65 Millionen Menschen waren 2016 auf der Flucht vor Verfolgung, Diktatur, sozialem Elend oder Krieg. Vor etwa 70 Jahren, zum Ende des Zweiten Weltkriegs, waren auch zahlreiche Deutsche auf der Flucht. Fluchterfahrungen – am eigenen Leib oder aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern – sind daher auch heute noch ein bekanntes Thema für viele Deutsche.
Vor diesem Hintergrund untersucht diese Arbeit, ob das Wissen über die Flucht und Vertreibung von 1945 heute noch einen Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit Geflüchteten und Migranten hat, die nach Deutschland kommen. Darüber hinaus wird betrachtet, wie die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sowie der anschließenden Flucht und Vertreibung für die heutige Zeit eingeschätzt werden.
Ferner befasst sich der Autor auch mit der Frage, wie sich die Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 in die neue Gesellschaft integrieren konnten. Wie wurden sie von der Aufnahmegesellschaft behandelt? Was weiß die heutige Bevölkerung noch über diese Ereignisse? Hat dieses Wissen einen Einfluss auf die Einstellungen der Menschen gegenüber den heutigen Geflüchteten?
Aus dem Inhalt:
- Abgrenzung von Migration, Flucht und Vertreibung;
- Geschichte der Flucht und Vertreibung in Deutschland und Europa;
- Einwanderungswellen in die BRD bis in die 1990er;
- Flucht- und Migrationsbewegungen seit 2014;
- Heutiger Umgang mit der Flucht und Vertreibung von 1945
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Themenaufriss
1.2 Zentrale Fragestellung
1.3 Methodische Vorgehensweise
2 Entwicklungsprozesse und Überlegungen während des Schreibens
3 Definitionsversuche der Begriffe Migration, Emigration, Flucht, Vertreibung, Integration und Inklusion
3.1 Migration, Emigration und Flucht
3.2 Vertreibung
3.3 Integration
3.4 Inklusion
4 Geschichte der Emigration, Migration, Flucht und Vertreibung in Deutschland und Europa
4.1 Migrationsbewegungen vom Dreißigjährigen Krieg bis 1933
4.2 Migrationsbewegungen in Deutschland von 1933 bis 1948
4.2.1 Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich von 1933 bis 1938
4.2.2 Situation deutscher Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten von Amerika
4.2.3 Situation jüdisch deutscher Flüchtlinge im Deutschen Reich von 1941 bis 1945
4.2.4 Politische Reaktionen auf die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen von 1933 und heute
4.3 Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944
4.3.1 Flucht und Evakuierung 1944/45
4.3.2 Vertreibung der Deutschen
4.4 Displaced Persons
4.5 Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Nachkriegszeit
5 Situation der Asylbewerber/innen, Gastarbeiter/innen und Flüchtlinge in Deutschland in der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre
5.1 Gastarbeiter/innen in der BRD und DDR
5.2 Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland
5.3 Situation der (Spät-)Aussiedler/innen
5.4 Gesellschaftlicher Umgang mit der Minderheit der Roma
5.5 Fremdenangst in Gesamtdeutschland
6 Flucht- und Migrationsbewegungen seit 2014
6.1 Fluchtursachen
6.2 Aufnahme der Flüchtlinge und Migranten/innen durch die deutsche Zivilgesellschaft
6.3 Ansichten und Einstellungen der Thüringer Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen und Migranten/innen
7 Zum heutigen gesellschaftlichen Umgang mit der Flucht und Vertreibung von 1945
7.1 Retroperspektive Ansichten der heutigen Gesellschaft auf die Flucht und Vertreibung von 1945
7.2 Gegenwärtige gesellschaftliche Ansichten über die aktuelle Flucht- und Migrationsbewegung in Bezugnahme auf die historischen Ereignisse der Flucht und Vertreibung von 1945
8 Zwischenzusammenfassung
9 Empirische Forschungsergebnisse
9.1 Aufbau und Ablauf des Forschungsprozesses
9.2 Beschreibung der Forschungsergebnisse aus dem Fragebogen
9.3 Beschreibung der Forschungsergebnisse der Interviews
9.4 Teilzusammenfassung empirischer Teil
10 Fazit und Schlussfolgerung
11 Literaturverzeichnis
12 Anhang
12.1 Übersicht der geführten Interviews
12.2 Interview 1: 85-jährigen Frau, die 1945 aus Oberschlesien flüchten musste. Interview durchgeführt am 1. Mai 2016 in Gera.
12.3 Interview 2: Durchgeführt am 12.06.2016 mit einer männlichen Person, 40 Jahre
12.4 Interview 3: Studentin (25 Jahre) der Universität Erfurt, durchgeführt am 07. 06. 2016
12.5 Tabellen
12.6 Fragebögen
1 Einleitung
Die Einleitung ist in drei Unterpunkte eingeteilt. Der erste Abschnitt eröffnet das Thema, im Zweiten befindet sich die zentrale Fragestellung und der dritte Punkt beschreibt die methodische Vorgehensweise.
1.1 Themenaufriss
Nach Angaben der UN sind zurzeit etwa 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie flüchten vor Krieg, Verfolgung, Diktatur, Armut und vor sozialem Elend. Viele machen sich aus diesen oder ähnlichen Gründen auf den Weg nach Europa. Während ihrer Flucht sind sie vielen Anstrengungen und Strapazen ausgesetzt. Viele Tausende haben dabei ihr Leben verloren (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2016). Bisher gibt es wenig gesicherte Zahlen darüber, wie viele Menschen auf der Flucht verunglückt sind (vgl. Wegner 2014). Fast jeden Tag finden sich in den Nachrichten Bilder und Berichte von Flüchtlingen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben und dabei auf der Überfahrt im Mittelmeer oder anderswo gestorben sind. Eine Gruppe von Journalisten/innen hatte sich die Mühe gemacht, die Zahlen über das Ausmaß der Flüchtlingsbewegungen von 2000 bis 2014 zusammenzutragen. Hierbei sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass in diesem Zeitraum etwa 23.000 Flüchtlinge auf ihren Weg nach Europa verstorben sind oder als vermisst gelten (vgl. Wegner 2014). Aber auch wenn sie in Europa und in Deutschland angekommen sind, befinden sie sich in einer schwierigen Situation. Mit der zunehmenden Zahl ankommender Flüchtlinge steigt die Zahl der Übergriffe auf Migranten/innen und Flüchtlingsunterkünfte, ebenso sind Hasskommentare in den sozialen Netzwerken sehr häufig zu finden. Bei vielen Bürgern/innen steigt die Ablehnung gegenüber den Flüchtlingen und Migranten/innen mit zunehmender Tendenz. Zugleich steht ein anderer Teil der Bevölkerung den Neuankömmlingen positiv gegenüber und heißt sie willkommen. Sie engagieren sich ehrenamtlich, versuchen ihnen zu helfen und geben Unterstützung (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden – Württemberg 2016).
Vor etwa 70 Jahren waren die Deutschen selbst von einer der größten Fluchtbewegung betroffen. Mit beginnendem Kriegsende sind ab 1944/45 ca. 14 Millionen Deutsche geflüchtet oder wurden nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieben (vgl. Brühns 2008). Somit sollten für die meisten Deutschen Flucht, Vertreibung und Migration keine unbekannten Themen sein, da sie diese entweder selbst miterlebt haben oder es aus den Erzählungen und Berichten ihrer Eltern oder Großeltern kennen.
1.2 Zentrale Fragestellung
Aus diesem Grund stellt sich für mich die Frage, ob das Wissen über die Flucht und Vertreibung von 1945 einen Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten/innen hat, die aktuell nach Deutschland kommen. Weiterhin interessiert mich, wie die Menschen die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges mit der anschließenden Flucht und Vertreibung für die heutige Zeit auf politischer und gesellschaftlicher Ebene einschätzen und welches Wissen sie über diese historischen Vorgänge besitzen. Ferner möchte ich mich der Frage annehmen, wie sich die Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 in die neue Gesellschaft integrieren konnten, wie sie von der Aufnahmegesellschaft behandelt wurden, was die heutige Bevölkerung darüber weiß und inwieweit das Wissen über diese Vorgänge einen Einfluss auf die Einstellungen der Menschen gegenüber den heutigen Flüchtlingen hat.
1.3 Methodische Vorgehensweise
Für die Bearbeitung des Themas und der Fragestellung habe ich die Masterarbeit in zehn Kapitel eingeteilt. Der Hauptteil besteht aus dem Theorie- und Forschungsteil. Dieser umfasst insgesamt sechs Kapitel. Um sich dem Thema anzunähern, unternehme ich im Kapitel drei den Versuch, die Begrifflichkeiten Migration, Emigration, Flucht, Vertreibung, Integration und Inklusion zu definieren. Das vierte Kapitel geht auf die deutsche Migrationsgeschichte ein, angefangen vom dreißigjährigen Krieg über die Flucht der Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich bis hin zu den Flüchtlingen, die in den 1990er Jahren in die BRD kamen. Ein großes Thema bildete hier die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den damaligen deutschen Ostprovinzen. Im fünften Kapitel wird auf die Situation der Gastarbeiter/innen und Asylbewerber/innen eingegangen, die ab den 1960er Jahren in die BRD und DDR kamen. Das Kapitel sechs bezieht sich auf die aktuelle Flucht- und Migrationsbewegung und im siebten Abschnitt wird geschildert, wie die heutige Gesellschaft die Flucht und Vertreibung rückblickend aus ihrer Perspektive betrachtet und wie sie unter Berücksichtigung dieser historischen Ereignisse die aktuelle Flucht bewertet. Ab dem neunten Kapitel beginnt der Forschungsteil. Hierbei werden die Ergebnisse einer von mir durchgeführten Onlinebefragung und von drei geführten Interviews vorgestellt.
2 Entwicklungsprozesse und Überlegungen während des Schreibens
Zu Beginn der Masterarbeit überlegte ich mir, wie ich das Thema bestmöglich bearbeite und wie ich mich der zentralen Fragestellung annähern kann. Um einen ersten Überblick zu erhalten, las ich einige Zeitschriften, Tageszeitungen, Magazine, Bücher, Internetartikel und schaute mir Filme an, die über die Flucht von 1945 und von heute berichteten. Zusätzlich kaufte und lieh ich mir Bücher und Magazine. Einige Medien musste ich über die Fernleihe bestellen. Ebenso interviewte ich meine Großmutter, die im Winter 1945 aus Niederschlesien geflohen ist und besuchte einen Vortrag von Frau Dr. Schrafstetter, die über das Thema der Flucht und Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland referierte. Den Vortrag habe ich anschließend wortwörtlich transkribiert und im Anhang beigefügt
Somit konnte ich mir einen Überblick über die damalige und aktuelle Lage von flüchtenden und geflüchteten Menschen verschaffen, die entweder aus, nach oder innerhalb Deutschlands geflohen sind oder sich noch auf der Flucht befinden. Während meiner Recherchen im Internet habe ich mehrere Namenslisten gefunden, welche die Flucht meiner Großmutter mit ihrer Familie dokumentiert. Auf der Liste standen Namen, Wohnanschriften, der genaue Zeitpunkt der Flucht, die Fluchtrichtung und die mutmaßlichen Todesumstände einiger Verwandten. Dadurch hatte ich einen sehr persönlichen Bezug zu meiner Masterarbeit bekommen. Höchstwahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich mich mit der Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 sehr intensiv beschäftigt habe und diese innerhalb der Masterarbeit einen relativ großen Stellenwert einnimmt.
Für das Kapitel 4.3.2 (Vertreibung der Deutschen) habe ich mir das Buch – „Germany. Memories of a Nation“ – des britischen Kunsthistorikers und Leiter des Britischen Nationalmuseums als Grundlage ausgesucht, um auch eine externe Sichtweise für das Themenfeld der Flucht und Vertreibung einzuholen. Hierbei fand ich die Außenperspektive eines ausländischen Historikers sehr interessant. Als ich mich im weiteren Verlauf meiner Recherchen mit der Aufnahmebereitschaft der Flüchtlinge und Vertriebenen beschäftigte, war ich sehr erstaunt darüber, wie schlecht sie von der einheimischen Bevölkerung behandelt wurden. Ebenso überrascht war ich über die große Anzahl an Flüchtlingen und Vertriebenen und dass trotz dieser großen Zahl an Heimatlosen heutzutage nur noch wenige Menschen von diesen Vorgänge Kenntnis haben.
Neben den Flüchtlingen und Vertriebenen von 1945, wurde es den anderen nichtdeutschen Flüchtlingen, Asylbewerbern/innen, ausländischen Arbeitskräften und Migranten/innen in der Nachkriegszeit und nach der Wiedervereinigung nicht immer leicht gemacht, in Deutschland verweilen zu können. Während der Literaturrecherche stieß ich auf einen Videobericht aus dem Jahr 1992, der über die Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen berichtete. Die Ausschreitungen dauerten mehrere Tage an. Bis dahin hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich so viele Menschen an den Anschlägen beteiligt hatten und so etwas überhaupt hierzulande möglich ist. Als ich die Bilder von Rostock sah, dachte ich, dass die Situation von 1992 mit der heutigen Lage fast wieder vergleichbar ist, denn gegenwärtig brennen auch wieder Flüchtlingsunterkünfte und die Gewaltbereitschaft ist gestiegen.
Aufgrund der gesamten stattgefundenen Ereignisse war ich beinahe zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Prozesse der Ausgrenzung und Diskriminierung in regelmäßigen Abständen wiederholen und es eine latente Fremdenfeindlichkeit innerhalb der Gesellschaft gibt, die hin und wieder zum Vorschein kommt. Jedoch sind mir auch die Bilder und Berichte von Menschen in den Sinn gekommen, die sich derzeit ohne Eigennutz für Flüchtlinge engagieren und helfen. Daraufhin bin ich der Frage nachgegangen, was die Menschen eigentlich antreibt, so zu handeln wie sie handeln und welche Rolle das Wissen über die Vorgänge der Flucht und Vertreibung von 1945 für sie spielt, zumal viele von ihren Familienmitgliedern selbst Flüchtlinge waren.
Während des gesamten Schreibprozesses fragte ich mich natürlich, warum so viele Menschen so viel Hass und/oder Vorurteile gegenüber Flüchtlinge oder andere Fremde haben. Die ganze Zeit dachte ich, dass eine bestimmte Angst dahinter stecken könnte und sich einige Menschen dieser Angst bedienen. Dem wollte ich nachgehen und habe aus diesem Grund das Buch von Heinz Bude – Gesellschaft der Angst – gelesen. Ebenso habe ich mich mit den thematischen Inhalten der AfD beschäftigt, da sie sich der Angst der Bevölkerung bedienen und diese für sich nutzen. Jedoch kommt das Themengebiet nicht als eigenständiger Teil in der Arbeit vor, da es zu umfangreich wäre. Für eine eigene Masterthesis würde es sich aber gut eignen.
3 Definitionsversuche der Begriffe Migration, Emigration, Flucht, Vertreibung, Integration und Inklusion
In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die Begriffe Migration, Flucht, Vertreibung, Integration und Inklusion zu beschreiben. Es wird dargestellt, welche Migrationsformen es gibt und der Übergang zwischen den Begriffen Migration und Flucht fließend ist. Ebenso wird im Unterkapitel 3.2 erklärt, dass die definierten Unterscheidungsformen zwischen einer Flucht und einer Vertreibung grundlegende Folgen für die betreffenden Personenkreise haben können.
3.1 Migration, Emigration und Flucht
Der Ursprung des Wortes Migration kommt aus dem lateinischen (migratio) und bedeutet Wanderung. Weitere Begriffe für Migration sind Emigration (Auswanderung) und Immigration (Einwanderung) und wurden aus dem englischen Wortschatz in das Deutsche übernommen. Alle drei Begriffe sind in Deutschland gebräuchlich. Jedoch hat sich in den letzten Jahren der Begriff Migration durchgesetzt. Es bezeichnet im Allgemeinen die Verlagerung eines Lebensmittelpunktes von einem Land in das Andere. Die Vereinten Nationen definieren Migration als Aufenthalt in einem Aufnahmeland, welches mehr als ein Jahr andauert (vgl. Meier-Braun 2015, S. 33). Flüchtlingsströme und Wanderungsbewegungen sind eine weltweite Herausforderung. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt Europa überwiegend als Auswanderungsregion. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die neu gegründeten EU-Staaten zum bevorzugten Ziel der transnationalen Migration. Mittlerweile sind fast alle EU-Staaten zu Einwanderungsländern geworden und weisen somit eine positive Einwanderungsbilanz auf. Nicht alle Mitgliedsstaaten sind von der Einwanderung gleichermaßen betroffen. Im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungsgröße hatte Luxemburg bis zum Jahr 2013 die höchsten Nettozuwanderungszahlen, gefolgt von der Schweiz, Irland und Spanien. Die niedrigsten Zuwanderungszahlen ließen sich in Portugal, Frankreich und Italien feststellen (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 616).
Die Migrationsforschung unterscheidet mehrere Migrationstypen die vorrangig auf die Ursachen der Migration schaut. So liegen die Hauptursachen der Zuwanderung vorrangig in der Flucht vor Verfolgung, Krieg/Bürgerkrieg, familiären Gründen und der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen begründet. In der BRD sind seit den ersten Anwerbungen für Gastarbeiter/innen von 1955 mehr als 30 Millionen Migranten/innen eingewandert, von denen rund 8 Millionen Menschen auf dauerhaft geblieben sind (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 616). Insgesamt unterscheidet die Migrationsforschung fünf Zuwanderungstypen: Den/die Unionsbürger/in, den/die Spätaussiedler/in, den Familiennachzug, den/die Asylbewerber/in und die Arbeitsmigration.
Dem/der Unionsbürger/in wird in der migrationspolitischen Debatte nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Aufgrund der Freizügigkeit innerhalb der Staatengemeinschaft können EU-Bürger/innen sich frei bewegen. In der gesamten Europäischen Union kommen maximal 2% aller Arbeitskräfte aus anderen Mitgliedsstaaten. Diese Form der Freizügigkeit setzt keine Zuwanderungswelle frei. In den 1970er Jahren befürchteten Deutschland und Frankreich eine starke Zuwanderung von italienischen Arbeitskräften auf ihrem heimischen Arbeitsmarkt, der jedoch ausblieb. Durch die Angleichung des wirtschaftlichen Entwicklungs- und Einkommensniveaus in den EU-Mitgliedstaaten verringerte sich der Wanderungsimpuls der Unionsbürger/innen und eine geringe Mobilität stellte sich ein. Jedoch kam es durch die EU-Osterweiterung zu einem leichten Anstieg der Migrationsbewegung von Ost- nach Mitteleuropa (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 616).
Spätaussiedler/innen sind deutsche Volkszugehörige, die seit Generationen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten wohnen, die deutsche Vorfahren haben und im Rahmen eines speziellen Aufnahmeverfahrens ihren Aufenthalt in Deutschland anstreben (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013). Die Zuwanderung von Spätaussiedlern in die Bundesrepublik verlief bis Mitte der 1980er Jahre aufgrund der vorhandenen Deutschkenntnisse relativ unauffällig und unproblematisch. Erst mit dem Zerfall der Ostblockstaaten und der Sowjetunion stieg die Zahl der Migrationsbewegung. Ab 1993 forderte die Bundesrepublik, dass Spätaussiedler/innen nur unter der Bedingung die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie einen Nachweis über ihre deutschen Vorfahren erbringen können und zusätzlich über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Dadurch verringerten sich die Zuzugszahlen in der BRD (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 617).
Der dritte Zuwanderungstyp ist der des Familiennachzuges. Dieser ist für die Zuwanderung nach Deutschland von quantitativer Bedeutung. Aufgrund des besonderen grundgesetzlichen Schutzes von Ehe und Familie haben ausländische Ehepartner und minderjährige Kinder bis 16 Jahren einen Anspruch auf Einreise, wenn ein Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder sich legal in der BRD aufhält. Mit Beginn des Anwerbestopps von 1973 nahm diese Form der Zuwanderung kontinuierlich zu (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 617).
Die vierte Form der Migration ist die des Asyls bzw. die des Asylsuchenden (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 617). Unter Asyl versteht man einen sicheren Zufluchts- und Aufenthaltsort, von dem der/die Asylsuchende nicht gewaltsam weggeholt werden kann. Für die Gewährung eines Asylantrages prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Voraussetzungen (vgl. Gilles 2016). Asylbewerber/innen sind Menschen, die ihr Herkunftsland wegen Furcht vor Verfolgung, aus politischen, religiösen, ethnischen, nationalen, geschlechtsspezifischen Gründen oder durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Minderheit, verlassen müssen. Bis Ende der 1980er Jahre kamen jährlich rund 7.000 Personen aus dieser definierten Gruppe nach Deutschland. Bis 1992 stieg ihre Zahl auf 438.191 Asylsuchende stark an. Im gleichen Jahr reagierte die Politik mit dem sogenannten Asylkompromiss darauf, um die Zahl der Flüchtlinge einzudämmen. Ab 1993 gingen die Zahlen zurück und im Jahr 2005 gab es noch 28.914 Asylsuchende in Deutschland. Im Jahr 2007 ist der Anteil der Asylanträge wieder angestiegen. 2010 waren es mehr als 41.000 Anträge, das ist im Vergleich zu 2009 ein Anstieg von fast 50%. 2010 kam ein hoher Anteil der Asylsuchenden aus Afghanistan, Serbien, Irak, Iran und Somalia, jedoch wurden im gleichen Jahr 27.000 Asylbewerber/innen abgelehnt und nur 7.700 wurden anerkannt. In der Zeit der 1990er Jahre hatte Deutschland rund 350.000 Bürgerkriegsflüchtlinge, die überwiegend aus Bosnien-Herzegowina kamen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die meisten Flüchtlinge wieder in das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zurückgekehrt (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S.617).
Der fünfte und letzte Zuwanderungstyp ist der der Arbeitsmigration. Dieser Typ nimmt innerhalb der Migranten/innen einen großen Anteil ein, wobei die gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer in Westdeutschland offiziell 1973 eingestellt wurde (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 617). In dem Zeitraum von 1955 bis 1973 kamen rund 14 Millionen Arbeitsmigranten/innen nach Westdeutschland, davon kehrten im gleichen Zeitraum 11 Millionen wieder in ihre Heimat zurück. Die Türkei, Italien, ehem. Jugoslawien, Portugal, Griechenland und Spanien waren die Hauptanwerbeländer der Bundesrepublik. Jedoch fanden nach 1973 weiter Arbeitsmigrationen statt. Durch bestimmte Ausnahmegenehmigungen wie z. B. durch Saison- und Werkvertragsarbeitnehmerverträge oder im Rahmen der Green Card Regelung von 2000 bis 2004, hat die Bedeutung der Arbeitsmigration für die BRD nie wirklich abgenommen (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 617).
3.2 Vertreibung
Eine einheitliche völkerrechtliche Definition für die Beschreibung des Begriffes Vertreibung gibt es, im Gegensatz zu den Definitionen der Begriffe Flüchtlinge, Asylbewerber/in, Emigranten/innen und Migranten/innen, nicht. Weder in der politischen Praxis noch in der Forschung besteht Einigkeit darüber, wer in diese Gruppe fällt. Die Vereinten Nationen (UN) bezeichnen aber diejenigen als Vertriebene, die aufgrund von bewaffneten innerstaatlichen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, Menschenrechtsverletzungen, menschlich verursachten Katastrophen und Naturkatastrophen gezwungen sind, ihren Lebensmittelpunkt zu verlassen, dabei jedoch keine international anerkannte Staatsgrenze überschritten haben, also innerhalb eines Landes geflohen sind. Aus diesem Grund werden sie auch als Binnenvertriebene oder Binnenflüchtlinge bezeichnet. Wegen dieser Besonderheit gibt es für Vertriebene kein offizielles Mandat durch humanitäre Hilfsorganisationen, diese zu schützen. In der alltäglichen Praxis leisten aber viele internationale Hilfsorganisationen in den Krisengebieten Hilfe, da die Notsituationen sehr komplex sind und es häufig zu einer Vermischung zwischen Binnenflucht und grenzübergreifender Flucht kommt. Auch geht es den meisten humanitären Hilfsorganisationen nicht um den Flüchtlingsstatus, hier steht die Situation des Vertriebenen im Mittelpunkt.
Die Vereinten Nationen nehmen noch die zusätzliche Unterscheidung zwischen den Gruppen der Flüchtlinge bzw. der Vertriebenen und denen der Migranten/innen vor, da davon ausgegangen wird, dass Migranten/innen ihre Wanderungsbewegung freiwillig angetreten haben und sie grundsätzlich mehrere Handlungsalternativen besitzen würden. Für die Gruppe der Migranten/innen hat sich in den letzten Jahren eine Interessenvertretung gebildet, die aber im Vergleich zu den anderen Flüchtlingsvertretern/innen eine institutionelle und völkerrechtliche geringere Durchsetzungskraft hat (vgl. Angenendt o.J., S. 1f.). Durch die Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen, Vertriebenen und Migranten/innen ist das Problem der Zuständigkeiten aufgetreten. Dadurch stellt sich die Frage, wer für wen zuständig ist und wer welche Maßnahmen für wen durchführt und finanziert bzw. welches Mandat ausgeführt werden soll. So stehen zum Beispiel Flüchtlinge unter dem Schutz der internationalen Flüchtlingskonventionen. Migranten/innen kommt dieser Schutz nicht zu. Diese gruppenbezogenen Definitionen und Unterscheidungen haben für die Betroffenen existenzielle Auswirkungen, da es hier nicht selten um ihr Überleben geht. In den aktuellen Krisengebieten wird die Unterscheidung jedoch immer schwieriger, zumal viele Migranten/innen nicht immer ihren Lebensmittelpunkt freiwillig verlassen (vgl. Angenendt o.J., S. 3).
3.3 Integration
Das Wort Integration komm aus dem Lateinischen (integrare) und bedeutet wörtlich übersetzt wiederherstellen oder herstellen eines Ganzen. In diesem Zusammenhang ist es so zu verstehen, dass das Verschiedene zusammengeführt werden soll, wobei das Verschiedene als solches immer kenntlich bleibt. Bei der Integration geht es in erster Linie um die Chancengleichheit in wichtigen Bereichen der Gesellschaft und um die Angleichung der Lebensverhältnisse für solche Personen, die einen Migrationshintergrund haben. Sie sollen an die Verhältnisse der Aufnahmegesellschaft angepasst werden. Im Allgemeinen werden vier Bereiche der Integration unterschieden: die sogenannte strukturelle Dimension, den Zugang zu Kernbereichen der Gesellschaft, (z. B. Bildungssystem und Arbeitsmarkt), die kulturelle Integration (Erlernen der Sprache, Übernahme von Verhaltensweisen und Normen der Aufnahmegesellschaft) und die soziale Integration (Kontakte zwischen Einwanderern und Einheimischen) (vgl. Meier-Braun 2015, S. 33). In der politischen Diskussion wurde Integration oft als Assimilation missverstanden. Assimilation bedeutet, dass die Gruppe der Migranten/innen die eigenen kulturellen und sprachlichen Identitäten aufgeben müssen und sich der neuen Gesellschaft voll und ganz anpassen sollen. Aus diesem Grund bietet der Begriff der Integration viel Raum für Diskussionen und Streitigkeiten (vgl. Meier-Braun 2015, S. 34). Integration ist ein wechselseitiger Prozess zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Migranten/innen und Flüchtlingen. Hierbei sollen nicht nur die Einwanderer/innen an die Gesellschaft angepasst werden, sondern auch die einheimische Bevölkerung sollte ihren Beitrag dazu leisten (vgl. Meier-Braun 2015, S. 34).
Gesellschaftliche Integration setzt im Wesentlichen zwei Bedingungen voraus. Das Eine ist die wechselseitige Akzeptanz und Toleranz zwischen den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft und den Mitgliedern der Migranten/innen. Das Andere betrifft die Gleichbehandlung bzw. Chancengleichheit in den oben genannten vier Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 619). Die jahrzehntelange Festlegung, dass Deutschland kein Einwanderungsland wäre, erschwerte von politischer Seite aus die Integration der Migranten/innen. Diese normative Ansicht wurde erst vor kurzem aufgegeben. Sie verhinderte eine gestaltende und aktive Integrationspolitik und leugnete bis dahin gleichzeitig die Veränderungen der Gesellschaft durch eben diese Zuwanderung (vgl. Kreft & Mielenz 2013, S. 618). Tatsache ist aber, dass allein schon von 1955 bis 1973 ca. 14 Millionen Migranten/innen in die Bundesrepublik kamen und weitere 4,5 Millionen Spätaussiedler/innen aus Südost- und Osteuropa einreisten. Von den 14 Millionen Migranten/innen zogen 11 Millionen wieder zurück. Viele, die sich in der Bundesrepublik eine neue Heimat aufbauten, holten im Rahmen der Familienzusammenführung ihre Angehörigen nach oder gründeten eine neue Familie (vgl. Meier-Braun 2015, S. 35). Aktuell leben in Deutschland rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Und dennoch gibt es auch heute wieder viele Streitigkeiten darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht ist (vgl. Meier-Braun 2015, S. 36).
3.4 Inklusion
Im Rahmen der politisch geführten Integrationsdebatte von 2011 kam die Frage auf, wie der Begriff Inklusion, der bekannter weise im Hinblick auf Menschen mit Behinderung verwendet wird, auch die Integrationsdebatte weiterentwickeln kann und ein neues Leitbild für eine inklusive Gesellschaft entstehen könne (vgl. Özdemir 2011). Ziel einer inklusiven Politik ist die Schaffung einer Gesellschaft, in der jedem Menschen die gesellschaftliche Teilhaben möglich ist. Hierbei sollen die Verschiedenheiten und einzelnen Lebensrealitäten nicht an der Mehrheitsgesellschaft angepasst oder abgeändert werden, sondern vielmehr anerkannt, akzeptiert und geschätzt werden bzw. als Gewinn für die Aufnahmegesellschaft betrachtet werden. Jeder Mensch soll demnach unabhängig von seinen persönlichen Merkmalen den gleichen Anspruch auf Würde, einen barrierefreien Zugang zur gesellschaftlichen Infrastruktur und gleiche Rechte auf Teilhabe besitzen dürfen. Eine soziale Ausgrenzung soll damit verhindert werden (vgl. Özdemir 2011).
Bisher wurde in der Migrationsforschung vom Ansatz der Integration ausgegangen. Dieser geht von einem Leistungsprinzip aus, der die Aufforderung beinhaltet, sich durch eigene Anstrengungen in die Gesellschaft zu integrieren und anzupassen bzw. im besten Fall ein wechselseitiger Prozess entsteht. Häufig werden aber strukturelle Ausgrenzungs- und Benachteiligungsprozesse, wie z. B. im Schul-, Bildungs- und Arbeitsmarktsystem, sowie auf dem Wohnungsmarkt nicht bedacht. Inklusion geht einen Schritt weiter, weil sie eine Überprüfung dieser strukturellen Exklusion und Diskriminierung fordert. Nach dem Inklusionsmodell werden besondere Fähigkeiten, welche die Migranten/innen durch die Kenntnis zweier Sprachen und Kulturen erworben haben, als Gewinn von Vielfalt und Bereicherung verstanden. Migranten/innen sind demnach nicht gezwungen, ihre kulturelle Identität aufgeben zu müssen um sich anpassen zu können. Hierbei redet man nicht nur von der Anerkennung von Unterschieden, sondern ebenso derer positive Wertschätzung (vgl. Europäische Akademie für Inklusion 2012).
4 Geschichte der Emigration, Migration, Flucht und Vertreibung in Deutschland und Europa
In dem Kapitel 4 wird auf die europäisch-deutsche Migrations- und Fluchtgeschichte eingegangen. Angefangen vom Dreißigjährigen Krieg, über die Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland, bis hin zur Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand.
4.1 Migrationsbewegungen vom Dreißigjährigen Krieg bis 1933
Durch den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 waren einige deutsche Gebiete stark zerstört und viele Landstriche waren entvölkert. Aus diesem Grund warben die jeweiligen Landesherren erwerbsfähige und steuerpflichtige Personen aus anderen Regionen an. Die kriegszerstörten Gebiete sollten dadurch wieder aufgebaut werden und mehr Geld in die Landeskasse fließen. Somit wurden große Teile der deutschen Gebiete zu zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Des Weiteren zogen Glaubens-flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Die wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Einwanderungsgruppe waren die Hugenotten. Von ihnen zogen ca. 30.000 bis 40.000 in die Gebiete nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die Hansestädte und in die welfischen Herzogtümer. Diese Einwanderungsbewegung dauerte bis Mitte des 18. Jahrhunderts an. Danach dominierte bis 1830 die Abwanderung nach Südost- und Osteuropa. Zusätzlich immigrierten zwischen 1816 und 1914 rund 5,5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort stellten die deutschen Einwanderer von 1820 bis 1860 mit 30% die zweitstärkste und von 1861 bis 1890 die stärkste Einwanderungsgruppe dar (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). In den Vereinigten Staaten hatten es die Deutschen nicht leicht, das neue Land als ihre Heimat zu bezeichnen. Sie waren dort vielen Schwierigkeiten und dem Argwohn der hiesigen Bevölkerung ausgesetzt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren bereits ein Drittel der Bevölkerung von Pennsylvanien deutsche Migranten/innen und viele von ihnen waren noch auf den Weg von Deutschland in die Vereinigten Staaten. Deswegen sprach man vielen Orts von einem deutschen Problem in Amerika. Benjamin Franklin schrieb dazu folgenden Satz:
„Warum sollte Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, eine Kolonie von Fremden werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, anstatt das wir sie anglisieren?“ (Meier-Baum 2015, S. 24).
Dieser Satz spiegelt die allgemeine Stimmung gegen die deutschen Einwanderer wieder. Hier lässt sich deutlich die Angst vor einer Überfremdung und einer anderen Kultur herauslesen. Der/die Deutsche wurde als Eindringling gesehen, der/die eine andere Sprache, ein anderes Temperament, einen anderen Kleidungsstil und eine andere Esskultur hatten. Die Politik diskutierte über das deutsche Problem in Amerika und man versuchte mit einigen Interventionsmöglichkeiten darauf zu reagieren. So bot man auch deutschen Einwanderer/innen eine kostenlose englische Schulbildung mit der Hoffnung an, dass diese lieber eine kostenfreie englische Schule besuchen würden, als eine kostenpflichtige deutsche Schule, denn die deutschen Einwanderer/innen waren dafür bekannt, dass sie ihre eigene Sprache sehr schätzten und liebten. Ein weiterer politischer Vorschlag war keine weiteren Deutschen mehr in den Staat Pennsylvania einreisen zu lassen. Auf den Vorschlag, Ehen zwischen Deutschen und Angloamerikanern staatlich zu subventionieren, reagierte Benjamin Franklin mit folgendem Satz:
„Den sechsten Vorschlag, Mischehen zwischen den Angloamerikanern und den Deutschen mittels Geldspenden zu fördern, halte ich entweder für zu teuer oder ohne Aussicht auf Erfolg. Die Deutschen Frauen sind im Allgemeinen so wenig anziehend für einen Engländer, dass es enorme Mitgift erfordern würde, Engländer anzuregen, sie zu heiraten“ (Meier-Baum 2015, S. 24).
Man kann gut erkennen, dass die deutschen Einwanderer ähnliche gesellschaftliche Probleme hatten wie die Flüchtlinge und Migranten/innen, die heute nach Deutschland kommen. Auch sie waren Vorurteile der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt.
Durch die industrielle Revolution und der verbundenen Ausweitung wirtschaftlicher Chancen sowie der Agrarmodernisierung in Deutschland ebbte die transatlantische Migrationsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 sanken die Auswanderungszahlen erheblich. Gleichzeitig war der Beginn des 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Flüchtlinge in Europa. Das Deutsche Kaiserreich war kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges zu einem asylfeindlichen Staat geworden. Das änderte sich aber mit Ausbruch des Krieges im Jahr 1914. Da viele Männer zum Militär eingezogen wurden, stieg der Bedarf an Arbeitskräften vor allem in der Rüstungsindustrie an. Dieser Arbeitskräftebedarf führte zu einem starken Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Der erfolgte in den meisten Fällen nicht freiwillig. Zwangsarbeit dominierte das Beschäftigungsverhältnis der ausländischen Arbeiter/innen (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Weimarer Republik Ziel vieler Flüchtlinge, die vor den Folgen der Oktoberrevolution von 1917 aus Russland nach Deutschland immigrierten. Auch durch die Etablierung des Sowjetsystems im alten Zarenreich und des anschließenden Bürgerkrieges, haben viele Russen das Land in Richtung Westen verlassen. Hinzu kamen Zehntausende Juden aus Osteuropa, die vor antisemitischen Strömungen und Pogromen in Deutschland Schutz suchten (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2).
4.2 Migrationsbewegungen in Deutschland von 1933 bis 1948
Dieses Unterkapitel geht verstärkt auf die Flüchtlinge ein, die ab 1933 Deutschland verlassen mussten. Weiterhin wird die Situation der Menschen dargestellt, die sich während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verstecken mussten und untergetaucht sind, um der Deportation zu entgehen. Ebenso wird dem/der Leser/in die Konferenz von Evian vorgestellt.
4.2.1 Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich von 1933 bis 1938
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde Deutschland wieder zu einem asylfeindlichen Staat. Zusätzlich vertrieben die Nazis etwa eine halbe Millionen Menschen aus dem deutschen Reichsgebiet. Das betraf politische Gegner des NS-Regimes, solche, die die Machthaber dafür hielten sowie Künstler/innen, Wissenschaftler/innen und Personen, die nicht in das ideologische Schema des Nationalsozialismus passten. Dazu zählte vor allem der jüdische Teil der Bevölkerung, von denen ca. 280.000 aus Deutschland flüchten konnten. Insgesamt nahmen über 80 Staaten Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich auf (vgl. Hanewinkel & Oltmer 2015, S. 2). Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach 1933 vertrieben wurden, beträgt in etwa 500.000 Personen. Davon stammten rund 360.000 aus Deutschland und 140.000 aus Österreich, welches 1938 von Deutschland annektiert wurde. Nach dem im April 1933 das Gesetz zu Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen wurde, verloren die deutschen Universitäten ein Viertel ihres Lehrkörpers. Aus politischen und rasseideologischen Gründen wurde eine Vielzahl von Personen aus dem Hochschulbetrieb entlassen. Kurze Zeit später kam das Parteienverbot hinzu. Daraufhin wurden im Sommer 1933 die ersten Ausbürgerungslisten angefertigt. Bis Anfang 1945 kamen noch weitere 358 solcher Listen hinzu. Die Verbote und Listen hatte zur Folge, dass die Anzahl flüchtender Deutschen zunahm (vgl. Krohn 2011, S. 1f.). Die Meisten flohen nach der Machtübernahme in die unmittelbaren Nachbarländer Deutschlands. So gingen Viele in die Tschechoslowakei, Frankreich, Schweiz, Niederlande oder nach Skandinavien mit der Hoffnung, dass die NS-Herrschaft bald ein Ende haben würde. Teile der SPD-Führung flohen nach Prag. Aufgrund der repressiven Einreisebedingungen gingen nur wenige Mitglieder der KPD in die Sowjetunion. Die Türkei und Palästina (Letztgenanntes unter britischem Mandat) hatten seit 1933 durch spezielle Abkommen eine gezielte Einwanderung gefördert. Jedoch hatte die britische Regierung die Zahlen der Einwanderung in Palästina begrenzen wollen. Die Organisation Jewish Agency sorgte durch ein Transferabkommen mit Deutschland dafür, dass Flüchtlinge aus dem wohlhabenden Mittelstand nach Palästina kommen konnten. Die Türkei, unter der Regierung von Kemal Pascha Atatürk (Gründer der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg), warb nach 1933 gezielt entlassene deutsche Wissenschaftler nebst Familienangehörigen an, von denen sich Atatürk einen Beitrag zu Modernisierung der noch jungen Türkei (bis 1923 noch Osmanisches Reich) erhoffte (vgl. Krohn 2011, S. 2).
Zunächst beschränkten sich die Fluchtbewegungen überwiegend auf die Nachbarländer Deutschlands und die Türkei und Palästina. Das änderte sich ab 1938 mit den „Anschluss“ Österreich an das Deutsche Reich, der Besetzung des Sudetenlandes und der Tschechoslowakei und nach der Reichspogromnacht. Nachdem Italien ebenfalls die Rassegesetze nach deutschem Vorbild einführte und Spanien nach dem Bürgerkrieg von einer faschistischen Regierung geführt wurde, boten diese Länder auch keine sichere Zufluchtsstelle für Flüchtlinge mehr. Hin und wieder gelang es größeren Flüchtlingsgruppen nach Lateinamerika (in Argentinien 35.000, Brasilien 16.000 Migranten/innen) und Südamerika (5.500) zu fliehen. Bis zur japanischen Besetzung bot auch Shanghai einen visafreien Zugang; dorthin flohen nach 1938 rund 18.000 deutsche Migranten (vgl. Krohn 2011, S. 2).
4.2.2 Situation deutscher Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten von Amerika
Durch Diskriminierungen und erlassene Berufsverbote sind viele Akademiker/innen, Künstler/innen und Schriftsteller/innen nach Hitlers Machtantritt in die USA immigriert. Die Entlassungswellen an den deutschen Universitäten trafen vor allem die modernen Wissenschaftsdisziplinen wie z. B. Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie, Architektur, Biochemie und Atomphysik. Diese Disziplinen waren in den 1920er Jahren gerade in ihrer Professionalisierungsphase. Ende der 1930er Jahre erfolgte durch die Besetzung der deutschen Nachbarländer durch die Wehrmacht eine weitere Ausreisewelle. Von den deutschen Flüchtlingen sind etwa 130.000 Personen in die USA immigriert (vgl. Krohn 2011, S. 2).
Während die amerikanischen Bevölkerung den deutschen Flüchtlingen überwiegend skeptisch und mit ablehnender Haltung gegenüberstand, sahen viele weitblickende Intellektuelle schon 1933 die Chance, die Deutschen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu integrieren. Viele amerikanische Akademiker/innen und führende Vertreter/innen wissenschaftlicher Disziplinen hatten in den 1920er Jahren an deutschen Hochschulen studiert und schätzten das deutsche Bildungssystem und das Potential der Wissenschaftler/innen. Diese Wertschätzung bestand schon seit vielen Jahrzehnten, denn einige amerikanische Universitäten wurden nach deutschem Vorbild gegründet. Man wollte gezielt dieses Potential nach Nordamerika holen. So gründete der Direktor des Institute of International Education an der New York University sofort nach Bekanntwerden der Entlassungen in Deutschland ein Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars, das zusammen mit der Rockefeller Fondation die Platzierung von mehreren Hundert deutschen Wissenschaftlern ermöglichte. Darüber hinaus hatte die Rockefeller Fondation mit mehreren Millionen US-Dollar ihr eigenes Hilfsprogramm entwickelt (vgl. Krohn 2011, S. 5).
An der New York University machte schon bald der Slogan des Kunsthistorikers Walter William Spencer Cook die Runde: „Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples“ (Fermi 1968, S. 78 zit. n. Krohn 2011, S. 6). Dadurch wurde die Erkenntnis ausgedrückt, dass die Flüchtlinge aus Deutschland und Europa wichtige Anregungen in fast allen Feldern, vor allem aber in den Sozialwissenschaften, der Kunstgeschichte, Ökonomie, Architektur, Atomphysik, Biochemie und in anderen Naturwissenschaften eingebracht haben.
4.2.3 Situation jüdisch deutscher Flüchtlinge im Deutschen Reich von 1941 bis 1945
Dieses Unterkapitel beschäftigt sich mit der Situation jüdischer Flüchtlinge, die versuchten sich zwischen 1941 und 1945 in Deutschland zu verstecken oder die Flucht wagten. Dieser spezielle Teil der deutsch-jüdischen Geschichte ist noch nicht systematisch erforscht worden. Aus diesem Grund gibt es darüber keine ausreichende wissenschaftliche Fachliteratur. Professorin Frau Dr. Susanna Schrafstetter von der University of Vermont (USA) beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und hielt am 5. Januar 2016 im Erfurter Rathaussaal einen Vortrag mit dem Titel „Flucht vor dem Holocaust: Untergetauchte Juden in Deutschland, 1941 – 45“. Dieser Vortrag fand im Rahmen einer Ringvorlesung zusammen mit der Universität Erfurt und der Fachhochschule Erfurt statt. Vor dem Hintergrund, dass Frau Prof. Dr. Susanna Schrafstetter als Expertin für diesen Themenbereich anzusehen ist und es aktuell keine Fachliteratur gibt, nehme ich ihren Vortrag als Quelle für dieses Unterkapitel. Die akustische Version des Vortrages ist unter dem Link: http://www.radio-frei.de/index.php?iid=7&ksubmit_show=Artikel&kartikel_id=5370 abrufbar.
Schätzungsweise versuchten 10.000 bis 15.000 Jüdinnen und Juden in den Jahren 1941 bis 1945 vor den Deportationen zu fliehen oder lebten untergetaucht in der Illegalität. Von diesen Menschen überlebten nur ca. 5.000 Personen, auch diese Zahl ist eine Schätzung. Menschen, die in der Illegalität lebten, bezeichneten sich selbst als U-Boote (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:08:37 – 00:09:12). Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begann die erste unfreiwillige Migrationswelle deutscher Juden/innen. Mit der Besetzung Österreich und der Tschechoslowakei fanden ab 1938 weitere Fluchtbewegungen statt. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges begannen die jüdischen Flüchtlinge, die vorher aus Deutschland in die Nachbarländer geflüchtet sind, erneut aus den nunmehr selbst von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten, wie z. B. Polen, Frankreich, den Niederlanden usw., zu fliehen. Etwa mehr als die Hälfte der 1933 in Deutschland lebenden Juden/innen (etwa 300.000) wanderte gezwungenermaßen aus (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:10:15 – 00:11:00). Nur wenige Länder nahmen damals wie heute vorbehaltlos Flüchtlinge auf. Meistens musste man den Nachweis über eine finanzielle Bürgschaft mitbringen; idealerweise hatte man einen begehrten Beruf, war jung und gesund. Das waren Faktoren, welche die Chancen für die Einwanderung erhöhten. In vielen Ländern gab es Aufnahmequoten für Flüchtlingen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:11:36 – 00:12:26).
Im Oktober 1941 erließ die deutsche Regierung ein Ausreiseverbot für den jüdischen Teil der Bevölkerung. Ab Oktober 1941 war es nicht mehr möglich legal das Land zu verlassen. Das war gleichzeitig der Übergang von der forcierten Immigration hin zur Deportation und Vernichtung der Juden/innen. Ab diesem Zeitpunkt hatten die Menschen keine weitere Möglichkeit mehr als unterzutauchen oder vor dem sicheren Tod zu flüchten. Hierbei wurden sie von nichtjüdischen Helfern/innen unterstützt. Viele untergetauchte Flüchtlinge lebten dabei in Kellern, Laubenkolonien, Wäldern, auf Dachböden, Friedhöfen, in ausgebombten Häuserruinen, unter der Erde, in Autos usw. (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:13:17 – 00:15:00). Durchschnittlich waren etwa zehn Menschen notwendig, um eine Person verstecken und versorgen zu können. Es mussten Lebensmittelkarten, eine Unterkunft, falsche Papiere und Nahrungsmittel organisiert und beschafft werden. Man hatte nur dann Lebensmittelkarten bekommen, wenn eine Person postalisch gemeldet war. Ohne Anmeldung war es sehr schwierig, welche zu bekommen. Idealerweise organisierte man gut gefälschte Papiere. Ebenso notwendig war es, das Versteck so oft wie möglich zu wechseln, um der Gefahr der Entdeckung zu entgehen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:15:07 – 00:15:58). Es gibt nur wenige Beispiele dafür, dass Menschen die ganze Zeit über erfolgreich in einem einzigen Versteck lebten. Ein solches Beispiel ist Sophie Meier, die 1942 in München untertauchte und sich bis Kriegsende versteckte. In Thüringen gab es in Tautenhein eine Familie, die über viele Monate in einem Versteck ausharrte. Das bekannteste Beispiel ist Anne Frank, die sich ebenfalls über viele Monate versteckten, dann aber entdeckt wurden. Diese langen Zeitabschnitte waren aber nicht typisch. In den meisten Fällen war es viel zu gefährlich, sich lange Zeit in einem Versteck aufzuhalten. Typisch war der Fall von Max und Caroline Krakauer, die ab Ende Januar 1943 untertauchten und es im Laufe ihrer Zeit auf etwa 70 Verstecke schafften. In vielen Fällen waren beim Verstecken einer Person ca. 100 Leute beteiligt (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:16:03 – 00:17:39). Die meisten Hilfs- und Rettungsaktionen fanden in Berlin statt. Flucht und Versteck waren sehr komplexe soziale Prozesse. Die Flüchtlinge hatten es hierbei mit einer Fülle von unterschiedlichsten Menschen zu tun. Neben den altruistisch, solidarisch oder politisch motivierten Helfer/innen gab es eine große Vielzahl von Helfern/innen, die aus eigennützigen Motiven handelten. So hatten es viele jüdische Flüchtlinge und Untergetauchte mit kommerziellen Helfern/innen, Denunzianten/innen, Erpressern/innen, Schleusern/innen, Schleppern, Dieben/innen, Wucherern/innen und Vergewaltigern zu tun. Für diese Leute hatte man in Berlin den Begriff des „Judenfletterers“ erschaffen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:22:26 – 00:24:24).
Ab 1941 gab es eine Reihe von Faktoren, die für das Gelingen einer Flucht und für das Leben in der Illegalität eine wichtige Rolle spielten, z. B. die Größe einer die Stadt und wieviel Anonymität bot sie. Wie waren die geografische Beschaffenheit (nähe zu Grenze), die Größe der jüdischen Gemeinde in der Stadt, die Maßnahmen des lokalen Verfolgungsapparates oder wie groß war das Helfernetzwerk. So gab es im Ruhr-Main Gebiet viele Grenzübertritte in die Niederlande und nach Belgien. Von dort aus ging es dann weiter nach Großbritannien oder über Frankreich nach Spanien (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:24:53 – 00:25:30). In Frankfurt am Main fing die Gestapo auch eigenmächtig an Juden und Jüdinnen, die sich in sogenannten Misch-Ehen befanden, zu verhaften und zu deportieren, noch bevor sie den offiziellen Auftrag dafür hatten. Damit war in Frankfurt eine ganz andere Situation gegeben, als in solchen Regionen, wo dies erst viel später geschah (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:26:16 – 00:26:30).
Nach dem großen alliierten Luftangriff auf Hamburg im Jahr 1943 hatten sich viele Flüchtlinge das Chaos durch die Zerstörung zu Nutze gemacht. Viele Menschen konnten dadurch aus der Stadt fliehen oder gaben vor, ausgebombt zu sein und keine Dokumente mehr zu besitzen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:27:12 – 00:27:37). Ebenso wichtig war der Deportationszeitpunkt. In bestimmten Gegenden wurde die Mehrheit der dortigen Juden und Jüdinnen schon relativ früh abtransportiert (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:26:32 – 00:26:49). So lebten im Oktober 1941 in Berlin noch etwa 73.000 Juden und Jüdinnen, die nicht von der restlichen Bevölkerung getrennt waren, sondern noch in Mitten der Bewohner/innen lebten. In der gleichen Zeit lebten in München nur noch 3.000 jüdische Mitbürger/innen. Viele von ihnen lebten aber nicht mehr in der Stadt, sondern wurden von der Münchener Bevölkerung in sog. Judenlagern isoliert, die sich am Rande der Stadt befanden. In München fand die zweite große Deportation im April 1942 statt; somit war ein Großteil der dortigen Juden und Jüdinnen verschwunden. In Thüringen waren die Deportationen im Herbst 1942 abgeschlossen. Dagegen lebten in Berlin Anfang 1943 noch ca. 33.000 Juden und Jüdinnen. Von diesen sollten Ende Februar und Anfang März, im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion, die Meisten deportiert werden. Davor versuchte jeder/e Dritte/r zu fliehen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:28:05 – 00:30:03). Dadurch haben auch viele Menschen die Stadt München verlassen und flüchteten zunächst nach Ober- oder Niederbayern auf das Land, weil dort die Lebensmittelversorgung besser war und sie vor den Bombenangriffen geschützter waren. Die Meisten versuchten auf abgelegenen Bauernhöfen unterzukommen (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:30:40 – 00:30:55). In Berlin dagegen blieben die Meisten, trotz Fliegerangriffe und der Gefahr durch Razzien der Gestapo oder durch Greifer/innen entdeckt zu werden, in der Illegalität (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:32:27 – 00:31:50). In Berlin war der Anonymitätsfaktor am höchsten, hier gab es einen Schwarzmarkt und auch das potentielle Helfernetz war größer. In den 1940er Jahren sind viele Juden und Jüdinnen nach Berlin geflüchtet. Dieser Flüchtlingsstrom wurde von Vielen auch wahrgenommen, das heißt es wurde auch ein Bedarf an Hilfe wahrgenommen und Helferstrukturen entstanden. Widerstandgruppen fingen an sich zu organisieren, es wurden Unterkünfte und Lebensmittelkarten besorgt, es entstand ein Schwarzmarkt für bezahlte Unterkünfte ohne Anmeldung, Lebensmittelkarten, Dokumente, Schleuser und Waffen. Jedoch entstanden auch solche Strukturen, die davon profitieren wollten (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:32:58 – 00:33:57). In München gab es diese Strukturen nicht, weil dort kein Bedarf für Flüchtlinge wahrgenommen wurde. Eine gut geplante Flucht wurde fast immer über Berlin organisiert und kostete für eine Person von Berlin aus in die Schweiz etwa 9.000 Reichsmark. Da es in München keine professionellen Helfer/innen gab, brauchte man dort vor allem gute nichtjüdische Freundschaften. Geld spielte hier weniger eine Rolle (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:35:20 – 00:35:50). Wer aber die Flucht über die Reichsgrenze wagen wollte, brauchte einen Schleuser/in oder Schlepper/in. Ohne diesen Personenkreis war eine Flucht so gut wie unmöglich. In der aktuellen Forschung ist zurzeit kein Fall bekannt, wonach Menschen, die von München in die Schweiz ohne Schleusernetzwerk flüchten wollten, erfolgreich über die Grenze gelangten. All diese Menschen wurden gefasst und deportiert (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:36:10 – 00:36:34).
Ein weiterer Unterschied zu den Untergetauchten und zu den Flüchtlingen zwischen Berlin und München ist, dass die Juden und Jüdinnen sich in München mit Hilfe von Freunden und Bekannten versteckten und untertauchten. Dadurch befanden sie sich weiterhin im gleichen Milieu. In Berlin dagegen fanden sehr viele Menschen in Spielhöllen, Bordellen oder in verwanzten Elendsquartieren Aufnahme, also in sozialen Schichten, die sie vorher nicht kannten. Das bedurfte in der ohnehin schon schwierigen Situation noch einer zusätzlichen sozialen Anpassungsleistung (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:37:00 – 00:38:00). Auch führte die breite Wahrnehmung der fliehenden Juden und Jüdinnen in Berlin dazu, dass sich viele Menschen alles Mögliche einfallen ließen, um sich an den flüchtenden Menschen zu bereichern. In München war dies weniger der Fall (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:38:39 – 00:39:13).
Das Thema kommerzielle Hilfe, Ausbeutung, Raub, Wucher, Vergewaltigung, Erpressung und Denunziation von untergetauchten und flüchteten Juden und Jüdinnen, fand im großen Maße statt und ist im gesamten Themenkomplex noch wenig untersucht worden. Bekannt ist, dass Zimmer und Unterkünfte zu Wucherpreisen vermietet wurden und es nicht unüblich war, dass die Vermieter/innen eine Kaution im Voraus bezahlen ließen und anschließend verwehrte Flüchtlingen den Zutritt zur Unterkunft verwehrte und das Geld einbehielt. Auch wenn jemand herausgefunden hatte, dass jüdische Flüchtlinge in einer Unterkunft wohnten, wurde ein Schweigegeld verlangt, damit dieses Wissen nicht an die Gestapo verraten wurde. In vielen Fällen wurden den Juden und Jüdinnen gegen eine Bezahlung gefälschte Papiere versprochen, die sie aber nie bekamen. Häufig boten sogenannte Verwahrer an, Wertgegenstände der Juden und Jüdinnen für sie aufzubewahren. Auch hier gab es Ehrliche und Unehrliche, die sich an den Wertgegenständen der Personen bereicherten. Von denen, die den Holocaust oder die Flucht überlebt hatten, versuchten viele nach 1945 ihr Hab und Gut wieder zurückzubekommen. Das erwies sich aber schwierig, weil es darüber keine schriftlichen Dokumente gab (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:40:34 – 00:46:02). Neben diesen kommerziellen Helfern, Wucherern, Erpressern usw. gab es aber auch Menschen, die aus Solidarität und aus Mitgefühl halfen. Es gab viele, die unter großer Gefahr und ohne Eigennutz geholfen haben und die nach dem Krieg kein großes Aufsehen darüber machten. Die Menschen werden in Israel als Stille Helden bezeichnet oder bekommen die offizielle Auszeichnung, der Gerechte unter den Völkern. In manchen Fällen verwandelte sich der spontane Wille zur Hilfe in Angst und in einer anschließenden Denunziation um, oder ein Streit eskalierte und aus Hilfe wurde Verrat (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:50:10 – 00:51:27).
Wenn man die Interaktion zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungsgruppe genauer betrachtet, kann man eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Reaktionen sehen. Mit dem oft ausgesprochenen Satz: „Davon haben wir nichts gewusst.“ haben viele Deutsche ihr Mitwissen von dem Schicksal ihrer jüdischen Mitmenschen von sich gewiesen. Dieses angebliche Nichtwissen wurde von der Wissenschaft widerlegt. Dieser oft wiederholte Satz war ein Ausdruck eines schlechten Gewissens. Es wurde nicht nur weggeschaut, viele Menschen haben sich auch an dem Besitz und Eigentum der verschwundenen Deportierten bereichert (vgl. Schrafstetter 2016, T. 00:51:58 – 00:52:42).
Nach dem Vortrag von Frau Prof. Dr. Schrafstetter und mit Eröffnung der Fragerunde, wurde von einer Hörerin betont, dass man zwischen den jüdischen Flüchtlingen und den Flüchtlingen, die aus den heutigen Krisen- und Kriegsgebieten nach Europa kommen, eine analytische Unterscheidung vornehmen müsste: Die Menschen, die nicht aus Deutschland fliehen konnten, waren dem Tode geweiht und für sie war kein anderes Schicksal vorgesehen als die Vernichtung. So würden die heutigen Flüchtlinge vor dem Krieg fliehen und sind nicht direkt von einer ethnienbezogenen Vernichtung betroffen. Eine Parallele zur damaligen Zeit würde es nur bei der Gruppe der Jesiden geben. Diese werden vom sogenannten Islamischen Staat direkt als Gruppe verfolgt und sollen vernichtet werden. Hier könne man eine Parallele zur Judenverfolgung ziehen. Trotz dieser analytischen Unterscheidung würde es aber keinen Unterschied machen, was die Hilfe betrifft. Aus moralischer Sicht müsste man sowieso helfen. Die Gründe der Verfolgung sind zweitrangig (vgl. Schrafstetter 2016, T. 01:29:00 – 01:30:09).
Die Referentin stimmte dieser Bemerkung zu und wiederholte ebenfalls, dass es zwar zwischen der Judenverfolgung und den Flüchtlingen von heute Unterschiede gäbe. Gleichzeitig betonte sie, dass viele Kriegsflüchtlinge nach Europa kommen, weil ihre Lebensbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern sehr schlecht seien und dass niemand freiwillig einfach so alles hinter sich lassen würde bzw. in ein hoffnungslos überfülltes und nicht seetaugliches Schlauchboot steigt, wenn er oder sie sich nicht in einer hoffnungslosen Notlage befänden (vgl. Schrafstetter 2016, T. 01:30:10 – 01:32:35). Am Schluss erwähnte die Moderatorin, dass diese hier vorgestellten historischen Ereignisse an die deutsche Verantwortung erinnert und uns mahnt, uns mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzten und uns unser Verhalten in der jetzigen Situation vor Augen hält (vgl. Schrafstetter 2016, T. 01:34:18 – 01:34:35).
4.2.4 Politische Reaktionen auf die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen von 1933 und heute
Mit der aktuellen „Flüchtlingskrise“ wird oft auf historisch vergleichbaren Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges aus den deutschen Ostgebieten geflohen sind, verwiesen. Nach der Ansicht des Migrationsforschers Prof. Dr. Klaus Bade ist dieser Vergleich, abgesehen von den Einzelschicksalen, nur bedingt tragfähig. So wäre es naheliegender einen Vergleich mit den Erfahrungen der deutschen Emigranten, die auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime waren, anzustreben (vgl. Bade 2016a). Europas Migrationspolitik lässt, was die Verteilung der Flüchtlinge und die Bereitschaft diese in die jeweiligen EU-Länder aufzunehmen, zu wünschen übrig. Dies ist aber nicht das erste Mal, dass Migranten/innen und Flüchtlinge ein schwieriges Thema in der europäischen und globalen Politik sind (vgl. Al Hussein 2015). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begannen 1933 die ersten Flucht- und Migrationswellen aus Deutschland. Als Reaktion auf Hitlers antisemitische Maßnahmen und der sich daraus abzeichneten Flüchtlingskrise lud der US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Sommer 1938 zur Konferenz von Evian ein. An dieser Konferenz nahmen 32 Nationen teil, um eine Lösung für die deutschen und österreichischen jüdischen Flüchtlinge zu entwickeln. Die Teilnehmer/innen wollten sich auf ein gemeinsames Flüchtlingsprogramm einigen. Roosevelt hoffte dieser Herausforderung mit einer kollektiven Lösung begegnen zu können (vgl. Al Hussein 2015). Als die Vorbereitungen der Konferenz im Gange waren, erhielt das US-Außenministerium einen Brief, in dem das Schicksal von 51 jüdischen Flüchtlingen aus Österreich beschrieben wurde. Diese waren in einem kleinen Boot in den internationalen Gewässern der Donau gestrandet. Dadurch erlangten die Konferenzteilnehmer/innen persönliche Kenntnis über das Leid der Flüchtlinge und drückten ihre Bestürzung aus. Trotz dieser Kenntnis über die Situation der Fliehenden blieb die Konferenz ergebnislos. Nordamerika, Australien und Europa waren nicht bereit, ihre Flüchtlingskontingente weiter zu erhöhen. In dem Protokoll hieß es, dass die Länder Europas entsprechend der Bevölkerungsdichte der einzelnen Länder einen Sättigungsgrad erreicht hätten, dass sie keine weiteren Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich mehr aufnehmen könnten (vgl. Al Hussein 2015). Nach dem Novemberpogrom von 1938 kam das vorher einigermaßen geregelte Emigrationsverfahren der westlichen Länder zu einem völligen Zusammenbruch. Die große Anzahl an Flüchtlingen und Auswanderungsgesuchen führte dazu, dass die vorgesehenen Quoten ausgeschöpft waren. Dadurch gerieten viele Juden und Jüdinnen in eine aussichtslose Situation, weil kein Land sie mehr aufnehmen wollte. Teilweise herrschte in den anderen Ländern ebenfalls eine latente antisemitische Haltung (vgl. Heid o.J.).
In seinem Romanmanuskript „Das gelobte Land“ beschreibt der Schriftsteller Maria Remarque seine illegale Flucht aus Deutschland:
„Hinter mir lag ein langer, gefährlicher Weg, die Via Dolorosa all derer, die vor dem Hitler-Regime hatten fliehen müssen. Die Straße der Leiden lief von Holland, Belgien und Nordfrankreich nach Paris. Dort teilte sie sich. Der eine Weg führte über Lyon an die Küste des Mittelmeeres, die andere über Bordeaux und die Pyrenäen nach Spanien, Portugal und zum Hafen nach Lissabon. Ich war diese Straße entlanggezogen wie so viele, die der Gestapo entkommen waren. Doch auch in den Ländern, durch die unsere Fluchtwege führten, waren wir noch nicht in Sicherheit, denn die wenigsten von uns hatten gültige Ausweise und Visa. Wenn die Gendarmen uns erwischten, wurden wir eingesperrt, zu Gefängnis verurteilt und ausgewiesen. Einige Länder waren allerdings menschlich genug, uns wenigstens nicht über die deutsche Grenze abzuschieben; dort wären wir in Konzentrationslagern umgekommen. Da nur wenige Flüchtlinge gültige Pässe hatten mitnehmen können, waren wir deshalb fast pausenlos auf der Flucht. Wir konnten ohne Papiere auch nirgendswo legal arbeiten. Die meisten von uns waren hungrig, elend und einsam; deshalb nannten wir die Straße unserer Wanderung auch die Via Dolorosa“ (Remarque 1971, S. 5).
Mit dem Kriegsbeginn 1939 wurde es noch schwieriger auszuwandern oder zu fliehen. Zudem beschränkten die neutralen Staaten die Zahl der Auswanderer massiv (vgl. Heid o.J.). Viele Länder weigerten sich weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Auch heute sind Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Fremdenangst und Vorurteile gegenüber Flüchtlinge in einigen Teilen der Gesellschaft und Politik wieder auf dem Vormarsch. Viele, vor allem osteuropäische Entscheidungsträger, sind auch heute nicht bereit Flüchtlinge aufzunehmen (vgl. Al Hussein 2015).
Der Migrationsforscher Prof. Dr. Bade sieht (im Gegensatz zu der Flucht und Vertreibung von 1945) zwischen der Flucht- und Migrationsbewegung der deutschen jüdischen Bevölkerung ab 1933 und der aktuellen Flüchtlingskrise große Gemeinsamkeiten. Einen Unterschied zu damals sieht Prof. Dr. Bode bei der Orientierung und Kommunikation während der Flucht auf den Fortbewegungsstrecken. In den 1930er und 1940er Jahren haben Flüchtlinge mittels Nachrichten und Hinweisen kommuniziert, die sie mit Kreide oder Kohle an Mauern oder Häuserwände geschrieben haben. Dort befanden sich Aufzeichnungen von denjenigen, die ihre Angehörigen suchten. Ebenso waren dort Hinweise, Warnungen und Adressen zu finden. In kleineren Städten dienten auch Postämter der Nachrichtenübermittlung. Angehörige und Freunde versuchten hier postliegende Nachrichten zu finden. Heute ist die Kommunikation untereinander digital und dient vorwiegend der Orientierung (vgl. Bade 2016a). Klaus Bade kommt zu dem Schluss, dass die Flucht und Vertreibung von 1945 in vielen Aspekten mit heute nicht vergleichbar ist. Gemeinsamkeiten könne man höchsten mit der Emigrationswelle von 1933 sehen. Selbst dann wären viele Faktoren nicht miteinander vergleichbar. So war Deutschland ab 1933 ein völlig anderer Staat ohne gesetzlich verankerte Menschenrechte. Heute gibt es zumindest als gesetzliche Grundlage das Recht auf Asyl. Aus dem Deutschland von einst ist ein Rechtsstaat geworden. Vergleichbar wären aber die Geschichten der Menschen, die sich auf die Flucht begeben haben und es heute wieder sind. Ähnlich wären auch die Reaktionen der Zeitgenossen gewesen, die den Flüchtlingen und Emigranten/innen entweder halfen, Hilfen ablehnten oder gleichgültig waren (vgl. Bade 2016a). Ebenso ähnelt der Umstand, dass sich Europa nicht über die Verteilung von Flüchtlingen und die Aufnahmezahlen einigen kann.
Auf der Konferenz von Evian konnten sich die versammelten Nationen ebenfalls nicht auf eine erleichterte Aufnahme von Flüchtlingen einigen. Die Konferenzteilnehmer/innen hatten Sorge, dass die jüdischen Flüchtlinge das damalige Asylrecht missbrauchen könnten. Die Konferenz von ging als die Schande von Evian in die spätere Geschichte ein. Damals wie heute versuchen die europäischen Staaten die Flüchtlingsbewegungen durch verschiedene Maßnahmen einzudämmen. Angefangen mit der Drittstaatenregelung Anfang der 1990er Jahre in der BRD, über den Bau von neuen Grenzzaunanlagen im Balkan im Jahr 2015 bis hin zum Türkeiabkommen 2016 mit der Bundesregierung. Vielleicht würde ein Blick in die Geschichte Europas ungemein helfen, mit den Kriegen und Krisen der heutigen Zeit besser umzugehen (vgl. Bade 2016a).
4.3 Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944
Dieser Abschnitt befasst sich mit der Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung ab 1944. Hierbei wird sowohl auf die Fluchtursachen als auch die Situation der Flüchtenden und Vertriebenen eingegangen.
4.3.1 Flucht und Evakuierung 1944/45
Ostpreußen:
Zum Jahreswechsel 1943/44 arbeitete man Pläne für die Evakuierung der ostpreußischen Bevölkerung aus, da die Wehrmacht von der Roten Armee immer mehr bedrängt wurde und sich beide Armeen in Richtung Westen (zurück) bewegten. Für ganze Städte und Provinzen wurden eigene Evakuierungspläne erstellt. Für ihre Ausführung waren die NSDAP-Funktionäre auf allen Ebenen, angefangen vom Bürgermeister über den Ortsgruppenleiter bis hin zum Gauleiter, verantwortlich. Diese gaben den Beginn der Evakuierung bekannt. Entscheidende Faktoren waren dabei nicht die Sorge über die Zivilbevölkerung, sondern die Bedürfnisse der Propaganda und die Lage an der Front standen im Mittelpunkt. Vielerorts wurde der Beginn in Ostpreußen hinausgezögert. Dadurch brachen viele Trecks erst einen Tag, teilweise sogar nur ein paar Stunden, vor dem Einrücken der Roten Armee auf. Die Bewohner/innen von Ostpreußen sahen sich als Erstes dieser Bedrohung ausgesetzt. Ende Juli/Anfang August 1944 begann die erste Phase der Evakuierung von Frauen, Kindern und einem Teil der älteren Bevölkerung (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 168). Im Juli 1944 wurden die Bewohner/innen des Memellandes hinter dem Fluss Memel evakuiert. Bis dahin sprach der Gauleiter Ostpreußens Erich Koch der Bevölkerung das Verbot aus, Ostpreußen zu verlassen.
Nach den Rundfunkmeldungen von Nemmersdorf, welches am 21. Oktober 1944 von der Roten Armee besetzt war und anschließend von der Wehrmacht wieder zurückerobert werden konnte, machten sich viele Zivilisten trotz Fluchtverbotes auf den Weg nach Westen. Die NS-Propaganda veröffentlichte in der Deutschen Wochenschau Bilder von den Dorfbewohner/innen, die dort umgekommen sind. Das löste innerhalb der ostpreußischen Bevölkerung eine Massenpanik aus (vgl. Kossert 2008, S. 27). Daraufhin fand im gleichen Monat die zweite Phase der Evakuierung statt. Insgesamt verließen in diesem Zeitraum etwa eine halbe Millionen Menschen Ostpreußen, auf einem schnellen und sicheren Weg. Eine weitere geplante Evakuierung wurde zu Gunsten des Abtransports von Industrieanlagen angehalten (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 168).
Mitte Januar 1945 fand die letzte Evakuierungswelle aus Ostpreußen statt. Angesichts des schnellen Vorstoßes der Roten Armee wies sie deutliche Merkmale einer panischen Flucht auf. Die Flüchtlingstrecks gerieten oft unter Beschuss der kämpfenden Armeen. Nachdem alle Landwege abgeschnitten waren, wollte die Bevölkerung Ostpreußen über den Wasserweg verlassen. So versuchten etwa eine halbe Million Flüchtlinge über das zugefrorene Frische Haff zu entkommen. Durch Beschuss, Erfrierungen, Hunger und Krankheiten erlitten die Flüchtlinge viele Verluste (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 169). Es wird davon ausgegangen, dass etwa 100.000 Flüchtlinge dort den Tod fanden (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 171). Ein anderer Teil der Bevölkerung hat die Provinz über den Hafen Pillau mit Schiffen verlassen können. Der Hafen war einer der Hauptstützpunkte für die Evakuierungen. Im Pendelverkehr brachten die Schiffe die Zivilisten in den Westen. Der Hafen Pillau wurde bis Mitte April 1945 von der Wehrmacht gehalten (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 169). Weitere größere Evakuierungshäfen in Ost- und Westpreußen waren Schiewenhorst, Danzig, Hel, Gotenhafen, Oxhöft, Leba, Stolpmünde und Kollberg (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 174). Bei der Flucht über die Ostsee wurden am 30.01.45, am 10.02.45 und am 15.04.45 die Passagierschiffe Wilhelm Gustlof mit etwa 10.000 Flüchtlingen (davon 1.000 gerettet), die Steuben mit ca. 4.300 Flüchtlinge (davon 600 gerettet) und das Passagierschiff Goya mit 7.000 Menschen (davon 165 gerettet) von sowjetischen U-Booten versenkt (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 169). Insgesamt erreichten 450.000 Flüchtlinge über den Seeweg Häfen in Dänemark und dem damaligen Norddeutschland. Mehr als zwei Millionen Menschen verließen Ostpreußen, damit war fast die gesamte Region entvölkert. Die zurückgebliebenen Menschen waren den sowjetischen Soldaten ausgeliefert (vgl. Hryciuk et al. 2010, S. 169).
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- Sebastian Selzer (Author), 2016, Gesellschaftlicher Umgang mit Flüchtlingen vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen von 1945, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/346397
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