Mit dieser Diplomarbeit möchte ich das Thema „Drogenkonsumenten als Empfänger von Leistungen nach dem BSHG“ beleuchten und folgende Fragen klären:
- Wo liegen die Schwierigkeiten bei der Mitwirkungspflicht für den Drogenkonsumenten?
- Wo liegen die Probleme bei der Wahrnehmung der Beratungspflicht und welche Auswirkungen haben diese auf den Klienten?
- Betrachten und behandeln die Mitarbeiter des Sozialamtes Drogenkonsumenten als mündige, zur Selbstverantwortung und -bestimmung fähige Menschen?
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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Sprachgebrauch
Elegie eines Junkies
1 Einleitung
2 Junge Menschen mit Drogen bezogenem Lebensstil
2. 1 Lebenslagen von jungen Drogenkonsumenten
2. 2 Der Drogenkonsum als Lebensstil
2. 3 Die Gefahren von Sucht im Jugendalter
2. 4 Straßensozialarbeit mit Drogenkonsumenten
2. 4. 1 Straßensozialarbeit in Leipzig
2. 4. 2 Zielgruppenbeschreibung
2. 5 Gesundheitliche und soziale Verelendung
2. 6 Die Drogenszene in Leipzig
3 Das BSHG als Grundlage zur Führung eines menschen- würdigen Daseins – Drogen konsumenten als Leistungs- empfänger
3. 1 Die Bedeutung der Sozialhilfe
3. 1. 1 Aufgaben und Ziele von Sozialhilfe
3. 1. 2 Das Recht auf Leistungen nach dem BSHG
3. 1. 3 Mängel des Sozialhilferechts
3. 2 Drogenkonsum und Mitwirkungspflicht
3. 2. 1 Die Formen der Mitwirkungspflicht
3. 2. 2 Suchtbedingte Schwierigkeiten
3. 2. 3 Die Folgen fehlender Mitwirkung
3. 3 Die Beratungspflicht des Sozialamtes
3. 3. 1 Der Anspruch auf Beratung und Information zu Hilfen nach dem BSHG
3. 3. 2 Konsequenzen fehlender Beratung im Bezug auf den Alltag von Drogenkonsumenten
3. 4 Die Akzeptanz von Mitarbeitern des Sozialamtes gegen- über Drogenkonsumenten
3. 4. 1 Die soziale Distanz zwischen Mitarbeiter und Klient
3. 4. 2 Die Billigung des Rechtes auf Autonomie
4 Mitarbeiterbefragung am Leipziger Sozialamt
4. 1 Methodik der Untersuchung
4. 2 Das Befragungsinstrument
4. 3 Rücklauf der Fragebögen und Aufbereitung der Daten
4. 4 Auswertung der Ergebnisse
4. 4. 1 Statistische Angaben
4. 4. 2 Einschätzung der Ergebnisse
5 Schlussbetrachtungen
Literatur-/Quellenverzeichnis
Anhang
A Fragebogen
B Übersicht über Studien zur Nicht-Inanspruchnahme zustehender Sozialhilfeleistungen
C Quote der Nicht-Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen
D Rauschgifttote – Aufschlüsselung nach Ländern und Städten
E Struktur der Sozialhilfeempfänger in Leipzig
F Problemlagen junger Drogenkonsumenten des Teams „Step XS“
Eidesstattliche Versicherung und Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Sprachgebrauch
Ich wähle für diese Arbeit ausschließlich die männliche Form für Personen. Dies dient der besseren und flüssigeren Lesbarkeit und meint stets sowohl Frauen als auch Männer.
Elegie eines Junkies
Meine Adern sehnsuchtsvoll[1] geweitet
In meinem Kopf von Geilheit weite Augen
So warte ich auf Deinen spitzen Kuss,
der mich berühren wird und in mich dringt.
Du fließt in mich, durchflutest mich zur Gänze.
Hitze wallt in mein Gehirn.
Die Pupillen werden messerscharf gestellt, und doch
das Außen wird angenehm konturlos.
Was um mich war, es zählt nicht mehr,
während in mir Gebirge wachsen und abgetragen werden.
Ewige Sekunden, und sie sind hinweg gefegt.
Alles ist eben.
Das Chaos der Gefühle ist zu einer Hochgebirgsebene geworden.
Die Abgründe sind in eine unsichtbare Ferne gerückt.
Kein Baum, kein Strauch, nichts stört die Sicht.
Alles ist so klar und einfach.
Totale Ruhe bin ich und also glücklich.
Denn aller Schmerz ist abwesend.
Frieden erfüllt die Seele.
Auf Deinen braunen Pfaden wandle ich.
Ich tanze, ohne einen Muskel bewegen zu müssen,
denn alle Last hast Du von mir genommen.
In meinem Blut hast Du Dein Heim gefunden,
dass ich bereitwillig Dir gab.
Verlass mich nicht, denn ich bin Dein.
Verlass mich nicht, ich will den Schmerz nicht spüren,
der nach Dir bleibt.
Die Leere, wenn Du von mir gehst, ist schrecklich.
Ich spür sie schon, sie saugt an meinem Selbst.
Die Ebene, von Rissen längst zerfurcht, sie lässt mich zittern.
Der böse Schmerz, er kriecht in meine Glieder.
Angst und Panik mattern mein Gehirn.
Mein Dasein ohne Dich ist unerträglich.
Wo bist Du, meine Heldin, bleib bei mir!
Ich fürchte die Tristesse, die mich umgibt.
Ich sehne mich nach Deinen braunen Farben.
Nun hält mich nichts mehr auf – ich suche Dich.
Nicht eher ruh ich, bis ich Dich gefunden
Und Deinen Frieden wieder in mir spür.
1 Einleitung
Das Thema „Drogen“ ist vielschichtig. Dieses von einem Drogenkonsumenten geschriebene Gedicht beschreibt, in welchem Maße für einen Menschen eine Droge zum einzigen erstrebenswerten Lebensinhalt werden kann. Für andere, die diese Art von Sucht nie erlebten, dürfte es schwer werden, nachzuvollziehen, wieso sich Menschen auf ein derart anderes, als uns von der Gesellschaft suggeriertes, Leben einlassen können.
Ich arbeite als Straßensozialarbeiter des Jugendamtes der Stadt Leipzig im Team „Step XS“, welches ausschließlich mit der Gruppe der Drogen konsumierenden jungen Menschen arbeitet. Die Gründung dieses Teams im Jahr 2001 entwickelte sich während der Durchführung des Modellprojektes „Mobiler Spritzentausch“. Dieses war über einen Zeitraum von 2 Jahren darauf ausgelegt, der regionalen Besonderheit der Stadt Leipzig, die eine Zunahme Heroin konsumierender junger Menschen entgegen bundesweiter Trends beinhaltete, Rechnung zu tragen. Es sollten intravenös Drogen konsumierende junge Menschen erreicht werden, die keine Beratungsstellen für sich in Anspruch nahmen und so keinen Zugang zu bestehenden Hilfsangeboten erfuhren.
Bis zum Beginn des Modellprojektes arbeitete ich stadtteilorientiert. Die neue Zielgruppe zeigte auf Grund ihrer Suchtmittelabhängigkeit eine Vielschichtigkeit von Problemen, wie ich sie bis dahin kaum erlebt hatte. Dazu gehörten unter anderen Obdachlosigkeit, fehlende Schul- oder Berufsabschlüsse, zunehmende soziale und gesundheitliche Verwahrlosung, Beschaffungskriminalität und Prostitution[2].
Auf Grund des zumeist jugendlichen Alters der Drogenkonsumenten wurde es von der Stadt Leipzig als sinnvoll erachtet, Einrichtungen der Jugendhilfe und der Drogenhilfe enger miteinander zu vernetzen, um so frühzeitig angemessene und weiterführende Hilfen anzubieten. Das Erreichen von vorwiegend jungen Menschen beim mobilen Spritzentausch ließ die berechtigte Hoffnung zu, dass sich die bestehenden Probleme noch nicht grundsätzlich manifestiert haben dürften.
So war ich mit Ablauf des Modellprojektes nach zwei Jahren äußerst motiviert in dem neu zu bildenden Team, das sich ausschließlich mit Drogen konsumierenden jungen Menschen beschäftigen sollte, mitzuarbeiten.
Heute, reichlich zwei Jahre später ist mein damaliger Optimismus durch die alltägliche Realität meiner Tätigkeit teilweise gewichen. Mir war zu Beginn und während des Ablaufes des Projektes nicht in Gänze bewusst, was es bedeuten würde, niedrigschwellig und akzeptierend mit jungen Drogenkonsumenten zu arbeiten. Die Erkenntnis, dass es nur wenige Klienten gibt, die die notwendige Motivation in sich tragen, um mit ihrer Sucht brechen zu wollen, ist ernüchternd. Umso schwieriger wird es, wenn man begreifen muss, dass es zumeist an lebenswerten Alternativen zum Ausstieg aus der Sucht fehlt. Natürlich gibt es Drogenkonsumenten, die dieses Leben bewusst gewählt haben und keine Veranlassung bzw. Motivation für sich sehen, dieses Leben zu verändern, auch wenn Außenstehende es für veränderungswürdig erachten sollten. Andererseits gibt es aber Klienten, die soviel negative Erfahrungen in ihrem Leben machen bzw. machten, dass das Betäuben der eigenen Gefühle für sie die einzige Möglichkeit darstellt, zu überleben. Die Aufarbeitung von Erlebtem und die Schaffung von Perspektiven scheinen in vielen Fällen kaum möglich.
Die meisten der von mir während meiner Arbeit frequentierten jungen Menschen sind Sozialhilfeempfänger oder hätten Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG. Doch viele von ihnen wohnen in Notübernachtungen, bei Bekannten oder in Abrisshäusern, obwohl der Wunsch nach einer eigenen Wohnung besteht. Sie verzichten oftmals auf die ihnen zustehende Hilfe zum Lebensunterhalt, da die damit verbundenen Forderungen des Sozialamtes für sie zu hoch sind. Bietet man Drogenkonsumenten seine Hilfe zur Bewältigung von Schwierigkeiten mit Ämterproblemen an und vereinbart als Sozialarbeiter einen neuen Termin beim zuständigen Sachbearbeiter des Sozialamtes, um Klienten zustehende Leistungen nach dem BSHG zugänglich zu machen, wird dieser in vielen Fällen aus unterschiedlichsten Gründen nicht wahrgenommen.
Mit dieser Diplomarbeit möchte ich das Thema „Drogenkonsumenten als Empfänger von Leistungen nach dem BSHG“ beleuchten und folgende Fragen klären:
1. Wo liegen die Schwierigkeiten bei der Mitwirkungspflicht für den Drogenkonsumenten?
2. Wo liegen die Probleme bei der Wahrnehmung der Beratungspflicht und welche Auswirkungen haben diese auf den Klienten?
3. Betrachten und behandeln die Mitarbeiter des Sozialamtes Drogenkonsumenten als mündige, zur Selbstverantwortung und –bestimmung fähige Menschen?
Drogenkonsum ist äußerst komplex. Es gibt gesellschaftlich akzeptierte / legalisierte und gesellschaftlich geächtete / illegalisierte psychoaktive Substanzen. Die Skalierung des Konsumierens reicht vom gewöhnlichen über riskanten bis hin zum abhängigen Konsum. Aus diesem Grund möchte ich eingehend erläutern, wen ich in dieser Arbeit der Gruppe der Drogenkonsumenten zuordne und warum.
Zunächst werde ich die Lebenssituation junger Drogenkonsumenten regional betrachten, deren bestehende Probleme beschreiben und auf die Frage: „Was beinhaltet ein drogenbezogener Lebensstil?“ eingehen.
Im zweiten Teil werde ich die Bedeutung der Sozialhilfe für die Führung eines menschenwürdigen Lebens behandeln und das Problem beleuchten, inwieweit die Rahmenbedingungen, die für den Erhalt von Leistungen des BSHG vorgegeben sind, für Drogenkonsumenten praktisch umsetzbar sind.
Der darauf folgende Teil enthält eine Umfrage in Form einer schriftlichen Befragung mit Mitarbeitern des Sozialamtes der Stadt Leipzig. Diese soll verschiedene Kriterien zu den Themen Auslastung der Mitarbeiter, Qualität der Arbeit, Mitwirkungs- und Beratungspflicht, Einsatz von Informationsmaterialien und Akzeptanz gegenüber Klienten aus der Sicht der befragten Personen untersuchen.
Das ab 01. Januar 2005 zur Anwendung kommende und reformierte Sozialhilferecht nach dem SGB XII wird in dieser Diplomarbeit keine Beachtung finden.
2 Junge Menschen mit drogenbezogenem Lebensstil
Einleitend werde ich mich mit der definitorischen Trennung von Begrifflichkeiten wie „Missbrauch“, „schädlicher Gebrauch“, „Sucht“ und „Abhängigkeit“ des Konsums psychoaktiver Substanzen verbunden mit deren problematischen Verhaltensweisen beschäftigen. Die Bedeutung des Wortes Konsum kann wiederum in „gewöhnlich“, „riskant“ oder „abhängig“ unterteilt werden. Diese Begriffe, denen allen eine abgestufte Problematik zugrunde liegt, möchte ich eingehend erörtern, da ich dies für unabdingbar halte, um das notwendige Verständnis für diese Arbeit aufzubringen.
Klassischerweise wird der Begriff der Sucht benutzt. Sie bezeichnet die Unfähigkeit, dass eigene Verhalten im Hinblick auf Menge, Dauer und Häufigkeit des Konsums von Substanzen autonom zu steuern und gegebenenfalls auch beenden zu können.
Die WHO definierte „Sucht“ 1957 folgendermaßen:
Sucht ist „ein Zustand periodischer und chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge und ist gekennzeichnet durch 4 Kriterien:
1. Ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels,
2. eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung)
3. die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge,
4. die Schädlichkeit für den Einzelnen und / oder die Gesellschaft“[3].
Die hauptsächliche Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung eines gewöhnlichen Alltagskonsums von einem problematischen Drogenkonsum, da die unterschiedlichen Kriterien der Pharmakologie (Toleranz und Entzugssyndrom), Soziologie und Psychologie hierbei Berücksichtigung finden müssen[4]. Um nun die traditionellen Bezeichnungen wie „Sucht“ und „Abhängigkeit“ genauer greifen zu können, werden von der Fachwelt zunehmend Wendungen wie „drogenbezogener Lebensstil“ oder „substanzbezogene Störung“ verwendet, um den Übergang von einen gewöhnlichen und unproblematischen Drogenkonsum zu einem Abhängigkeitsverhalten und damit verbundenen problematischen Konsum genauer unterteilen und beschreiben zu können. So spricht die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen von „substanzbezogenen Störungen bzw. Risiken“[5] und schließt den Übergang bzw. die Formen problematischen Verhaltens im Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen mit ein.
Die nun folgenden 5 Punkte sind als Skalierung für die Schwere der Problematik im Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu betrachten:
1. Der Begriff „Konsum“ oder auch „gewöhnlicher Konsum“ kennzeichnet alle Formen der Einnahme psychoaktiver Substanzen. Dabei gehören Tabak-, Alkohol- und zunehmend auch Cannabiskonsum zum Alltag, werden gesellschaftlich akzeptiert und sind in Prozesse des sozialen Kontaktes und der Kommunikation eingebunden. Der Konsum dient dem Genuss sowie Rauscherleben und kann in gelegentlichen und Gewohnheitskonsum unterschieden werden. Ihm liegen normalerweise Gebrauchsregeln zugrunde, die den individuellen Konsum gemeinschafts- und gesundheitsverträglich steuern.
2. Der nicht bestimmungsmäßige Konsum psychoaktiver Substanzen wird als „Missbrauchsverhalten“ definiert. Der Missbrauch kann einmalig oder andauernd erfolgen. Dieses Konsummuster tritt oft bei einer Selbstmedikation auf und liegt dann vor, wenn die Einnahme eines bestimmten Medikamentes medizinisch nicht angezeigt ist. Bei dieser Art nicht bestimmungsmäßigen Konsums muss es nicht zwangsläufig zu einer Störung oder Schädigung kommen.
3. Unter „riskantem Konsum“ von psychoaktiven Substanzen hingegen versteht man einen mit potentiell negativen Folgen einhergehenden Konsum. Negative Folgen können in direkter Folge durch den Konsum (z. B. als Verkehrsunfall oder einer Körperverletzung) oder auch indirekt in Form gesellschaftlicher Sanktionen wie einer Strafverfolgung basierend auf dem Besitz illegaler Drogen auftreten. Das Risiko einer gesundheitlichen Schädigung muss bei riskanten und andauernden Konsum von Drogen in Betracht gezogen werden.
4. Bei der von mir als Straßensozialarbeiter frequentierten Zielgruppe kann der Umgang mit psychoaktiven Substanzen fast ausschließlich in „schädlicher Gebrauch“ oder „abhängiger Konsum“ unterschieden werden. Schädlicher Gebrauch liegt nach der 10. Revision der internationalen Klassifikation der Krankheiten, dem ICD-10, dann vor, wenn ein Konsummuster zu einer Gesundheitsschädigung führt. Das kann eine psychische Störung wie eine Depression nach exzessivem Heroinkonsum oder eine körperliche Störung wie eine Hepatitis C sein. Die bloße Ablehnung einer Substanz als solche durch die Gesellschaft oder einzelne Personen ist kein Indiz für den schädlichen Gebrauch. Das gilt auch für durch die Droge verursachte soziale Probleme wie z. B. Beziehungsprobleme, Verlust des Arbeitsplatzes oder Inhaftierung. So kann festgestellt werden, dass bei schädlichem Gebrauch von psychoaktiven Substanzen eine anhaltende gesundheitliche Störung eintreten muss. Nach exzessivem Alkoholkonsum am nächsten Morgen auftretende Kopfschmerzen oder zeitweiliger Gedächtnisverlust reichen aber nicht aus, um einen schädlichen Gebrauch zu diagnostizieren. Das internationale Klassifikationssystem DSM-IV, die 4. Fassung des diagnostischen und statistischen Handbuches psychischer Störungen, sieht ein Konsumverhalten dann als schädlichen Missbrauch desselben an, wenn innerhalb von einem Jahr eines der folgenden Kriterien zutrifft:
- sich wiederholende Probleme mit dem Gesetz in Zusammenhang mit Substanzmissbrauch
- wiederholter Substanzgebrauch in Lagen, in denen es durch den vorherigen Konsum bedingt zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann
- fortgesetzter Konsum psychoaktiver Substanzen, trotz der durch die Einnahme verursachten ständigen bzw. sich wiederholenden sozialen Probleme
- sich wiederholender Gebrauch von Substanzen, der ein Versagen bei der Ausführung und Erfüllung wichtiger Aufgaben auf der Arbeit, in der Schule oder zu Hause nach sich zieht[6].
5. Die Begrifflichkeit „abhängiger Konsum“ wird dann verwendet, wenn ein schädlicher rezidivierender Gebrauch vorliegt. Das Klassifikationssystem des ICD-10 kennzeichnet Konsum psychoaktiver Substanzen dann als abhängig, wenn mehr als 3 der nun folgenden Kriterien erfüllt sind[7]:
- starker Wunsch bzw. Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
- verminderte Fähigkeit, Beginn, Beendigung und Menge des Konsums umfassend kontrollieren zu können
- Einnahme erfolgt zur Verhinderung der Entzugssymptome
- Entzugssyndrom
- Toleranz kann nachgewiesen werden (Dosissteigerung)
- von der Gesellschaft definierte Konsummuster können nicht eingehalten werden
- durch Substanzkonsum verursachte zunehmende Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen
- Konsum wird trotz negativer Folgen fortgesetzt
Darüber hinaus sind Kennzeichen für einen abhängigen Konsum, dass der Drogenkonsument ein starkes Verlangen nach Substanzen empfindet und diesem nachgibt, obwohl er bemüht ist, Zugang zu einem moderaten Gebrauch oder sogar zur Abstinenz zu bekommen. Gelingt eine Abstinenzperiode, folgt dieser ein rascher Rückfall.
Letztlich muss außerdem bei dem umfassenden Thema der Abhängigkeit in physische und psychische Abhängigkeit unterschieden werden. Will man diese erlebbar gestalten, so sollte man bei suchtmittelabhängigen Personen die Menge des Konsums reduzieren oder ganz einstellen. Daraufhin stellen sich Entzugssymptome ein. Diese können körperlicher (Herzrasen, Übelkeit, Erbrechen, unerträgliche Schmerzen oder Zittern) oder seelischer (Depressionen, Angstzustände, zwanghaftes Konsumieren) Natur sein.
Im folgenden Kapitel werde ich mich mit den Lebenslagen junger Drogenkonsumenten beschäftigen und veranschaulichen, inwieweit der Konsum von Drogen ein Lebensstil oder eine Krankheit darstellt und welche Gefahren damit verbunden sind.
Als Straßensozialarbeiter werde ich einen Überblick über meine Tätigkeit allgemein und mit dem besonderen Bezug auf Leipzig geben. Dabei werde ich die von mir anvisierte Zielgruppe als Teil der örtlichen Drogenszene betrachten und auf die soziale und gesundheitliche Verelendung dieser eingehen.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz definiert im § 7 Abs. 1 als „jungen Mensch“ Personen, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Als Angestellter des Jugendamtes der Stadt Leipzig dient mir das Sozialgesetzbuch VIII als gesetzliche Arbeitsgrundlage[8]. Aus diesem Grund wird sich diese Diplomarbeit ausschließlich auf Drogenkonsumenten beziehen, die das 28. Lebensjahr noch nicht erreicht haben.
2.1 Lebenslagen von jungen Drogenkonsumenten
Im folgenden Abschnitt sollen die Lebensbedingungen betrachtet werden, unter denen junge Drogenkonsumenten heute aufwachsen. Unter Lebenslagen fast man die
„… sozialpolitisch beeinflussten Lebensverhältnisse wie Einkommen, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Handlungsspielräume, die den Menschen Lebensperspektiven und Interessenentfaltung ermöglichen…“[9]
zusammen. Theoretisch wird allen Fällen dabei zu Grunde gelegt, dass vorgegebene soziale Strukturen die Handlungsspielräume der Individuen entscheidend mitbestimmen[10].
Drogenkonsumenten sind im gesamtgesellschaftlichen Kontext gesehen Teile der Bevölkerung. Obwohl die materiellen und sozialen Rahmenbedingungen für die Mehrheit der deutschen Jugendlichen als günstig anzusehen sind, sind Erscheinungen wie erhöhte Kriminalität und Selbstmordrate sowie Drogenkonsum stetig angestiegen. Es scheint, als ob Kinder und Jugendliche immer öfter „… den Anforderungen des Lebensalltags in postmodernen Gesellschaften nicht gewachsen sind …“[11].
Die Entwicklung von jungen Menschen wird durch familiäre Strukturen ebenso wie durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gehören z. B. die immer rarer werdenden Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Damit verbunden sind zumeist finanzielle Benachteiligungen.
Schon im Jahr 1985 sprach die WHO unter Abwägung der von der Arbeitslosigkeit ausgehenden Entlastungs- und Belastungseffekte im Bereich der psychischen und physischen Gesundheit in Ländern mit expandierender Massenarbeitslosigkeit von einer großen epidemiologischen Katastrophe[12].
Oft weißt schon das Herkunftsmilieu junger Drogenkonsumenten eine gravierende Sammlung stigmatisierender Faktoren wie Heimerfahrungen, exzessiver Drogenkonsum in der eigenen Familie, das Aufwachsen in Pflegefamilien oder mit nur einem Elternteil auf.
Konstante, dauerhafte und belastbare Beziehungen zu beiden Elternteilen scheinen bei Drogenkonsumenten im familiären Kontext betrachtet eher eine Seltenheit zu sein. Entsprechend häufig sind frühe Erfahrungen von Trennungen und Verlust in der Kindheit. Normalerweise verbleiben die Kinder nach der Trennung bei der leiblichen Mutter. Meist wird der Vater nach einer gewissen Zeit durch einen neuen Lebenspartner ersetzt. Häufiger als bei Mädchen führt dieser Umstand gerade bei Jungen zu Konflikten. Missbrauchserfahrungen aus dem engeren familiären Umfeld wie durch Onkel, leiblichen oder Stiefvater, stellen, vorrangig bei Mädchen, meiner Berufserfahrung zufolge mit der Zielgruppe der Drogenkonsumenten keine Seltenheit dar. Auch werden die zur Beschaffungsprostitution gezwungenen drogenabhängigen Frauen immer wieder Opfer von Vergewaltigungen oder von Ihnen abgelehnten Sexualpraktiken. Als Folge solcher Erfahrungen kann es zu posttraumatischen Belastungsstörungen kommen. In vielen Fällen wird der traumatisierte Mensch von Hilflosigkeit und Resignation geprägt. Die Kontextlosigkeit und damit die subjektive Sinnlosigkeit der sich immer wieder aufdrängenden Erinnerungen untergräbt allmählich das Vertrauen in den eigenen Körper[13].
Auch sprechen die diagnostischen Kriterien einer solchen Persönlichkeitsveränderung (ICD-10: F62.0) von einem möglichen exzessiven Konsum von Alkohol oder anderer psychoaktiver Substanzen als Folgeerscheinung.
Eine Evaluation der Leipziger Entwicklung sozialer Strukturen und Lebenslagen stellt der „Lebenslagenreport Leipzig“ dar. Dabei handelt es sich um eine vom Dezernat für Soziales und Gesundheit Leipzig in Auftrag gegebene Studie. Zusammenfassend heißt es darin:
„Alle Ergebnisse des Lebenslagenreportes ergaben eine überproportionale Betroffenheit in verschiedenen Lebenslagen für die Gruppen Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger, Langzeitarbeitslose und kinderreiche Familien. Insbesondere Alleinerziehende sind in den unteren Einkommensgruppen ebenfalls überrepräsentiert. Die Entwicklung führt dazu, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit Sozialhilfe aufwachsen“[14].
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die die Lebenslagen beeinflussenden Faktoren bei Drogenkonsumenten zumindest teilweise negativ geprägt worden sind. Solche belastenden Faktoren können in den verschiedensten familiären und gesellschaftlichen Bereichen liegen oder erlangte traumatisierende Erfahrungen sein.
Die schnelle Entwicklung in der Industrie, die Veränderungen in Politik und Wirtschaft, verbunden mit dem immer spürbareren Abbau sozialer Leistungen sowie fortschreitende Ergebnisse in der Wissenschaft, lassen künftig die Gefahr immer wahrscheinlicher werden, dass junge Menschen durch das soziale Netz fallen.
2.2 Der Drogenkonsum als Lebensstil
Das Wort Lebensstil wird in vielerlei Zusammenhängen und mit verschiedenen Bedeutungen oder auch undefiniert gebraucht. Eine Definition beschreibt Lebensstil als
„… raum-zeitlich strukturiertes Muster der Lebensführung, die von Ressourcen (materiell und kulturell), der familien- und Haushaltsform und den Werthaltungen abhängen“[15].
Im Bezug auf Sucht und Drogenkonsum ist der Zusammenhang von Krankheit und/oder Lebensstil zu betrachten. Macht Drogen nehmen Spaß oder ist es einfach nur gefährlich? Zwischen diesen beiden Polen muss man sich entscheiden. Es ist wichtig, eine eigene Haltung zum Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu entwickeln. Natürlich gibt es bei jedem Menschen die unterschiedlichsten Indikatoren, die bei der Entscheidung gegen oder auch für die Droge wichtig sind. Solche Indikatoren können der Freundeskreis, Missbrauchserfahrungen oder auch motorische und kognitive Entwicklungsstörungen sein.
Auch spielt Drogenkonsum in Kultur und Gesellschaft seit jeher eine bedeutende Rolle. So gilt die Verwendung bewusstseinsverändernder Substanzen in 90% aller bekannten Gesellschaften als erwiesen. Schon vor über 6000 Jahren sahen die Chinesen Cannabis als eine göttliche Pflanze an und nutzten seine Wirkung, um einen besinnlichen Zustand zu erreichen. Betrachtet man die Frühgeschichte, war der Konsum von Rauschmitteln gesellschaftlich zumeist in Traditionen und Riten religiöser und kultureller Art eingebunden. Drogen wurden vom Alltagsleben abgekoppelt. Der Zeitpunkt, die zu konsumierende Menge sowie das örtliche und soziale Umfeld waren dabei vorgegeben. Negative Folgeerscheinungen, ausgelöst durch Drogen, konnten durch die ausgeübte soziale Kontrolle fast gänzlich vermieden werden. In den heutigen, westlich geprägten Gesellschaften haben psychoaktive Substanzen sehr wenig mit Religion und Traditionen zu tun. Wurde früher der Konsum von Drogen kontrolliert betrieben, änderte sich das schon ab dem 18. Jahrhundert in Westeuropa. Nunmehr fand die Einnahme von Drogen zunehmend unkontrolliert statt und diente eher persönlichen Experimenten. Das Wissen um die Wirkung der verwendeten Substanzen ist bis heute in den westeuropäischen Gesellschaften beträchtlich niedriger als in traditionellen Kulturen[16].
Da Sucht und Drogenkonsum in allen möglichen Facetten unseren Alltag durchziehen, muss man sich die Frage stellen, ob es nicht dem Wesen des Menschen entspricht, nach Süchten zu streben. Das „Leben mit Drogen“ ist, in der sozialen Realität betrachtet, sehr vielfältig. Vom Gewohnheitsraucher und/oder -trinker über die regelmäßig Beruhigungsmittel benutzende alte Frau bis hin zum nicht sesshaften Heroinkonsumenten. Zwar ist all diesen Personen gemein, dass sie psychoaktive Substanzen konsumieren, doch ist dieser Faktor nicht sehr aussagefähig.
„Es gibt nicht die Verlaufsform, der/die DrogengebraucherIn, die Suchtpersönlichkeit, die Diagnosekriterien, ebenso wenig die Ursachen für das Zustandekommen eines drogenbezogenen Lebensstils. Der Weg zum Drogengebrauch und zur Entwicklung zwanghafter, exzessiver Konsummuster bis hin zu einer Abhängigkeit (als subjektives Konzept und/oder als Zuschreibung durch das Umfeld) wie auch der Weg aus drogenbezogenen Lebenszusammenhängen ist in vielerlei Hinsicht offen“[17].
Es ist davon auszugehen, dass die meisten Drogengebraucher sehr individuelle Phasen in ihren Suchtverläufen von kontrollierten Gebrauchsmustern über fremd- oder selbstbestimmte Clean- oder Entzugsphasen haben können, die sich durch ein Gebilde verschiedenartigster Faktoren bedingen. Solche Faktoren können eine Partnerschaft, eigener Wohnraum, ein gesicherter Arbeitsplatz oder eine Erkrankung mit chronischem Verlauf darstellen.
Psychoaktive Substanzen werden genommen, weil sie Platz für subjektives Erleben und die Möglichkeit für eine geänderte psychische Verarbeitung schaffen. Drogen sind in umfangreiche Strategien der Lebensbewältigung integriert. Man konsumiert eine Substanz in Verbindung mit ganz gezielten eigenen Erwartungen und in einem bestimmten Milieu wie der Familie oder dem Freundeskreis.
Drogenkonsum hat die vielfältigsten Funktionen. Er wirkt:
- entspannend
- verdrängend
- anregend
- beruhigend
- kommunikationsfördernd
„Drogenkonsumenten loben die positive, entspannende und die Kreativität fördernde, aber auch heilende Wirkung der Droge. Die Gegner des Drogenkonsums verurteilen dieselben Suchtstoffe wegen ihrer dämpfenden und die Persönlichkeit verändernden Wirkung. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Aber genau die Polarität der verschiedenen Argumentationsstränge macht es schwer, eindeutige Regeln für den Umgang mit Rauschmitteln in der Gesellschaft zu finden“[18].
Es muss individuell unterschieden werden, ob Drogenkonsum als Krankheit oder Lebensstil zu bewerten ist. Er kann eine so dominierende Stellung in dem Leben eines Menschen einnehmen, dass die eigene Persönlichkeit, verbunden mit ihren individuellen Wünschen, Neigungen und Interessen in den Hintergrund tritt, sobald sich die durch den Konsum bedingte Sucht darüber legt. Andererseits ist Drogenkonsum auch als Genuss und gezielte Steuerung der eigenen Befindlichkeit zu werten, die im verantwortungsvollen Umgang der Steigerung des Wohlbefindens dient.
2.3 Die Gefahren von Sucht im Jugendalter
„Drogen haben in der individuellen Sozialisation, wie auch in der Gesellschaft überhaupt, unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen. Der Umgang mit ihnen ist daher eine Entwicklungsaufgabe, die alle Jugendlichen bewältigen müssen und in der Regel auch bewältigen“[19].
Normalerweise geht es dabei nicht um Abstinenz. Jeder versucht für sich einen geeigneten Weg zu finden, mit Drogen umzugehen. Dieser Umgang sollte genussorientiert geprägt sein.
Die das gesamte Jugendalter zwischen dem 12. – 21. Lebensjahr umfassende und für die meisten schwierige Lebensphase der Adoleszenz umfasst die Zeit zwischen der Geschlechtsreife und dem Erwachsensein. In dieser Zeit, in der es normalerweise zu Reifungskrisen kommt, treten körperliche Veränderungen und die Geschlechtsreifung ein, die von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, seiner Abgrenzung mit den gesellschaftlichen Normen und dem Entwurf eines eigenen Lebensplanes begleitet wird[20].
Der Mensch hat in dieser Zeit verschiedene soziale Anforderungen zu erfüllen:
- Entwicklung einer persönlichen Autonomie und Unabhängigkeit verbunden mit der Ablösung vom Elternhaus
- Sammeln erster sexueller Erfahrungen und Beginn einer Partnerschaft
- Übergang von Schule in das Berufsleben
- Integration in Peer-groups
Auch verändern sich in diesem Lebensabschnitt die seelisch-geistigen Prozesse des Menschen. Deshalb kommt es zu veränderten psychischen Anforderungen:
- Experimentieren mit verschieden Lebensstilen
- Entwurf und Umsetzung eigener Lebenskonzepte
- Einstieg in die Welt der Erwachsenen begleitet durch das Erlernen von bestimmten psychischen und sozialen Fertigkeiten
- Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, und die Entwicklung eines Normen- und Wertesystems
Soll der Übergang in das Erwachsenenalter realisiert werden, müssen erst alle für die Adoleszenz spezifischen Entwicklungsaufgaben, die von der Gesellschaft vorgegeben werden, abgeschlossen sein. Auch muss in dieser Phase die Ablösung vom Elternhaus stattfinden. Der Jugendliche muss eine eigene Identität erreichen, die ebenso die Überprüfung der gesellschaftlichen Werte und Normen von Erwachsenen mit einschließt. Hierbei kann es oft zu Selbstwertkrisen kommen, wenn die angestrebten ideellen Vorstellungen der Jugendlichen mit der Erwachsenenwelt kollidieren.
Das Durchleben der Adoleszenz oder auch die Jugend wird allgemein als Krise wahrgenommen. Zu den Begleiterscheinungen können gehören:
- erstes Auftreten psychischer Störungen
- Drogenkonsum
- Abbruch der Ausbildung und Disziplinprobleme
- erhöhte Unfallgefährdung bedingt durch erhöhte Risikobereitschaft
- verschiedene nach außen auffällige Verhaltensweisen wie Aggressivität, emotionale Zerrissenheit oder provokantes Auftreten
In dieser Zeit fühlen sich die Jugendlichen defizitär und müssen sich innerhalb eines geringen Zeitraumes auf völlig neue Veränderungen wie Ausbildung oder Partnerschaft einstellen. Störungen dieser Abläufe sind in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Doch wenn diese nicht durch Hilfestellungen der Umwelt mit beseitigt werden oder eine untypische Häufung von Problemlagen auftritt, kann es zu ersten depressiven Symptomen, Vereinsamung oder dem Gefühl des Unverstandenseins kommen. Dabei muss der Jugendliche keinesfalls deutlich auffällig geworden sein. Als Folge dieser geschilderten Anzeichen zieht sich der Betroffene zurück oder stürzt sich in lärmende Aktivitäten, um dem Aufkommen depressiver Momente zuvorzukommen. Wachsen die Probleme in einer Weise an, dass sich der Jugendliche nur noch überfordert und alleingelassen fühlt, kann es passieren, dass er versucht, konfliktbehaftete Situationen zu umgehen. Folge davon ist oft eine an den Tag gelegte resignative Haltung oder das Verdrängen von Problemen. Erfahrungsgemäß führt eine Überlastung mit Problemsituationen in diesem Lebensabschnitt eher zum Rückzug als zur aktiven Bewältigung. Drogen können besonders in solchen Situationen „dankbare Partner“ sein, mit deren Hilfe Probleme „gelöst“ werden.
Gerade in der Jugend scheint die Anwendung von stimmungsverändernden Substanzen von elementarer Bedeutung zu sein.
Die meisten jungen Menschen durchleben in ihrer Jugend Phasen, in denen sie sehr intensiv mit Alkohol und Tabak, aber auch mit illegalisierten Substanzen wie Cannabis oder so genannten Partydrogen Umgang haben. Trotzdem haben die wenigsten von ihnen ein von Drogen bestimmtes Leben vor sich. Vielmehr wird bis zum heutigen Tag der legalisierte Konsum von Alkohol und Zigaretten sozial akzeptiert und symbolisiert den Eintritt ins Erwachsenenalter. Dennoch ging der Tabakkonsum innerhalb der letzten 2 Jahrzehnte kontinuierlich zurück. Die von der BZgA in Auftrag gegebene und vom Institut für Therapieforschung München durchgeführte Wiederholungsstudie zur Drogenaffinität[21] sagt z. B. aus, dass der Anteil der Personen, die nie geraucht haben, um das Doppelte von 14 auf 32 % gestiegen ist. Demgegenüber ging auch der Anteil der Gelegenheits- und Gewohnheitsraucher kontinuierlich zurück. Hinsichtlich Alkoholkonsums konnten ähnliche Trends festgestellt werden. Betrachtet man dagegen den Konsum illegalisierter Drogen, muss festgestellt werden, dass es wenig gesicherte Erkenntnisse über die letzten 20 Jahre in Deutschland gibt. Das liegt vor allem an dem erschwerten Zugang zu den in Frage kommenden Klienten und an recht geringen Fallzahlen. Vergleicht man in der Fachliteratur die Aussagen, kommt man zu dem Schluss, dass die Entwicklung zum Konsumieren illegalisierter Drogen eher rückläufig ist. Oft finden die Tendenzen der letzten Jahre auch in aktueller Literatur wenig Beachtung. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass
„… der Gesamtanteil der Konsumenten im Gegensatz zu den anderen Substanzen deutlich kleiner ist. 1993 waren – so die Drogenaffinitätsstudie der BZgA- 76% der befragten Jugendlichen keine Konsumenten illegaler Drogen“[22].
Was unterscheidet also die Jugendlichen, die abstinent leben oder sporadisch konsumieren von denen, die mit psychoaktiven Substanzen einen gefährlichen Missbrauch betreiben und abhängig werden? Das auf diese Frage
„… bis heute keine allgemein akzeptierten Antworten gefunden wurden, hat sicherlich viele Gründe … Bisher gibt es wenig mehr als Erkenntnisse über die Bedeutsamkeit einzelner Risikofaktoren…“[23].
Zu diesen Faktoren zählen:
- Makro-soziale Faktoren
Dazu sind Gesetze und staatliche Maßnahmen zu zählen, die für die Regulierung des Zugangs zu Drogen verantwortlich sind. Wichtig sind auch vorherrschende gesellschaftliche Normen, wie z. B. welche Substanzen akzeptiert werden oder in welchen Umfang sie konsumiert werden dürfen.
- Sozial-interpersonelle Faktoren
Gemeint ist der Einfluss der Eltern auf das Kind. Von Wichtigkeit hierbei sind z. B. das drogenrelevante Verhalten der Eltern sowie deren Einstellung zu Drogenkonsum im Allgemeinen. Erwähnenswert dürfte sein, dass durch verschiedene US-amerikanische Studien[24] belegt werden konnte, dass sich extreme Verhaltensweisen des Elternhauses sowohl in Bezug auf Abstinenz als auch exzessiven Drogenkonsum negativ herausgestellt haben.
- Intrapersonelle-individuelle Faktoren
Hiermit sind biologische und physiologische Einflüsse wie die genetische Komponente bei der Suchtentstehung gemeint. Es wird vermutet, dass die genetischen Faktoren eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Abhängigkeit bilden, der Konsum als solcher aber letztendlich eher von sozialen Faktoren gesteuert wird[25].
Erkenntnisse, die umfassende Aussagen zu der Problematik „Sucht“ liefern könnten, gibt es dennoch nicht. Das liegt wohl daran, dass Sucht bisher vorrangig monokausal erforscht wurde, also entweder die Merkmale der Persönlichkeit oder die biologischen Determinanten oder die biologischen Einflüsse. Den Beziehungen zwischen diesen Variablen und gegebenenfalls auch den Wechselwirkungen wurde bisher vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt[26].
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass besonders der Konsum von psychoaktiven Substanzen im Jugendalter, bedingt durch die Adoleszenzkrise, erhöhte Gefahren in sich birgt. Soll die Entwicklung drogenbezogener Lebensstile, die Desintegration und Nichtbewältigung jugendspezifischer Bestimmungen junger Menschen vermieden werden, ist die Integration schon konsumierender Jugendlicher in Lebensbezüge, die den gesellschaftlichen Gepflogenheiten mit ausreichenden sozialen, finanziellen und kulturellen Ressourcen entsprechen, sinnvoll.
2.4 Straßensozialarbeit mit Drogenkonsumenten
Ende der 60-iger Jahre tauchte das Wortgebilde „Streetwork“ erstmalig aus dem nordamerikanischen und skandinavischen Raum auf. Es bezeichnete den damals als innovativ geltenden aufsuchenden Arbeitsansatz im „Milieu“ auffällig gewordener Jugendgruppen. Man erhoffte einen besseren Zugang zu bestimmten Subkulturen zu erhalten, wenn man in ihre Lebenswelt, d. h. in ihre
„… alltägliche Wirklichkeitserfahrung eines verlässlichen, soziale Sicherheit und Erwartbarkeit bietenden primären Handlungszusammenhang …“[27] eintauchte.
Diese Form der aufsuchenden Arbeit fand aber besonders in der Drogenhilfe wenig Zuspruch. Es dominierte der Ansatz der abstinenzorientierten Drogenhilfe in Verknüpfung mit der Leidensdrucktheorie, die beinhaltete, nur mit Drogenkonsumenten zu arbeiten, denen es so schlecht ginge, dass durch ihre Sehnsucht nach Veränderung die Arbeit mit Ihnen sinnvoll erscheinen ließe. Hinter dieser Haltung steckte die Moral: Wer Drogen konsumiert, muss leiden und wer genug gelitten hat, will sich verändern.
„Nach dieser Argumentation galt das Aufsuchen der DrogengebraucherInnen in ihrer Lebenswelt als ein kaum geeignetes Mittel der Drogenarbeit“[28].
Im Zuge der HIV-Problematik, die sich gerade unter iv-konsumierenden Drogenkonsumenten schnell ausbreitete, die den Prozess der sozialen und gesundheitlichen Verelendung beschleunigte, wurden ab 1988 die ersten niedrigschwellig und akzeptierend arbeitenden Projekte der Drogenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Diese grenzte sich bewusst von hochschwellig arbeitender Drogenhilfe und der repressiven Politik des Staates gegenüber Drogenkonsumenten ab.
„So erlebte auch Streetwork einen wesentlichen Auftrieb in der Drogenhilfe und galt fortan als Arbeit an der Basis mit hohem Stellenwert hinsichtlich der Erreichbarkeit der Zielgruppe“[29].
Straßensozialarbeit mit Drogenkonsumenten erfolgt vorrangig in der Drogenszene. Die Szene ist kein einzäunbarer Bereich und ständig in Bewegung. Sie ist als Umfeld zu verstehen, an dem sich Personen mit unterschiedlichster Persönlichkeit treffen, um ihr sie verbindendes Interesse des Drogenkonsums zu leben. Man besucht die Szene, um Drogen zu kaufen oder zu verkaufen, Kontakte aus unterschiedlichsten Beweggründen zu anderen Konsumenten herzustellen und Informationen auszutauschen. Oft befindet sich die Szene an öffentlichen hoch frequentierten Plätzen, die auf Grund der schlechten Überschaubarkeit einen gewissen Schutz vor der Polizei bieten. Taucht Polizei auf, breitet sich diese Information in „Windeseile“ aus und die Drogenszene „verschwindet“, um sich über Mobiltelefone an anderen Orten neu zu formieren. „Polizeiaktionen behindern grundsätzlich die Kontaktaufnahme und Umsetzung der Arbeitsinhalte von Streetworkern“[30].
Trotzdem sollten die Sozialarbeiter die Drogenszene bei Auftauchen der Polizei nicht verlassen, da ihre bloße Anwesenheit für eine Entschärfung der Situation hinsichtlich des Umganges der Polizei mit den Drogenkonsumenten dienen kann.
Grundsätzlich soll Straßensozialarbeit freiwillig, anonym und parteilich geschehen. Nichts wird ohne vorherige Absprache mit dem Klienten getan und man sollte sich bemühen, seine Arbeit stets transparent zu gestalten. Werden getroffene Absprachen seitens der Klienten nicht eingehalten oder Termine verpasst, darf es darauf keine Sanktionen geben. Der straff durchorganisierte Tag von Konsumenten, wo das Beschaffen von Geld für Drogen oberste Priorität hat, muss einfach akzeptiert und berücksichtigt werden. So gehört es fast zum Alltag, dass Termine mit Sozialarbeitern, die bei der Absprache von diesen für den Klienten ganz wichtig sind, der Tatsache, dass z. B. weniger Geld als erwartet durch das Ausbleiben von Kunden, bedingt durch eine hohe Polizeipräsenz auf dem Strich, gemacht werden kann, weichen müssen. Es ist wichtig, kontinuierlich in der Szene aufzutauchen. Dies gibt der recht geschlossenen Szene das Gefühl, Kontakte nach „draußen“ zu haben und schafft Vertrauen, was als Basis für eine belastbare Beziehung für die weitere Arbeit wichtig ist. Auch ist es möglich, die Personen der Szene in Bezug auf ihr individuelles Konsumverhalten und ihre Persönlichkeit, die biographische und soziale Merkmale wie Herkunft, Schulbildung, Berufsabschlüsse, Suchtverlauf und familiäre Sozialisation beinhaltet, besser kennen zu lernen. Diesen kann man in Zeiten exzessiven Drogenkonsums oder in selbst- bzw. fremdbestimmten Cleanphasen beistehen. Besonders in selbstbestimmten Cleanphasen ist es für Drogenkonsumenten schwierig, sozialen Anschluss zu finden bzw. zu erhalten. Um der Versuchung des Konsumierens zu widerstehen und das Clean-sein erträglicher zu machen, werden Orte und Personen der Drogenszene gemieden. Da in der Regel keine freundschaftlichen Bande zu Personen außerhalb der Szene mehr bestehen und familiäre Bindungen zumeist abgebrochen wurden, sieht sich der Abhängige in diesem nüchternen Zustand plötzlich alleingelassen und kann die elementaren Probleme wie Verlust des eigenen Wohnraumes, finanzielle Schulden, unzureichende Schul- oder fehlende Berufsabschlüsse, die bis dahin durch Drogenkonsum zweitrangig waren, kaum verkraften. In diesen Phasen ist eine Einzelfallhilfe und eine zeitaufwändige Begleitung des Klienten unerlässlich. Doch ist der Klient auf Grund begrenzter zeitlicher Ressourcen den größten Teil des Tages auf sich gestellt und die Gefahr eines möglichen Rückfalles ist hoch. Sinnvoll ist es, Klienten in diesen Zeiten an kooperierende Einrichtungen der Drogenhilfe zu vermitteln, die, bedingt durch ein anderes Setting, mehr Zeit zur Verfügung haben. Leider gestaltet sich das oft schwierig, da viele Personen aus der Drogenszene schlechte Erfahrungen mit einzelnen Mitarbeitern von Drogenhilfeeinrichtungen gemacht haben oder gemacht zu haben meinen. So sind z. B. an verschiedene Drogenhilfeeinrichtungen Notübernachtungen gekoppelt. Kommt es dann in Verbindung mit exzessivem Drogenkonsum zu einem Verstoß der Hausordnung, wird dieser normalerweise mit einem zeitlich begrenzten Hausverbot geahndet. Als Folge davon wird aber häufig die ganze Einrichtung mit ihren verschiedenen Angeboten gemieden und Sozialarbeit als solche abgelehnt. So haben viele Mitglieder der offenen Drogenszene Erfahrungen mit Sozialarbeitern gesammelt, die sie eine ablehnende Haltung gegenüber diesem Berufsfeld einnehmen lassen. Diese Zurückweisung gilt es durch sensibles Verhalten und hohe Vor-Ort-Präsenz zu überwinden. Ist man als Straßensozialarbeiter neu in der Szene, wird man immer wieder mit Fragen der Art: „Hast Du Flunis dabei?“ („Flunitrazepham“ mit dem Wirkstoff Bezodiazephin“) oder „Weißt Du, wo sich Dealer XY im Moment aufhält?“, konfrontiert. Auch verstehen Klienten unter Sozialarbeit das etwaige Schmuggeln von Handykarten in oder Briefen aus der Justizvollzugsanstalt. Kommt es zu einer solchen Anfrage, sollte man seine Tätigkeit im Bezug auf Arbeitsschwerpunkte, Arbeitsauftrag und institutionelle Hintergründe sofort transparent darlegen.
[...]
[1] http:/rzuser.uniheidelberg.de/~clabudda/stories/Meinefreundinheroinhtml#II
[2] Anhang F
[3] WHO, 1964
[4] Gölz, 1999, S.8
[5] vgl. DHS, 2001
[6] DSM IV; http://www.behavenet.com/capsules/disorders/dsm4classificationhtml
[7] Gölz, 1999, S. 9
[8] Beck, 1993, S. 17
[9] Degen, 1995, S. 47
[10] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1997, S.607
[11] Milcher, 1996, S. 19
[12] Henkel und Vogt, 1998, S.101
[13] Langkafel, 2000
[14] Anhang E
[15] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1997, S. 609
[16] Kaiser, 1996, S.24
[17] Deutsche Aids-Hilfe e.V., 1999, S.15
[18] Kaiser, 1996, S.23
[19] SG Straßensozialarbeit, 2002, S.8
[20] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1997, S.7
[21] BZgA, 1994
[22] Z.I.E.L., 1996, S. 112
[23] Z.I.E.L., 1996, S. 114
[24] Z.I.E.L., 1996, S. 116
[25] Z.I.E.L., 1996, S. 119
[26] Z.I.E.L., 1996, S. 122
[27] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1997, S. 609
[28] Deutsche Aids-Hilfe e.V., 1997, S. 10
[29] Deutsche Aids-Hilfe e.V., 1997, S. 10
[30] Gölz, 1999, S. 124
- Citation du texte
- Stefan Klingner (Auteur), 2004, Drogenkonsumenten als Empfänger von Leistungen nach dem BSHG, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34106
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