Bei der Bewertung der Geschichte der Sowjetunion und ihrer Satelliten fällt der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik der Sowjetbürokratie jeher eine zentrale Bedeutung zu.
Geht es um die die Partei- und Staatsführungen in ihren Entscheidungsfindungen leitenden Motive, so neigen jedoch nicht nur Vertreter der Totalitarismustheorie bis heute dazu, ihren Ursprung in der Ideologie der Handelnden zu suchen. Gerade so als wären die kommunistischen Führungen nicht selbst die kreativen Schöpfer der offiziellen Ideologie gewesen, sondern seien stattdessen von höheren Mächten vorgegebenen Prämissen gefolgt.
Die großen strategischen Wendungen in der Wirtschaftspolitik in der Sowjetunion seit den 1920er Jahren und ihren Satellitenstaaten nach 1945 wiederlegen hingegen die These von der Ideologie als Primat der Politik im Staatssozialismus. Ausgangspunkt dieses Textes sind drei Grundannahmen:
1. Die Politik der Nomenklatura entsprang Widersprüchen zwischen sozialen Klassen und aus ihnen resultierenden, immer wiederkehrenden Interessenkonflikten.
2. Die grundlegenden Interessen der einzelnen staatssozialistischen Gesell-schaftsklassen erfuhren in den Jahrzehnten der Existenz des Sowjetsystems über die einzelnen Ländergrenzen hinweg bis zu seinem Ende 1990 keine wesentliche Veränderung.
3. Allerdings kam es in einzelnen Entwicklungsphasen im langen Zeitraum von der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren bis zum Ende des Staatssozialismus sowjetischen Typs zur Ausprägung unterschiedlicher Interessenkonstellationen.
Inhalt
1. Einführung
2. Soziale Klassen und Klassenlagen im Staatssozialismus
a) Die Staats- und Parteiführung in der Falle struktureller Sachzwänge
Abhängigkeit vom öffentlichen Amt
Unfehlbarkeitsanspruch
Unbedingte Loyalität
b) Die administrative und die operative Dienstklasse
c) Die staatssozialistische Arbeiterklasse
3. Wirtschaftsreformen und –gegenreformen in der SU und der DDR
a) Unterentwicklung und Gewalt, Ineffizienz und Legitimitätsverlust
b) Wirtschaftsreformen in der DDR und SU nach 1945
Wirtschaftsreformen in der DDR in der Ära Ulbricht
Die Kossygin-Reform in der Sowjetunion
4. Resümee
Auswahlbibliographie:
1. Einführung
Bei der Bewertung der Geschichte der Sowjetunion und ihrer Satelliten fällt der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik der Sowjetbürokratie eine zentrale Bedeutung zu. Der Begriff Entwicklungsdiktatur dient nicht wenigen Autorinnen und Autoren zur Illustration des engen Zusammenhangs zwischen totalitärem Machtanspruch und futuristischem Fortschrittsversprechen in den staatssozialistischen Regimen seit Josef Stalin.
Geht es um die die Partei- und Staatsführungen in ihren Entscheidungsfindungen leitenden Motive, so neigen jedoch nicht nur Vertreter der Totalitarismustheorie bis heute dazu, ihren Ursprung in der Ideologie der Handelnden zu suchen.
Gerade so als wären die kommunistischen Führungen nicht selbst die kreativen Schöpfer der offiziellen Ideologie gewesen, sondern seien stattdessen von höheren Mächten vorgegebenen Prämissen gefolgt. Gerade so als hätte es die schon vielfach diagnostizierten Zick-Zack-Kurse der ständig wechselnden Parteilinien nie gegeben.
Auch in den Arbeiten renommierter Sozialhistoriker stößt der interessierte Leser auf überraschende Leerstellen und merkwürdige Interpretationen, geht es um die Bestimmung der Motive der historischen Akteure in den einstigen Ostblockstaaten.
So bemühte selbst der 2014 verstorbene Mentor der deutschen Gesellschaftsgeschichte Hans-Ulrich Wehler die Figur der „im Bann ihrer Ideologie“ stehenden „dogmatischen Kader“ zur Erklärung des finalen Fiaskos der DDR-Ökonomie. Die dem Wechselverhältnis von Wirtschaftspolitik und Machterhaltung zugrundeliegenden strukturell bedingten Motive vermochte auch er nicht zufriedenstellend offenzulegen, trotz profunder Kenntnis der Klassenlagen in der SBZ/DDR.[1]
Die großen strategischen Wendungen in der Wirtschaftspolitik in der Sowjetunion seit den 1920er Jahren und ihren Satellitenstaaten nach 1945 wiederlegen hingegen die These von der Ideologie als Primat der Politik im Staatssozialismus. Ausgangspunkt dieses Textes sind drei Grundannahmen:
1. Die Politik der Nomenklatura entsprang Widersprüchen zwischen sozialen Klassen und aus ihnen resultierenden, immer wiederkehrenden Interessenkonflikten.
2. Die grundlegenden Interessen der einzelnen staatssozialistischen Gesellschaftsklassen erfuhren in den Jahrzehnten der Existenz des Sowjetsystems über die einzelnen Ländergrenzen hinweg bis zu seinem Ende 1990 keine wesentliche Veränderung.
3. Allerdings kam es in einzelnen Entwicklungsphasen im langen Zeitraum von der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren bis zum Ende des Staatssozialismus sowjetischen Typs zur Ausprägung unterschiedlicher Interessenkonstellationen.
Für die Wandlungen in der Politik der Partei- und Staatsführungen bietet eine differenzierte Untersuchung stichhaltige Erklärungen, die diese klassenspezifischen Interessenlagen mit der Analyse des Erfahrungshorizontes der Handelnden koppelt.
Halbwegs seriösen Rekonstruktionen des Erfahrungshorizontes gesellschaftlicher Gruppen kann aus guten Gründen ein Höchstmaß an Erklärungskraft abgewonnen werden. Ganz im Gegensatz zu den seit den 1980er Jahren im Mikrokosmos der Geisteswissenschaften weit verbreiteten Erklärungsansätzen, denen zufolge Motive einzelner oder größerer Gruppen von Akteuren auf mehr oder weniger unbewusste Denk- und Handlungsmuster zurückzuführen seien. Seit der Hinwendung zur „neuen“ Mentalitätsgeschichte durch weite Teile der geisteswissenschaftlichen Community stehen solcher Art mentale Prägungen bei der Bewertung von Entscheidungsfindungsprozessen im historischen Rückblick hoch im Kurs. Wie so häufig geht jedoch auch beim massenhaften Vollzug des sogenannten Cultural Turns ein Übermaß an Modebewusstsein mit dem Verlust analytischer Präzision einher.
Dieses Defizit äußert sich im weitverbreiteten Unwillen oder Unvermögen zwischen zwei Arten von Entscheidungen handelnder Akteure zu unterscheiden. Das Konzept der Mentalität meint im Grunde quasi automatisch abrufbare Interpretations- wie Aktionsmuster.
Von ihnen zu unterscheiden sind Entscheidungen, die sich aus rationalen Opportunitätskostenabwägungen ergeben. Diese vollziehen Akteure auf Basis der Bewertung von Informationen anhand des eigenen Erfahrungshorizontes. Auch wenn so gefällte Entscheidungen im Rückblick irrational erscheinen, können sie im konkreten historischen Kontext rational begründet gewesen sein.[2]
2. Soziale Klassen und Klassenlagen im Staatssozialismus
Bis zum Ende der Sowjetunion und ihrer Satelliten wurde in den meisten kritischen marxistischen Publikationen über den Staatssozialismus implizit oder explizit von einem Zweiklassenmodell ausgegangen: Die Nomenklatura als herrschende Klasse, Kaste oder wie auch immer zu definierende soziale Schicht versus die unterdrückte wie entmündigte Mehrheit der Arbeiter und Bauern bzw. Werktätigen. In einem solchen Modell bleiben jedoch wesentliche Konfliktlinien unsichtbar, die für die Entwicklung des Gesamtsystems von entscheidender Bedeutung waren.[3]
In ihrer Strukturanalyse der DDR-Gesellschaft von 1995 entwarf Heike Solga ein weitaus differenzierteres Modell, in dem die Nomenklatura nicht mehr nur als mehr oder weniger einheitlicher sozialer Block erscheint. Sie untergliedert die Nomenklatura in drei soziale Klassen, deren Interessen durchaus auch in Widerspruch zueinander stehen konnten. Arbeiten zur Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion von Autoren wie Hansgeorg Conert oder Paul R. Gregory legen den Schluss nahe, dass dieses Vierklassenmodell auch bei Untersuchungen des Mutterlandes des Sowjetsystems zweckdienlicher ist als ein auf der Vorstellung von zwei Hauptklassen im Staatssozialismus beruhendes.
Nach der Analyse der Klassenstruktur der staatssozialistischen Gesellschaft der DDR von Heike Solga bestand diese aus folgenden vier Hauptklassen:
1. Die Staats- und Parteiführung als herrschender Klasse (Sekretäre, ZK-Mitglieder und -kandidaten, Mitglieder des Politbüros, Abteilungsleiter des ZK, Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, Führungsmitglieder von Massenorganisationen).
2. Die administrativen Dienstklasse (Administrativkader der Volkskammer, die Mitglieder des Staatsrates, die Minister, Kombinatsdirektoren, hohe NVA-Offiziere u. a.)
3. Die operative Dienstklasse (u.a. Abteilungsleiter, Ingenieure und Wissenschaftler mit Spezialkenntnissen, Schuldirektoren mit Weisungsbefugnissen)
4. Die „sozialistische“ Arbeiterklasse (qualifizierte und nichtqualifizierte Arbeiter sowie Angestellte ohne „politische, ökonomische und technokratische Verfügungsgewalt“).[4]
Letztere soll im Folgenden staatssozialistische Arbeiterklasse genannt werden, da hier davon ausgegangen wird, dass es sich beim Staatssozialismus sowjetischen Typs um eine eigene Gesellschaftsform gehandelt hat.[5] Neben diesen vier Hauptklassen spielte die bürgerliche Restklasse noch eine gewisse Rolle in einzelnen Ländern des Ostblocks, vor allem in Gesellschaften, wie der ostdeutschen oder tschechoslowakischen, die bereits im 19.Jh. den Entwicklungsstand hochentwickelter kapitalistischer Industriegesellschaften erreicht hatten.
a) Die Staats- und Parteiführung in der Falle struktureller Sachzwänge
Die Herrschaft der Staats- und Parteiführung war durch vier wesentliche Strukturmerkmale gekennzeichnet.
1. Das Staatseigentum an Produktionsmitteln als hegemoniale Eigentumsform in der Volkswirtschaft.
2. Die administrative Verfügungsgewalt der Staats- und Parteibürokratie als vorherrschende Form des Zugriffs auf Produktionsmittel.
3. Das verfassungsmäßig garantierte Machtmonopol der staatlichen Führung und ihrer Partei.
4. Das administrativ abgesicherte Entscheidungsprivileg im Sinne des letzten Wortes durch dieselbe.
Vereinfacht ausgedrückt besaß die Staats- und Parteiführung den Staat und somit auch die Produktionsmittel. Ihr politisches Machtmonopol war zugleich ökonomisches. Sie behielt sich am Ende vor zu entscheiden, was wie für wen in welchen Quantitäten produziert wurde. Diese Charakteristika bildeten die wesentliche Grundlage für die privilegierte Position der Mitglieder der Staats- und Parteiführung im sozialen Raum der staatssozialistischen Gesellschaft.
Abhängigkeit vom öffentlichen Amt
Zur Erklärung der wesentlichen die Politik der Staats- und Parteiführung leitenden Motive offeriert die neue Institutionenökonomik vier idealtypische Diktaturmodelle:
1. Die wissenschaftliche Diktatur, in der die allwissende Führung die strategischen Ziele definiert und deren konkrete Umsetzung an untergeordnete Planungsinstanzen (scientific planners) delegiert.
2. Die Theorie des „stationary bandit“, nach der der Diktator (bzw. die Führungsgruppe) sein Hauptinteresse in der langfristigen Maximierung seiner persönlichen Macht sieht. Nach dieser Theorie suchte die Staatsspitze ihre strategischen Ziele mittels einer auf ein stätiges Wirtschaftswachstum ausgerichteten Entwicklungspolitik zu erreichen.
3. Das Modell des egoistischen Diktators (selfish dictator), der versucht die eigene Macht zu akkumulieren, indem er seine Untergebenen materiell korrumpiert und sich deren Loyalität mittels materieller und nichtmaterieller Subsidien erkauft. Nach diesem Modell war das die Partei- und Staatsführung treibende grundlegende Motiv nicht das Wirtschaftswachstum und die Anhebung des allgemeinen Lebensstandards, sondern die Konsolidierung ihrer totalitären Macht.
4. Der staatssozialistische Diktator als Schiedsrichter (referee-dictator), der zwischen unterschiedlichen Macht- und Interessengruppen vermittelt. Diese Art könnte auch aus einem „stationary bandit“ oder einer auf die Maximierung der totalitären Macht ausgerichteten Diktatur hervorgehen, wenn Industriedirektoren, einzelne Ministerien oder regionale Parteiführungen ihre Spielräume ausweiten und zunehmend eigenständiger agieren.[6]
Alle vier idealtypischen Diktaturmodelle sind zwar hilfreich zum Verständnis einzelner Aspekte des Staatssozialismus sowjetischen Typs. Allerdings ermöglichen sie keinen zufriedenstellenden Zugriff auf wesentliche Zusammenhänge zwischen grundlegenden Interessenlagen und machtpolitischen Konstellationen einerseits und Entwicklungsversprechen wie Legitimationszwängen seitens der Nomenklatura andererseits.
Um das leisten zu können, muss man sich zunächst die machtpolitischen Konsequenzen vergegenwärtigen, die aus den oben kurz behandelten vier wesentlichen Strukturmerkmalen zwangsläufig resultierten.
Aus ihnen ergaben sich von vornherein grundlegende Abhängigkeiten und Interessen, die quasi konstitutiv für das Handeln der Partei- und Staatsführungen in allen staatssozialistischen Ländern vor 1990 waren. Die Apparatschiks agierten faktisch in einer permanenten Zwangslage ganz eigener Natur.
Ein Spitzenfunktionär befand sich nur solange in einer privilegierten Position im sozialen Raum, solange er sein Amt in der Staats- und Parteiführung innehatte. Nur solange er an der politischen Herrschaft teil hatte oder sie gar völlig monopolisierte, verfügte ein führender Funktionär auch über ökonomische Macht, war so Teil der ökonomisch herrschenden Klasse. Ein Mitglied der Staats- und Parteiführung eines staatssozialistischen Landes besaß so gesehen weitaus mehr Macht als ein Spitzenpolitiker in einem kapitalistischen Land. Andererseits boten sich ihm im Gegensatz zu seinem westlichen Pedant kaum Alternativen außerhalb des politischen Geschäftes. Ein Politiker in einer westeuropäischen parlamentarischen Demokratie z.B. kann, wenn er im Amt nur gut genug „vorgearbeitet“ hat, im Falle seines Ausscheidens aus der Regierungsverantwortung in die Privatwirtschaft wechseln. Dies ist eines der Grundmuster der Korruption in modernen kapitalistischen Gesellschaften.[7] Einem Spitzenfunktionär im Staatssozialismus bot sich eine solche Option nicht, da es private Unternehmen als nennenswerte Größe in der Zentralverwaltungswirtschaft einfach nicht gab. Er musste wohl oder übel einen Unfehlbarkeitsanspruch erheben, um sein beständiges Festhalten an seiner Führungsposition rechtfertigen zu können. Was im Folgenden näher erläutert werden soll.
Unfehlbarkeitsanspruch
Um als Amtsinhaber in der Sowjetunion oder einem ihrer Satelliten als unantastbar zu gelten, bedurfte es einer Reihe von Voraussetzungen, die dauerhaft erfüllt sein mussten, sollte der eigene totalitäre Herrschaftsanspruch nachhaltig legitimiert werden. Die erste bestand in dem kollektiven Versprechen der staatssozialistischen Spitzenfunktionäre, Garanten für eine bessere Zukunft der nichtprivilegierten Gesellschaftsmitglieder zu sein. Dieses Versprechen beinhaltete zwei beständig propagierte Zielsetzungen: Die nachhaltige ökonomisch-technologische Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Basis und ein dauerhafter Anstieg des Lebensstandards von Arbeitern und Bauern. Wollte ein regierender Funktionär seine führende Position, also sein politisches Amt nicht zugunsten anderer Anwärter verlieren, so musste er im Sinne der propagierten gesellschaftlichen Ziele als unfehlbar und unersetzbar erscheinen. So befanden sich die Mitglieder der Staats- und Parteiführungen schon aufgrund dieser strukturellen Besonderheit in einer höchst fragilen Position.
Unter diesen Bedingungen bedienten sich die Führungen einem über Jahrzehnte hinweg gleichbleibenden Basisportfolio an Herrschaftspraktiken:
Wollten Spitzenfunktionäre vermeiden, in ihrer Position früher oder später als ersetzbar zu gelten, so mussten sie verhindern, dass andere ihre Fähigkeiten zum selbsttätigen Handeln oder gar ihre Leitungskompetenzen unter Beweis stellten. Ein Mitglied des Führungszirkels war also schon aus diesem Grund bestrebt, möglichst viele Kompetenzen an sich zu ziehen und sie dauerhaft in seinen Händen zu halten. Das allseits anzutreffende vormundschaftliche Verhalten von Funktionären in der DDR, der Sowjetunion oder den anderen „Volksdemokratien“ muss vor allem als Technik zum Erhalt der eigenen Machtposition durch Entmündigung der minderprivilegierten Gesellschaftsmitglieder verstanden werden.
Der unauslöschliche Hang zur Konzentration von Entscheidungskompetenzen lässt sich bereits für die frühe Sowjetunion zur Zeit des abrupten Richtungswechsels von der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) zur forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung ab 1928 belegen. Das administrative System der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft bestand offiziell aus zwei Befehlswegen: einer führte durch den Staatsapparat, der andere durch die Hierarchieebenen der Partei.
Die administrative Kommando- bzw. Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs bestand in der Phase des Stalinismus aus drei Ebenen. Die oberste Ebene bildeten das Politbüro und das Volkskommissariat als oberstem staatlichen Organ, bei starken personellen Überschneidungen zwischen beiden. Die zweite Ebene bestand aus der obersten Planbehörde (Gosplan) und dem Finanz- wie dem Arbeitsministerium. Unterhalb beider agierten die Industrieministerien. Den Industrieministerien untergeordnet waren die Verwaltungen der unterschiedlichen Branchen (Glavks) und jenen wiederum die einzelnen Kombinate bestehend aus den einzelnen Betrieben. Zur Kontrolle der unteren Ebenen diente der Parteiführung die Kontrollkommission.
Die staatlichen Stellen mit dem Volkskommissariat an der Spitze trugen de jure die Verantwortung für die täglich zu regelnden wirtschaftlichen Belange. Der Parteiapparat legte die strategischen Ziele der wirtschaftlichen Planung fest. In der Realität allerdings spielte die Partei auch in der täglichen Wirtschaftslenkung eine aktive Rolle, um die Direktiven der Führung durchzusetzen. In den 1930er Jahren hatte das Politbüro so jährlich 2.300 bis 3.500 Entscheidungen zu fällen. Zu Beginn des Jahrzehnts waren es fünfzig pro Tagung. Die Zahl wurde auf Anweisung von Stalin 1932 auf fünfzehn pro Sitzung des Politbüros begrenzt. Bis Mitte der 1930er Jahre war die Zahl der pro Tagung zu treffenden Entscheidungen jedoch auf 100 bis 1.000 angestiegen.
Aus diesem systemimmanenten Missverhältnis resultierte eine bereits für das erste Jahrzehnt der (angestrebten) totalen Kommandowirtschaft feststellbare permanente Überlastung der Spitzenfunktionäre, allen voran Josef Stalins.
Diese quasi selbstverschuldete Dauerüberlastung führte zu Entscheidungsfindungsprozessen auf viel zu geringer Datenbasis, gemessen an dem selbstgesteckten Ziel der vollständigen Planung und Lenkung der gesamten Volkswirtschaft.[8]
Das Dilemma blieb bis zum Ende der bürokratischen Zentralverwaltungswirtschaft und damit des Staatssozialismus sowjetischen Typs bestehen. So wurden in der SU in den 1980er Jahren 22 bis 24 Mio. Güter produziert. Die Bilanzen der Planbehörde (Gosplan) erfassten jedoch nur einige tausend Gütergruppen, mit denen die Statistiker gerade einmal 40 bis 50.000 Produkte aggregieren konnten.[9]
Unter den Defiziten des Planungssystems der UdSSR, litt die DDR-Volkswirtschaft ebenso. So war das Datenerfassungssystem in der DDR, was das Tempo und die Masse der erfassten Daten und deren Aufarbeitung anbelangt, im Vergleich mit westeuropäischen Standards konkurrenzlos. Die Ostberliner Zentralplaner sahen sich mit einem monatlich anfallenden Datenbestand von 43 Mio. Bit konfrontiert, konnten jedoch nur 43.000 Bit Informationen auswerten.[10]
Paul R. Gregory weist in seiner Analyse der politischen Ökonomie des Stalinismus darauf hin, dass ökonomische Diktaturen unter dem allgemeinen Dilemma leiden, einen Teil ihrer Entscheidungskompetenzen an untergeordnete Ebenen und an Spezialisten delegieren zu müssen. Wie das Schicksal der Datenverarbeitungssysteme in der späten UdSSR und DDR zeigt, drohten sich die führenden Planer sonst, und mit ihnen das gesamte System, früher oder später selbst zu paralysieren. Allerdings brachte jede Übertragung von Kompetenzen an Untergebene den Verlust eines Teils der eigenen Machtvollkommenheit mit sich, der Grundlage der privilegierten Position im sozialen Raum der staatssozialistischen Gesellschaft.[11]
Die Verlagerung von Kompetenzen an Untergebene erfolgte unter diesen Bedingungen nur widerwillig. Die Ausstattung von Akteuren aus der administrativen und operativen Dienstklasse mit zeitlich begrenzten Sondervollmachten bot der Machtzentrale andererseits die Möglichkeit, ihnen systemimmanente Fehlentwicklungen anzulasten, um von der eigenen Fehlbarkeit abzulenken und sie so als potentielle Konkurrenten auszuschalten.
Die Geister, die man in der Not rief, sollten sich nicht verselbständigen, mussten also nach getaner Arbeit wieder zurückgerufen oder gar vernichtet werden, damit den etablierten Apparatschiks keine unliebsame Konkurrenz erwuchs. Der Schauprozess gegen General Arnaldo Tomás Ochoa Sánchez 1989 in Kuba steht als eines von vielen Beispielen für diese Praxis.[12]
Die allgegenwärtige Zensur, die Monopolisierung von Informationsquellen und die Unterbindung des freien öffentlichen Diskurses durch die staatssozialistischen Führungen erfüllten den gleichen Zweck wie die Zentralisierung von Entscheidungen. Der Ausschluss potentieller Konkurrenten vom Zugang zu Informationen war so auch eines der probaten Mittel, sich in den Ämtern auf der obersten Ebene der Machtpyramide unersetzlich zu machen.
Unbedingte Loyalität
Die Abhängigkeit der Spitzenfunktionäre vom öffentlichen Amt, ohne jede Möglichkeit selbst früher oder später Kapital zu akkumulieren, zwang sie ebenso, sich beständig der Loyalität ihrer Untertanen zu vergewissern. Loyalität bedeutete vor allem die Anerkennung der Unfehlbarkeit der Führung und die bedingungslose Akzeptanz wie Unterordnung unter die aktuell propagierte Parteilinie. Die permanente Zumutung, Loyalitätsbekundungen zu leisten, denen sich die staatssozialistische Arbeiterklasse und die Dienstklassen ausgesetzt sahen, entsprang dieser Zwangslage auf Seiten der Herrschenden. In kapitalistischen Gesellschaften hat diese Art von Loyalitätsbekundung ihr Pendant in der pflichtgemäßen Anerkennung privater Eigentumsrechte. Die unbedingte Anerkennung des Machtmonopols der Parteiführung und der öffentlich bekundete Glaube in die Unfehlbarkeit der Spitzenfunktionäre waren so zu erbringende Vorleistungen, wollte man bei der Verteilung von Ressourcen nicht zu kurz kommen.
[...]
[1] Siehe Wehler, Hans-Ulrich (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5, S. 90, 104-107 und 216-230
[2] Volker Sellin definierte in Anlehnung an Werner K. Blessing Mentalitäten als spezifische umweltgebundene Ausrichtung des Denkens und Fühlens. Die Bildung neuer Ideologien beginnt für Sellin da, wo althergebrachte Mentalitäten mit neuen Gegebenheiten konfrontiert werden. Neue Ideologien würden die Mentalität des Menschen wiederum verändern. Er kommt zu dem Schluss, dass Mentalitäten zwar die Ursache menschlichen Handelns sind, sie sind aber auch „Tendenzen und Dispositionen, bestimmte Situationen, die ein Verhalten auslösen, in charakteristischer Weise zu deuten.“ Grundlegend einzuwenden wäre, dass es dem Konzept aufgrund seiner begrifflichen Unbestimmtheit an der nötigen analytischen Trennschärfe mangelt, um mit ihm überhaupt wissenschaftlich seriös arbeiten zu können. Sellin, V. (1985): Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Gall, Lothar (Hrg.): Historische
Zeitschrift, S.555 – 598, Oldenbourg, München
[3] Orthodoxe Zweiklassenmodelle bilden die Grundlage zahlreicher Erklärungsansätze von Autoren, die den Staatssozialismus sowjetischen Typs als Staatskapitalismus charakterisieren (u.a. Tony Cliff und Paul Mattick) oder die in dessen Analyse von der marxistischen Theorie der asiatischen Produktionsweise ausgehen (u.a. Karl August Wittfogel und Rudolf Bahro). Ebenso verhält es sich mit Theorien, in denen dem Sowjetsystem der Charakter einer Klassengesellschaft neuen Typs im Sinne eines bürokratischen Kollektivismus attestieren wird (u.a. James Burnham und Milovan Djilas).
Siehe auch:
Bahro, R. (1977): Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus; Frankfurt a. M.
Burnham, J. (1941): The Managerial Revolution. What is happening in the World, New York
Cliff, T. (1975): Staatskapitalismus in Rußland: eine marxistische Analyse, Frankfurt a. M.
Djilas, M. (1957): The New Class, New York
Trotzki, L. (1937): The Revolution Betrayed. What is the Soviet Union and where is she going, London
Wittfogel, K.A. (1957): Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven
[4] Solga, Heike (1995): Auf dem Weg, S.56-80
[5] Übereinstimmende Charakteristika und Entwicklungen, wie sie unterschiedliche Ausformungen des Kapitalismus im 20. Jh. häufig zeitgleich aufwiesen bzw. durchliefen, widersprechen dieser Ausgangsüberlegung nicht – hier wären v. a. die stark staatlich regulierten Ausformungen des hochentwickelten Industriekapitalismus und eine Reihe von Entwicklungsgesellschaften im Trikont zu nennen.
[6] Gregory, Paul R. (2004): The Political Economy, S. 9-13
[7] Siehe Rügemer, Werner (1996): Korruption. S. 98-116
[8] Siehe Gregory, Paul R. (2004): The Political Economy, S. 112, 127-131
[9] Siehe Conert, Hansgeorg (1990): Die Ökonomie, S. 21
[10] Siehe Gürtler, Markus (1996): Die Grenzen der Kontrolle, S.253-273
[11] Siehe Gregory, Paul R. (2004): The Political Economy, S. 9-10, 188-189
[12] Siehe Zeuske, Michael (2000): Insel der Extreme. S. 130-133
- Quote paper
- Alf Zachäus (Author), 2016, Im Gefängnis der Unfehlbarkeit. Interessenkonflikte und Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion und der DDR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/344759
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