Man hat mich öfter für einen Lehrer /donneur de leçons/ gehalten. Heute mit 50 Jahren, von denen ich 30 beim Film war (von denen allerdings nur 20 Spuren auf der Wahrnehmungsoberfläche hinterlassen haben), habe ich ein wenig das Gefühl, eher wie ein Blutspender /donneur du sang/ funktioniert zu haben. Sogar die Werbung hat das Verfahren der Nicht-Überblendung, der Nicht- Verkettung von Elementen bei mir abgeguckt, ohne mir das gebührend zu vergelten.
So sieht Jean-Luc Godard seinen Einfluss auf die Filmwelt dreißig Jahre nach seinem Kinodebüt als junger cinephiler Autorenfilmer der Nouvelle Vague. Und tatsächlich, ohne Kenntnisse in Filmtheorie und -praxis seiner Zeit bemerkt man viele der oben erwähnten Verfahren als heutiger Zuschauer von M-TV und Werbefernsehen, als Benutzer von Computer und Internet gar nicht mehr. Godards Erstlingswerk A BOUT DE SOUFFLE brach bereits 1959 unwiederbringlich mit dem klassischen Erzählkino und arbeitete konsequent gegen traditionelle Konventionen. Dessen Dreh kommentiert er folgendermaßen: Wir waren also völlig gegen unseren Willen draußen und, was mich betraf, ohne jede Theorie. Da ich von nichts eine Ahnung hatte, bestand meine einzige Theorie darin, um jeden Preis allen Verboten aus dem Wege zu gehen.“ (Godard 1983: 25) Diese Arbeit behandelt hauptsächlich Filme aus Godards erster Schaffensphase, die er selbst von 1959 bis 1968 datiert – der Hochzeit der Nouvelle Vague. VIVRE SA VIE (1962), sein erster Essay-Film, wird exemplarisch analysiert und mit Ausschnitten aus dem Kurzfilm UNE HISTOIRE D’EAU (1958), den Spielfilmen A BOUT DE SOUFFLE (1959), LE PETIT SOLDAT (1960), UNE FEMME EST UNE FEMME (1961), PIERROT LE FOU (1965), 2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (1966) und Godards letztem Kinofilm vor seiner Video- Periode, WEEK-END (1967), in Verbindung gesetzt. VIVRE SA VIE dient dabei als Beispiel, denn dieser Film ist bereits ein Essay, doch weist er dabei noch einen nachvollziehbaren Plot und eine relativ lineare Narration auf. Die Untersuchung gilt der Godardschen Verfremdung filmischer Darstellung, ihren Mitteln und Wirkungen. Waren Godards skandalöse Regelbrüche gekonnte Elemente der Desillusionierung und Distanzierung eines intellektuellen Autorenfilmers, oder doch nur simple Anfängerfehler aus Mangel an praktischen Kenntnissen und jugendlichem Protest, wie das zweite oben angeführte Zitat vermuten lässt? Aber wie konnte er Kino und Fernsehen dann in dem erwähnten Ausmaß revolutionieren?
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Nouvelle Vague
III. Jean-Luc Godards VIVRE SA VIE (1962)
IV. Geldmangel und Regelbrüche – Analyse und Interpretation
IV. Geldmangel und Regelbrüche – Analyse und Interpretation
1. Bilder
2. Töne
3. Bild-Ton-Desintegration
4. Inhaltliches
5. Theoretisches
V. Feinanalyse E208-220
VI. Fazit
Quellenverzeichnis
Anhang
Abbildung 1 Sequenzgrafik VIVRE SA VIE
Abbildung 2 Diagramm Einstellungsgrößen
Abbildung 3 Schnittfrequenzgrafik
Abbildung 4 Einstellungsgrafik Bilder
Abbildung 5 Einstellungsgrafik Töne
Abbildung 6 Einstellungsgrafik Bilder und Töne
I. Einleitung
Man hat mich öfter für einen Lehrer /donneur de leçons/ gehalten. Heute mit 50 Jahren, von denen ich 30 beim Film war (von denen allerdings nur 20 Spuren auf der Wahrnehmungsoberfläche hinterlassen haben), habe ich ein wenig das Gefühl, eher wie ein Blutspender /donneur du sang/ funktioniert zu haben.
Sogar die Werbung hat das Verfahren der Nicht-Überblendung, der Nicht-Verkettung von Elementen bei mir abgeguckt, ohne mir das gebührend zu vergelten. (Godard 1981: 23)
So sieht Jean-Luc Godard seinen Einfluss auf die Filmwelt dreißig Jahre nach seinem Kinodebüt als junger cinephiler Autorenfilmer der Nouvelle Vague. Und tatsächlich, ohne Kenntnisse in Filmtheorie und -praxis seiner Zeit bemerkt man viele der oben erwähnten Verfahren als heutiger Zuschauer von M-TV und Werbefernsehen, als Benutzer von Computer und Internet gar nicht mehr. Godards Erstlingswerk A BOUT DE SOUFFLE brach bereits 1959 unwiederbringlich mit dem klassischen Erzählkino und arbeitete konsequent gegen traditionelle Konventionen. Dessen Dreh kommentiert er folgendermaßen:
Wir waren also völlig gegen unseren Willen draußen und, was mich betraf, ohne jede Theorie. Da ich von nichts eine Ahnung hatte, bestand meine einzige Theorie darin, um jeden Preis allen Verboten aus dem Wege zu gehen.“ (Godard 1983: 25)
Diese Arbeit behandelt hauptsächlich Filme aus Godards erster Schaffensphase, die er selbst von 1959 bis 1968 datiert – der Hochzeit der Nouvelle Vague. VIVRE SA VIE (1962), sein erster Essay-Film, wird exemplarisch analysiert und mit Ausschnitten aus dem Kurzfilm UNE HISTOIRE D’EAU (1958), den Spielfilmen A BOUT DE SOUFFLE (1959), LE PETIT SOLDAT (1960), UNE FEMME EST UNE FEMME (1961), PIERROT LE FOU (1965), 2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (1966) und Godards letztem Kinofilm vor seiner Video-Periode, WEEK-END (1967), in Verbindung gesetzt. VIVRE SA VIE dient dabei als Beispiel, denn dieser Film ist bereits ein Essay, doch weist er dabei noch einen nachvollziehbaren Plot und eine relativ lineare Narration auf.
Die Untersuchung gilt der Godardschen Verfremdung filmischer Darstellung, ihren Mitteln und Wirkungen. Waren Godards skandalöse Regelbrüche gekonnte Elemente der Desillusionierung und Distanzierung eines intellektuellen Autorenfilmers, oder doch nur simple Anfängerfehler aus Mangel an praktischen Kenntnissen und jugendlichem Protest, wie das zweite oben angeführte Zitat vermuten lässt? Aber wie konnte er Kino und Fernsehen dann in dem erwähnten Ausmaß revolutionieren? Einen ersten Hinweis liefert seine Aussage, zu Anfang seiner Filmpraxis keinerlei Theorie besessen zu haben, außer dem Plan, alle bestehenden Regeln zu brechen – die These liegt nah, dass er aus seinen anfänglichen gewollten oder auch aus Unwissen begangenen Regelbrüchen von Film zu Film, von Experiment zu Experiment, eine eigene Theorie entwickelte, die mit der Zeit zu seiner ganz eigenen individuellen Autorenhandschrift wurde. Was genau hinter der Godardschen Verfremdung steckt, wie sie entstand und was sie erreicht, soll auf den folgenden Seiten versuchsweise geklärt werden.
Dabei nimmt die Untersuchung Abstand zu jeglichen Vergleichen mit Bertolt Brecht und seinen Verfremdungsstrategien im epischen Theater, die in der Sekundärliteratur häufig zur Erläuterung von Godards Vorgehen herangezogen werden. Die Suche nach Berührungspunkten erübrigt sich, wenn man folgenden im Jahre 1978 in einem Interview geäußerten Sätzen Godards Beachtung schenkt:
Ich kenne sehr wenig von Brecht. Ich habe nur wenig von ihm gelesen. Was mir am besten gefällt, sind seine Gedichte. Sein Theater kenne ich überhaupt nicht. Ich glaube, die Leute kennen Brecht überhaupt nicht. (Reichart 1979: 44)
Es ist durchaus möglich, dass beide Autoren in ihren Medien mit ihren Strategien ähnliche Effekte erreichen, doch lässt dies nicht notwendig darauf schließen, dass ein direkter Einfluss zwischen ihnen besteht.
Zum Aufbau der Arbeit sei noch gesagt, dass dem Hauptteil zwei Kapitel vorangehen, in denen einführend einerseits der Zeitbezug des Godardschen Schaffens hergestellt und ein kleiner Einblick in die französische Nouvelle Vague gegeben, und andererseits der Inhalt des exemplarisch untersuchten Films wiedergegeben wird. Das vierte Kapitel enthält eine ausführliche Analyse und Interpretation der Verfremdungsmittel Godards in VIVRE SA VIE mit Ausblick auf andere Filme aus der ersten Periode des Autors. Untersucht wird er entsprechend der Godardschen Herangehensweise an das Medium Film: zuerst auf Verfremdungen auf dem Gebiet der Bilder, dem der Töne, dann auf Verfremdungseffekte, die auf deren Desintegration zurückzuführen sind, und schließlich auf inhaltliche und auf theoretische Elemente. Anhand der Feinanalyse einer exemplarischen Subsequenz im fünften Kapitel sollen die Ergebnisse noch einmal illustrativ verdeutlicht werden, um sie dann als Fazit geschlossen präsentieren zu können. Angaben von behandelten Filmstellen aus VIVRE SA VIE werden in Anlehnung an das Einstellungsprotokoll gegeben, welches sich mitsamt aller Grafiken im Anhang befindet; bei den anderen Filmen bleibt eine möglichst genaue Zeitangabe als Verweis. Alle verwendeten Quellen sind im Quellenverzeichnis aufgeführt.
II. Die Nouvelle Vague
Die Vertreter der Nouvelle Vague waren geprägt von der Filmtheorie André Bazins, der seine stets in Wandlung und Fortschritt befindliche Theorie als Kritiker in diversen Filmzeit-schriften veröffentlichte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie alle seine Ansichten geteilt hätten (z.B. entwickelte Godard eine ganz gegensätzliche Montage-Theorie), doch inspirierten Bazins Essays eine ganze Generation von Filmemachern. In der allzeit bedeutendsten französischen Filmzeitschrift, der von Bazin, Jacques Doniol-Valcroze und Lo Duca im Jahre 1951 gegründeten Cahiers du Cinéma, hatten Cineasten wie François Truffaut, Claude Chabrol, Eric Rohmer, Jacques Rivette und nicht zuletzt Jean-Luc Godard Gelegenheit, sich während der 50er Jahre mit der Veröffentlichung von Theorie auf die Praxis des Filmemachens vorzubereiten.
Es waren eben diese Filmemacher, allen voran Godard, die den Versuch wagten, Filmtheorie nicht nur zu schreiben, sondern auch zu filmen – und auf diese Weise den Essay-Film erschufen. Mit der Nouvelle Vague begann das Zeitalter der Reflexion in der Geschichte der bewegten Bilder. Die Essayisten des Kinos erfüllten Alexandre Astrucs Vision des caméra-stylo, in der ihm bereits 1948 vorgeschwebt war, dass es einmal möglich sein würde, mit filmischen Mitteln ebenso komplexe und abstrakte Ideen zu vermitteln, wie mit schriftlichen.
Auch der Begriff des Autorenkinos stammt von den jungen Filmkritikern der Nouvelle Vague, um genau zu sein, aus einem in 1954 erschienenen Artikel von Truffaut. Die politique des auteurs, die den Regisseur als Autor sieht, forderte den Bruch mit den erstarrten klassischen Genreregeln und die freie Entfaltung des persönlichen und individuellen Tons im Film, der sozusagen die ganz eigene Handschrift eines Autors und deren Entwicklung in der Reihe seiner Filme erkennen lassen sollte. Der Regisseur sollte nicht mehr lediglich in seiner Funktion als Organisator der materiellen Produktion, als ein Glied in der funktional hierarchisierten Arbeitsteilung der Filmindustrie verstanden werden, sondern vielmehr als ästhetischer und künstlerischer Produzent in seiner vollen Verantwortung für das Werk. Dazu sollte er allerdings über die materiellen und finanziellen Produktionsmittel verfügen können, um sie nach eigener Einsicht einzusetzen.
Eine ungebremste Begeisterung zeigten die Vertreter der Nouvelle Vague überraschenderweise für das klassische Genre-Kino Hollywoods. Einer ihrer großen Helden (neben John Ford und Howard Hawks) war Alfred Hitchcock, der in ihren Augen ein Autorenfilmer war, wie sie ihn in ihren Kritiken propagierten. Überraschend ist dies deshalb, weil im amerikanischen Film der Zeit hauptsächlich Altbewährtes wiedergekäut wurde, um sich des kommerziellen Erfolges sicher sein zu können, und die Filmindustrie auf massentaugliche Unterhaltung als Konsumware setzte.
Auch das französische Kino der 50er Jahre hatte wenig Abwechslung zu bieten, eine künstlerische Stagnation machte sich breit. In der so genannten Tradition der Qualität wiederholten sich bewährte, handwerklich solide aber unpolitische Themen und Formeln, am häufigsten war die Literaturverfilmung. Gegen diese Art, Filme auf literarischer Grundlage zu machen, polemisierten die jungen Kritiker, diese Stagnation griffen sie im Gegensatz zu der amerikanischen aufgrund ihrer kino-untypischen Quelle heftig an. Die französische Tradition geriet Ende der 50er Jahre ins Wanken – vor allem durch die filmwirtschaftliche Krise, die durch die Verbreitung des Fernsehens entstanden war – und gab der neuen Generation Platz. Diese erstürmte voller neuer erfinderischer Ideen und Enthusiasmus die Leinwände, vor denen sie zuvor lange Jahre verbracht hatte. Auch technische Neuerungen wie die leichten Reportagekameras von Arri trugen einen bedeutenden Teil dazu bei, dass die jungen Cinephilen ohne die Zulassung der Filmbranche außerhalb der Studios (und somit auch außerhalb der Klischee-Kulissen) drehen konnten. Für die Produzenten waren die jungen Wilden attraktiv, weil ihre Filme das Allerneuste und dabei sehr billig in der Herstellung waren.
Die Regisseure der Nouvelle Vague hatten ihre filmische Bildung nicht, wie in Frankreich üblich, an Filmhochschulen oder als Auszubildende in der etablierten Filmindustrie erhalten, sondern zum allergrößten Teil im Selbststudium als kritische Zuschauer in der von Henri Langlois gegründeten Cinémathèque Française, in der der Besitzer sowohl alte (Stumm-)Filme aus seiner umfangreichen Sammlung als auch alle Arten von neuen Produktionen vorführte. Man sah gemeinsam Filme, diskutierte über sie – und war eigentlich bereits dabei, welche zu machen. In dieser Filmschule entwickelte jeder Cinephile seine ganz persönlichen Präferenzen und Kritikpunkte, was zur Folge hatte, dass sich die Nouvelle Vague nie als eine einheitliche Schule mit einheitlichem Stil sah. Was sie zusammenhielt, war der Drang, Neues, Individuelles erschaffen zu wollen.
Mit seinem ersten Spielfilm LES QUATRE CENT COUPS schaffte es Truffaut als erster Vertreter der Nouvelle Vague 1959 auf die großen Leinwände und zog in kürzester Zeit viele andere Autorenfilme nach sich.
III. Jean-Luc Godards VIVRE SA VIE (1962)
Der deutsche Titel des im Februar und März des Jahres 1962 in Paris entstandenen fünften Spielfilms von Jean-Luc Godard lautet DIE GESCHICHTE DER NANA S. (EIN FILM IN ZWÖLF BILDERN). Der französische Originaltitel trägt den Untertitel FILM EN DOUZE TABLEAUX. Er ist auf 35mm Schwarz-Weiß-Material gedreht, und die Originallänge beträgt 85 Minuten, welche in der deutschen Version auf 79 Minuten gekürzt ist. Das Buch basiert auf dem Bericht Ou en est la prostitution des Richters Marcel Sacotte. Kameramann ist Raoul Coutard, für den Schnitt verantwortlich sind Agnès Guillemot und Lila Lakshmaman. Hauptdarstellerin ist Anna Karina.
Als Grundthema des Films lassen sich zwei einander entgegengesetzte Entwicklungen, die die Protagonistin parallel durchmacht, aufzeigen: einerseits ihre äußerliche Selbstaufgabe, andererseits ihre innerliche Selbstfindung. Diese Essenz der Geschichte der Nana S. wird noch im Vorspann in einem einzigen Bild komplett zusammengefasst.
Nana S. trifft sich mit ihrem Ehemann Paul, mit dem sie einen gemeinsamen Sohn hat, in einem Lokal, um in einer Aussprache endgültig festzustellen, dass sie nicht mehr zu ihm zurückkehren will, weil sie ihn nicht mehr liebt und er sie für nichts Besonderes hält. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, hat sie sich Arbeit in einem Schallplattenladen gesucht, doch reicht das Geld nicht für die Miete, sodass sie von ihrer Vermieterin auf die Straße gesetzt wird. Sie lässt sich von einem Fremden ins Kino einladen, den sie nach dem Film abschüttelt, doch bleibt sie über Nacht bei einem Journalisten, der Fotos von ihr machen soll, damit sie sich beim Film bewerben kann. Weil sie das fallengelassene Geld einer Frau behalten wollte, wird sie angezeigt und polizeilich verhört – sie beschließt, eine andere zu werden. Nana beginnt, als Prostituierte zu arbeiten und trifft dabei Yvette, eine alte Bekannte, die sie an den Zuhälter Raoul vermittelt. Sie fühlt sich für ihr Leben verantwortlich und hadert im Gegensatz zu Yvette nicht mit dem Schicksal. Während sie von Raoul vernachlässigt wird, verliebt sie sich in einen jungen Mann, für den sie voller Lebensfreude tanzt. In einem Café trifft sie auf den Philosophen Brice Parain, mit dem sie ein tiefgründiges Gespräch über die Sprache und die Liebe führt – sie wünscht sich ein Leben ohne Worte, um die wahre Liebe nicht zu verfälschen. Nana und der junge Mann lieben einander aufrichtig (auch ohne Worte) und beschließen, dass Nana zu ihm zieht; dazu muss sie allerdings ihrem Zuhälter klarmachen, dass sie nicht mehr für ihn arbeiten will. Doch Raoul hat sie bereits weiterverkauft. Bei der Geldübergabe entsteht ein Streit über Nanas Preis, bei dem sie erschossen und achtlos auf der Straße liegengelassen wird. (Siehe Abb.1 im Anhang)
IV. Geldmangel und Regelbrüche – Analyse und Interpretation
Godard vertritt die zentrale Vorstellung, „daß, um in der Pariser Gesellschaft von heute zu leben, man gezwungen ist, egal auf welchem Niveau, egal in welchem Grad, sich auf eine oder andere Weise zu prostituieren oder aber Gesetzen entsprechend zu leben, die an Prostitution erinnern“ (Godard 1971b: 177). Diese Feststellung ist auch für VIVRE SA VIE grundlegend und wird in dem ersten Godardschen Essay-Film neben einer Fülle von Gedanken über die Liebe, die Sprache, die Seele und die Wirklichkeit (der realen und der Filmwelt) untersucht. Dabei häufen sich willkürliche Verstöße gegen alle Arten von Kinokonventionen, angefangen bei dem Genrebruch des Essay-Films über unübliche Kameraperspektiven und -bewegungen, Verletzungen von normierten Blickachsen und Bildausschnitten, eine Montage, für die jeder Hollywood-Cutter gefeuert worden wäre, das Vermeiden der illusorischen Studio-Ästhetik, bis hin zum Bruch mit der linearen Narration. „Der kontinuierlichen Inszenierung einer illusorischen Realität setzt Godard eine diskontinuierliche Abfolge von Bildern, Tönen, Buchstaben entgegen“ (Kurzawa 1981: 110 bezüglich SAUVE QUI PEUT (LA VIE)) und verärgert damit seine Zuschauer und Kritiker.
Sowohl seine skandalösen Regelbrüche als auch weniger auffallende Mittel Godards sollen im Folgenden auf ihre Wirkungen untersucht werden. Dabei geht es mehr um das Auffinden und Analysieren der erwähnten Mittel zur Verfremdung und Distanzierung als um eine umfassende Untersuchung des gesamten Films in all seinen inhaltlichen Bezügen und Bedeutungsebenen. An einigen Stellen werden die Ergebnisse durch illustrierende Verweise auf andere Filme aus der ersten Schaffensphase Godards ergänzt.
1. Bilder
Bildaufbau / Kadrage / Mise-en-scène
Gleich im Vorspann (E1-3) überrascht Godard seinen Zuschauer mit Bildern, die alles andere als bemüht sind, ihm die Hauptfigur der Geschichte näherzubringen oder ihn in die Geschichte der Nana S. einzuführen, was zu Anfang eines Spielfilms zu erwarten wäre. Stattdessen erscheint Nanas Kopf als Großaufnahme nacheinander im Linksprofil, en face und im Rechtsprofil (keine Standbilder, kein gestelltes Foto-Gesicht) jeweils mit spärlicher Beleuchtung, die fast nur die Silhouette erkennen lässt, während über die Bilder die Credits und das Motto der Geschichte eingeblendet werden. Man erfährt so gut wie nichts über die Hauptperson, sie bleibt im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln. Auch bei den Frontalbildern, auf denen etwas mehr von Nanas Gesicht sichtbar wird, scheint die Kamera ihr Geheimnis studieren, sie dokumentieren zu wollen, und ist dabei besonders an ihren Augen interessiert, in denen kleine Lichtpunkte blitzen – wie im weiteren Verlauf deutlich wird, ist sie auf der Suche nach ihrer Seele.
Die erste Sequenz zeigt sich kaum zuschauerfreundlicher als der Vorspann. Fünf Minuten lang wird man mit einem Gespräch zwischen Nana und ihrem Ehemann an der Theke eines Lokals konfrontiert, durchgehend starr von hinten gefilmt, sodass man nur abwechselnd die Rücken der Beiden und gelegentlich eine unscharfe Spiegelung der Gesichter in dem Spiegel hinter der Theke erkennt (E5-10). Der Zuschauer ist diesen ungewohnten Bildern machtlos ausgesetzt, er möchte die Gesprächspartner sehen – was ihm nach Kinokonvention auch zustehen müsste –, doch kann er aus der vom Regisseur gewählten Perspektive nicht hinaus, was ihm in den fünf langen Minuten schmerzhaft bewusst wird, ihn befremdet oder auch verärgert. Der Bildaufbau schließt ihn aus dem Geschehen aus und zwingt ihn zu einer distanzierten Betrachtung des Bildes – und lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf die Sprache. Vergleichbar ist der Aufbau beim Gespräch zwischen Nana und Yvette, als sie sich am Anfang von Bild 6 treffen (E89): zuerst sieht man nur Nanas Hinterkopf in einer Großaufnahme, dann in einer Nahen die beiden Gesprächspartnerinnen nebeneinander hergehen – ebenfalls von hinten. Man hört ihnen zwar zu, sieht sie aber nicht sprechen. Man kann an ihrem Gespräch nicht so direkt teilhaben, wie man gerne würde und bleibt auf Distanz, obwohl die Einstellungsgrößen kaum mehr Nähe vermitteln könnten.
Im gesamten Film ist die Kamera sehr nah an den Personen: bei insgesamt 227 Einstellungen gibt es 71 große und 87 nahe (zur Verdeutlichung siehe Anhang, Abb.2). Dabei stammen 28 große und eine nahe Einstellung aus dem Dreyer-Film, den Nana im Kino sieht. Diese Nähe passt zum Studiencharakter des Films, vielleicht ist sie auch ein Ausgleich zu den allgemeinen Bemühungen um eine Distanzierung zu der Geschichte. Oder doch nur eine Eingebung Godards, welcher die Einstellungen immer erst in letzter Sekunde während der Dreharbeiten nach Gefühl festzulegen pflegte.
Immer wieder begegnen dem Zuschauer in VIVRE SA VIE Einstellungen, in denen Köpfe seltsam aus dem Bild gerückt sind: Godards Wahl des Bildausschnitts – er schaute immer bei seinem Kameramann durch den Sucher oder sagte, was er alles nicht im Bild haben wollte – verbannt sie an den unteren Bildrand und lässt ungewohnt viel leeren Raum über ihnen (z.B. in der ersten Kino-Einstellung (E22) oder in der Szene, in der Nana von einem Kunden verschmäht wird (E177)). Häufig ist Nana vor einem hellen Fenster zu sehen, sodass das Gegenlicht nur noch eine schwarze Silhouette von ihr erkennen lässt. Diese Art von unharmonischer Anordnung der Elemente sorgt dafür, dass das Bild nicht übersteigert und zu perfekt wird.
Für den heutigen Zuschauer kaum der Rede wert, doch für Zeitgenossen ungewohnt war die unverblümte und direkte Art, in der Godard Paris zeigt – ganz im Geist der Nouvelle Vague und ganz im Gegensatz zu der französischen Studio-Ästhetik des vorherigen Jahrzehnts. VIVRE SA VIE ist unter anderem eine Dokumentation des Pariser Lebens im Jahre 1962, ohne verschönernde Verfälschung, fast gänzlich ohne zusätzliche Lichtsetzung, ohne Inszenierung der Straßenszenen. Es finden sich viele dokumentarische Details: man sieht den echten Triumphbogen, echte Pariser Straßen und Cafés, selbst der Philosoph – Godards früherer Lehrer Brice Parain – ist echt. Die Schauspieler tragen größtenteils ihre eigene Kleidung. Es soll keine Scheinrealität inszeniert, sondern die Realität, wie sie ist, gezeigt werden. Und wenn Godard Szenen komplett erschafft, dann tut er es mit zunehmender Filmpraxis gerne so übersteigert, dass die Inszenierung durch zu grelle Farben oder andere Absurditäten schon wieder unübersehbar ist (so z.B. in PIERROT LE FOU oder WEEK-END).
Bei dem philosophischen Gespräch fragt man sich vergeblich, ob man den Philosoph, also einen Charakter aus dem Film von Godard, sieht, oder den leibhaftigen Brice Parain, man kann sich nicht entscheiden, ob man einem von Godard erdachten Filmdialog zuhört, oder den eigenen Ansichten und philosophischen Ausführungen Parains. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen – vielleicht weil die Bilder und Töne zu echt sind?
Kamerabewegungen
Zum allergrößten Teil des Films bleibt die Kamera unbewegt (81% aller Einstellungen sind mit fester Kamera gedreht) und macht fast schon monotone Bilder, zumeist zeigt sie das Geschehen aus der Perspektive eines möglichen Augenzeugen. Es finden sich keine von einem möglichen Betrachter losgelösten Fahrten, die meisten Dialoge werden nicht im gewohnten Schuss-Gegenschuss aufgelöst. Die Kamera bleibt bei der unmittelbaren Realität und verzichtet dabei auf Dynamik. Sie ist keine erzählende Kamera, sondern liefert den Filmrohstoff aus der realen Welt, der später kaum verändert bzw. uminterpretiert zusammengefügt wird.
Andere Filme Godards weisen dagegen sowohl inhaltlich als auch von Kamera und Schnitt her eine sehr starke Bewegtheit auf: in A BOUT DE SOUFFLE sind sowohl die Hauptdarstellerin unstet bzw. der Hauptdarsteller immer auf der Flucht, als auch die Handkamera viel aktiver und dynamischer – und vor allem verwackelter. Für eine Fahrt auf den Champs-Elysées, die Patricia und Michel bei einem Gespräch im Auf- und Abgehen zeigt (00:09:36-00:12:24), schob Godard seinen Kameramann in einem Rollstuhl hin und her, was eine entsprechend verwackelte Kamerafahrt mit schiefer Horizontlinie und irritierten Passanten im Bild zur Folge hat. Mit zwei ins Extrem getriebenen Kamerafahrten setzt sich Godard in WEEK-END über jegliche Konvention hinweg: einer 300 Meter langen und an die 9 Minuten Realzeit dauernden Parallelfahrt an einer endlosen Autoschlange entlang (die er nach eigener Aussage nur gedreht hat, um den Produzenten zu ärgern, und die er schließlich im Film mit einem Zwischentitel unterbrach) (00:14:39-00:21:54) und einer dreifachen Kreisfahrt zu einem auf dem Flügel auf einem Bauernhof vorgetragenen Mozart-Stück (00:50:10-00:56:10). Beide Szenen sind nicht nur äußerst skurril, sondern werden auch so strapazierend lang und ausgedehnt gezeigt, dass man nach einer gewissen Zeit nur noch „immer noch Kamerafahrt“ wahrnimmt und denkt. Die Fahrten feiern sozusagen sich selbst.
Wenn sich die Kamera auch in VIVRE SA VIE einmal verselbständigt und von der Handlung bzw. den handelnden Personen löst, wird sie zu einem Mittel der Selbstreflexion: sie erschafft eine zweite Dimension und zwar eine die Handlung und sich selbst kommentierende.
Im siebten Bild des Films macht die Kamera auf irritierende Weise auf sich aufmerksam. Während des Gesprächs zwischen Nana und ihrem zukünftigen Zuhälter (E107) fährt sie ohne erkennbaren Grund wiederholt von rechts nach links und zurück, was außer der verwirrten Frage, was diese unnötige Bewegung bezwecken soll, zur Folge hat, dass Raouls Hinterkopf das Gesicht der ihm gegenübersitzenden Nana immer wieder verdeckt. Wie frustrierend es ist, das Gesicht des Sprechenden nicht sehen zu können, wurde bereits im Bezug auf die erste Szene des Films erwähnt. In einer weiteren Einstellung (E108), in der sich die Kamera seitlich von den Gesprächspartnern befindet, schwenkt sie etwas ruckartig zwischen den beiden hin und her, anstatt das Gespräch zum Beispiel in einem unauffälligeren Schuss-Gegenschuss zu zeigen, als wollte sie an die Zuschauer appellieren, ihre Existenz nicht zu vergessen. Ähnliches Hin- und Herschwenken und -fahren verwirrt auch in der Szene, in der sich Nana mit dem Journalisten, der sie fotografieren soll, unterhält (E63): hier verhindert die Tatsache, dass die Gesprächspartner während sie reden infolge der Kamerabewegungen wiederholt angeschnitten und angeschnitten gelassen oder ganz aus dem Bild gerückt werden, das ungestörte Zuschauen. Der Kameramann scheint durch die Bewegungen nach der richtigen Einstellung für diese Szene zu suchen und dabei alle Möglichkeiten ausprobieren zu wollen. Die Bewegungen machen nicht nur auf die Kamera aufmerksam, sondern zeigen auch die Arbeit des Kameramannes als Teil des Entstehungsprozesses von VIVRE SA VIE auf.
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- Quote paper
- Eleonóra Szemerey (Author), 2004, Jean-Luc Godards Mittel der Verfremdung - Exemplarische Analyse von VIVRE SA VIE (1962), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34145
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