliner Luftbrücke und seit John F. Kennedys „Ich-bin-ein-Berliner“-Rede einen besonderen Platz im Herzen der Amerikaner. Darüber hin- aus stammt das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker vom US-Präsidenten Wilson und stellt demnach ein fundamentales Prinzip der amerikanischen Weltanschauung dar.25
Anders als in Frankreich oder Großbritannien, wo die Bevölkerung der deutschen Einheit zwar mit einer ähnlich großen Zustimmung begegneten, die Regierungen jedoch recht verhal- ten reagierten, erwies sich US-Präsident George Bush als zuverlässiger Partner Deutschlands, der die Sorge seiner Vorgänger Reagan und Carter, die Sowjets könnten die Bundesrepublik mit der deutschen Karte locken, nicht teilte, sondern die globale Dimension der neuen Außen- politik Gorbatschows und die damit verbundenen Konsequenzen für die Umgestaltung der Nachkriegsordnung in Europa sehr frühzeitig erkannte.26 Gewiß reagierte Bush auf die erd- rutschartige Entwicklung des Herbstes 1989 anfangs überrascht, schließlich hatte bis zum damaligen Zeitpunkt niemand eine deutsche Wiedervereinigung als ernsthafte Möglichkeit in Erwägung gezogen. Seine reflexartige Wiederholung von Sprachhülsen, die die amerikani- sche Unterstützung für die Wiedervereinigung seit den fünfziger Jahren hervorhob, wurde in der deutschen Öffentlichkeit zunächst kritisch bewertet.27 Die Vorwürfe mancher Bonner Be- obachter, die die jahrelangen amerikanischen Forderungen zugunsten der Freiheit der Ost- deutschen und zum Abriß der Mauer in Berlin als bloße Lippenbekenntnisse beurteilt hatten, erwiesen sich jedoch recht bald als haltlos, da Bush das Recht der Deutschen auf Selbstbe- stimmung und auf staatliche Einheit uneingeschränkt anerkannte und unterstützte.28
Der Ankündigung von Kanzler Kohls Zehn-Punkte-Plan entsprechend erarbeitete die ame- rikanische Administration mit bemerkenswerter Schnelligkeit ein Konzept, in dem die Verei- nigten Staaten der deutschen Einheit ihre uneingeschränkte Unterstützung zusicherten und darüber hinaus ihre Bereitschaft erklärten, alle dafür verfügbaren amerikanischen Ressourcen einzusetzen.29 Unmittelbar nach seinem Zusammentreffen mit Gorbatschow Anfang Dezem- ber nannte US-Präsident Bush auf dem Gipfel des Nordatlantikpaktes vier Prinzipien für die Einheit Deutschlands, die er auch seinem sowjetischen Gegenüber mitgeteilt hatte:30
Das erste Prinzip sah dabei vor, daß die Einheit mit der vollen Wiederherstellung der deut- schen Souveränität einhergehen sollte, was im Widerspruch zu den Vorstellungen Scheward- nadses stand, der angeregt hatte, die innere Vereinigung von der Wiederherstellung der Sou- veränität abzukoppeln. Die amerikanische Politik hielt jedoch an dem Grundsatz fest, daß das entstehende Deutschland keiner weiteren Kontrolle unterworfen bleiben dürfe.31 Die Wiedervereinigung sollte zweitens im Kontext einer fortgesetzten Verpflichtung der Bundesrepublik auf die NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft sowie mit gebührender Rücksicht auf die rechtliche Rolle und die Verantwortung der Alliier-ten Mächte vor sich gehen.32 Obwohl die amerikanische Politik von der Annahme ausging, daß die Entwicklungen des Herbstes 1989 ein window of opportunity geöffnet hatte, das sich bald wieder schließen konnte, stellte der Verbleib eines wiedervereinten Deutschland in der NATO für sie eine Conditio sine qua non dar. Vor dem Hintergrund der unbeständigen Ver-hältnisse in der Sowjetunion, wo in jenen Monaten die Gewalt im Inneren, die Zerfallser-scheinungen der Union sowie auch die konservative Opposition gegen Gorbatschows Innen-und Außenpolitik ständig anwuchs, unternahm die Bush-Administration größte Anstrengun-gen, um die Verhandlungen auf allen Ebenen zu beschleunigen und die Verbündeten zur Eile zu mahnen.33 Niemand konnte zum damaligen Zeitpunkt wissen, wie lange in der Person Gorbatschows noch eine Führung zur Verfügung stand, die bereit war, mit dem Westen über die Beendigung der sowjetischen Hegemonie in Zentraleuropa und die Einigung Deutschlands zu verhandeln. Da Moskau die wichtigsten Karten in der deutschen Frage in der Hand hielt, war man sich in Washington darüber im Klaren, daß Gorbatschow zu substantiellen Zuge-ständnissen bewegt werden mußte, wenn die westlichen Vorstellungen vom zukünftigen eu-ropäischen System durchgesetzt werden sollten.34
Im Interesse einer allgemeinen europäischen Stabilität sollten drittens die Bemühungen um eine Vereinigung friedlich, allmählich und Teil eines schrittweisen Prozesses sein.35 Den ame- rikanischen Vorstellungen zu Folge sollten die Verhandlungen, an deren Ende die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte über Deutschland stehen sollte, nach dem Prinzip „Zwei-plus-vier“ statt „Vier-plus-zwei“ als Gespräche der vier Mächte mit den beiden deutschen Regierungen organisiert werden. Die USA machten an dieser Stelle sehr deutlich, daß der Eindruck einer Wiederbelebung der Anti-Hitler-Koalition aus der Zeit vor einem halben Jahrhundert im Wi- derspruch zum Wiederaufbau der Demokratie stand und unter Umständen das zwischen der Bundesrepublik und dem Westen aufgebaute Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis schädi- gen sowie den Aufbau neuer europäischer Strukturen gefährden würde.
[...]
1 Vgl. Markovits, S. 321.
2 Vgl. Markovits, S. 322.
3 Vgl. Stern/Schmidt-Bleibtreu, S. 20.
4 Vgl. Stern/Schmidt-Bleibtreu, S. 20.
5 Vgl. Weizsäcker, S. 369.
6 Kohl 1996, S. 276-277.
7 Gorbatschow zitiert nach Kiesseler/Elbe, S. 70.
8 Vgl. Wolffsohn, S. 147.
9 Vgl. Riese, S. 95.
10 Gorbatschow, S. 84.
11 Gorbatschow, S. 132.
12 Gorbatschow, S. 132.
13 Vgl. Wolffsohn, S. 146.
14 Gorbatschow zitiert nach Kiesseler/Elbe, S. 67.
15 Schewardnadse zitiert nach Riese, S. 93.
16 Vgl. Riese, S. 95.
17 Vgl. Maier, S. 343, 351.
18 Vgl. Riese, S. 95.
19 Schewardnadse.
20 Schewardnadse.
21 Vgl. Schewardnadse.
22 Vgl. Kaiser, S. 49.
23 Vgl. Haltzel, S. 99.
24 Vgl. Kleinfeld, S. 692-693.
25 Vgl. Haltzel, S. 99.
26 Vgl. Kiesseler/Elbe, S. 56-57, 59.
27 Vgl. Haltzel, S. 101.
28 Vgl. Kleinfeld, S. 692-693.
29 Vgl. Kaiser, S. 50.
30 Vgl. Wolffsohn, S. 145.
31 Vgl. Kaiser, S. 52-53.
32 Vgl. Haltzel, S. 101.
33 Vgl. Kaiser, S. 57-58.
34 Vgl. Kaiser, S. 55.
35 Vgl. Haltzel, S. 101.
- Quote paper
- Marc Philipp (Author), 2004, 2+4=1 Der außenpolitische Weg zur Deutschen Einheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34794
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