Der betriebliche Krankenstand ist ein bedeutender Kostenfaktor im Gesundheitswesen. Krankheitsbedingte Arbeitsausfälle verursachen nicht nur erhebliche Personalkosten, sondern auch Belastungen im sozialen Gefüge eines Unternehmens. Dieses Buch richtet sich daher an Führungskräfte, die nach Interventionsmöglichkeiten gegenüber Mitarbeitern mit kontinuierlich hohem Krankenstand suchen.
Der Autor, selbst seit mehr als 13 Jahren in Führung und Leitung tätig, entwickelt in diesem Buch eine alters-, lebensphasen- und generationenbezogene Perspektive auf den betrieblichen Krankenstand. Dabei geht er der Frage nach, wie Persönlichkeitsentwicklung, Sozialisation, Krankheit und Krankenstand zusammenhängen.
Aus den Ergebnissen leitet er generationenspezifische Ansätze für Führung und Leitung ab. Diese kommen auf verschiedenen Strukturebenen eines Krankenhauses zum Einsatz, um den Krankenstand nachhaltig zu senken. Anhand eines Praxisbeispiels konkretisiert er seine Vorschläge für eine erfolgreiche Führungsintervention.
Aus dem Inhalt:
- Krankheitsbedingte Fehlzeiten
- Salutogenesetheorie nach Aaron Antonovsky
- Sozialisationsmodell nach Klaus Hurrelmann
- Persönlichkeitsentwicklung
- Team- und Personalentwicklung
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Anliegen und Methode dieser Arbeit
2 Der Zusammenhang von Gesundheit, Krankheit und Krankenstand
2.1 Statische und dynamische Konzepte von Gesundheit und Krankheit
2.2 Der Krankenstand und seine individuelle Dimension
3 Die Salutogenesetheorie von Aaron Antonovsky
3.1 Heterostase, Entropie, HEDE-Kontinuum
3.2 Stressoren und Generalisierte Widerstandsressourcen
3.3 Kohärenzgefühl
3.4 Zusammenfassung und Praxisbezug
4 Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Sozialisation
4.1 Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung
4.1.1 Sozialisation als Prozess der Rollenübernahme
4.1.2 Sozialisation als produktive Verarbeitung der Realität
4.1.3 Selbstbild und Identität
4.1.4 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
4.1.5 Sozialisationsphasen und Sozialisationsinstanzen
4.2 Das Sozialisationsmodell von Klaus Hurrelmann
4.2.1 Hurrelmanns Definitionen von Gesundheit und Krankheit
4.2.2 Gesundheitliche Risikofaktoren und Ressourcen
4.2.3 Die Schlüsselrolle des individuellen Gesundheitsverhaltens
4.3 Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung in den verschiedenen Lebensphasen
4.3.1 Kindheit
4.3.2 Jugend
4.3.3 Erwachsenenalter
4.4 Zusammenfassung und Praxisbezug
5 Die berufstätigen Generationen im soziologisch-psychologisch-gesundheitlichen Profil
5.1 Baby Boomer
5.1.1 Sozialisatorische Bedingungen und psychosoziales Profil
5.1.2 Gesundheitliches Profil
5.1.3 Ausgewählte Risikokonstellationen und Ressourcen
5.2 Generation Golf
5.2.1 Sozialisatorische Bedingungen und psychosoziales Profil
5.2.2 Gesundheitliches Profil
5.2.3 Ausgewählte Risikokonstellationen und gesundheitsfördernde Ressourcen
5.3 Generation Y
5.3.1 Sozialisatorische Bedingungen und psychosoziales Profil
5.3.2 Gesundheitliches Profil
5.3.3 Ausgewählte Risikokonstellationen und Ressourcen
6 Eine komplexe Führungsintervention zur Team- und Personalentwicklung und ihre Auswirkungen auf den Krankenstand
6.1 Ausgangssituation
6.2 Alters- und generationenbezogene Analyse der Teamstruktur
6.3 Problemanalyse
6.4 Ableitung von Entwicklungszielen
6.5 Zielgerichtete Maßnahmenableitung
6.6 Neuzuordnung der Bereichsleitung
6.7 Konzeption und Durchführung der modularen Fortbildungsreihe
6.7.1 Pädagogische Umsetzung
6.7.2 Organisatorische Realisierung
6.7.3 Ergebnisdiskussion
6.8 Zusammenfassende Diskussion
7 Resümee
Literaturverzeichnis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Impressum:
Copyright © 2016 Studylab
Ein Imprint der GRIN Verlag, Open Publishing GmbH
Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany
Coverbild: ei8htz
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Kombination von Basistheorien zur Sozialisation – Quelle: Hurrelmann 2006: 122
Abb. 2: Sozialisationsmodell - Quelle: Hurrelmann 2006b: 132
Abb. 3: Belastung-Bewältigungs-Modell – Quelle: Hurrelmann 2006a: 271
Abb. 4: Die Schlüsselrolle des Gesundheitsverhaltens – Quelle: vgl. Hurrelmann 2006b: 22, 24
Abb. 5: Krankenstand 2014 nach Geschlecht und Altersgruppen - Quelle: Kordt 2015
Abb. 6: Anteil der Krankheitsarten an den AU-Tagen der 50-59-Jährigen im Jahr 2015, gestaffelt nach Alter - Quelle: Kordt 2015: 24
Abb. 7: Krankenstände von Gesundheits- und Krankenpfleger/innen im stationären Bereich eines Akutkrankenhauses- klassiert nach Altersklassen und Häufigkeit - Quelle: Schmidt 2015: 29
Abb. 8: Anteil der Krankheitsarten an den AU-Tagen der 35-49-Jährigen im Jahr 2015, gestaffelt nach Alter - Quelle: Kordt 2015: 24.
Abb. 9: Anteil der Krankheitsarten an den AU-Tagen der 15-34-Jährigen im Jahr 2015, gestaffelt nach Alter - Quelle: Kordt 2015: 24.
Abb. 10: Altersstruktur des Serviceteams im Jahr 2014
Abb. 11: Organisationsstruktur und Verantwortlichkeiten
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Sozialisationsphasen und ihre Schwerpunkte - Quelle: vgl. Willems 2008: 754
Tab. 2: Innere und äußere Bedingungen in der produktiven Verarbeitung der Realität – Quelle: Hurrelmann 2006b: 142
Tab. 3: Entwicklungsaufgaben in der Kindheit - Quelle: Hurrelmann, Bründel 2003: 73
Tab. 4: Entwicklungsaufgaben des Jugendalters - Quelle: vgl. Hurrelmann, Quenzel 2012: 28, 41
Tab. 5: Entwicklungsaufgaben des Erwachsenenalters - Quelle: vgl. Hurrelmann, Quenzel 2012: 41
Tab. 6: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst im Erwachsenenalter - Quelle: vgl. Jekauc 2009: 89; Oswald et al. 2008: 16.
Tab. 7: Beispiele für Verlustsituationen im späten Erwachsenenalter - Quelle: vgl. Feser 2000: 167
Tab. 8: Kernaufgaben und wichtigste Schnittstellen der Abt. Serviceassistenz
Tab. 9: Krankenstand des Bereiches Serviceassistenz im Vergleich zum mittleren Krankenstand von Pflegedienst/Funktionsdienst/Patientenmanagement der Jahre 2009 bis 2012
Tab. 10: Risikofaktoren und Ressourcen für die Entwicklung des Krankenstandes innerhalb der Serviceassistenz
Tab. 11: Zieldefinition
Tab. 12: zielgerichtete Maßnahmenableitung
Tab. 13: Kompetenzziele - (vgl. Knöpke 2014: 5–8)
Tab. 14: Seminarstruktur
Tab. 15: Krankenstand des Bereiches Serviceassistenz im Vergleich zum mittleren Krankenstand von Pflegedienst/Funktionsdienst/Patientenmanagement der Jahre 2009 bis 2015
1 Anliegen und Methode dieser Arbeit
Der demografische Wandel führt zu einem wachsenden Anteil hochbetagter, multimorbider und chronisch kranker Menschen in der Gesellschaft. Der Bedarf an professioneller Pflege in allen Sektoren des Versorgungssystems steigt. Gleichzeitig ist der Arbeitsmarkt durch den Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften gekennzeichnet.
Bedingt durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen steigt der Kostendruck im Gesundheits- und Sozialwesen. Die Wirtschaftlichkeit der medizinischen und pflegerischen Leistungserbringung ist von vitalem Interesse für die Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. In dieser Situation gewinnt das Fehlzeitenmanagement eine immer stärkere Bedeutung.
Arbeitsausfälle, beispielsweise durch Krankheit, beeinflussen die Leistungsfähigkeit von Unternehmen in komplexer Art, insbesondere aufgrund:
- Zusätzlich anfallender Personalkosten durch den notwendigen Ersatz ausgefallener Mitarbeiter bei gleichzeitiger Lohnfortzahlung für erkrankte Mitarbeiter,
- Störung bzw. Unterbrechung der Leistungsprozesse,
- Störung des sozialen Klimas im Team,
- Erhöhter Belastung der einzelnen Mitarbeiter.
Mit einer erhöhten Belastung steigt wiederum die Anfälligkeit für Krankheit (vgl. Brandenburg , Nieder 2009: 53–54).
Nicht zuletzt gilt der Krankenstand immer auch als Indikator für die Unternehmens- und Teamkultur sowie das Führungsverhalten der Vorgesetzten. „Eine hohe Fehlzeitenquote ist ... oft ein Anzeichen dafür, dass im Unternehmen Defizite hinsichtlich des Arbeitsklimas herrschen“ (Geyer 2013: 480).
Objektive Rückschlüsse auf beobachtbares Verhalten, wie z.B. die Ausfallhäufigkeit, können jedoch nur reflexiv gezogen werden. Es bedarf der Kenntnis der soziokulturellen Umwelt und der maßgeblich durch sie geprägten Persönlichkeitsstruktur der betreffenden Person (vgl. Mayntz et al. 1978: 88). Die Ableitung effektiver Führungsinterventionen zur Beeinflussung des Krankenstandes fordert von einer Führungsperson also neben einem theoretisch fundierten Verständnis bezüglich der Entstehung von Gesundheit, Krankheit, Krankenstand und ihrer Einflussfaktoren, ebenso die Fähigkeit zur reflexiven Rollenübernahme.
Der Autor dieser Arbeit ist seit mehr als 13 Jahren in Führung und Leitung tätig. Nachdem er sieben Jahre die Verantwortung der pflegerischen Bereichsleitung der Rettungsstelle im Immanuel Klinikum Bernau Herzzentrum Brandenburg innehatte, ist er seit 2009 als stellvertretender Pflegedirektor im gleichen Klinikum tätig. Während seiner langjährigen Führungsverantwortung hat er die Erfahrung gemacht, dass das Verhalten von Mitarbeitern im Umgang mit eigener Krankheit deutlich durch individuelle Einflüsse geprägt ist. Es gibt Mitarbeiter, die bereits bei ersten Befindlichkeitsstörungen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, während andere noch bei stark reduziertem Allgemeinzustand ihrer Arbeit nachkommen.
Wie wohl viele andere Führungskräfte auch, stellt sich der Autor regelmäßig die Frage nach effektiven Interventionsmöglichkeiten gegenüber Mitarbeitern oder Mitarbeitergruppen, die einen kontinuierlich hohen Krankenstand aufweisen.
Nicht zuletzt deshalb war für ihn die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung, Sozialisation, Krankheit und Krankenstand eines der zentralen Themen während seines Studiums im Pflegemanagement.
Eine herausgehobene Rolle in diesem Zusammenhang nimmt das Sozialisationsmodell Hurrelmanns ein. Die durch das Sozialisationsmodell thematisierten
- Einflüsse von lebensphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben auf Sozialisationsverlauf und Persönlichkeitsentwicklung,
- Zusammenhänge zwischen den Gesetzmäßigkeiten von Sozialisation, Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitszustand,
bestätigten die Erfahrung, dass die Entstehung von Krankheit und Krankenstand in kausalem Bezug zur individuellen Persönlichkeit des betreffenden Mitarbeiters stehen. Durch die Verbindung von Sozialisation mit dem sozialpsychologischen Konzept der lebensphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben begründet das Sozialisationsmodell den Einfluss altersbezogener Einflüsse auf die Entwicklung der Persönlichkeit (vgl. Hurrelmann 2006a: 24–38).
Diese Arbeit entwickelt eine alters-, lebensphasen- und generationenbezogene Perspektive auf den betrieblichen Krankenstand, die eine Ableitung gezielter Führungsinterventionen zur Beeinflussung des Krankenstandes erlaubt. Dafür kombiniert sie verschiedene Theorien und Modelle zur Entstehung von Gesundheit und Krankheit, sowie zur Persönlichkeitsentwicklung.
In Begriffsklärung der vorliegenden Arbeit wird klar zwischen den Phänomenen Gesundheit und Krankheit sowie Krankenstand unterschieden. Gesundheit und Krankheit werden als Zustandsbeschreibungen charakterisiert, die in der Regel einen erheblichen Bezug zum subjektiven Wohlbefinden aufweisen. Das Phänomen Krankenstand wiederum ist an die bewusste Entscheidung gebunden, sich „krank zu melden“. Diese Entscheidung kann aufgrund Krankheit, aber auch missbräuchlich, unter dem Vorwand von Krankheit getroffen werden. Das Entscheidungsverhalten eines Menschen ist wiederum durch seine Persönlichkeit und die ihr innewohnenden Wertestrukturen und Verhaltensstrategien geprägt (vgl. Hurrelmann 2006a: 16).
Zweifellos ist der jeweilige Gesundheitszustand die wichtigste Einflussgröße auf den Krankenstand. Die Salutogenesetheorie des amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky entwickelt eine dynamische, mehrdimensionale Perspektive auf den Gesundheitszustand eines Menschen. Im Gegensatz zu den tradierten Gesundheitskonzepten, die sich mit der Entstehung bzw. Vorbeugung von Krankheit befassen, beleuchtet die Salutogenesetheorie Gesetzmäßigkeiten in der Entstehung von Gesundheit. Ihr zufolge resultiert der jeweilige Gesundheitszustand eines Menschen aus der Wechselwirkung kontinuierlich einwirkender, verschiedener Belastungen sowie deren kognitiver Bewertung und Bewältigung unter Mobilisierung sog. Generalisierter Widerstandsressourcen.
Der Prozess der kognitiven Bewertung und die Entwicklung zielführender Bewältigungsstrategien steht in engem Bezug zur jeweiligen Persönlichkeitsstruktur (vgl. Franke 2012: 174; Höfer 2010: 57; Steinbach 2007: 122).
Unter Bezug auf das Sozialisationsmodell des deutschen Soziologen Klaus Hurrelmann werden die Prozesse von Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung in den verschiedenen menschlichen Lebensphasen beleuchtet. In dieser Betrachtung wird besonderes Gewicht auf den Einfluss von Identität und Persönlichkeitsstruktur auf die Entwicklung von Strategien und Verhaltensweisen zur Belastungsbewältigung gelegt (vgl. Hurrelmann 2006a: 269-285).
Die allgemein geteilte Erfahrung, dass sich Angehörige einer Generation durch ähnliche Werthaltungen und Verhaltensdispositionen auszeichnen, die sich wiederum von jenen anderer Generationen unterscheiden, ist nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen der Generationen in ihrem zeitlichen Wandel zurückzuführen (vgl. Schulz , Grebner 2003: 4). Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Gesundheit bedingt ebenfalls generationenspezifische Schwerpunkte im Krankheitspanorama. Auf dieser Grundlage wird in Kapitel 5 ein kurzes soziologisch-psychologisch-gesundheitliches Profil von drei gegenwärtig im Berufsleben stehenden Generationen entwickelt.
Erst die Kombination von Salutogenesetheorie, Sozialisationsmodell, den lebensphasenspezifischen Prozessen von Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung mit den soziologisch-psychologisch-gesundheitlichen Generationenprofilen eröffnet eine Perspektive für das ganzheitliche Verständnis der überaus komplexen Zusammenhänge zwischen Lebensalter und Krankenstand.
Eine empirische Verifikation bzw. Falsifikation dieses Modells kann diese Arbeit nicht leisten. Die Praxisrelevanz dieser Arbeit wird jedoch anhand der retrospektiven Beschreibung einer erfolgreichen Führungsintervention verdeutlicht, welche unter Bezug auf die hier beschriebenen Gesetzmäßigkeiten erfolgte.
2 Der Zusammenhang von Gesundheit, Krankheit und Krankenstand
Gesundheit und Krankheit sind untrennbare Attribute des menschlichen Lebens. Menschen hoffen, ihr Leben in „guter Gesundheit“ verbringen zu können. Doch jeder Mensch wird auch im Verlaufe seines Lebens unweigerlich mehrere Male krank.
Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) und Sozialgesetzbuch (SGB) räumen kranken Berufstätigen die Möglichkeit ein, der Arbeit unter Fortzahlung der Bezüge bzw. unter Zahlung von Krankengeld fernzubleiben (vgl. §3 EntgFG; §44 SGB V). Die sog. „Krankmeldung“ oder „Krankschreibung“ bedarf der initialen, persönlichen Entscheidung des Betroffenen, der Arbeit fernbleiben zu wollen. Diese Entscheidung wiederum ist abhängig von dessen persönlicher Bewertung seines Wohlbefindens bzw. Gesundheitszustandes.
Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch die missbräuchliche „Krankmeldung“ ohne Vorliegen einer rechtfertigenden Erkrankung.
Dieses Kapitel entwickelt eine erste Perspektive auf Gesundheit und Krankheit als dynamische Prozesse. Im Folgenden wird die individuelle Dimension im Zustandekommen des Krankenstandes erörtert.
2.1 Statische und dynamische Konzepte von Gesundheit und Krankheit
Jeder Mensch hat eine individuelle Vorstellung davon, was für ihn Gesundheit bedeutet. Dementsprechend ist die Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes stark von der individuellen Sicht auf Gesundheit und ihre Bedeutungszuschreibung geprägt. „Subjektive Vorstellungen von Gesundheit enthalten verschiedene Dimensionen:
- negative Abgrenzungen - wie ... frei von Belastungen zu sein;
- positive Bestimmungen - wie sich wohl fühlen;
- Beschreibungen eines Zustandes - wie ‚mit sich einig sein‘;
- Gesundheit als Voraussetzung - ‚die anderen Sachen kommen dann schon selber‘;
- Gesundheit als Ergebnis bestimmter Handlungsweisen (Ernährung und Vorsorge) und
- Gesundheit als Phänomen des sozialen Funktionierens“ (Flick 1998: 8).
Ebenso vielfältig sind die Versuche, Gesundheit wissenschaftlich zu beschreiben. Im Pschyrembel, einem klinischen Standardwörterbuch, wird Gesundheit wie folgt definiert:
„ Gesundheit: 1. i.w.S. ist Gesundheit nach der Definition der WHO der Zustand völligen geistigen, seel. u. sozialen Wohlbefindens; 2. i.e.S. kann G. verstanden werden als d. subjektive Empfinden des Fehlens körperl., geistiger und seel. Störungen bzw. Veränderungen; 3. im sozialversicherungsrechtl. Sinn bedingt G. die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit“ (Pschyrembel , Zink 1986: 587).
Dabei beschreibt 1. Gesundheit als positive Bestimmung, 2. als negative Abgrenzung im Sinne der Flickschen Nomenklatur (s. oben). Beide Definitionen verfolgen ein eindimensionales Gesundheitsverständnis; man ist gesund – oder nicht. Sie setzen die subjektive Empfindung des Betroffenen in das Zentrum der Beurteilung. 3. betont den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit.
Dem eindimensionalen Gesundheitsverständnis folgend, wird Krankheit folgerichtig als das Fehlen von Gesundheit definiert. Erneut wird der Zusammenhang zwischen Krankheit als fehlende Gesundheit und Arbeitsunfähigkeit hergestellt.
„ Krankheit:... i.w.s. Fehlen von Gesundheit, i.e.s. Vorhandensein von subjektiv empfundenen u./od. objektiv feststellbaren körperl., geistigen u./od. seelischen Veränderungen bzw. Störungen. Im sozialversicherungsrechtlichen Sinn das Vorhandensein v. Störungen, die Krankenpflege u. Ther. erfordern u. Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben ...“ (Pschyrembel , Zink 1986: 905).
Der Pschyrembel bezieht sich auf die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1964, gibt diese aber nur unvollständig wieder. Korrekt zitiert lautet sie:
„Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 1946, zitiert nach Stürzer, Cornelißen 2005: 473).
Die WHO beschreibt Gesundheit als einen fast unerreichbaren Idealzustand. Obwohl Krankheit als Gegenpol von Gesundheit undefiniert bleibt, erschließt sich bereits aus dieser Definition, dass zwischen Gesundheit und Krankheit nicht zwingend ein dichotomes Verhältnis hergestellt werden muss. Die Abwesenheit von Krankheit bedeutet nicht zwingend Gesundheit. Es bleibt Raum für ein mehrdimensionales Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Beide Definitionen verfolgen ein statisches Konzept. Ihnen zufolge ist ein Mensch gesund oder nicht bzw. krank oder nicht.
Andere Konzepte nähern sich den Begriffen Gesundheit und Krankheit aus einer dynamischen Perspektive. Einer der prominentesten Vertreter dieser Sichtweise ist der amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky. In seiner Salutogenesetheorie beschreibt er Gesundheit und Krankheit als integralen Bestandteil des Lebens. Er betrachtet den Gesundheitszustand eines Menschen als permanent veränderlich und abhängig von der Wechselbeziehung einwirkender Stressoren und vorhandener Widerstandsressourcen. Der Gesundheitszustand eines Menschen ist gekennzeichnet durch die jeweils aktuelle Position innerhalb eines zweidimensionalen Kontinuums, in dem Gesundheit und Krankheit jeweils die Extrempole bilden (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 23). Eine nähere Beschreibung der Salutogenesetheorie und des aus ihr folgenden Gesundheitsverständnisses erfolgt in Kapitel 3.
Für den deutschen Soziologen Klaus Hurrelmann ergibt sich der Gesundheitszustand eines Menschen aus dem Prozess der Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen der physischen und psychischen Konstitution eines Menschen und den Anforderungen der sozialen und materiellen Umwelt (vgl. Hurrelmann 2006b: 146). Kapitel 4 widmet sich der Beschreibung seines Sozialisationsmodells und seiner Definitionen von Gesundheit und Krankheit.
Interessant ist, dass für Antonovsky das subjektive Wohlbefinden in der Bestimmung des Gesundheitszustandes keine wesentliche Rolle spielt, während Hurrelmann ihm eine zentrale Bedeutung zuweist (vgl. Antonovsky, Franke 1997: 23; Hurrelmann 2006b: 146).
2.2 Der Krankenstand und seine individuelle Dimension
Krankheit bzw. ein reduzierter Gesundheitszustand steht immer auch in Bezug zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit und des Wohlbefindens. Der persönliche Gesundheitszustand ist damit immer auch durch die subjektive Bewertung der gegenwärtigen Befindlichkeit definiert.
Aus dem Befund des eingeschränkten Gesundheitszustandes ist arbeitsrechtlich eine Alternativentscheidung abzuleiten. Arbeitsrechtlich gilt ein Arbeitnehmer entweder als arbeitsfähig oder, wenn sein Gesundheitszustand ihn an der Erbringung seiner Arbeitsleistung hindert, als arbeitsunfähig (vgl. §3 EntgFG).
An der Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit ist der Arbeitnehmer maßgeblich beteiligt. Es hängt nicht zuletzt von ihm ab,
- ob er trotz eines eingeschränkten Wohlbefindens weiter zur Arbeit geht,
- ob er ohne ärztliche Beratung der Arbeit fernbleibt,
- ob er zur Entscheidungsfindung eine ärztliche Beratung in Anspruch nimmt,
- ob und wann er die Beurteilung seiner Arbeitsfähigkeit vollständig in ärztliche Hände gibt.
In seiner Entscheidung ist er jedoch nicht frei. Gemäß EntgFG ist die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt zu bescheinigen, wenn sie länger als drei Kalendertage andauert (vgl. §5 EntgFG). Der Gang zum Arzt ist also bei längerdauernden Erkrankungen nicht zu vermeiden. Natürlich kann es ebenso vorkommen, dass die Schwere der Erkrankung dem Betroffenen keine Entscheidungsoption lässt, ob und wann ärztliche Behandlung unvermeidlich ist.
Ob aus einer Befindlichkeitsstörung oder einer Krankheit ein Fernbleiben von der Arbeit resultiert, hängt von einer Vielzahl von Variablen ab. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier genannt:
- der Grad des subjektiven Wohlbefindens,
- die Einstellung zu Krankheit,
- die Einstellung zu Arbeit, Beruf und aktueller Tätigkeit,
- die Haltung zum Arbeitgeber,
- das soziale Klima in der Organisation,
- das Gefühl der Eingebundenheit im Unternehmen,
- die Zufriedenheit mit Beruf und aktueller Tätigkeit,
- Möglichkeiten der Partizipation und Einflussnahme,
- …, (vgl. Schmidt , Schröder 2010: 93–94; Wenderlein 2005: 15).
Die missbräuchliche Krankmeldung, bei der „… der Mitarbeiter zwar mit einem ärztlichen Attest, aber ohne eine medizinische Notwendigkeit zu Hause bleibt…“ (Nieder 1998: 12) wird als Absentismus bezeichnet. In diesem Fall hatte der Mitarbeiter „… keine ‚Lust‘ und entscheidet sich, zu Hause zu bleiben“ (Nieder 1998: 12).
Die Grenzen zwischen krankheitsbedingtem Fehlen und Absentismus verlaufen fließend. In der betrieblichen Praxis ist es kaum möglich, eine valide Unterscheidung zwischen krankheitsbedingtem Fehlen und Absentismus zu treffen (vgl. Nieder 1998: 12). Im Kontext dieser Arbeit werden daher alle Fehlzeiten als Krankenstand bezeichnet, für die ein ärztliches Attest vorliegt, oder für die sich der Mitarbeiter ohne Vorlegen eines ärztlichen Attestes krankmeldet.
Das Verhältnis der krankheitsbedingten Fehlzeiten von Mitarbeitern zu deren dienstplanmäßig geplanter Arbeitszeit wird als Krankenstand bezeichnet (vgl. Brandenburg , Nieder 2009: 27–29).
Der Krankenstand ist, sowohl individuell als auch abteilungs-, struktur- oder unternehmensbezogen und volkswirtschaftlich ein komplexes Phänomen, welches nicht mit einfachen, linearen Erklärungsansätzen zu erschließen ist. Dennoch stellt die Entwicklung des abteilungsbezogenen Krankenstandes einen Indikator für die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, aber auch des sozialen Klimas der Abteilung dar (vgl. Brandenburg , Nieder 2003: 37; Nieder 1998: 12; Geyer 2013: 480).
3 Die Salutogenesetheorie von Aaron Antonovsky
Abgesehen vom Fall des Absentismus, ist der Gesundheitszustand eines Mitarbeiters die wesentliche Bestimmungsgröße in der Entstehung seines individuellen Krankenstandes. Erst die mit Krankheit bzw. einem reduzierten Gesundheitszustand einhergehende Arbeitsunfähigkeit berechtigt zum Fernbleiben von der Arbeit unter Lohnfortzahlung bzw. Zahlung von Krankengeld (vgl. § 3 EntgFG; § 44 SGB V).
Ein wesentliches Ziel von Führungsinterventionen zur Senkung des Krankenstandes besteht in der Gesundheitsförderung der Mitarbeiter (vgl. Rudow 2004: 376). Grundlage für die Ableitung nachhaltiger gesundheitsfördernder Maßnahmen ist die Kenntnis um die Gesetzmäßigkeiten in der Entstehung von Gesundheit.
Verbreitete wissenschaftliche Gesundheitskonzepte und subjektive Gesundheitsvorstellungen gehen davon aus, dass Gesundheit den Normalzustand des Organismus darstellt. Krankheit bildet in diesem Verständnis einen Ausnahmezustand, sie steht für eine Dysfunktionalität des Organismus. Die Kenntnis der Pathogenese von Erkrankungen ist in diesem Denkmodell wesentlich für deren Prophylaxe und Therapie.
Der amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky nahm einen Perspektivwechsel vor. Antonovsky ging davon aus, dass der Mensch kontinuierlich potentiell krankheitsverursachenden Einflüssen seiner Umwelt ausgesetzt ist. Die Schlüsselfrage lautete für Antonovsky, wie es dem Menschen gelingt, trotz dieser Einflüsse gesund zu bleiben.
Mit der Salutogenesetheorie hob er die Trennung zwischen gesund und krank auf. „Wir alle sind sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund“ (Antonovsky , Franke 1997: 23). Dem tradierten, dichotomen Verständnis von Gesundheit und Krankheit setzte Antonovsky ein dynamisches, mehrdimensionales Gesundheitskonzept entgegen. Gesundheit und Krankheit bilden der Salutogenesetheorie zufolge die Extrempole eines zweidimensionalen Kontinuums. Der aktuelle Gesundheitszustand eines Menschen wird durch die Position innerhalb dieses Kontinuums beschrieben (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 22–23).
„Die Vorstellung eines Kontinuums mit Gesundheit und Krankheit als Polen ermöglicht es, eine differenzierte Einschätzung des gesundheitlichen Zustandes einer Person zu treffen, als dies bei einer kategorialen Einteilung in gesund oder krank möglich ist“ (Bengel et al. 2009: 90).
Statt sich mit den Entstehungsmechanismen von Krankheit bzw. den Prinzipien zur Vermeidung von Krankheit zu beschäftigen, stellt die Salutogenesetheorie die Frage nach der Entstehung von Gesundheit, bzw. danach, wie der Gesundheitszustand eines Menschen innerhalb des Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit in Richtung des Gesundheitspols „verschoben“ werden kann (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 22). Gerade diese Perspektive macht die Salutogenesetheorie so interessant für die betriebliche Gesundheitsförderung.
Darüber hinaus stellt die Salutogenesetheorie eine Verbindung her zwischen dem Gesundheitszustand eines Menschen und dem Einfluss seiner individuellen Persönlichkeitsmerkmale, der physischen und psychischen Konstitution sowie den Umweltbedingungen.
3.1 Heterostase, Entropie, HEDE-Kontinuum
Grundlegende Prinzipien des salutogenetischen Modells sind „... die grundsätzliche Annahme von Heterostase, Unordnung und ständigem Druck in Richtung auf zunehmende Entropie als dem prototypischen Charakteristikum des lebenden Organismus“ (Antonovsky , Franke 1997: 22).
Heterostase bildet den begrifflichen Gegenpart zur Homöostase. Homöostase beschreibt das „Prinzip der Selbstregulierung durch Selbstorganisation ... .Alle Organismen zeigen bei sich verändernden Lebensbedingungen die autonome Tendenz, ihr Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen. ...“ (Poth , Poth 2003: 179–180). Dagegen beschreibt der Begriff Heterostase „Entwicklungen, die irreversibel vom Gleichgewichtszustand weg zu neuen Zuständen (gefestigt oder auch ungefestigt) führen ... .“ (Poth , Poth 2003: 177–178).
Mit der Entropie führt Antonovsky ein naturwissenschaftliches, der Thermodynamik entlehntes Prinzip in seine Theorie ein. Im Kontext der Salutogenesetheorie bezeichnet Entropie das Prinzip, wonach Menschen fortlaufend aktive Anpassungs- und Bewältigungsleistungen erbringen müssen, um einen stabilen Zustand zu erreichen, welcher wiederum nicht unveränderlich sein wird (vgl. Franke 2012: 171).
Aus der Annahme der zentralen Prinzipien Heterostase und Entropie folgt, dass Krankheit unter salutogenetischer Perspektive keine Ausnahmeerscheinung, keine Dysregulation einer homöostatischen Situation darstellt. „Gesund sein ist damit nicht ein Zustand der Abwesenheit von Krankheit, sondern einer, in dem Krankheitsrisiken und Krankheitszustände als integraler Bestandteil Berücksichtigung finden. Mehr noch: sie erscheinen notwendig, da andernfalls Stagnation und Erstarrung eintreten - Zustände eben, die als nicht gesund gelten“ (Franke 2012: 47).
Damit erschließt sich eine qualitativ neue Perspektive auf Gesundheit und Krankheit. Gesundheit und Krankheit sind in der Salutogenesetheorie nicht einander ausschließende Merkmale, sie bilden vielmehr die Pole eines mehrdimensionalen Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit. „Antonovsky bezeichnet die Endpunkte des Kontinuums als ‚health-ease‘ und ‚dis-ease‘, weshalb er das Kontinuum HEDE-Kontinuum nennt“ (Franke 2012: 172). Der jeweilige Gesundheitszustand eines Menschen beschreibt seine Position auf diesem Kontinuum zum jeweiligen Zeitpunkt. Unter salutogenetischer Perspektive kommt es nicht darauf an, Krankheit zu besiegen, um Gesundheit (wieder-)herzustellen, sondern es geht darum die Position des Menschen hin zum „health-ease“-Pol zu verschieben (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 23).
3.2 Stressoren und Generalisierte Widerstandsressourcen
Mit dem Prinzip der Heterostase verbunden ist die Annahme, dass der Mensch permanent Einflüssen ausgesetzt ist, die sein gegenwärtiges Gleichgewicht zerstören und ihm Anpassungsleistungen auf der Suche nach einem neuen Gleichgewichtszustand abverlangen. Diese Anpassungsleistung kann in der Einflussnahme auf die ganzheitliche Umwelt des Menschen, oder auch Teile der Umwelt bestehen (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 27).
In der Beschreibung von Einflüssen, die den Zustand des Menschen im HEDE-Kontinuum verschieben, greift Antonovsky auf das Stresskonzept zurück. Er geht davon aus, dass Stressoren „angesichts der permanenten Konfrontation des Menschen mit Ungleichgewicht und Chaos“ (Franke 2012: 173) allgegenwärtig sind (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 26). Stressoren sind für Antonovsky „Anforderungen, auf die der Organismus keine direkt verfügbaren oder automatischen adaptiven Reaktionen hat“ (Franke 2012: 173). Die Konfrontation mit Stressoren fordert als aktive Adaptationsleistungen die „Suche nach nützlichen Inputs in das soziale System, die physikalische Umgebung, den Organismus und niedere Systeme bis zur Zellebene ... um dem immanenten Trend zur Entropie entgegenzuwirken“ (Antonovsky , Franke 1997: 27). Nicht der Stressor an sich, sondern sein Charakter und die Art seiner Bewältigung (des Copings), entscheiden über resultierende positive oder negative gesundheitliche Konsequenzen. Erfolgreiches Coping kann dazu beitragen, die Position des Menschen im HEDE-Kontinuum in Richtung des positiven Pols zu verschieben (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 27; Franke 2012: 172–173). Die gesundheitliche Wirkung von Stressoren hängt also ab
- von der vorangegangenen kognitiven Bewertung der Stressoren (s. auch Abschnitt 3.3),
- von einem adäquaten Bewältigungsverhalten.
Inwieweit ein Mensch die Einflüsse der allgegenwärtigen Stressoren bewältigen kann, hängt davon ab, über welche internalen Ressourcen er verfügt, bzw. welche externalen Ressourcen er im Bewältigungsprozess für sich nutzbar machen kann. Antonovsky bezeichnet diese Ressourcen als Generalisierte Widerstandsressourcen. Er klassifiziert sie in
- Gesellschaftliche Widerstandsressourcen,
- Individuelle Widerstandsressourcen, welche sich zusammensetzen aus
Kognitiven Ressourcen,
Psychischen Ressourcen,
Physiologischen Ressourcen,
Ökonomischen und materiellen Ressourcen (vgl. Franke 2012: 173–174).
3.3 Kohärenzgefühl
Eine zentrale Stellung in Antonovskys Konzept der Salutogenese nimmt das Kohärenzgefühl ein (engl. Sense of Coherence, Abk.: SOC) ein. Antonovsky bezeichnet es als den „Kern der Antwort auf die salutogenetische Frage“ (Antonovsky , Franke 1997: 30).
„Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
- die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
- einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
- diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen“ (Antonovsky , Franke 1997: 36).
Anschaulicher beschreibt es Franke: „Je häufiger eine Person die Erfahrung macht, dass sie Stress nicht wehrlos ausgesetzt ist - und dies wird umso wahrscheinlicher sein, je mehr generalisierte Widerstandsressourcen ihr zur Verfügung stehen -, desto mehr wird sie davon überzeugt sein, dass sie versteht was um sie herum passiert und was von ihr verlangt wird, dass sie das Leben meistern wird und dass nichts sie wirklich aus den Schuhen kippt“ (Franke 2012: 174).
Antonovsky definiert drei Komponenten des SOC; Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Diese sind nicht gleichermaßen bedeutsam, dennoch aber in ihrer Gesamtheit entscheidend für erfolgreiches Coping. Die größte Wichtigkeit misst Antonovsky der Bedeutsamkeit, also der motivationalen Komponente zu. Den folgenden Rang nimmt die Verstehbarkeit, gefolgt von der Handhabbarkeit ein. Es leuchtet ein, dass aus Stimuli, denen der Betroffene nicht eine gewisse Bedeutsamkeit beimisst, kaum Bemühungen um ein geeignetes Coping resultieren werden. Andererseits hängt die Handhabbarkeit von der Verstehbarkeit ab (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 34-38).
Das Kohärenzgefühl beeinflusst den Prozess der Stressbewertung und damit indirekt die Stressverarbeitung. Menschen mit starkem SOC werden in der primären Bewertung eher positiv reagieren, die mit dem Stimulus verbundenen Anforderungen differenziert bewerten, zielgerichtete Copingstrategien reflektiert zur Anwendung bringen und sich damit eher erfolgreich adaptieren können, als Menschen mit schwachem SOC. Diese neigen zu negativen Emotionen, Bedrohungsgefühl und werden vorrangig diffus, unspezifisch, und unreflektiert reagieren, was erfolgreiches Coping zumindest erschwert. (vgl. Antonovsky , Franke 1997: 130–138; Franke 2012: 177–180).
Empirische Untersuchungen existieren in erster Linie zum „Zusammenhang von Kohärenzgefühl mit verschiedenen Parametern psychischer und physischer Gesundheit und Persönlichkeitseigenschaften …“. Es zeigte sich, dass das Kohärenzgefühl eine hohe negative Korrelation zu Parametern der psychischen Gesundheit aufweist, weniger aber zur physischen Gesundheit. Auch scheint ein Einfluss des Kohärenzgefühls auf Stresswahrnehmung und Stressbewältigung zu bestehen. Die im Durchschnitt niedrigere Ausprägungen des SOC bei Frauen lässt die Vermutung zu, dass die Sozialisation (in diesem Fall die weibliche Sozialisation) einen Einfluss auf die Entwicklung des Kohärenzgefühls nimmt (vgl. Bengel et al. 2009: 87; Duetz et al. 2010: 85–96).
Das Kohärenzgefühl als theoretisches Konstrukt schlägt eine Brücke zwischen der Persönlichkeitsstruktur und der gesundheitlichen Disposition des Menschen (vgl. Franke 2012: 174). Es ist Teil der individuellen Persönlichkeitsstruktur (vgl. Höfer 2010: 57). Das Kohärenzgefühl „...bildet sich … in Kindheit und Jugend aus und wird dabei von Erfahrungen und Erlebnissen beeinflusst. Im Alter von zirka dreißig Jahren ist die Entwicklung abgeschlossen, das Kohärenzgefühl bleibt in der Folge ziemlich stabil. Veränderungen sind nach Antonovsky selten. Wenn sie doch auftreten, entstehen sie aus neuen Mustern, also aus einer neuen Lebenserfahrung oder einem neuen Lebenskonzept“ (Steinbach 2007: 122).
Die individuelle Entwicklung bis ungefähr bis zum 30. Lebensjahr kann somit als prägend betrachtet werden für die grundsätzliche Stresstoleranz des Individuums, seine psychischen Konstitution und die Selbstbewertung der eigenen gesundheitlichen Stabilität.
3.4 Zusammenfassung und Praxisbezug
Die Salutogenesetheorie versteht Stress als normale Einwirkung von Umwelteinflüssen auf ein Individuum. Eine wesentliche Aufgabe von Führung und Leitung besteht in diesem Kontext darin, die Fähigkeit der Mitarbeiter zur Bewältigung einwirkender Stressoren zu fördern.
Wesentlich für diesen Bewältigungsprozess ist ein gezielter Aufbau von Widerstandsressourcen. Sie bilden die Grundlage für gelingende Bewältigung der einwirkenden Stressoren. Das Erleben gelingender Stressbewältigung wiederum stärkt das Kohärenzgefühl und fördert die Entwicklung eines konstruktiven und differenzierten Bewältigungsverhaltens.
Das Vorhandensein geeigneter Widerstandsressourcen ist jedoch noch kein Garant für eine gelingende Stressbewältigung. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Um den erheblichen Belastungen des Stütz- und Bewegungsapparates im Beruf der Gesundheits- und Krankenpflege gesundheitsfördernd entgegenzuwirken, hat das Immanuel Klinikum Bernau Herzzentrum Brandenburg nicht unerhebliche Ressourcen für eine vorbildliche Ausstattung der Abteilungen mit Hilfsmitteln zum Heben, Lagern und Transferieren von Patienten, sowie die Ausbildung von Rückencoaches als Multiplikatoren zur Verfügung gestellt. In regelmäßigen Fortbildungsveranstaltungen werden Grundsätze und Techniken rückenschonenden Arbeitens vermittelt. Dennoch bedarf es immer wieder der Einflussnahme der Vorgesetzten, damit alle Mitarbeiter die so zur Verfügung gestellten Ressourcen in hinreichender und wirksamer Weise in die täglichen Arbeitsprozesse integrieren.
4 Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Sozialisation
Einen weiteren Zugang zur Entstehung von Gesundheit und Krankheit eröffnet der deutsche Soziologe Klaus Hurrelmann mit dem Sozialisationsmodell. In diesem Modell verknüpft Hurrelmann die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung mit der Herausbildung gesundheitlicher Dispositionen (vgl. Hurrelmann 2006a: 24–38). Den gesellschaftlichen Gesundheitsverhältnissen und dem persönlichen Gesundheitsverhalten schreibt er eine Schlüsselrolle in der Entstehung chronischer Krankheiten zu. Hurrelmann fordert eine stärkere Beachtung von soziologischen, psychologischen, pädagogischen und ökonomischen Erkenntnissen für die Entwicklung von Präventionsstrategien (vgl. Hurrelmann 2006b: 19–21).
Dem Sozialisationsmodell zufolge entwickeln sich Gesundheit und Krankheit im Spannungsverhältnis der physischen und psychischen Konstitution eines Individuums zu den Anforderungen seiner physikalischen und sozialen Umwelt. Diese Spannungen bewältigt der Mensch vor dem Hintergrund seiner bisher im Lebensverlauf entwickelten Persönlichkeitsstruktur einschließlich der verbundenen Werte, Bedürfnisse und Handlungskompetenzen (vgl. Hurrelmann 2006a: 24–38).
Damit liefert das Sozialisationsmodell einen Erklärungsansatz für das Phänomen, dass verschiedene Menschen in der erfolgreichen Bewältigung der gleichen Bedingungen bzw. Anforderungen der Umwelt häufig ein unterschiedliches (Gesundheits-)verhalten zeigen. Im Zusammenhang dieses Modells können auch hohe Krankenstände als Formen des persönlichen, und im Falle des Absentismus eines sozial abweichenden, Bewältigungsverhaltens interpretiert werden.
Um ein tieferes Verständnis für das Sozialisationsmodell und den Zusammenhang zwischen Sozialisation und Gesundheit zu entwickeln, setzt sich dieses Kapitel zunächst mit dem Begriff von Sozialisation als dem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung auseinander. Schwerpunkte werden dabei auf die zentralen Begrifflichkeiten des Selbstbildes und der Identität, sowie auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben gelegt.
Im Anschluss erfolgt die Darstellung des Sozialisationsmodells nach Hurrelmann, einschließlich seiner Definition von Gesundheit und Krankheit. Die Darstellung des Prozesses von Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung in den verschiedenen Lebensphasen und seines Einflusses auf die gesundheitliche Entwicklung schließt das Kapitel ab.
4.1 Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung
Die menschliche Persönlichkeit entwickelt sich in der lebenslangen Auseinandersetzung zwischen Individuum, Gesellschaft und Umwelt.
„Mit Persönlichkeit wird das unverwechselbare Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen bezeichnet, das sich auf der Grundlage der biologischen Ausstattung als Ergebnis der Bewältigung von Lebensaufgaben eines Menschen ergibt. Als »Persönlichkeitsentwicklung« lässt sich entsprechend die Veränderung wesentlicher Elemente dieses Gefüges von individuellen Merkmalsbesonderheiten im Verlauf des Lebens bezeichnen“ (Hurrelmann 2006a: 16).
Im Verlauf seines Lebens setzt sich der Mensch ständig mit seiner Umwelt auseinander und wird in diesem Prozess Teil der Gesellschaft. Dieser Prozess der Vergesellschaftung wird als Sozialisation bezeichnet. Im Sozialisationsverlauf bildet sich und reift die individuelle menschliche Persönlichkeit (vgl. Hurrelmann 2006a: 11–47).
Sozialisation beschäftigt sich also auch „... mit der Frage, wie Menschen sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln und welchen Einfluss darauf die Umwelt hat“ (Hurrelmann 2006a: 11). Der Begriff Umwelt umfasst nicht zuletzt die sozialen Strukturen und Gegebenheiten, in denen der Mensch sein Leben verbringt und die sozialen Gemeinschaften, denen der Mensch angehört.
Sozialisation ist als eine Schnittmenge der Wissenschaftsdisziplinen Psychologie und Soziologie (s. Abb. 1) zu verstehen (vgl. Hurrelmann 2006a: 122). Dieser lebenslange Prozess der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft (vgl. Abels , König 2010: 9) wird maßgeblich durch das Spannungsfeld zwischen der psychischen Struktur des Individuums und den Anforderungen der Gesellschaft geprägt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Kombination von Basistheorien zur Sozialisation – Quelle: Hurrelmann 2006: 122
4.1.1 Sozialisation als Prozess der Rollenübernahme
In der Zeit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert analysierte Emile Durkheim die Prozesse der sozialen Integration in der komplex strukturierten Gesellschaft. Sein Menschenbild ging von einem triebhaften, egoistischen und asozialen Individuum aus. Erst durch die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Normen und Zwänge würde dieses sozialisiert und damit gesellschaftsfähig (vgl. Hurrelmann 2006a: 11-12). Durkheim definierte Sozialisation als „Einwirkungen der Erwachsenengesellschaft auf diejenigen, die noch nicht reif sind für das Leben in der Gesellschaft“ (Durkheim 1972: 50). Sozialisation ist in dieser Definition als eine Art des Anpassens an Handlungsmuster, Normen und Werten, als „einseitige Prägung des Individuums durch die Gesellschaft“ (Scherr 2000: 46) zu verstehen. Durkheim wies damit dem Menschen in seiner Entwicklung eine vorrangig rezipierende Rolle zu, die von zu erbringenden Anpassungsleistungen an eine gegebene soziale Realität geprägt war.
4.1.2 Sozialisation als produktive Verarbeitung der Realität
Mit der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung änderte sich auch das vorherrschende Gesellschaftsmodell. Die heutige, moderne Gesellschaft verlangt nicht nach Anpassung und Rollenübernahme, sondern nach selbständigen, aktiv gestaltungsfähigen Persönlichkeiten. Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung wird damit in einen sozialen und kulturellen Kontext gestellt, der weniger auf das Erlernen und Verinnerlichen von Rollenmustern und gesellschaftlichen Normen fokussiert, sondern vielmehr auf die eigenständige und selbst gesteuerte Auseinandersetzung mit der kulturellen und sozialen Umwelt (vgl. Hurrelmann 2006a: 11–14).
Hurrelmann definiert Sozialisation als „... den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden“ (Hurrelmann 2006a: 15-16).
In dieser lebenslangen Auseinandersetzung zwischen der inneren und der äußeren Realität nimmt der Mensch jedoch keine passive, rezipierende Rolle ein. Er entwickelt zielgerichtet Aspekte der eigenen Persönlichkeit und greift handelnd in die Entwicklung der sozialen und gegenständlichen Umwelt ein. „Menschen sind … lebenslang Produzenten ihrer eigenen Entwicklung“ (Hurrelmann 2006a: 35).
Sozialisation als „produktive Verarbeitung der Realität“ (Hurrelmann 2006a: 35) erfolgt lebenslang, aber in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Fokussierung. „Die Persönlichkeitsentwicklung besteht lebenslang aus einer nach Lebensphasen spezifischen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben“ (Hurrelmann 2006a: 35). In diesem Prozess entwickelt der Mensch grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihm in der Folge als Handlungskapazität zur Verfügung stehen (vgl. Hurrelmann 1988: 94).
Dies geschieht in einem Prozess zwischen Individuation mit dem Ziel der Entwicklung einer eigenen, personalen Identität auf der einen Seite und der Integration mit dem Ziel der verantwortungsvollen sozialen Rollenübernahme, einer sozialen Identität auf der anderen Seite. In dieser spannungsreichen und nicht selten im Lebensverlauf auch von Krisen begleiteten Auseinandersetzung zwischen personaler und sozialer Identität, produziert der Mensch seine individuelle Ich-Identität (vgl. Hurrelmann 2006b:128-129).
4.1.3 Selbstbild und Identität
Voraussetzung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist die Entwicklung eines reflektierten Selbstbildes und einer konsistenten Ich-Identität.
„Das Selbstbild ist eine innere Konzeption der Gesamtheit der Einstellungen, die ein Mensch im Blick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten in der äußeren Realität besitzt. Voraussetzung hierfür ist eine realistische, sensible Wahrnehmung der Grundbedingungen der inneren Realität, also der genetischen, körperlichen und psychischen Potenziale“ (Hurrelmann 2006a: 38).
Die Ich-Identität bezeichnet das „Erleben des Sich-gleich-Seins“ während des Lebensverlaufes. Sie entwickelt sich, wenn es dem Menschen gelingt, sich in den verschiedenen Lebensphasen, innerhalb der verschiedensten Situationen und Kontexte als „Persönlichkeit, als »sich selbst gleich« wahrzunehmen“ (Hurrelmann 2006a: 38–39). Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson definiert die Ich-Identität als „… das angesammelte Vertrauen darauf, daß [sic!] der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten. Dieses Selbstgefühl ... wächst sich schließlich zu der Überzeugung aus, daß [sic!] man auf eine erreichbare Zukunft zuschreitet ...“ (Erikson 2003: 107).
Auffällig ist die inhaltliche Nähe des Konstruktes Identität, insbesondere in Eriksons Definition, zum Kohärenzgefühl der Salutogenesetheorie (s. Abschnitt 3.3). Es „... lässt sich zeigen, dass Identität als Quelle des Kohärenzgefühls konzeptualisiert werden kann. Das Kohärenzgefühl entwickelt sich über Selbstorganisationsprozesse und selbstrelevante Bewertungsprozesse. Der Ort, an dem das Subjekt solche Erfahrungen verarbeitet, ist das Identitätsgefühl. Dieses enthält Bewertungen über die Qualität und Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstgefühl) und Bewertungen darüber, wie eine Person die Anforderungen des Alltags bewältigen kann (Kohärenzgefühl)“ (Höfer 2010: 57).
Ist das Selbstbild gestört und kann keine konsistente Ich-Identität hergestellt werden, sind Entwicklungsstörungen im physischen, psychischen und sozialen Bereich zu erwarten (vgl. Hurrelmann 2006a: 28–30). Die Herstellung einer sicheren Identität auf der Basis eines reflektierten Selbstbildes steht somit in engem Zusammenhang zur gesundheitlichen Entwicklung eines Menschen.
4.1.4 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
Selbstbild, Identität und Persönlichkeit entwickeln sich in der Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben (vgl. Hurrelmann 2006a: 38–39).
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ist in Psychologie und Soziologie verwurzelt. Es ist in seinen Ansätzen zurückzuführen auf Freuds psychoanalytisches Entwicklungsmodell, welches sich in erster Linie auf die psychosexuelle Komponente der Entwicklung während Kindheit und Jugend beschreibt (vgl. Rothgang 2009: 77–88). Er beschreibt vier Phasen der Entwicklung in der Zeit vom ersten bis zum zwanzigsten Lebensjahr, deren Nichtbewältigung zu Fixierung oder Regression führen kann. Damit verknüpft er Persönlichkeitsentwicklung und Krankheitsentstehung, wobei auch auf versteckte Gewinne, die ein Mensch aus Krankheit ziehen kann (primärer und sekundärer Krankheitsgewinn), hingewiesen wird (vgl. Schön 2007: 17).
Erik Erikson erweiterte das Freud’sche Modell durch die Einführung von acht Entwicklungsstadien, die die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit nicht nur während der frühen Entwicklung, sondern über die gesamte Lebensspanne, vom Kleinkind bis zum reifen Erwachsenen, beschreiben. Diese Entwicklungsphasen sind nacheinander zu bewältigen. Jede Phase umfasst spezifische Entwicklungsaufgaben und hat in der menschlichen Entwicklung eine optimale Zeit der Bewältigung. „Man kann sagen, dass die Persönlichkeit in Abschnitten wächst, die durch die Bereitschaft des menschlichen Organismus vorherbestimmt sind, einen sich ausweitenden sozialen Horizont bewusst wahrzunehmen und handelnd zu erleben ...“ (Erikson 2003: 58).
Erikson setzt den Blickwinkel weiter als Freud. Er berücksichtigt nicht allein den psychosexuellen Kontext zwischen Eltern und Heranreifendem, sondern auch die in der jeweiligen Entwicklungsstufe wichtigen sozialen Beziehungen. Dabei wird klar, dass die Entwicklung der Generationen eng miteinander verbunden ist. „Freud hat sehr deutlich herausgestellt, dass Eltern einen dramatischen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben. Erikson fügte hinzu, dass auch die Kinder die Entwicklung der Eltern beeinflussen. Zum Beispiel ändern Kinder das Leben eines bislang kinderlosen Paares nachhaltig und führen die neuen Eltern weiter auf ihrem Entwicklungspfad voran“ (Boeree 1997: 7). Die gute Bewältigung einer Entwicklungsstufe ist nach Erikson mit dem Erwerb von Tugenden oder Stärken verbunden, während eine weniger gute Bewältigung mit Fehlanpassungen oder „Malignitäten“ einhergeht (vgl. Boeree 1997: 6–8).
Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung beeinflusste wiederum den amerikanischen Pädagogen Robert J. Havighurst in seiner Perspektive auf den menschlichen Entwicklungsprozess. Für Havighurst ist die menschliche Entwicklung ein über die ganze Lebensdauer verlaufender Lernprozess, in welchem der Mensch im Idealfall die Fertigkeiten und Kompetenzen erwirbt, die er benötigt, um das Leben in einer Gesellschaft zufriedenstellend zu bewältigen (vgl. Fürstler , Hausmann 2000: 183). Für Havighurst ist eine Entwicklungsaufgabe ein „Mittelding zwischen einem individuellen Bedürfnis und einer gesellschaftlichen Anforderung“ (Haußer 1995: 88). Auch das Konzept von Havighurst betrachtet die gesamte Lebensspanne und bezieht die biologische Entwicklung, den historisch-gesellschaftlichen Kontext, die Persönlichkeit und die individuellen Ziele des jeweiligen Menschen mit ein (vgl. Martin , Kliegel 2010: 43). „Eine Entwicklungsaufgabe ist also eine sozialisationsrelevante Problemstellung, die sich in einer bestimmten Phase im Lebenslauf zeigt. Deren Bewältigung führt zu Glück und wirkt sich positiv auf die Bewältigung neuer Entwicklungsaufgaben aus. Wird eine Entwicklungsaufgabe nicht bewältigt, führt dies zu negativen Gefühlen, Ablehnung durch die Gesellschaft und auch zu Schwierigkeiten mit anderen Entwicklungsaufgaben“ (Tillmann et al. 2014: 156).
Hurrelmann definiert Entwicklungsaufgaben als „Zielprojektionen, die in jeder Kultur existieren, um die Anforderungen zu definieren, die ein Kind, ein Jugendlicher und ein erwachsener Mensch zu erfüllen haben. Sie werden in einem Prozess der Selbstregulation bearbeitet. In jeder Lebensphase hat ein Mensch Vorstellungen der künftigen Entwicklung, die ihrerseits das Ergebnis vorausgegangener Auseinandersetzungen mit biologischen Vorgaben, Temperament, persönlichen Wünschen und Ansprüchen, sozialen Erwartungen und gesellschaftlichen und materiellen Umweltanforderungen darstellen“ (Hurrelmann 2006a: 35–36). Diese Definition spiegelt das grundlegende Prinzip der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität. Havighursts Aussage, dass sich die Bewältigung vorangegangener Entwicklungsaufgaben positiv auf die Bewältigung folgender Entwicklungsaufgaben auswirkt, findet sich damit in dieser Definition ebenso wieder, wie die Zuordnung der Entwicklungsphasen zu den Lebensphasen des Menschen.
4.1.5 Sozialisationsphasen und Sozialisationsinstanzen
Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich lebensphasenspezifisch (vgl. Hurrelmann 2006a: 35). „Man kann sagen, dass die Persönlichkeit in Abschnitten wächst, die durch die Bereitschaft des menschlichen Organismus vorherbestimmt sind, einen sich ausweitenden sozialen Horizont bewusst wahrzunehmen und handelnd zu erleben ...“ (Erikson 2003: 58).
Obwohl Sozialisation ein permanenter, fließender Prozess ist, lässt er sich aufgrund der Abhängigkeit zwischen der physischen Entwicklung eines Menschen und der Ausdifferenzierung seiner Persönlichkeit in drei Phasen strukturieren (s. Tab 1):
- Primäre Sozialisation,
- Sekundäre Sozialisation,
- Tertiäre Sozialisation (vgl. Willems 2008: 754).
„Eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung setzt eine den individuellen Anlagen angemessene soziale und materielle Umwelt voraus … Die Persönlichkeitsentwicklung kann nur gelingen, wenn es zu einer guten «Passung» zwischen den körperlichen und psychischen Anlagen und den äußeren Lebensbedingungen kommt“ (Hurrelmann 2006a: 30).
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- Citation du texte
- Raffael Schmidt (Auteur), 2016, Betrieblicher Krankenstand im Gesundheitswesen. Lebensphasen- und generationsbezogene Perspektiven und Interventionsmöglichkeiten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/341156
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