1922-23 errichtete Auguste Perret (1874-1955) mit der dreischiffigen Hallenkirche Notre Dame du Raincy den ersten Sakralbau Europas, der zur Gänze aus unverkleidetem und unverputzten Eisenbeton besteht. Anstatt aufgesetzte Ornamente zu verwenden, hat Perret dem „nackten“ Baumaterial und dem konstruktiven Gerüst neben ihrer technischen auch eine dekorative Funktion verliehen.
In der vorliegenden Arbeit werden nach einer Baubeschreibung die (technischen) Voraussetzungen und Vorstufen betrachtet, die zum Bau von Notre Dame du Raincy geführt bzw. ihn überhaupt ermöglicht haben.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Notre Dame du Raincy: Baubeschreibung
2. Die Entwicklung des Eisenbetons und die Anfänge der Eisenbetonarchitektur in Frankreich
3. Auguste Perrets frühe Eisenbetonbauten
3.1. Wohnhaus, rue Franklin 25 bis, Paris, 1903
3.2. Garage, rue Ponthieu, Paris, 1905
3.3. Théâtre des Champs-Elysées, 1910-13
3.4. Die Lagerhallen in den Docks von Casablanca und die Esders Textilfabrik
4. Résumé: Innovation und Tradition in Perrets Eisenbetonbauten
5. Theoretische Einflüsse auf Perrets Architekturen
6. Die Rezeption von Notre Dame du Raincy
7. Anmerkungen
8. Bibliographie
Mit der Planung von Notre Dame du Raincy war ursprünglich ein Architekt namens Guyot betraut worden. Dieser hatte Anfang 1922 bereits einen Entwurf ausgearbeitet, musste den Auftrag dann jedoch an Auguste Perret (1874-1955) abgeben - offenbar aufgrund der Intervention eines Financiers, der einerseits mit dem Bruder des Bauherren und Pfarrers von Raincy bekannt war und andererseits schon einmal mit Perret im Rahmen eines Projektes zusammengearbeitet hatte.1)
Im März 1922 legte Auguste Perret seine ersten Entwürfe vor und am 30. April wurde der Grundstein gelegt. Bereits etwa ein Jahr später war die Kirche vollendet, wobei aus ökonomischer Sicht nicht nur die kurze Bauzeit, sondern auch die niedrigen Baukosten von etwa 600.000 Francs bemerkenswert sind. Die Weihe von Notre Dame du Raincy fand am 17. Juni 1923 statt.
1. Notre Dame du Raincy: Baubeschreibung
Perret gestaltete Notre Dame du Raincy als dreischiffige Hallenkirche mit einem hohen Glockenturm, der als freistehende Konstruktion in die Mitte des Eingangsjoches integriert wurde. Sowohl die Kirche selbst als auch ihre liturgische Ausstattung (Altar, Kanzel, Chorschranken etc.) wurden aus unverputztem Eisenbeton errichtet.
Der rechteckige Grundriss der Kirche (mit den Maßen 56 x 20 m) ist durch einen geometrischen Raster gegliedert, in den die Stützen so eingestellt wurden, dass die Joche im Mittelschiff annähernd quadratisch und jene im Seitenschiff längsrechteckig sind. Insgesamt tragen 28 Pfeiler, die in vier Längsreihen angeordnet sind, die gewölbte Decke der Kirche. Je vier der Stützen tragen eine der kurzen, flachen Quertonnen, aus denen die Seitenschiffe bestehen. Zwischen den Seitenschiffen ist die flache, nur wenige Zentimeter dicke Längstonne des Mittelschiffes eingespannt und mit obenliegenden Betonquerbindern mit den Seitenschiffen versteift. Darauf liegt - als zweite Schale der Deckenkonstruktion - das Dach, das aus leicht gewölbten Platten besteht und alle drei Kirchenschiffe überspannt.
Das tragende Gerüst der Kirche hat Perret von der "Gebäudehülle" unabhängig gestaltet: Die wandseitigen Betonstützen sind nicht mit der Wand verbunden, sondern etwas in den Innenraum hinein versetzt. Dies trägt dazu bei, dass der Raumeindruck stark von den freistehenden Stützen dominiert wird. Perret selbst meinte, dass die hohen, schlanken Pfeiler der Eindruck von Weite und Geräumigkeit verstärken.2) Zudem lenken die Stützen den Blick des Betrachters zum Altar und zum Gewölbe.
Alle Pfeiler weisen eine plastische Oberflächenstrukturierung durch vertikale Wülste auf. Dieses Muster ist durch eine entsprechende Gestaltung der Profilbretter der Schalung entstanden und erinnert einerseits an gotische Bündelpfeiler, andererseits an die Kanneluren dorischer Säulen.
Die Kirchenwände wirken gitterartig aufgelöst. Sie sind - über der etwa 2 m hohen Sockelzone - aus vorgefertigten Betonelementen mit unterschiedlich geformten, bunt verglasten Öffnungen aufgebaut. Diese Formbausteine wurden mit Hilfe von Gussformen hergestellt und in ihrem Inneren mit einem Drahtgeflecht armiert. Zur statischen Stabilisierung der übereinander errichteten Bausteinreihen, wurden diese in ein verdecktes Gitter aus Metallstäben eingepasst. Perret verwendete fünf Varianten dieser Betonbausteine, die er selbst als "Claustra" bezeichnete3). Ihr quadratischer Rahmen umschloss entweder ein Kreuz, einen Kreis, eine Raute, ein Quadrat oder ein Rechteck. Die Claustra, die auf der Vorderseite profiliert und auf der Rückseite glatt waren, wurden symmetrisch bzw. geometrisch angeordnet, so dass sich pro Joch ein großes Kreuz als Muster ergab.
Die gleichen Bausteine, wie für die Wände, hat Perret auch für die Innenraumgestaltung verwendet, zum Beispiel an der Kanzel, für die Brüstungen oder den Altar.
Notre Dame du Raincy ist allerdings nicht das erste Bauwerk, bei dem Perret solche Claustra eingesetzt hat. Diese Lösung hat er bereits um 1910 für Albert Ballus Kathedrale von Oran entwickelt, bei der sie allerdings aufgrund ihrer Position außen kaum sichtbar sind. Historische Vorbilder für diese Bausteine könnten mittelalterliche Transennenfenstern sein.4)
Den Chor von Notre Dame du Raincy hat Perret bühnenartig um etwa zehn Stufen über das Niveau des Kirchenbodens erhöht. Der Boden selbst ist dagegen vom Eingangsjoch in Richtung Chor leicht abfallend. Unter dem Chor befindet sich ein rechteckiger, kryptaartiger Raum, der heute als Kapelle genutzt wird und in dem außerdem ein Büro sowie die Sakristei untergebracht sind.
Die äußere Hülle der Kirchenhalle hat die Form eines Kubus. Die Gebäudekanten sind durch pilasterartige Bänder bzw. durch eine Reihe aus halben Claustra betont.
Die großen Claustraflächen der Längsseiten und des Chors sind durch Flachbögen in eigenständige Fensterzonen gegliedert. Zudem werden die Fenster durch vertikale Bänder gleicher Claustra voneinander abgegrenzt, wobei die Position der Bänder mit den Jochgrenzen im Inneren der Kirche übereinstimmt.
Der (43 m hohe) Glockenturm hat einen quadratischen Grundriss und verjüngt sich stufenweise nach oben hin, so dass sich eine vertikale Strukturierung in drei Zonen ergibt. Die Kanten des tragenden Gerüstes sind durch Betonstabbündel betont. Die langen Fensterflächen des Turms wurden wiederum aus verglasten Eisenbetonbausteinen gestaltet. Der Turm wird von zwei polygonalen Kapellen flankiert.
Mit dieser Kirche hat Perret den ersten Sakralbau geschaffen, der zur Gänze aus unverkleidetem und unverputzten Eisenbeton errichtet wurde. Anstatt aufgesetzte Ornamente zu verwenden, hat er dem "nackten" Baumaterial und dem konstruktiven Gerüst neben ihrer technischen auch eine dekorative Funktion verliehen. Im nächsten Abschnitt sollen die Voraussetzungen und Vorstufen betrachtet werden, die zu einer solchen Lösung geführt bzw. sie überhaupt ermöglicht haben.
2. Die Entwicklung des Eisenbetons und die Anfänge der Eisenbetonarchitektur in Frankreich
Experimente mit bewehrtem Zement und Beton wurden in Frankreich etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt.
Joseph Louis Lambot (1814-87) beschäftigte sich mit der Herstellung eines Ersatzstoffes für Holz, der im Schiffsbau - sowie für alle sonstigen Bauaufgaben und Produkte, die ein feuchtigkeitsresistentes Material erforderten - eingesetzt werden sollte. Er entwickelte ein Verfahren, bei dem Metallnetze in die gewünschte Form gebracht und anschließend in Zement eingebettet wurden. 1855 erhielt er ein Patent für seine Methode bzw. für seinen Werkstoff, den er "Ferciment" nannte.
Ebenfalls um 1855 entwickelte Francois Coignet (1814-1888) eine Methode, um Zementdecken mit eisernen Stangen zu versteifen. Zudem nahm er ein Patent auf „Béton Agglomeré“ (=Stampfbeton). Auch vorgefertigte Betonelemente verwendete Coignet bereits (für ein Casino in Biarritz). Das von ihm gegründete Unternehmen errichtete in Paris vor allem Kanäle und andere öffentliche Anlagen, aber Coignet war auch an einem Sakralbau beteiligt: Die Kirche Sainte Marguerite in Le Vesinet (1864), die der Architekt Louis-Charles-Boileau (1837-1914) plante, erhielt zwar gemäß dessen Entwürfen ein tragendes Gerüst aus Eisen, die Wände wurden jedoch entgegen Boileaus Intentionen nicht aus traditionellen Materialien gefertigt. Stattdessen wurde Coignet damit beauftragt, die vom Skelett unabhängigen, nicht-tragenden Wände aus vorgefertigten Gusssteinen aus Béton Agglomeré zu errichten.
Mehr Beachtung und eine größere Verbreitung erlangten jedoch erst die Patente von Joseph Monier (1823-1906). 1867 erhielt der französische Gärtner ein Patent auf die Herstellung von Blumenkübeln aus Zement mit eingelegten Drahtgittern. In den folgenden Jahren nahm er weitere Patente für eisenbewehrte Konstruktionen, unter anderem für Röhren und Behälter (1868), für Brücken (1873) und für Treppen (1875). 1875 wurde die erste Fußgängerbrücke mit einer Spannweite von 16m gebaut und bald wurde Moniers Konstruktionsweise auch für den Hochbau verwendet, vor allem zur Herstellung feuersicherer Decken. Ab 1878 wandte sich Monier vor allem der Konstruktion von Eisenbetonplatten und Verbundgewölben zu.
Moniers Patente stießen auch außerhalb von Frankreich auf großes Interesse. Obwohl er selbst die Bedeutung der richtigen Position der Eiseneinlagen noch nicht völlig durchschaute wurde sein Verfahren - vor allem in Deutschland - Grundlage für die Gewinnung wichtiger theoretischer Erkenntnisse über die Anwendung von Eisenbeton im Bauwesen.
Eine umfangreiche praktische Nutzung des neuen Materials begann in Frankreich erst durch Francois Hennebique (1842-1921). Um die Feuersicherheit von Bauwerken zu verbessern, ersetzte er bereits 1879 die eisernen Träger und Stützen der Decken durch Eisenbetonkonstruktionen. Später entwickelte er ein monolithisches Verbundsystem und erhielt 1892 ein Patent Verbundbalken. Durch Hennebiques Methode wurden Decke, Balken und Stützen zu einer Einheit verbunden, wobei Rundeisenstangen und Bügel aus Flacheisen als Verbindungsglieder dienten.
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- Christa Harlander (Author), 2004, Der Bau der Notre Dame du Raincy von Auguste Perret, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34695
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