Dieser Essay hat die Grundlagen der vergleichenden politischen Kulturforschung zum Thema. Es stellt sich die Frage, was Gegenstand der politischen Kulturforschung ist und wie diese sich eingrenzen lässt. Der Essay wird zunächst einen kurzen Abriss über die Geschichte und die Hintergründe der politischen Kulturforschung geben. In der Folge definiert die Verfasserin den Begriff der „politischen Kultur“ näher und wird anhand von Almonds und Verbas Studie „The Civic Culture“ die Dimensionen der politischen Kultur sowie die Differenzierung der Kulturtypen erläutern. Ein Überblick über die politische Kultur in der EU soll den Essay beschließen.
Essay
Thema: Vergleichende Politische Kulturforschung I: Grundlagen
Dieser Essay hat die Grundlagen der vergleichenden politischen Kulturforschung zum Thema. Es stellt sich die Frage, was Gegenstand der politischen Kulturforschung ist und wie diese sich eingrenzen lässt. Der Essay wird zunächst einen kurzen Abriss über die Geschichte und die Hintergründe der politischen Kulturforschung geben. In der Folge definiert die Verfasserin den Begriff der „politischen Kultur“ näher und wird anhand von Almonds und Verbas Studie „The Civic Culture“ die Dimensionen der politischen Kultur sowie die Differenzierung der Kulturtypen erläutern. Ein Überblick über die politische Kultur in der EU soll den Essay beschließen.
1. Die Geschichte der politischen Kulturforschung
Als „die“ Begründer der politischen Kulturforschung sind Gabriel A. Almond und Sidney Verba anzusehen, wenngleich es bereits seit der Antike (Platon, Aristoteles, Sokrates) Ansätze zur Kulturforschung gab. Doch erst die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Almond und Verba durchgeführte Studie „The Civic Culture“ setzte erstmals in der Politikwissenschaft systematisch die Bevölkerung eines Staates in den Mittelpunkt der Untersuchung. Damit wurde der Forschungsgegenstand von der Ebene der politischen Institutionen und der Eliten auf die Ebene der allgemeinen Bürgerschaft verlagert.1 Ziel dieser ersten einschlägigen Studie war es, Zusammenhänge zwischen der politischen Kultur eines Landes und der Stabilität seiner demokratischen Ordnung näher zu beleuchten. Als Ursache dieses plötzlichen Forschungsinteresses sind insbesondere zwei geschichtliche Hintergründe zu benennen: Zum einen der Zusammenbruch der jungen Demokratien vor dem Zweiten Weltkrieg, also vor allem der Kollaps der Weimarer Republik und der Übergang zur totalitären NS-Diktatur in Deutschland. Und zum anderen die Dekolonialisierungswelle in den Ländern der Dritten Welt in den ausgehenden 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, die die Fragestellung aufwarf, ob der demokratische Systemtypus in ehemalige Kolonien ohne demokratische Tradition exportierbar sei. Vor allem aber hatte die Zwischenkriegszeit gezeigt, dass weder eine moderne demokratische Verfassung mit einem fortschrittlichen Institutionengefüge noch ein hohes wirtschaftliches und gesellschaftliches Entwicklungsniveau den Bestand einer Demokratie zu garantieren vermochte. 2 Es musste demnach einen weiteren Faktor geben, der über die Stabilität und Performanz eines demokratischen Systems entscheidet: die politische Kultur.
2. Die Definition der politischen Kultur
Doch was bedeutet der Begriff der „politischen Kultur“ nun überhaupt? Almond und Verba definieren politische Kultur als „ the particular distribution of patterns of orientation towards political objects among the members of the nation “ (die Verteilung von individuellen Einstellungen zu politischen Objekten unter den Mitgliedern des Kollektivs) . 3 D.h., dass der Begriff „politische Kultur“ ausschließlich nicht beobachtbare Dinge wie Orientierungen, Einstellungen, Haltungen, Glaubens- und Wertvorstellungen von Individuen umfasst - wobei ein politischer Bezug vorliegen muss (bspw. Einstellungen zu politischen Institutionen oder zur Sozial- und Zuwanderungspolitik). Dagegen fallen tatsächliches Handeln und Verhalten als Manifestation einer Einstellung (damit üben Einstellungen gleichwohl Einfluss auf das politische System aus) nicht unter das Konzept der politischen Kultur. Handlungs- und Verhaltensweisen sind vielmehr Gegenstand der politischen Partizipationsforschung, zu der z.B. auch die Wahlforschung gehört. Die Summe aller individuellen Einstellungen und Orientierungen bezüglich politischer Objekte, insbesondere Einstellungen zur generellen Ordnung und Organisation des politischen Systems, macht letztlich die politische Kultur eines Landes aus.
Dieser politischen Kultur kommt dann eine besondere Relevanz zu, wenn es um die Stabilität (einschließlich der Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit) und die Performanz (Leistungsfähigkeit) eines demokratischen Systems geht.
3. Die Dimensionen der politischen Kultur
Almond und Verba ordnen in „The Civic Culture“, in Anlehnung an Eastons Systemtheorie, politische Objekte den Inputs, dem System im Allgemeinen oder den Outputs zu. Politische Einstellungen beziehen sich auf diese drei Dimensionen, also auf die Input-, die System- und die Output-Dimension.
3.1. Input-Dimension
Unter Input fassen Almond und Verba die Institutionen, mittels derer die Bevölkerung Forderungen an die Politik herantragen kann, wie bspw. Parteien, Behörden und Interessengruppen. Input-Einstellungen sind dementsprechend politische Einstellungen zu diesen Institutionen der Input-Seite. Es gibt drei zentrale Konzepte der empirischen Sozialforschung bezüglich der Input-Dimension: (1) Das Konzept der politischen Kompetenz, das auf das Selbstverständnis der Bürger als Teilnehmer am politischen Prozess abzielt. Hierunter fallen also politische Einstellungen zur eigenen Rolle im Rahmen des politischen Prozesses. (2) Das Konzept der externen politischen Effektivität, das untersucht, inwieweit die gegebenen Strukturen die Einflussnahme seitens der Bürger, und damit die Realisation ihrer Einstellungen, am politischen Prozess ermöglichen. (3) Das Konzept der Parteienidentifikation, das die Einstellungen der Bevölkerung zu den politischen Parteien in den Mittelpunkt rückt.4
3.2. System-Dimension
Die System-Dimension umfasst die politischen Einstellungen der Bevölkerung zum politischen Regime und zur politischen Gemeinschaft. Mit dem Begriff „ politisches Regime “ werden die grundlegenden Merkmale der institutionellen Ordnung wie die Grundrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und das Rechtsstaatprinzip bezeichnet. Das politische Regime bildet folglich die maßgebenden Werte, Normen und Autoritätsstrukturen für das politische Zusammenleben, die wiederum die Identität eines politischen Systems als Demokratie ausmachen und es von autoritären und totalitären Regimen abgrenzen. Eine politische Gemeinschaft ist diejenige Einheit, der sich die Individuen zugehörig fühlen und der sie ihre Loyalität entgegenbringen. In modernen Gesellschaften und ethnisch homogenen Staaten wie etwa der Bundesrepublik übernimmt in der Regel die Nation diese Rolle, möglicherweise aber auch eine enger definierte Gruppe, die durch Ethnie oder Territorialgebiet näher bestimmt wird, wie bspw. die Bevölkerung des Baskenlandes die sich eher als Basken begreift, denn als Spanier oder Franzosen.5
3.3. Output-Dimension
Unter die Output-Dimension fallen politische Einstellungen zu der mit der Herstellung und Durchsetzung verbindlicher politischer Entscheidungen befassten Handlungen, Institutionen und Akteure. Diese Funktion wird in den westlichen Demokratien insbesondere durch die Regierung, die Verwaltung, die Gerichte und das Militär wahrgenommen.6
4. Die Kulturtypen
Um die politische Kultur eines Landes und damit auch die politischen Einstellungen der Bevölkerung zu den unterschiedlichen Dimensionen zu beschreiben, differenzierten Almond und Verba zudem vier Idealtypen der politischen Kultur, die sich in ihrem Entwicklungsniveau unterscheiden.7
4.1. Die parochiale Kultur
In der parochialen Kultur stellt die Politik im Leben der Bevölkerung keinen eigenständigen Handlungsbereich dar. Dieser Kulturtypus entspricht in etwa dem eines vormodernen politischen Systems.8
4.2. Die Untertanenkultur
In der Untertanenkultur bildet die Bevölkerung eine positive Beziehung zur Politik als Leistungs- und Ordnungsfaktor aus. Es findet eine Identifikation mit dem politischen Regime und der politischen Gemeinschaft statt. Allerdings lässt sich keine positive Beziehung zu den partizipativen Aspekten der Politik verzeichnen. Vielmehr ist dieser Typus durch affektive und interessenmäßige Orientierung an der Wohlfahrtssicherung durch Staat und Wirtschaft geprägt. Die Untertanenkultur existierte in den meisten europäischen Staaten vom Beginn der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.9
4.3. Die partizipative Kultur
Bei der partizipativen Kultur finden sich alle Eigenschaften der Untertanenkultur mit einer Ausnahme: Die Bürgerschaft baut im Stadium der partizipativen Kultur eine positive Beziehung zu den partizipativen Aspekten der Politik auf. Dieser Typ bildet daher die kulturelle Basis einer demokratischen Ordnung.10
4.4. Die Staatsbürgerkultur
In der von Almond und Verba favorisierten politischen Kultur, der „Civic Culture“ (Staatsbürgerkultur), sind moderne und traditionale Momente gemischt. stabile Demokratie. Sie ist eine Idealform.
4.5. Die Homogenität und die Heterogenität der politischen Kultur
Die Stabilität eines Systems hängt im Wesentlichen von seiner Anerkennung bei den gesellschaftlichen Teilgruppen ab. Zu den wichtigsten Merkmalen einer politischen Kultur gehört demnach eine gewisse Homogenität der politischen Einstellungen innerhalb der Bürgerschaft eines Systems. In einer homogenen politischen Kultur herrscht eine breite Übereinstimmung innerhalb der Gesellschaft über die grundlegenden Fragen des politischen Zusammenlebens und die Einstellungen zur Politik. Ist die politische Kultur heterogen, gibt es große Unterschiede in den politischen Einstellungen innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen. Es besteht die Gefahr, der Aufspaltung in konkurrierende, eventuell sogar feindliche Subkulturen. Nach den Annahmen der politischen Kulturforschung begünstigt die Homogenität einer politischen Kultur die Stabilität und Performanz eines Systems, eine Aufspaltung (Fragmentierung) in Subkulturen gefährdet sie.11
5. Politische Kultur in der EU
Auf der Grundlage von Almonds und Verbas Studie unterzieht Oscar W. Gabriel die politische Kultur in zwölf EU-Staaten einer empirischen Analyse.12
Er untersucht für die Systemstabilität und die Performanz mehrere Faktoren, die den drei Dimensionen der politischen Kultur zuzurechnen sind: die Präferenz für eine demokratische Ordnung, die Demokratiezufriedenheit, den Nationalstolz, das Interpersonale- und Institutionenvertrauen (alle Systemebene), das Kompetenzbewusstsein, die Parteiverbundenheit und das politische Interesse (alle Inputebene). Letztlich ist festzustellen, dass in allen untersuchten Ländern eine Präferenz für eine demokratische Ordnung als Staatsmodell besteht; es ist kein Staat dabei, dessen Bürger die Demokratie als solche ablehnen. In Bezug auf die Demokratiezufriedenheit ergibt sich aber bereits ein geteiltes Bild: sechs Länder finden sich im Lager der fast konsensualen Zustimmung wieder, fünf im Bereich der Dissens; nur in Italien stößt man auf totale Ablehnung. Die konsensuale Zustimmung verkehrt sich jedoch vollends in Dissens, zuweilen sogar in Ablehnung, wenn man die Punkte interpersonales und Institutionenvertrauen, Kompetenzbewusstsein, Parteiverbundenheit und politisches Interesse betrachtet.13 Hier tut sich fast ausnahmslos eine Kluft zwischen dem normativen Modell der Staatsbürgerkultur und der politischen Wirklichkeit auf.
[...]
1 Vgl. Westle, Bettina 2002: S. 319.
2 Vgl. Westle, Bettina 2002: S. 320.
3 Gabriel, Oscar W. 1996: S. 24.
4 Vgl. Westle, Bettina 2002: S. 321.
5 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 99.
6 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
7 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
8 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
9 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
10 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
11 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 100.
12 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 101-131.
13 Vgl. Gabriel, Oscar W. 1994: S. 124.
- Arbeit zitieren
- Claudia Wößner (Autor:in), 2005, Grundlagen politischer Kultur(forschung), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34468
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