Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge [...]. Diese bereits 1876 in seiner Vierten Unzeitmäßigen Betrachtung geäußerte Sprachskepsis Nietzsches verweist wie kaum ein anderes Dokument auf den Kern von Tschechows Werk und gleichzeitig auf eines der Hauptthemen des naturalistischen Dramas allgemein: die gestörte Kommunikation „gestörter“ Individuen. Glaubte das bürgerliche Bildungstheater des 18. Jahrhunderts noch an eine ideale Kommunikationsgemeinschaft autonomer Individuen und die sprachliche Fassbarkeit der Welt, bestimmen im naturalistischen Drama die schonungslose Darstellung des „alltäglichen Wahns“, ein absolutes Unvermögen der Figuren, ihren Gefühlen verbal Ausdruck zu verleihen, und Themen wie Kontaktlosigkeit, Isolation und Langeweile das Geschehen. Nicht länger kennzeichnen den Menschen die Fähigkeit zur freien Persönlichkeitsentfaltung, zur ehrlichen Kommunikation und zum bewussten Sich- Entschließen. Bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel (Industriekapitalismus etc.) ändert sich die Auffassung vom Menschen als eine geschlossenen Persönlichkeit. Das erweiterte Weltbild stellt das Individuum in ganz neue Bezüge „außer sich“, und der freie Entschluss wird durch die gesellschaftliche Determination des Handelns abgedrosselt.
Insbesondere das Künstlerdrama Die Möwe (Uraufführung: 17.10.1896 am Kaiserlichen Alexandertheater in St. Petersburg) des russischen Dramatikers Anton Tschechow greift diese gesellschaftliche Entwicklung auf und zeichnet ein beklemmendes Portrait orientierungsloser Individuen, zwischen denen ein wahrer menschlicher Kontakt unmöglich scheint. Auch ihre Flucht in die Kunst soll sich als Sackgasse erweisen. Anstatt ihnen den Weg zu sich selbst und den Mitmenschen zu ebnen, betäubt sie doch nur die innere Leere, das „Ennui“, und verhindert somit gerade die ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst. Tschechows Figuren leiden an unterdrückter Sehnsucht, an ihrer Zukunftslosigkeit, an der Öde ihres Daseins, an ihrer Ichbefangenheit, an ihrem Versagen und an ihren unerfüllten Lieben.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Handlung
- Mythos versus Alltagsproblematiken
- Handlungseinheit versus Polymythie
- Ausschnitt als Ganzes versus Ganzes in Ausschnitten
- Raum- und Zeitkonzeption
- Einheit versus Vielseitigkeit
- Rahmenfunktion versus Wirkungsmacht
- Allgemeines versus Einmaliges
- Figuren
- Autonome Heilige versus gescheiterte Existenzen
- Ideenträger versus Menschen
- Hochgradiges Bewusstsein versus Ungezügelt-Unbewusstes
- Sprache
- Kunstsprache versus Alltagssprache
- Rededuell versus Aneinandervorbeireden
- Thematisieren versus Schweigen
- Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die unterschiedlichen Konzepte von menschlicher Kommunikation im Drama am Beispiel von Goethes Iphigenie auf Tauris und Tschechows Möwe. Sie setzt sich kritisch mit der Idealisierung der Kommunikation im klassischen Drama auseinander und untersucht, wie Tschechow in seinem naturalistischen Werk die Entmystifizierung und die Schwierigkeiten der Kommunikation in der modernen Gesellschaft darstellt.
- Vergleich von klassischem und naturalistischem Drama
- Idealisierung versus Entmystifizierung menschlicher Kommunikation
- Die Rolle der Sprache im Drama
- Die Bedeutung des realistischen vs. idealistischen Ansatzes
- Die Darstellung von gescheiterten Existenzen und ihren Schwierigkeiten mit der Kommunikation
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der gestörten Kommunikation im Drama ein und stellt den Kontrast zwischen der Idealisierung im klassischen Drama und der Entmystifizierung im naturalistischen Drama dar. Die Analyse konzentriert sich auf die beiden Dramen Iphigenie auf Tauris von Goethe und Die Möwe von Tschechow.
Das zweite Kapitel behandelt die Handlung der beiden Dramen. Es wird der Unterschied zwischen dem mythologischen Stoff in Goethes Drama und den Alltagsproblematiken in Tschechows Werk hervorgehoben. Außerdem werden die Unterschiede in der Handlungseinheit und der Figurenkonzeption analysiert.
Im dritten Kapitel wird die Raum- und Zeitkonzeption der Dramen beleuchtet. Der Fokus liegt auf den unterschiedlichen Ansätzen von Einheit und Vielseitigkeit, Rahmenfunktion und Wirkungsmacht sowie Allgemeinheit und Einmaligkeit.
Das vierte Kapitel widmet sich den Figuren und ihren Eigenschaften. Es wird der Gegensatz zwischen den autonomen Heiligen in Goethes Drama und den gescheiterten Existenzen in Tschechows Werk hervorgehoben.
Im fünften Kapitel wird die Sprache der Dramen analysiert. Der Fokus liegt auf der Unterscheidung zwischen Kunstsprache und Alltagssprache, Rededuell und Aneinandervorbeireden sowie der Bedeutung von Thematisieren und Schweigen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen der Kommunikation, des Dramas, der Idealisierung, der Entmystifizierung, des klassischen Dramas, des naturalistischen Dramas, der Sprachskepsis, der gesellschaftlichen Realität, der gescheiterten Existenzen, der Kunst, der Liebe, der Kommunikationsschwierigkeiten, der Sprachlosigkeit und der menschlichen Beziehungen.
- Quote paper
- Tina Hanke (Author), 2000, Idealisierung versus Entmystifizierung menschlicher Kommunikation im Drama. Ein Vergleich von Goethes Iphigenie auf Tauris und Tschechows Möwe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34199