Die Arbeit untersucht aus konstruktivistischer Perspektive den Einfluss der Responsibility to Protect auf die Entscheidungen beider Länder in Bezug auf die Libyen-Intervention.
Untersucht wird die Forschungsfrage mittels Sprechakten entscheidungsrelevanter Politiker in Deutschland und Großbritannien im Rahmen der UN-Resolution 1973, welche militärische Maßnahmen in Libyen autorisierte.
Dies geschieht mittels der qualitativen Inhaltsanalyse. Es wird argumentiert, dass im Fall Großbritanniens die R2P für die Entscheidungsträger von zentraler Bedeutung war und daher die Entscheidung für eine Intervention maßgeblich beeinflusst hatte. Für die entscheidungsrelevanten Akteure in Deutschland hatte die Norm dagegen keine bindende Funktion und daher unterstützte Deutschland die Intervention nicht.
Die Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Nach der Einführung in die Thematik rekapituliert Kapitel zwei den Forschungsstand. Kapitel drei legt mit dem Konstruktivismus den theoretischen Rahmen der Arbeit und bezieht die Theorie auf den Untersuchungsgegenstand. Daran schließt sich in Kapitel vier die Methodik der Arbeit an. Das fünfte Kapitel zeigt die Entwicklungsgeschichte der R2P auf und wie die Norm Entscheidungsprozesse zu humanitären Interventionen beeinflussen soll. Kapitel sechs analysiert, wie die beiden hier untersuchten Länder die Entwicklung der R2P unterstützten und in welcher Form die Norm die nationale Politikgestaltung beeinflusste. Kapitel sieben stellt zunächst die Libyen-Krise und die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft dar, um daran anschließend den Entscheidungsprozess beider hier untersuchten Länder zu analysieren. Schließlich zeigt das letzte Kapitel eine Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Forschungsstand
3 Konstruktivismus
4 Methodik
5 Von humanitärer Intervention zur Responsibility to Protect
6 Die Responsibility to Protect in der Außenpolitik Deutschlands und Großbritanniens
7 Die Libyen-Intervention
7.1 Kontext
7.2 Die Analyse des Entscheidungsprozesses in Deutschland
7.3 Die Analyse des Entscheidungsprozesses in Großbritannien
8 Schlussbetrachtung
9 Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Als im Jahr 1994 mehrere Hunderttausend Menschen in Ruanda starben, zeigte dies, dass die Strukturen der internationalen Staatengemeinschaft zur Bearbeitung humanitärer Katastrophen mangelhaft sind. Die fünf Jahre später durchgeführte Kosovo-Intervention durch die NATO wird dagegen überwiegend als aus humanitären Gründen legitim, aber illegal angesehen (Bellamy 2010b: 433-435). Beide Fälle offenbaren die in Fragen humanitärer Interventionen unzureichenden Systeme der internationalen Staatengemeinschaft. Nach einer Aufforderung durch den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan diese Situation zu verbessern, beschloss die UN-Generalversammlung im Jahr 2005 mit der Responsibility to Protect (R2P)[1] eine neue Norm für humanitäre Krisen.[2] Nach der R2P haben Staaten gegenüber ihrer Bevölkerung eine Schutzverantwortung und die internationale Staatengemeinschaft soll Staaten dabei unterstützen. Kommt ein Staat seiner Schutzverantwortung nicht nach, so geht die Schutzverantwortung auf die Staatengemeinschaft über, welche im Rahmen der UN geeignete Maßnahmen ergreifen soll.[3] Diese neue Norm erhielt rasch breite Unterstützung durch die Staatengemeinschaft und erzeugte große Resonanz in der Politikwissenschaft. Fraglich ist, ob und wie die neue Norm über diese Unterstützung hinausgehend, Entscheidungsprozesse humanitärer Interventionen tatsächlich beeinflusst. Dieser Frage geht die vorliegende Arbeit nach. Die Forschungsfrage lautet daher: Welchen Einfluss hatte die Norm der Responsibility to Protect bei der Entscheidung zur Intervention in Libyen im Rahmen der UN-Resolution 1973? Folgende Hypothese leitet die Untersuchung: Wenn die Responsibility to Protect ausreichend internalisiert ist, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Staaten einer humanitären Intervention zustimmen. Mit Libyen wird der Fall für die Untersuchung gewählt, der den ersten Härtetest für die Norm darstellt. In Libyen kam es im Rahmen des arabischen Frühlings[4] ab Februar 2011 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Truppen des Machthabers Gaddafis und Regimegegnern. In deren Folge setzte das Regime schwere Waffen gegen die eigene Bevölkerung ein und bedrohte die Rebellen mit Vergeltungsmaßnahmen.
Untersucht wird die Forschungsfrage aus konstruktivistischer Perspektive mittels Sprechakten entscheidungsrelevanter Politiker in Deutschland und Großbritannien im Rahmen der UN-Resolution 1973, welche militärische Maßnahmen in Libyen autorisierte. Dies geschieht mittels der qualitativen Inhaltsanalyse. Es wird argumentiert, dass im Fall Großbritanniens die R2P für die Entscheidungsträger von zentraler Bedeutung war und daher die Entscheidung für eine Intervention maßgeblich beeinflusst hatte. Für die entscheidungsrelevanten Akteure in Deutschland hatte die Norm dagegen keine bindende Funktion und daher unterstützte Deutschland die Intervention nicht.
Die Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Nach der Einführung in die Thematik rekapituliert Kapitel zwei den Forschungsstand. Kapitel drei legt mit dem Konstruktivismus den theoretischen Rahmen der Arbeit und bezieht die Theorie auf den Untersuchungsgegenstand. Daran schließt sich in Kapitel vier die Methodik der Arbeit an. Das fünfte Kapitel zeigt die Entwicklungsgeschichte der R2P auf und wie die Norm Entscheidungsprozesse zu humanitären Interventionen beeinflussen soll. Kapitel sechs analysiert, wie die beiden hier untersuchten Länder die Entwicklung der R2P unterstützten und in welcher Form die Norm die nationale Politikgestaltung beeinflusste. Kapitel sieben stellt zunächst die Libyen-Krise und die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft dar, um daran anschließend den Entscheidungsprozess beider hier untersuchten Länder zu analysieren. Schließlich zeigt das letzte Kapitel eine Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse.
2 Forschungsstand
Die R2P als neue Norm der internationalen Beziehungen konnte die Debatten zu humanitären Interventionen beeinflussen und löste eine breite Rezeption durch Forscher der internationalen Beziehungen aus, wobei die Bandbreite zwischen positiver Wirkung und grundlegender Kritik schwankt. Zehn Jahre nach Aufnahme der Norm durch die UN-Generalversammlung wird die R2P, mit einigen Ausnahmen, von den Ländern als bindende Norm akzeptiert und die Debatte fokussiert auf die Frage der richtigen Anwendung (Bellamy 2015: 161-162; Bellamy & Williams 2011: 845-850). Ein Kritikpunkt ist die Verwendung der R2P als „Trojanisches Pferd“, mittels derer mächtige Staaten die inneren Angelegenheiten schwächerer Staaten beeinflussen (Bellamy 2010a: 152). Als problematisch wird ebenfalls gesehen, dass für potenzielle Zielstaaten der R2P eine Rechtspflicht zum Schutz der eigenen Bevölkerung entstehen könnte, während für die internationale Gemeinschaft nur eine Handlungsoption bestünde (Brock 2013: 175-176). Weiterhin ist fraglich, ob die unterstützenden Staaten die Norm bereits ausreichend internalisierten, um gemäß der Norm zu handeln (Bellamy 2010a: 166). Auch grundlegende Kritik an der R2P wird geäußert. Die letztliche Umsetzung der Norm in der UN schafft keine neuen Strukturen, um humanitäre Katastrophen zu beenden. Ohne eine rechtliche Veränderung staatlicher Souveränität, einer Reform der Entscheidungsstrukturen für humanitäre Interventionen und einen Leitfaden, der festlegt, wann Interventionen notwendig sind, bleibt lediglich moralischer Druck, der durch R2P entsteht (Hehir 2010: 233-235; Gallagher 2014). Pape (2012: 79-80) kritisiert dagegen, dass R2P den Standard für humanitäre Interventionen zu niedrig legt und propagiert einen pragmatischen Ansatz.
Die im Rahmen dieser Arbeit untersuchte Entscheidung zur Libyen-Intervention war der erste Fall, in dem der Sicherheitsrat aufgrund humanitärer Belange gegen den Willen einer funktionierenden Regierung eine militärische Intervention autorisierte. Die Libyen-Krise wird überwiegend als Fall angesehen, bei dem die Regierung seiner Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung nicht nachkommt. Dies ist zum einen auf die Krisenentwicklung und zum anderen auf Gaddafis Äußerungen sowie seine Taten in der Vergangenheit zurückzuführen (Bellamy 2011: 265-266; Müller 2011: 3-4; auch Pape 2012: 61-69 sieht in Libyen einen Interventionsfall nach seinem pragmatischen Ansatz humanitärer Interventionen).
Deutschlands Enthaltung im Fall der Libyen-Resolution 1973 erzeugte daher breite Resonanz. Die Ansichten reichen von politischem Versagen, innenpolitischem Kalkül bis zu Skepsis gegenüber militärischen Mitteln (Müller 2011; Maull 2011; Katsioulis 2011; Rühl 2011; Miskimmon 2012). Aus konstruktivistischer Sicht analysierte Stahl (2012) die Diskurse um Auslandseinsätze in Deutschland, wobei sein Fokus darauf liegt, die verschiedenen Diskursallianzen sowie die außenpolitische Identität zu untersuchen. Für Stahl befindet sich Deutschland in einer Identitätskrise.
Die Entscheidung Großbritanniens die Intervention zu befürworten wird zum einen auf die R2P, einer positiven Erfolgseinschätzung einer militärischen Intervention, der Gefahr einer Flüchtlingswelle und auf parteipolitische Unterstützung zurückgeführt (Davidson 2013).
Die vorliegende Arbeit schließt an die Frage an, inwieweit die R2P bereits internalisiert wurde und untersucht dies, anhand der Entscheidungen Deutschlands und Großbritanniens zur Libyen-Intervention. Aus konstruktivistischer Perspektive untersucht die Arbeit dazu Sprechakte entscheidungsrelevanter Politiker dahingehend, welchen Stellenwert die R2P in ihren Argumentationen hatte. Das folgende Kapitel bildet hierfür die theoretische Grundlage.
3 Konstruktivismus
Der Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen ist keine einheitliche und substanzielle Theorie, sondern vereint verschiedene Ansätze, welche die grundlegende Ansicht teilen, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern Realität sozial konstituiert wird (Ulbert 2010: 427-429).[5] Dies gilt für die Beschaffenheit der Welt (Ontologie) wie für das Wissen (Epistemologie). Der Konstruktivismus will erklären und beschreiben, wie diese Konstruktionen erzeugt werden. Dies geschieht über die Analyse der Prozesse, welche intersubjektiv geteilte Bedeutungs- und Wirklichkeitskonstruktionen herausbilden und die mittels sozialer Konstruktionen handlungsleitend werden (Ulbert 2005: 12; Ulbert 2010: 427-428).
Aus konstruktivistischer Sicht wird die Politik nicht durch materielle Ressourcen bestimmt, sondern durch die Ideen der Akteure. Sie bilden die Handlungsgrundlage für Akteure der internationalen Beziehungen. Ideen können in eine kognitive und eine handlungsleitende Dimension unterteilt, sowie in Hinblick auf die Trägerschaft (individuell oder kollektiv) und Reichweite (allgemein oder speziell) differenziert werden. Vier Konzepte finden in der Forschungspraxis hierzu Anwendung: Identitäten bilden die erste Kategorie. Sie beschreiben Ideen von sich selbst in Abgrenzung zu anderen. Soziale Rollen als zweite Kategorie umfassen neben den eigenen Erwartungen eines Akteurs die Erwartungen anderer Akteure an diesen. Zentral für die kognitive Dimension von Ideen sind Werte auf der individuellen Ebene und Normen auf der kollektiven Ebene. Werte geben erwünschtes oder unerwünschtes Handeln an, wobei ein Akteur zumeist erwartet, dass andere diese Werte ebenfalls als gültig ansehen. Normen wiederum wirken handlungsleitend und benötigen eine regelmäßige Befolgung durch möglichst viele Akteure. Für den Konstruktivismus sind gesellschaftliche und internationale Normen von zentraler Bedeutung, da sie Akteurshandeln strukturieren können und so zur Bildung sozialer Rollen und Identitäten beitragen. Die außenpolitische Kultur bildet schließlich die Gesamtheit aller Ideen mit Bezug auf das Außenverhalten von Gesellschaften (Harnisch 2010: 104-105).
Eine weitere zentrale Annahme des Konstruktivismus ist die Ko-konstituierung von Akteuren und Strukturen. Der Konstruktivismus eröffnet damit eine neue Sicht auf das Akteur-Struktur-Problem: Da soziales Handeln immer in bestimmten Strukturen stattfindet, kommen zunächst zwei Möglichkeiten der Erklärungen in Betracht. Eine auf die Akteure bezogene individualistische Erklärung und eine strukturalistische Erklärung. Der Konstruktivismus verwirft diese Trennung, da sie die Komplexität internationaler Politik verkürzt. Aus Sicht des Konstruktivismus geben Strukturen den Akteuren bestimmte Handlungsoptionen vor und wirken auf die Akteure und deren Interessenbildung ein. Gleichzeitig stabilisieren oder verändern Akteure durch ihr Verhalten die Strukturen (Harnisch 2010: 103; Ulbert 2010:433-436).
Innerhalb dieser Rahmenbedingungen handeln dem Konstruktivismus nach internationale Akteure gemäß der „Logik der Angemessenheit“. Dieser Logik nach leiten soziale Strukturen das Handeln der Akteure an. Normen, Regeln, soziale Institutionen, soziale Rollen und Werte beeinflussen das Verhalten der Akteure ebenso, wie Nutzen und Eigeninteressen. Die „Logik der Angemessenheit“ determiniert das Verhalten der Akteure jedoch nicht. Akteure sind zur gleichen Zeit mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert, wodurch Entscheidungsmöglichkeiten entstehen (Finnemore & Sikkink 1998: 913-914). In diesem Zusammenhang weisen Finnemore und Sikkink (1998: 911-912) darauf hin, dass der Prozess der sozialen Konstruktion mit strategischen Entscheidungen verbunden ist und Normbefolgung auch davon abhängt, wie ein Akteur die Natur der Norm und seine spezifischen Interessen definiert. Wie ein Akteur handelt, steht daher nicht exogen fest, sondern die Entscheidung wird endogen in Selbstreflexion und Reinterpretation der zugrundeliegenden Normen und Ideen entwickelt (Ulbert 2005: 18).
Aufgrund der Konstituierung der sozialen Wirklichkeit besitzt Sprache für einige Ansätze des Konstruktivismus eine herausragende Bedeutung.[6] Sprache dient als Mittel des Denkens und Erkennens und konstituiert „Realität“ im Sprechakt. Ferner vermittelt Sprache „Realität“ intersubjektiv und bildet ein zentrales Medium um „Realität“ zu erfassen (Ulbert 2010: 445). Da die vorliegende Arbeit Aussagen von Regierungsmitgliedern analysiert, bildet Sprache auch für diese Untersuchung eine zentrale Funktion. Für Onuf ist sprechen „…undoubtedly the most important way that we go about making the world what it is“ (Onuf 1998: 59). Sprache stellt für Onuf einen zentralen Faktor bei der Regelbildung und deren Umsetzung dar. Regeln bilden für Onuf das verbindende Element zwischen Akteuren und Strukturen. Normen und Regeln geben den Akteuren vor, was sie tun sollen, wobei dies nicht ausschließlich handlungsbeschränkend gemeint ist. Erst durch verschiedene Regeln erlangen Akteure überhaupt Wahlmöglichkeiten. Regeln leiten dabei das Handeln der Akteure an und wirken auf die Regelbildung ein (Onuf 1998: 59-60). Auch für Kratochwil bilden Normen und Regeln zentrale Analyseobjekte und der Sprechakt besitzt eine herausragende Funktion. Sprache ist für ihn nicht bloß ein „Abbild“ der Realität, welche unterschwellige Ziele reflektiert, sondern Sprache ist Handeln (Kratochwil 1993: 76). Für die Wirksamkeit von Normen sind daher erfolgreiche Sprechakte von zentraler Bedeutung, da Normen dadurch gemeinsame Erwartungen stabilisieren können. Eine klare Definierung der Norm beeinflusst dabei die Erfolgschancen (Kratochwil 1989: 33-34). Hinzu kommt, dass die Akteure Normen interpretieren und Akteurshandeln daher nicht allein durch Normen erklärbar ist. Wichtig ist zu untersuchen, wie Akteure ihr Verhalten begründen (Kratochwil & Ruggie 1986: 767-769; Finnemore & Sikkink 1998: 892). Auch dies unterstreicht die Relevanz der Sprache.
Auf die vorliegende Untersuchung bezogen, bedeutet dies, dass die Sprechakte der relevanten politischen Entscheidungsträger offenlegen, welchen Stellenwert sie der R2P im Untersuchungsfall beimessen. Die Untersuchung der öffentlichen Argumentation zeigt auf, ob die Norm für die Akteure handlungsleitend war oder ob Normbefolgung aufgrund anderer Ideen unterlassen wurde. Das folgende Kapitel stellt die Methodik der Arbeit dar.
4 Methodik
Die Fallauswahl der Untersuchung erfolgt anhand des Most Similar Systems Design. Beide untersuchten Länder sind parlamentarische Demokratien mit hohem humanitären Anspruch sowie Unterstützer der R2P.[7] Während Großbritannien die UN-Resolution 1973 befürwortete, verweigerte Deutschland eine Unterstützung. Gemäß der Hypothese ist zu erwarten, dass im Falle Deutschlands die R2P nur einen geringen Einfluss auf die Entscheidung hatte, während die Akteure in Großbritannien die R2P ausreichend internalisierten und daher die Norm die Entscheidung prägte.
Die Arbeit analysiert die Äußerungen des jeweiligen Außenministers und des Regierungschefs. Da die Intervention eine UN-Entscheidung ist, sind zuerst die jeweiligen Außenminister für die Entscheidungen verantwortlich. Die Regierungschefs können die Entscheidung jedoch maßgeblich beeinflussen und werden daher ebenfalls in die Analyse einbezogen.
Der Untersuchungszeitraum und die Quellenerhebung beginnt am 15.02.2011 und endet am 15.04.2011. Hierdurch erfasst die Analyse Sprechakte zu Beginn und während der Eskalation des Konflikts sowie Begründungen nach der UN-Resolution 1973 am 17.03.2011. Um eine Selektivität des Quellmaterials zu vermeiden, erfolgt die Auswertung systematisch. Die Datenbasis bilden alle Dokumente, die auf der Internetseite der Bundeskanzlerin sowie dem Auswärtigen Amt und der Internetseite des Premierministers und des britischen Außenministers zur Verfügung stehen. Von diesen Dokumenten wurden alle in die Analyse einbezogen, die thematisch die Libyen-Krise behandeln, in Textform direkte Sprechakte der Akteure wiedergeben und im Untersuchungszeitraum liegen. Hierbei handelt es sich um Presseerklärungen, Regierungserklärungen sowie Reden und Interviews.
Die Analyse der Textdokumente untersucht, welche Rolle die R2P bei den Sprechakteuren in Bezug auf die UN-Entscheidung einnimmt. Den theoretischen Rahmen bildet der Konstruktivismus, gemäß der Darstellung in Kapitel drei. Die abhängige Variable der Untersuchung ist die politische Entscheidung für bzw. gegen die Unterstützung einer militärischen Intervention. Die unabhängige Variable bilden die Ideen der politischen Entscheidungsträger, welche mittels der Analyse der Sprechakte herausgearbeitet werden.
Die Quellen werden mittels der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse analysiert, wobei sich das Vorgehen an Mayring (2010) und Kuckartz (2012) orientiert. Die qualitative Inhaltsanalyse bietet sich an, da mit ihr Texte zum einen systematisch auf ihren Sinngehalt hin analysiert werden können und zum anderen dadurch eine Vergleichbarkeit möglich wird. Die Kategorien der Untersuchung werden deduktiv aus der Forschungsfrage und der Hypothese abgeleitet. Die R2P kann zunächst die Situationseinschätzung beeinflussen (Kategorie eins). Hierbei geht es um die Einschätzung der Lage in Libyen durch die hier untersuchten Akteure. Normeinfluss äußert sich etwa durch eine direkte Bezugnahme auf die Norm oder indirekt, indem die Akteure ein Versagen der Responsibility to Protect erklären. Weiter vermag die R2P die Verfahrensschritte zu beeinflussen, was Kategorie zwei bildet. Hier wird untersucht, welches Vorgehen die Akteure in der Situation befürworten. Gemäß der R2P wäre etwa eine Prüfung der Lage denkbar, ob die Situation unter die R2P fällt oder eine Erklärung der Bereitschaft, das libysche Volk notfalls selbst zu schützen. Schließlich ist zu analysieren, wie die R2P die eigentliche Interventionsentscheidung strukturierte. Hierfür werden zwei Kategorien gebildet: Kategorie drei erfasst normbasierte Begründungen, während Kategorie vier nicht-normbasierte Begründungen zusammenfasst. In Kategorie drei fallen beispielsweise Aussagen, die klar herausstellen, dass die libysche Bevölkerung Schutz bedurfte, während Argumente gemäß Kategorie vier zum Beispiel die Sorge, in einen langanhaltenden Krieg hineingezogen zu werden, umfasst. Codiert werden Sinneinheiten, wobei die kleinste Analyseeinheit ein Satz bildet. Die folgenden Kapitel stellen Kontextfaktoren der Analyse dar. Hierzu wird zunächst die Entwicklung und der Inhalt der R2P aufgezeigt.
5 Von humanitärer Intervention zur Responsibility to Protect
Der Prozess eine neue Norm in den internationalen Beziehungen erfolgreich zu etablieren, ist mit bestimmten Bedingungen verbunden. Finnemore und Sikkink (1998: 895-905) entwickelten hierzu einen Norm „Life Cycle“, wobei einzelne Normen nicht jede Stufe zwingend erreichen. Nach dem „Life Cycle“ ist nach der Normentstehung wichtig, dass möglichst viele Akteure die Norm unterstützen, damit sie einen kritischen Punkt erreicht. Erst mit Erreichen dieses Punktes beginnt die Norm in großem Umfang den Politikprozess zu beeinflussen. Die Autoren nennen diese zweite Stufe „norm cascades“. In der dritten Stufe ist die Norm dann so umfassend internalisiert, dass die Normbefolgung beinahe automatisch erfolgt. Zur Frage, welche Norm unter welchen Bedingungen Einfluss erlangt, identifizieren Finnemore und Sikkink (1998: 906-907) drei zentrale Faktoren: erstens, ob Staaten durch Normbefolgung ihre Legitimität und Reputation verbessern, zweitens wie bedeutsam die Norm oder die sie unterstützenden Staaten sind und drittens die intrinsischen Eigenschaften der Norm. Hierbei kann zwischen der klaren Definition einer Norm und dem Normgegenstand unterschieden werden. Klar definierte Normen und Normen mit universalistischen Anspruch besitzen bessere Durchsetzungschancen.
Das letztliche Ziel der neuen Norm der R2P ist die Verhinderung humanitärer Katastrophen. Humanitäre Katastrophen stellen eine der großen Herausforderungen der Staatengemeinschaft dar. Im 20. Jahrhundert starben circa 40 Millionen Menschen in zwischenstaatlichen Kriegen. 170 Millionen wurden dagegen durch ihre eigenen Regierungen getötet (Bellamy 2010b: 428).
Bisher ist eine Bearbeitung humanitärer Katastrophen aufgrund des Dilemmas zwischen staatlicher Souveränität und humanitärer Intervention äußerst schwierig. Auf der einen Seite gewährt die UN-Charta allen Staaten eine unverletzliche Souveränität und verbietet ein Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Auf der anderen Seite sind humanitäre Interventionen zum Schutz von Menschen aufgrund der staatlichen Souveränität dadurch umstritten und schwierig zu rechtfertigen. Nach der UN-Charta kann nur der UN-Sicherheitsrat gegen einen Staat gerichtete Zwangsmaßnahmen beschließen, wobei eine militärische Intervention nur bei Gefährdung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit zulässig ist (United Nations 1945). Aus dieser Lage heraus entstand eine Debatte, ob es Situationen gibt, in denen die Sicherheit von Menschen über die Souveränität eines Staates gestellt werden kann.[8] Die unautorisierte Intervention der NATO im Kosovo[9], welche als illegal aber dennoch legitim aufgrund der Umstände betrachtet wird, nahm Kofi Annan zum Anlass, die Staatengemeinschaft zu einer Lösung des Dilemmas zwischen humanitärer Intervention und staatlicher Souveränität aufzufordern (Bellamy 2010b: 433-435).
Die R2P hat das Ziel, das Dilemma zwischen staatlicher Souveränität und humanitärer Intervention aufzulösen und so die Gefahr humanitärer Katastrophen zu verringern. Im Auftrag der kanadischen Regierung entwickelte die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) ab dem Jahr 2000 die Norm, um in der Frage humanitärer Interventionen einen globalen Konsens zu erreichen. Die Abkehr vom Recht auf Intervention hin zu einer Verantwortung eines Staates seine Bürger zu schützen, soll den Konflikt zwischen staatlicher Souveränität und dem Schutz von Menschen auflösen (Bellamy 2010b: 435).
Über den ICISS-Report fand die R2P Zugang in Vereinbarungen der Vereinten Nationen. Auf dem Weltgipfel 2005 einigten sich die Staaten in der Generalversammlung nach langen Verhandlungen einstimmig auf eine Übernahme der R2P, welche auf drei zentralen Pfeilern beruht. Erstens haben Staaten die Pflicht, die eigene Bevölkerung vor Genozid, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Die internationale Gemeinschaft soll zweitens die Staaten hierbei ermutigen und unterstützen. Sollte ein Staat dieser Verantwortung offenkundig nicht nachkommen, hat die internationale Gemeinschaft drittens die Verantwortung, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel zu nutzen, um die Bevölkerung dieses Staates zu schützen. Auch Zwangsmaßnahmen und militärische Mittel nach Kapitel VII der UN-Charta sind möglich, sofern der UN-Sicherheitsrat zustimmt. Die drei Säulen und die Maßnahmen innerhalb der Säulen sind je nach Situation unmittelbar anzuwenden. Die Umsetzung von Maßnahmen des Sicherheitsrates soll in „a timely and decisive manner“ erfolgen (Ki-Mun 2009: 8-27; UN-Generalversammlung 2005: 30). 2006 bestätigte der UN-Sicherheitsrat einstimmig die R2P in der Resolution 1674, welche den Schutz der Zivilbevölkerung als wichtige Aufgabe erfasste (UN-Sicherheitsrat 2006). Infolge hat der Sicherheitsrat die Schutzverantwortung in sein Rollenkonzept aufgenommen, wobei sowohl Interventionsgegner wie Interventionsbefürworter die R2P argumentativ nutzen. Die Strategie des Sicherheitsrats ist daher nicht deterministisch zu einem stärkeren Eingreifen in humanitäre Krisen gewechselt (Debiel u. a. 77-83). Ursächlich hierfür kann die Unbestimmtheit der zweiten und dritten Säule der R2P, sowie eine bisher nicht ausreichende Internalisierung der R2P sein. Die Möglichkeit, dass vom UN-Sicherheitsrat nicht autorisierte Interventionen dennoch in bestimmten Situationen legal sein können, sowie Kriterien, wann eine Intervention notwendig ist, wurden vom ICISS-Konzept nicht in die UN-Beschlüsse übernommen (Bellamy 2010b: 436). Bis zur Libyen-Intervention hatte der UN-Sicherheitsrat noch kein robustes, in die staatliche Souveränität eingreifendes Mandat auf Grundlage der R2P erlassen (Bellamy 2010a: 160-166).
Die R2P-Norm ist nach dem „Life Cycle“ von Normen aufgrund der Übernahme durch die UN und der breiten Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft in der Phase der „norm cascades“. Der Normgegenstand ist jedoch problematisch und die Norm ist in der Frage der Umsetzung unklar definiert. Die positive Besetzung staatlicher Souveränität mit einer Schutzverpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung ist aber eine Möglichkeit, das bisherige Dilemma zwischen Souveränität und humanitärer Interventionen aufzulösen. Das folgende Kapitel zeigt, wie die beiden hier untersuchten Länder die R2P unterstützten und in die eigene Außenpolitik aufnahmen.
6 Die Responsibility to Protect in der Außenpolitik Deutschlands und Großbritanniens
Sowohl Deutschland als auch Großbritannien zählen zu den Unterstützern der R2P. Negrón-Gonzales & Contarino (2014: 259-262) kommen in ihrer Studie, in der sie untersuchen, wie einzelne Länder auf die R2P reagierten, zu dem Ergebnis, dass beide Länder die R2P allgemein und im Besonderen den kontroversen dritten Pfeiler der R2P unterstützen.
Im Fall Deutschlands ist diese Unterstützung in den UN-Debatten und öffentlichen Positionspapieren sichtbar. Laut UN-Dokumenten unterstützt Deutschland die R2P und deren Umsetzung vollkommen, wobei Pfeiler zwei als der Innovativste angesehen wird (Matussek 2009; Responsibility to Protect 2010). Engagement in Bereichen, die unter die R2P fallen, zeigt beispielsweise der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Der Aktionsplan stellt die Notwendigkeit ziviler Krisenprävention heraus sowie das Ziel den Schutz der Menschenrechte durchzusetzen. Der Aktionsplan umfasst Strategien der Konfliktlösung sowie Schnittstellen zu militärischen Optionen (Bundesregierung 2004: 1-4). Direkten Bezug auf die R2P nimmt das Weißbuch 2006 des Bundesministeriums der Verteidigung (2006: 51-52). Das Weißbuch weist auf den Einsatz von Zwangsmaßnahmen zum Schutz der Menschenrechte hin und stellt den UN-Sicherheitsrat als Quelle legitimer militärischer Operationen heraus.
Großbritannien unterstützt ebenfalls die UN-Debatten und bezog die R2P in nationale Strategien ein. Großbritannien übernahm die R2P in die nationale Sicherheitsstrategie und betont in diesem Zusammenhang den Willen zu handeln, sollten Staaten ihre Schutzverantwortung vernachlässigen (Cabinet Office 2008: 48). Unter Bezugnahme auf die nationale Sicherheitsstrategie stellt Großbritannien den Schutz der Zivilbevölkerung auch im UN-Sicherheitsrat heraus (Parham 2010).
Beide hier analysierten Länder zeigen auf UN-Ebene wie auf nationaler Ebene Unterstützung für die R2P, wobei Großbritannien mit der Aufnahme in die nationale Sicherheitsstrategie eine stärkere Integration in die nationale Politikgestaltung vollzieht. Deutschland hat hier noch keine klare Strategie formuliert. Das nachfolgende Kapitel analysiert die Sprechakte der politischen Entscheidungsträger in beiden Ländern, um aufzuzeigen, wie die R2P die Entscheidungen zur Libyen-Resolution beeinflusste. Zu Beginn wird hierfür die Krisenentwicklung dargestellt.
7 Die Libyen-Intervention
7.1 Kontext
Die Libyen-Krise nahm Mitte Februar 2011 ihren Ausgang, als der arabische Frühling das Land erreichte. Der libysche Anwalt und Menschenrechtsaktivist Fathi Terbil wurde am 15. Februar 2011 in Bengasi verhaftet, in dessen Folge kam es zu heftigen Protesten und das Land geriet in einen Bürgerkrieg. Oppositionelle Kräfte konnten innerhalb weniger Wochen einige Städte im Osten und Westen des Landes sichern, ehe die Führungsstrukturen des Diktators Muammar Gaddafi den Konflikt beeinflussten. Über Jahrzehnte hinweg wirkte Gaddafi auf die Gesellschaftsstrukturen ein und konnte so die Herausbildung einer stabilen Mittelklasse sowie einer Staats- und Militärbürokratie verhindern. Das Militär agierte daher überwiegend als unselbstständige politische Kraft und folgte Gaddafis Befehl, die Rebellion militärisch zu zerschlagen und die verlorenen Städte zurückzuerobern. Mit schweren Waffen griff das Militär die eigene Bevölkerung unter Missachtung von Menschenrechten und humanitären Faktoren an und sorgte so für ein Gewaltausmaß, dass in den anderen Ländern des arabischen Frühlings so nicht auftrat (Müller 2011: 2). Mit der einstimmig am 26. Februar 2011 beschlossenen UN-Resolution 1970 verurteilte der UN-Sicherheitsrat unter anderem die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, stellte die Verantwortung der libyschen Führung dafür fest und sah die Gefahr, dass die ausufernde Gewalt zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit führt. Die libysche Regierung wurde daher an die Responsibility to Protect gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung erinnert, mit Wirtschaftssanktionen belegt und zur Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof aufgefordert (UN-Sicherheitsrat 2011a).
[...]
[1] In Kapitel vier und sieben wird der Begriff in zweifacher Weise verwendet. Die Abkürzung R2P umfasst dort die Norm als Ganzes, während „Responsibility to Protect“ lediglich die Schutzverantwortung der libyschen Regierung gegenüber der Bevölkerung beschreibt.
[2] Normen werden als kollektive Standards angemessenen Verhaltens definiert (Schimmelfennig 2010: 165).
[3] Siehe hierzu ausführlich Kapitel fünf.
[4] Der arabische Frühling bezeichnet eine Reihe von Protesten, Aufständen und Revolutionen in Teilen der arabischen Welt, welche im Dezember 2010 begannen.
[5] Einen Überblick über die verschiedenen konstruktivistischen Ansätze gibt Harnisch 2010: 105-107.
[6] In anderen Ansätzen, wie dem systemischen Konstruktivismus nach Wendt, besitzt Sprache dagegen keine besondere Funktion (Ulbert 2005: 12).
[7] Siehe hierzu Kapitel sechs.
[8] Zur Debatte siehe Bellamy 2010b: 429-433.
[9] Russland drohte, jede Resolution die eine militärische Intervention zum Ziel hatte, durch ein Veto zu blockieren.
- Citar trabajo
- Dennis Diestertich (Autor), 2016, Von humanitärer Intervention zur Responsibility to Protect. Der Einfluss einer neuen Norm auf die Libyen-Intervention, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/344879
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