Arbeitslosigkeit gab es nicht immer, sie ist vielmehr ein „Abfallprodukt“ des ausklingenden Mittelalters. Im 16. Jahrhundert entstand die Erwerbs- und Lohnarbeit und wurde gegen Ende des Jahrhunderts zur determinierenden Kraft insofern, dass soziale Absicherung jenseits von ihr kaum noch möglich war. Zeitgleich mit der Entwicklung dieses neuen Arbeitssystems entstand eines der prägnantesten Probleme unserer Gesellschaft: die Arbeitslosigkeit. So schlimm dieser Zustand auch für die Betroffenen war (bzw. ist), erschwert wurde er im 17. Jahrhundert durch die soziale Stigmatisierung und Gleichsetzung mit Armut und Arbeitsscheu im Rahmen der protestantischen Ethik. Ein Stigma, das sich bedauerlicherweise bis heute in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, wenngleich sich auch diese Sichtweise in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr als problematisch herausstellte, da es augenscheinlich viele „Lohnarbeitswillige“ gab, die aber wenn überhaupt nur zu konjunkturellen Stoßzeiten Anstellungen fanden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man dann endgültig das Problem der Erwerbslosigkeit, das nicht länger auf „moralische Mängel“ reduziert werden konnte, sondern seine Ursachen unabhängig von den Betroffenen aufwies. Es kam zu einer getrennten Erfassung von Erwerbslosen und Armen.
Mit Erkennen des Problems der Erwerbslosigkeit entstand natürlich auch ein Interesse daran, dieses Problem eingehend zu erforschen, wenn auch festgestellt muss, dass dieses Interesse kein anhaltendes, sondern vielmehr eines der Krisen war. So befassten sich z.B. die Warschau- und die Marienthalstudie mit der Massenarbeitslosigkeit, die Folge der Weltwirtschaftskrise war. Darüber hinaus, um noch einige andere zu nennen, gab es eine historiographische Studie zur Arbeitslosigkeit im III. Reich, die Detroiter Studie (1958) in Form von Fragebögen zwei Jahre nach Schließung der Packardwerke und die Bredaer Protokolle (1972), die insofern etwas besonderes darstellten, als hier Befragungen kurz vor den angekündigten Entlassungen durchgeführt wurden und somit erforscht werden konnte, welche Erwartungen zu- künftige Arbeitslose mit der baldigen Arbeitslosigkeit verbanden und mit welchen Ängsten sie sich konfrontiert sahen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Große Depression
3. Die Warschau-Studie (1935 publiziert von L. Krzywicki) im Überblick
4. Die Marienthal-Studie
4.1. Die methodische Ausgangslage der Marienthalstudie
4.2. Die müde Gemeinschaft
4.3. Die Haltung
4.4. Die Zeit
4.5. Die Widerstandskraft
4.6. Erkenntnisse der Marienthalstudie
5. Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
Arbeitslosigkeit gab es nicht immer, sie ist vielmehr ein „Abfallprodukt“ des ausklingenden Mittelalters. Im 16. Jahrhundert entstand die Erwerbs- und Lohnarbeit und wurde gegen Ende des Jahrhunderts zur determinierenden Kraft insofern, dass soziale Absicherung jenseits von ihr kaum noch möglich war. Zeitgleich mit der Entwicklung dieses neuen Arbeitssystems entstand eines der prägnantesten Probleme unserer Gesellschaft: die Arbeitslosigkeit.
So schlimm dieser Zustand auch für die Betroffenen war (bzw. ist), erschwert wurde er im 17. Jahrhundert durch die soziale Stigmatisierung und Gleichsetzung mit Armut und Arbeitsscheu im Rahmen der protestantischen Ethik. Ein Stigma, das sich bedauerlicherweise bis heute in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, wenngleich sich auch diese Sichtweise in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr als problematisch herausstellte, da es augenscheinlich viele „Lohnarbeitswillige“ gab, die aber wenn überhaupt nur zu konjunkturellen Stoßzeiten Anstellungen fanden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man dann endgültig das Problem der Erwerbslosigkeit, das nicht länger auf „moralische Mängel“ reduziert werden konnte, sondern seine Ursachen unabhängig von den Betroffenen aufwies. Es kam zu einer getrennten Erfassung von Erwerbslosen und Armen.[1]
Mit Erkennen des Problems der Erwerbslosigkeit entstand natürlich auch ein Interesse daran, dieses Problem eingehend zu erforschen, wenn auch festgestellt muss, dass dieses Interesse kein anhaltendes, sondern vielmehr eines der Krisen war. So befassten sich z.B. die Warschau- und die Marienthalstudie mit der Massenarbeitslosigkeit, die Folge der Weltwirtschaftskrise war[2]. Darüber hinaus, um noch einige andere zu nennen, gab es eine historiographische Studie zur Arbeitslosigkeit im III. Reich, die Detroiter Studie (1958) in Form von Fragebögen zwei Jahre nach Schließung der Packardwerke und die Bredaer Protokolle (1972), die insofern etwas besonderes darstellten, als hier Befragungen kurz vor den angekündigten Entlassungen durchgeführt wurden und somit erforscht werden konnte, welche Erwartungen zukünftige Arbeitslose mit der baldigen Arbeitslosigkeit verbanden und mit welchen Ängsten sie sich konfrontiert sahen.
2. Die Große Depression
Gegenstand dieser Abhandlung sollen die zwei erstgenannten Studien sein, wobei der Schwerpunkt auf der Marienthalstudie liegen wird. Diese beschäftigten sich wie bereits angedeutet auf verschiedene Weise mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit in Folge der Großen Depression.
Um das Ausmaß dieser Krise zu umreißen, seien hier ein paar Daten zur Situation vor und während der Großen Depression genannt: Nach dem I. Weltkrieg lag die Arbeitslosenrate durchschnittlich bei 5%, bis 1929 war sie sogar fast abgeschafft. Dennoch war die Arbeitslosigkeit nicht etwa irgendein Phänomen, das den einen oder anderen Arbeiter gelegentlich traf, vielmehr gehörte sie zum Alltag im Arbeiterleben. Sie war jedoch kaum problematisch, weil es selten länger als 4 Wochen dauerte, bis ein Arbeitsloser wieder eine Anstellung bekam. Mit der Zeit vergrößerte sich allerdings diese Zeitspanne immer weiter. Mit dem Börsenkrach, der die Weltwirtschaftskrise einläutete, verschlechterte sich die Lage rapide. Die Erwerbslosenrate lag bei über 20%, im Bereich der Schwerindustrie sogar noch wesentlich höher, anteilig handelte es sich dabei meist um Langzeitarbeitslose, die keine Hoffnung auf eine Einstellung haben konnten.
In einer walisischen Gemeinde mit mehr als 58% Arbeitlosen wurde bei einer Gesundheitsuntersuchung die Unterernährung von mindestens 21% der Kinder festgestellt, in Österreich waren es durchschnittlich 57% der Kinder von Erwerbslosen, in Marienthal sogar 76%. In Polen fehlten 45% aller Bergarbeiterkinder mangels Kleidung in der Schule. Die Familien waren gezwungen „überflüssiges“ Mobiliar zu verkaufen. Das Straßenbild war gezeichnet von Männern, die Schilder um den Hals trugen mit der Aufschrift „Ich suche Arbeit“. Entlassene Bauarbeiter lungerten an Baustellen herum, in der Hoffnung, dass jemand ausfiel, damit sie einspringen konnten.[3]
„Man braucht zehn Jahre um zu sterben!“ fand der amerikanische Journalist Knickerbocker heraus, als er Ende 1931 die Situation von erwerbslosen Familien in Berlin untersuchte. Er errechnete anhand der Einnahmen der Familien die möglichen Tagesrationen und stellte fest, dass sie etwa 10 Jahre brauchen würden, um zu verhungern.[4]
3. Die Warschau-Studie (1935 publiziert von L. Krzywicki) im Überblick
In diesen Notzeiten veranstaltete das „Institut für Sozialökonomie“ der Universität Warschau unter Leitung des Direktors L. Krzywicki ein Preisausschreiben, bei dem man Nahrungsmittel und Kleidung gewinnen konnte. Gewünscht waren biographische Berichte, die Auskunft gaben über Ernährungslage, gesundheitliche Verfassung, Umfang des Beleihens und Verkaufens von Haushaltsgegenständen, sowie Verschuldung und Umfang von Gelegenheitsarbeiten. Dabei handelte es sich um eine Erhebungsstrategie, die zum Ziel hatte, die ökonomischen und psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Individuen aufzuzeigen. Wenngleich methodisch umstritten, weil man meinte, die Aussicht auf die Gewinne würde die Menschen dazu neigen lassen, ihre Situation überzogener darzustellen, als sie tatsächlich sei, wurden von Zawadski und Lazarsfeld, die die Schreiben auswerteten, 57 von über 700 Einsendungen ausgewählt und als „phänomenologisch repräsentativ“ und zu allgemeinverbindlichen Aussagen zusammenfassbar bezeichnet.[5]
Die Menschen beschrieben ihre Lebensweise und ihre Existenzbedingungen als bestimmt durch Systeme öffentlicher Arbeitslosenunterstützung und selten auch durch Sachzuwendungen anderer staatlicher Stellen. Sie beschrieben die materielle Deprivation, der sie versuchten durch Gelegenheitsarbeiten, Verkauf von Haushaltsgegenständen, betteln und stehlen zu entkommen. In ihrer Beschreibung der emotionalen Einstellung und unmittelbaren Erfahrungswirkung der Arbeitslosigkeit zeichneten sich Phasen emotionaler Reaktionen ab: angefangen mit affektiven Erregungszuständen und Gemütsschwankungen zwischen panischer Angst, Trauer, Rachegefühlen und Hass hin zu einem dumpfen Gefühl der Lähmung, gefolgt von einer Phase relativer Beruhigung und vorläufiger Anpassung an die neuen Lebensbedingungen, eine Phase der Wartestellung, in der immerhin noch Hoffnung bestand. Blieben aber alle Anstrengungen vergeblich, stellte sich schnell Hoffnungslosigkeit ein, verschärft noch durch die Reduzierung der materiellen Ressourcen, wiederum gefolgt von erneuten Erregungszuständen, Verzweiflung, Angst, Depression, Selbstmordplanungen und –versuchen, Apathie. Die Menschen beschrieben Gefühle sozialer Degradierung und des Überflüssigseins, fühlten den Verlust menschlicher Würde und Selbstachtung.[6]
Diese Phasen werden interessanter und bezeichnender Weise auch heute noch von Arbeitslosen beschrieben, obwohl sich zumindest die materielle Notlage heutiger Erwerbsloser nicht mit der damaligen vergleichen lässt, was zeigt, dass Arbeitslosigkeit weniger ein finanzielles Problem ist, als ein soziales und eines des menschlichen Selbstverständnisses, wenngleich der finanzielle Aspekt natürlich nicht außer Acht gelassen werden kann.
4. Die Marienthal-Studie
Etwa zur gleichen Zeit wie die Warschau-Studie wurde die Marienthal-Studie von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel veröffentlicht. Angeregt wurde sie von Otto Bauer, einem Führer der SPÖ, der Lazarsfelds Vorhaben, das Freizeitverhalten städtischer Industriearbeiter zu untersuchen, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit für mehr als unpassend erachtete und stattdessen die Untersuchung der Lebensverhältnisse des „arbeitslosen“ Fabrikdorfes Marienthal vorschlug.[7]
Marienthal, das sich seit der Eröffnung einer Textilfabrik 1830 zu einem Ort regen Arbeiterlebens entwickelt hatte, welches Ort lokaler und nationaler Streiks und eine der Vorfeldorganisationen der Arbeiterbewegung, also ein politisch lebendiges Gebiet mit Parteien, Gewerkschaft, Arbeiterbibliothek und verschiedensten Vereinen war, sah sich mit der Schließung der einzigen Fabrik 1930 beinahe über Nacht einer Massenarbeitslosigkeit gegenüber, von der fast alle Dorfbewohner betroffen waren.[8]
Hierhin kam das Team von 15 Forschern aus verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten und jeweils Anhänger verschiedener politischer Gruppen (das war notwendig, da auch die Dorfbewohner verschiedenen politischen Richtungen angehörten) unter der intellektuellen Leitung von Paul Lazarsfeld. Wie sie methodisch vorgehen sollten, war ihnen jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
„Wir hatten weder inhaltlich noch methodisch einen klaren Plan. Marienthal erwuchs aus unseren Willen zum Wissen, aus unseren Kontakten mit Arbeitslosen in der politischen Bewegung, aus einfallsreichen Improvisationen, aus einer Arbeitsgemeinschaft, deren Wurzeln in der Jugendbewegung lagen und in der es weder eine formale Arbeitsteilung noch eine systematische Buchführung gab oder geben konnte aus unserer Weltanschauung ebenso wie aus der intellektuellen Disziplin, die wir allmählich durch unsere Universitätsstudien und durch die Marktforschung erworben hatten. Die Methoden erwuchsen aus der Konzentration auf das Problem, nicht um ihrer selbst willen.“[9]
[...]
[1] Vgl. Knost, Eberhard, Auswirkungen von Armut und Arbeitslosigkeit auf die psycho-soziale Entwicklung der Betroffenen und deren Familien, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, 2001 (<http://eldorado.uni-dortmun d.de:8080/FB12/inst4/forschung/2001/Knost; internal&action=buildframes.action> am 18.06.2002), S. 44.
[2] Vgl. Ziemann, Benjamin, Wählen Arbeitslose rechtsradikal?, 1998 (<http://www2.tagesspiegel.de/archiv/1998/ 09/17/ak-ku-6290.html> am 18.06.2002).
[3] Vgl. Balsen, Werner, Die neue Armut, Frankfurt 1984, S. 28.
[4] Vgl. Die Mythologie der Germanen (Hrsg.), Herrschaft, 2001, (<http://www.tivar.de/down/VII-Herrschaft.pdf> am 18.06.2002).
[5] Vgl. Zawadski, B., Lazarsfeld, Paul F., The psychological consequence of unemployment, in: Wacker, Ali, Arbeitslosigkeit, Hannover 1977, S.44ff.
[6] Vgl. Knost, Auswirkungen von Armut und Arbeitslosigkeit.
[7] Vgl. Kalbnitz, Rainer, Gibt es Marienthal noch heute?, Düsseldorf 1986, S. 12.
[8] Vgl. Jahoda, Marie/ Lazarsfeld, Paul F./ Zeisel, Hans, Die Arbeitslosen von Marienthal: ein soziographischer Versuch mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 1975, S. 32ff.
[9] Jahoda, Marie/ Lazarsfeld, Paul F./ Zeisel, Hans, Die Arbeitslosen von Marienthal: ein soziographischer Versuch mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1980, S. 139.
- Citation du texte
- Jan Böttger (Auteur), 2002, Historische Studien zur Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenforschung während der 'Großen Depression' - Die Warschau-Studie und die Marienthal-Studie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34317
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