Der Protagonist des Nibelungenliedes bewegt sich zwischen den Welten der alten Heldensagen und höfischen Ritterromane. Dieses Essay stellt sich die Frage, zu welcher Welt er zuzuordnen ist und im Endeffekt, warum er sterben musste.
Ist Siegfried ein Held, oder ein Ritter? Überwiegt seine sagenhafte Herkunft, oder wird er im Nibelungenlied als Ritter am Hofe dargestellt? Die Forschungsmeinungen trennen sich seit jeher.
Höfischer ‘rîter’ oder Germanischer ‘recke’? Wie ist Siegfried im Nibelungenlied charakterisiert?
Ist Siegfried ein Held, oder ein Ritter? Überwiegt seine sagenhafte Herkunft, oder wird er im Nibelungenlied als Ritter am Hofe dargestellt? Die Forschungsmeinungen trennen sich seit je hier. Ursula Schulze stellt fest, dass er als beides bezeichnet wird:
Die Wendungen der edel künic von Niderlant (Str. 615,4), ein edel riter guot (Str. 22,3), an allen tugenden ein riter küen unde guot (Str. 230,4) situieren Siegfried in der höfischen Welt, während die Benennungen der starke Sîfrit, der held von Niderlant (90,4[sic!]), der waetlîche recke (Str. 241,3), der vreislîche man (Str. 97,4) eine andere, vorliterarische Tradition aufrufen. (“Heldenleben?“ 674)
Die Frage nachriteroderheltist immer auch eine Frage nach Definitionen. Das Wortheltist im zwölften Jahrhundert im allgemeinen Sprachgebrauch verankert und dient schlicht zur „Bezeichnung eines hervorragender Kämpfers“ (comp. “Heldenleben?“ 670) Die Helden eines Heldenepos „where fighting is more important than anyting else in active life“ (Ker qtd. in Classen 674) hingegen „beweisen sich durch ihren Mut, ihre Tapferkeit, ihren Stolz und ihre Unbeugsamkeit. Ihre Treue und das unbegrenzte Ehrgefühl strahlen Ehrfurcht aus und erhöhen sie über das Normal–Menschliche hinaus.“ (Classen 674)
Die Tugenden eines höfischen Ritters hingegen sind viel mehr Dienstbereitschaft, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Maßhaltung - ein arthurischer Ritter ist zum Beispiel weder feige noch übermütig - und unbedingte Loyalität. Nun schließen sich diese Eigenschaften nicht per se aus und in der Figur Siegfrieds sind verschiedene Züge zu finden.
Während Schulze stets Siegfrieds Heldenhaftigkeit verteidigt und ihn einen elementaren und zugleich einfachen Heldentyp, der sich durch Stärke auszeichnet und gegen Übermächte behauptet, nennt (“Heldenleben?“ 669), bezeichnet Classen Siegfried als „Versager“ und „Spielball“ seiner Gegner in Worms (687). Er sei, im Rückblick auf die Handlung, von vorne herein absurd und anachronistisch, eine Figur aus fremden Zeiten, die keine eigentliche Funktion mehr erfülle (690).
Siegfried tritt als mythischer Heroe auf, der über Zauberkräfte verfügt und engen Umgang mit nichtmenschlichen Wesen pflegt. Siegfried scheitert jedoch in vielerlei Hinsicht, so daß ihm fast noch weniger als Hagen der Charakter des Helden zukommt. (Classen 685)
Siegfried ist offensichtlich eine Figur voll scheinbarer Motivationsbrüche und unerklärlicher Handlungen, die dem Leser zumindest auf den ersten Blick fragwürdig, ja absurd vorkommen müssen. In diesem Essay werden Siegfrieds Handlungen im Lichte der Held-oder-Ritter Frage beleuchtet und verschiedene Erklärungsansätze disskutiert.
Da Siegfried über eine komplette Biographie verfügt – Schulze spricht vom Nibelungenlied als „Lebensbild des Helden Siegfried“ (“Heldenleben?“ 669) - bietet es sich im Zuge einer Charakterisierung an Siegfrieds Handlungen hier chronologisch nachzuvollziehen. Siegfried wird vom Publikum seiner mythischen Herkunft wegen in erster Linie als Held antizipiert und der Hof King Arthur’s als ein perfekt „höfischer“. In diesem Kontrast, werden an gegebenen Stelle Vergleiche gezogen.
Siegfried wurde als Figur bezeichnet, die aus beiden Welten kommt und frei zwischen ihnen wandeln kann, ich werde am Grade seiner Trittfestigkeit zeigen, dass Siegfried als Helden bezeichnet werden muss.
Siegfried hat zwei Herkünfte, wenn man so sagen will. Zum einen ist er der Sohn König Sigmunds und Königin Sieglindes von Xanten und somit Thronfolger. In der 2. Aventüre wird dem Leser / Hörer der Xantener Hof als ein Idealtypischer vorgestellt, ausgedrückt in Reichtum, Freigiebigkeit und große Gefolgschaft. Zusammen mit Siegfried werden 400 Knappen zu Rittern geschlagen, was für die Größe und den Wohlstand des Reiches spricht, den Siegfried beschenkt sie nach Brauch alle mit Land. Worms scheint hier, von dem was wir aus der 1. Aventüre wissen, graduell überboten. Diese Herkunft verleiht Siegfried eine realitätsanaloge Dimension; er ist ständisch und geographisch bestimmt. Seine „Tapferkeit und innere Kraft, Schönheit und Stärke disponieren ihm zum König und (auch) Helden.“ (“Heldenleben?“ 674) Hinzu kommen eine angemessene Erziehung und angeborenen Qualitäten, die sein Ansehen in der höfischen Gesellschaft perfektionieren (comp. “Heldenleben?“ 674 f.). Jedoch hat die Siegfriedfigur eine Herkunft, die den Xantener Hof, über dessen Herrschaftsstrukturen wir wenig erfahren, in den Schatten rückt; er wirkt der Aktualisierung des Stoffes wegen hinzugedichtet.
Seine zweite Herkunft ist die mythologische „Fama“. Diese Stoffgeschichte ist nach Haug zu einem intertextuellen Bezugshorizont geworden (285). Ihrer ursprünglichen Funktion sei verblasst, doch ohne dieses Hintergrundwissen erscheint Siegfried unrealistisch unmotiviert. Aus dem Text selbst stellt sich die Frage, wann die Heldentaten, die Hagen als Hörensagen in den Mund gelegt werden, stattgefunden haben sollen. Siegfried bricht direkt nach seinem Ritterschlag nach Worms auf und wenn er seine Abenteuer im Nibelungenland nicht auf dem Weg bestreitet (wofür es keine Anzeichen gibt), dann ist, rein logisch gesehen, Siegfried König des Niebelungenlandes, Hortbesitzer und Drachentöter bevor er überhaupt zum Ritter geschlagen ist. Dies muss – wenn man die Möglichkeit der unzulänglichen Fusion der Stoffe hintenan stellt – beeindrucken, wenn nicht sogar Furcht einflößen und unterstreicht das willkommenheißende, konfliktmeidende Verhalten der Burgunden gegenüber Siegfried.
Im Lichte der Heldentaten verblasst die höfische Erziehung, denn er ist durch eine Sagenwelt voller Drachen, Riesen, Zwergen, Schätzen, Unverwundbar- und Unsichtbar werden geprägt und hat seine Attitüde, Stärke - als herausragende Qualität - und übermenschliche Handlungsfähigkeiten dort erworben (comp. „Heldenleben?“ 675).
In Worms kollidieren die beiden Welten. Siegfrieds Heldentum, obwohl es nur kurz angerissen wird, determiniert Siegfrieds Auftritt. Diese „unhöfische Entgleisung“ (Müller 89), ist viel diskutiert, da sie scheinbar einen extremen Motivationswechsel zeigt, Siegfried, der um Kriemhilds Hand anhalten wollte, fordert nun Gunther zum Kampf um dessen Königreich (was im höfischen Roman eine klar antagonistische Haltung und Kriegsauslöser ist – dem kommt Hagen hier allerdings zuvor). Schulze verweist darauf, dass dies die einzig standesgemäße Verhaltensweise ist, denn sich einfach in Gunthers Dienst zu begeben, wäre unwürdig (Nibelungenlied179). Ich würde einen Schritt weitergehen und sagen, dass es die einzige Art ist, die Siegfried kennt. Er ist mit der Idee der Herrschaft des Stärksten vertraut, immerhin hat er sich auf ähnliche Weise das Nibelungenland untertan gemacht. Für Haug initialisiert diese ins Leere laufende Provokation Siegfrieds Anpassung in die höfische Welt Worms (283). Doch so sehr Siegfried vom Agressor zumvriuntwird und sich scheinbar gut anpasst, so wird doch seine Natur eigentlich nur in andere Bahnen geleitet (comp. Müller 115). Seine Kraft und sein Temperament werden im Turnier (Inbegriff des Höfischen) kanalisiert - in dem er stets gewinnt und alle durch seineheldischenKräfte beeindruckt. Er spielt quasi die Rolle eines höfischen Ritters, ohne darin sonderlich gut zu sein, da er keine mâze hält. Seine Forderung nach Kriemhild wird zum lôn eines Minnedienstes, den er nicht wirklich ablegt, denn er dient nicht der Ersehnten, sondern dem König, indem er dessen Schlachten schlägt – wiederum sehr heldenhaft – und das nicht aus einer Verpflichtung, sondern aus Freundschaft und Gelegenheit, Tatendrang und vielleicht sogar Langeweile. Er tritt also nicht in den Dienst eines Königs, wie jeder arthurische Ritter, wie Haug behauptet (286).
Er bewerkstelligt es nicht, sich Kriemhild zu nähern, denn seine üblichen, gewalttätigen Wege sind ihm verwehrt. Erst im Krieg gegen die Dänen und Sachsen hat er eine ihm naheliegende, weil kriegerische Möglichkeit, sich würdig zu erweisen. Hiernach ist es ihm möglich Forderungen zu stellen und endlich Kriemhilds Hand zu erwerben. Bitten, oder auch nur fragen, scheint diesem Helden fern, auch an politische Heirat denkt anscheinend niemand am Hofe bis ihnen Siegfried im Krieg unabkömmlich wird. Damit wird der Minnedienst zum Nebenprodukt. Das Exoskelet des ersten Wormsaufenthaltes mag dem konventioneller Minneweg entsprechen (comp. Müller 99-104), aber diese These wird bei tieferem blick in die Materie nebensächlich. Die Rolle der Minne ist im Nibelungenlied zwar Motivation für Siegfried an den Burgundenhof zu kommen; das Mittel, ihn dort zu halten und zu allem zu überreden; das Ziel, dass ihn dazu veranlasst Gunther nach Island zu begleiten, aber Siegfried als einen Diener der Minne zu sehen, erscheint aufgrund seines unminniglichen Verhaltens abwegig.
Seine Unsicherheit, ob seine Liebe erwidert wird, ist zwar Motiv der hohen Minne, aber auch außerhalb der Minnethematik eine berechtigte Frage, da er unfähig ist sich effektiv in der höfischen Welt zu bewegen und sich eine Bestätigung zu holen.
Bei der Bezwingung Brünhilds befindet sich Siegfried auf familiärem Boden. Er ist mit dem Herrschaftsprinzip des Stärksten vertraut und weiß daher auch genau was zu tun ist, um Brünhild zu besiegen, weswegen er das Unterfangen anführt. Siegfried weiß, dass er der einzige ist, der Brünhild schlagen kann und er weiß auch, dass er das niemanden merken lassen darf, weil Brünhild sonst niemals Gunther ehelichen würde. Die Standeslüge wird „sinnvoll nur im Rahmen einer Ideologie, die auf der Identität von persönlicher (kriegerischer) Tüchtigkeit und gesellschaftlicher Stellung besteht.“ (Müller 112)
Newmanns Schluss die Standeslüge „represents the symbolic absorption of Siegfried into the courtly society“ (71) ist schon aufgrund der Tatsache, dass es eine Lüge ist undplausibel und gegenstandslos. Daraus ergibt sich für die Vermischung der Welten folgendes: Wäre Gunther an seinem höfischen Platz geblieben und hätte nicht etwas gewollt, dass er eigentlich nicht haben kann, hätte er zum einen die höfische Ordo nicht verletzt und zum Zweiten hätte Siegfried die Standeslüge, mit ihren fatalen Folgen niemals begangen. Natürlich ergibt es keinen Sinn das „Hätte-Wäre-Sollte-Spiel“ zu betreiben, da es sonst keine Geschichte gäbe. Klar ist, dass Gunther ohne Siegfried und dessen Wissen in Island nicht überlebt hätte.
Eine der bizarrsten Szenen im Nibelungenlied ist Siegfrieds Reise ins Nibelungenreich. Anstelle eines Festes, wie im Höfischen üblich, gibt es eine Schlägerei. Siegfried bezwingt den Riesen, der sein Königreich bewacht und darauf Alberich, der nach dem Rechten schauen will, bevor sich Siegfried auch nur zu erkennen gibt.
Diese Szene wird in der Forschung weitestgehend missachtet, ist aber für Siegfrieds Persönlichkeit von immenser Relevanz. Schulze versteht die Reise in die anderweltliche Sphäre als funktional in den Handlungsablauf eingefügt, womit das Niebelungenland seinen vorzeitlichen Charakter verliert. Siegfried erweise sich noch einmal als Herrscher. (“Heldenleben?“ 679) Die Frage stellt sich, warum sollte er? Er ist rechtmäßiger König. Laut Pérennec handelt es sich um den Versuch der Rückgewinnung seiner angeschlagenen Identität (203 f.). Die vorangestellten These wird durch die Analyse des Textes jedoch schnell als nicht tragbar erkannt: Warum sollte Siegfrieds Identität angeschlagen sein? Die Standeslüge macht Siegfried sichtlich nichts aus, er hat gerade Brünhild besiegt; auch wenn er dafür keine Lorbeeren bekommt, weiß er doch sehr genau, wer er ist. Wenn Siegfried eines auszeichnet, so ist das sein übersteigertes Selbstbewusstsein. Und wem gegenüber sollte er seine Überlegenheit zur Schau stellen müssen?, es ist niemand anwesend der ihn aufgrund des vergangenen Jahres am Hofe, oder seines Vasallenspiels wegen in Frage stellen würde.
Aus der Situation heraus, muss er weder den Riesen noch den Zwerg bezwingen. Wenn es sich nun nicht um eine bloße unmotivierte Mutwilligkeit handelt, ergibt sich nur Sinn, wenn man seine heldische Vergangenheit hinzuzieht. Sein Auftreten ist ähnlich dem am Burgundenhof, Kollisionskurs. Nach allem was bisher gesagt wurde, liegt es nahe, dass es einfach typisches Heldenverhalten ist, seine Dominanz unter Beweis zu stellen. Die wird ihm von Alberich auch sofort zugestanden. Während er am Hof Gunthers ewig nicht an sein Ziel kommt, weil dort nichts damit geklärt ist, jemanden niederzuringen, ist er in seinem Reich ein absolut souveräner Herrscher.
Siegfrieds Geringschätzung für Frauen ist nur einer von vielen Gründen, warum der Held sterben muss, aber charakteristisch. Vom Dienst, den Arthur’s Ritter jeder Frau auf Bitte zu folgen haben, ist im Nibelungenlied keine Spur. Erst bezwingt er Brünhild aus dem „Männlichkeitswahn“ (Classen 686) sich nicht von einer Frau besiegen lassen zu dürfen und damit eventuell eine Emanzipationswelle loszulassen. Dann zeigt er seine Geringschätzung für den Frauenstreit (wobei dies als ein Herabspielen des Streites um des Geheimnis willen interpretiert werden kann), worauf er Kriemhild bestraft (verprügelt) und Gunther vorschlägt das auch mit seiner Frau zu tun. Vom Heldenstoff ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel übrig, Ring und Gürtel werden zum Objekt einer Frauenzankerei; Brünhild ist vollständig in die höfische Gesellschaft eingegliedert. Bis Brünhild meint sie einfordern zu müssen, ist Siegfrieds triuwe unangefochten. Der Mord basiert auf einkalkulierte Dienstbereitschaft (comp. Müller 118); die heroischen Muster werden hintergangen und funktionieren nicht mehr. Zu guter Letzt hört er nicht auf Kriemhild, als sie ihn darum bittet, nicht auf die Jagd zu gehen. Seine „heldische Kraft- und Siegesgewissheit bleibt von äußeren Konstellationen und Einwänden unbeeinträchtigt.“ (“Heldenleben?“ 680) Der Krieg, den er nur zu bereitwillig gefochten hätte, wurde abgeblasen. Siegfried ist langweilig:
(…) mit holden mâgen dîn soltu kurzewîlen. ine mac hie heime niht gesîn.“ (916, 3f.)
Die Jagd ist die letzte Bewährung des starken Helden. Er tötet Tiere mit bloßer Hand, Pfeilen und Schwert; er erweist sich auch in der elementaren, außermenschlichen Welt als der Stärkste und wird schließlich wie ein Jagdtier getötet. (comp. “Heldenleben?“ 679) „Das Heldentum, zumindest das von Siegfried vertretene, gelangt hier [auf der Jagd] an sein Ende, weil es lächerlich geworden ist [wegen der Angeberei mit dem Bären] und nicht mehr überzeugt.“ (Classen 688)
Der Tod in der Blumenwiese ist nach landläufiger Vorstellung kein Heldentod (comp. “Heldenleben?“ 669). Classens angeführte Definition des Heldentodes – das Erliegen an schweren Wunden nach gewonnenem Kampf (673) – ist Siegfried wegen seiner Hornhaut jedoch ohnehin versagt. Siegfrieds hätte sein Schicksal auch nicht abwenden können, ohne seinem Heldenverhalten untreu zu werden; er wird hintergangen und nach Schulze hätte er nichts ahnen müssen. Und da er nicht im Kräftemessen stirbt werden seine Heldenqualitäten nicht grundsätzlich in Frage gestellt (comp. “Heldenleben?“ 687). Siegfried fällt einem für ihn undurchschaulichen Mordplan zum Opfer. Dennoch gibt es zu viele Mordmotive die zu wenig miteinander zu tun haben. (comp. Haymes 380)
Ignoriert wird oft Siegfried letztes heldenhaftes Aufbäumen:
Dô der sêre wunde des swertes niht envant, dône het et er niht mêre want des schildes rant.
er zucten von dembrunnen, dô lief er Hagen an.
dône kunde im niht entrinnen des kunic Guntheres man.
Swi wunt er was zem tôde, sô krefteclich er sluoc, das ûz dem schilde draete genuoc vil desedelen gesteines, der schilt vil gar zerbrast.
sich hete gerne errochen der vil hêrliche gast.
Dô was gestrûchet Hagene vor sîner hant ze tal.
von des slages krefte der wert vil lût erhal.
het er daz swert enhande, sô waerez Hagenen tôt, sô sêre zurnt der wunde. Des gie im waerlichen nôt. (981-983)
So unheldenhaft stirbt er also nicht. Aber es ist kaum abstreitbar, dass sein blindes Vertrauen in seinevriundeund seine Unverwundbarkeit ihn blind machen und er sehr bereitwillig in die Falle tappt.
Ein Heldenleben, das auf Konflikt aus ist, und ein Hof, der versucht jeden Konflikt im Keim zu ersticken können nicht langfristig miteinander existieren. Gephart nennt Siegfried einen Narziß, dessen Unverletzlichkeit seine Verletzlichkeit viel extremer erscheinen lässt (72 f.). Haymes bezeichnet ihn als perfekten Königssohn, der auf Aventüre um die Liebe geht, in den Minnedienst tritt und seinen lôn erhält (381). Schulze hält ihn für einen synthetischen Helden; eine Zusammengesetzte Figur aus den literarischen Modellen und zeitgenössischen Lebensformen ohne die übliche arthurische Charakterentwicklung (z.B. bei Iwein und Erec). Am ehesten zutreffend ist meiner Meinung nach Haugs Sicht; er unterscheidet zwischen Person und Rolle (286). Siegfried ist Held und spielt Vasallen. Ich würde noch weitergehen und behaupten er spielt sogar den Ritter. Somit ist alles Verhalten, was als ritterlich bezeichnet werden kann, Produkt eines mehr oder weniger bewussten Rollenspiels. „Je mehr er mit seiner übermenschlichen Kraft prahlt und seine körperliche Überlegenheit bei jeder Gelegenheit demonstriert, desto mehr zeigt sich, wie unfähig er ist, sich im Höfischen Kontext zu bewegen.“ (Classen 686) Mit anderen Worten: Er ist zu sehr Held um sich in der Ritterwelt zu bewegen, genauso wie alle Sagenweltbestandteile, die Kontakt mit der höfischen Welt kommen entweder sich selbst verlieren (Brünhild) oder ins Negative umschlagen. Die Insignien, die Siegfried aus der Sagenwelt mitbringt und die Bestandteil seiner Figur sind (comp. Gephart 68) (Schwert, Tarnkappe, Schatz und seine Hornhaut), entwickeln alle eine destruktive Energie. Man könnte hier von einer Inkompatibilität sprechen; sie haben über seinen Tod hinaus noch Konfliktpotential. Der Hort bedeutet nicht nur Reichtum und Macht, sondern auch Neid, Gier und ist Kriegsgeld. Die Tarnkappe macht Siegfried nicht nur unsichtbar und stark, sie wird auch als Hilfsmittel zur Standeslüge missbraucht und erschüttert den Ordo der Welt. Balmung ist nicht nur ein extraordinäres Schwert, es steht auch für ewige Blutrache, Hagen, Siegfrieds Mörder, wird von Kriemhild getötet, nachdem er sie erneut mit der Zurschaustellung Balmungs provoziert, was zu Kriemhilds Enthauptung führt. Siegfrieds Hornhaut schließlich macht ihn übermütig und unüberlegt, seine Unverwundbarkeit kehrt sich ins Gegenteil, als er die höfische Kriemhild einweiht und sie somit zu seinem Lindenblatt macht.
Somit ist die Frage nachrîteroderreckemitreckezu beantworten. Ob Siegfried ein besonders guterreckeist, steht auf einem anderen Blatt.
Schulze, Ursula (Hg.).Das Nibelungenlied.Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B herausgegeben von Ursula Schulze,Stuttgart: Reclam, 2010
Campbell, Ian R., ‘Who are the ritter and helde? Das Nibelungenlied 61,4; 865,2; 869,4’, inAmsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik46 (1996), p. 131-141.
Classen, Albrecht, ‘Das heroische Element im ‘Nibelungenlied’ – Ideal oder Fluch?’, in Christa Tuczay et al (eds),Ir sult sprechen willekomen: Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag(Bern, Berlin: Peter Lang, 1998), 673-692.
Gephart, Irmgart, ‘Mythos und Antimythos in der Figur Siegfrieds’, in: Volker Gallé (ed.)Schätze der Erinnerung – Geschichte, Mythos und Literatur in der Überlieferung des Nibelungenliedes(Worms: Worms-Verlag, 2009), p. 61-78.
Haug, Walter, ‘Montage und Individualität im Nibelungenlied’, in: Fritz Peter Knapp (ed.), Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985 (Heidelberg: Winter, 1987), p. 277-293.
Haymes, Edward R., ‘Chevalrerie und alte maeren. Zum Gattungshorizont des ‘Nibelungenliedes’, inGermanisch-Romanische Monatsschrift34/4 (1984), p. 369-384.
Müller, Jan-Dirk, ‘Sivrit: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes’, inAmsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik7 (1974), p.85-124.
Newman, Gail, ‘The two Brunhilds?’, inAmsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik16 (1981), p. 69-78.
Pérennec, René, ‘Epische Kontinuität, Psychologie und Säkularisierung christlicher Denkschemata im ‘Nibelungenlied’. Zur Interpretierbarkeit des ‘Nibelungenliedes’’, in Fritz-Peter Knapp (ed.),Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985(Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1987), p. 202-220.
Nibelungenlied –Schulze, Ursula,Das Nibelungenlied, Stuttgart: Reclam, 2003.
„Heldenleben?“ – Schulze, Ursula, ‘Siegfried – ein Heldenleben? Zur Figurenkonstitution im Nibelungenlied’, in Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer (eds),Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag(Tübingen: Niemeyer, 2002) p. 669-689.
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- Quote paper
- Anna Schenck (Author), 2012, Das Niebelungenlied. Ist Siegried Ritter oder Recke?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/340898
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