Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen im Umgang mit irregulärer Einwanderung in Deutschland.
Menschen, die in Deutschland ohne Papiere in der Illegalität leben, sind den meisten Bürgern in der Bundesrepublik unbekannt. Kontakte und Berührungspunkte zu dieser Gruppe von Migranten, die in einer Art Schattenwelt direkt neben uns leben müssen, gibt es kaum. Viele Punkte, wie zum Beispiel Umfang und nationale Zusammensetzung dieser in einer quasi verborgenen Welt lebenden Gruppe, sind aber bis heute unklar.
Kaum erforscht sind vor allem die Lage und die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen ohne Papiere. Sicher ist jedoch: Ein irregulärer Aufenthalt in Deutschland steht unter Strafe. Gesetzlich geregelte Hilfeleistungen speziell für irreguläre Migranten gibt es nicht. Hilfe und Beratung erhalten illegalisierte Einwanderer von Familien und Freunden sowie von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Menschen, welche irreguläre Einwanderer sozial unterstützen (möchten), wie zum Beispiel Sozialarbeiter, sind in vielen Punkten verunsichert, wie sie konkrete Hilfe umsetzen können, denn in Deutschland begeben sich solche Helfer auf rechtlich unsicheres Terrain, die sich mit ihren Hilfsangeboten für Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus unter Umständen sogar strafbar machen können.
Seit den letzten Jahren setzt man sich sozialpädagogisch - sowohl auf praktischer Ebene, wie zum Beispiel in den Beratungsstellen der Sozialen Arbeit, als auch auf theoretischer Ebene in den Hochschulen - zunehmend mit dem Thema Irreguläre Migration auseinander, was darauf hinweist, dass die Soziale Arbeit unmittelbar durch irreguläre Einwanderung berührt ist.
Die wesentlichen Fragen, mit denen sich diese Arbeit befassen möchte, lauten daher: Welche vorhandenen und denkbaren sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen gibt es im Umgang mit irregulären Einwanderern in Deutschland? Wie lassen sich die Möglichkeiten in der Sozialen Arbeit mit Menschen ohne Papiere umsetzen und deren Grenzen überwinden? Welche konkrete Unterstützung kann ich als Sozialpädagoge in ihrer jeweiligen Lebenssituation geben?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Irreguläre Migration in Deutschland
2.1 Begriffserklärungen
2.1.1 Kategorien des illegalen Aufenthalts
2.2 Migrationsursachen und -motive - Der Weg in die Illegalität
2.2.1 Der (Flucht-)Weg in die Illegalität
2.3 „Fakten und Zahlen“
2.3.1 Umfang der irregulären Bevölkerungsgruppe
2.3.2 Nationale Zusammensetzung
2.3.3 Geschlechter- und Altersverteilung
2.3.4 Räumliche Verteilung
2.4 Politische Maßnahmen gegen irreguläre Migration
2.4.1 in Deutschland
2.4.2 in der EU
3. Standards aus der Fachdebatte zum sozialpädagogischen Handeln
3.1 Lebensweltorientierung
3.1.1 Theoretischer Hintergrund des Konzepts Lebensweltorientierung
3.1.2 Aufgaben und Strukturen des Konzepts Lebensweltorientierung
3.1.3 Sozialpädagogisches Handeln / Strukturiertes Handeln
3.1.4 Bedeutung des Konzepts Lebensweltorientierung für die Soziale Arbeit mit ir- regulären Migranten
3.2 Lebensbewältigung
3.2.1 Theorie des Konzepts Lebensbewältigung
3.2.2 Bedeutung des Konzepts Lebensbewältigung für die Soziale Arbeit mit irre- gulären Migranten
4. Zur Lebenssituation von irregulären Einwanderern
4.1 Rechtliche Situation
4.2 Wohnsituation
4.3 Arbeit
4.3.1 Arbeitsbereiche
4.3.2 Die Vorzüge illegaler Beschäftigung - (nicht nur) für Arbeitgeber
4.3.3 Netzwerke und Zugang für den illegalen Arbeitsmarkt
4.3.4 Schwierigkeiten und Nachteile für illegal Beschäftigte ohne Aufenthaltsstatus
4.4 Gesundheitsversorgung
4.5 Die soziale Situation
4.6 Die Situation von Frauen
4.6.1 Prostitution und Frauenhandel
4.6.2 Dienstmädchen und Kinderbetreuung in Privathaushalten
4.6.3 Schwangerschaft und Geburt eines Kindes
4.7 Die Situation von Kindern und Jugendlichen
4.7.1 Schulbesuch von Kindern irregulärer Einwanderer - Das Recht auf Bildung?!
4.7.2 Der Kindergartenbesuch
4.7.3 Ausbildung und Schulbesuch von Jugendlichen ohne Papiere
4.7.4 Weitere spezielle Probleme von Kindern und Jugendlichen ohne Papiere
4.8 Lebensgefühl und Perspektiven der irregulären Einwanderer
5. Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns im Umgang mit irregulären Einwanderern
5.1 Vorhandene Möglichkeiten und Angebote
5.1.1 Soziale Arbeit mit irregulären Einwanderern
5.1.2 (Selbst-)Organisationen, Verbände und Initiativen für irreguläre Einwanderer
5.1.3 Grenzen und Schwierigkeiten der Sozialen Arbeit mit irregulären Einwande-rern
5.1.4 Der Blick über den Tellerrand - Hilfsmaßnahmen, Programme und Initiativen in anderen Ländern
5.2 Hilfe, Perspektiven und Forderungen in sozialpädagogischer und politischer Hin-sicht
5.2.1 Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogisches Handeln unter Berücksich-tigung des Konzepts Lebensweltorientierung
5.2.2 Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogisches Handeln unter Berücksich-tigung des Konzepts Lebensbewältigung
5.2.3 Weitere sozialpädagogische und politische Optionen und Forderungen im Umgang mit irregulärer Migration
5.2.4 Grenzen sozialpädagogischen und politischen Handelns und deren Bedeu-tung für den Umgang mit irregulärer Migration
6. Fazit
Literaturliste
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den sozialpädagogischen Handlungsmöglich- keiten und -grenzen im Umgang mit irregulärer Einwanderung in Deutschland.
Menschen, die in Deutschland ohne Papiere in der Illegalität leben, sind den meisten Bürgern in der Bundesrepublik unbekannt. Kontakte und Berührungspunkte zu dieser Gruppe von Migranten, die in einer Art Schattenwelt direkt neben uns leben müssen, gibt es kaum. Wie diese Menschen leben, von denen man im Alltag so gut wie nichts mitbekommt, die Umstände, wie sie aufenthaltsrechtlich gesehen „illegal“ wurden, wel- che Probleme und Ängste sie bei der Arbeit, der Gesundheitsversorgung, der Woh- nungssuche oder dem Bildungszugang erleben, wurde in einigen Studien, Gutachten und Expertisen untersucht und dargestellt. Viele Punkte, wie z.B. Umfang und nationa- le Zusammensetzung dieser in einer quasi verborgenen Welt lebenden Gruppe, sind aber bis heute unklar. Kaum erforscht sind vor allem die Lage und die Lebensbedin- gungen von Kindern und Jugendlichen ohne Papiere. Sicher ist jedoch: Ein irregulärer Aufenthalt in Deutschland steht unter Strafe. Gesetzlich geregelte Hilfeleistungen spe- ziell für irreguläre Migranten1 gibt es nicht. Hilfe und Beratung erhalten illegalisierte Einwanderer von Familien und Freunden sowie von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Menschen, welche irreguläre Einwanderer sozial unterstützen (möchten), wie z.B. Sozialarbeiter, sind in vielen Punkten verun- sichert, wie sie konkrete Hilfe umsetzen können, denn in Deutschland begeben sich solche Helfer auf rechtlich unsicheres Terrain, die sich mit ihren Hilfsangeboten für Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus unter Umständen sogar strafbar machen können. Aufgrund der fehlenden staatlichen Unterstützung mangelt es zudem an not- wendigen Mitteln und Geldern, um irregulären Migranten in ihrer Situation „unter die Arme zu greifen“ und ihren persönlichen Handlungsraum erweitern zu können.
Seit den letzten Jahren setzt man sich sozialpädagogisch - sowohl auf praktischer Ebene, wie z.B. in den Beratungsstellen der Sozialen Arbeit, als auch auf theoretischer Ebene in den Hochschulen - zunehmend mit dem Thema Irreguläre Migration ausein- ander, was darauf hinweist, dass die Soziale Arbeit unmittelbar durch irreguläre Ein- wanderung berührt ist. Jedoch gibt es bisher kaum Fachliteratur zur Sozialen Arbeit mit irregulären Migranten.
Die wesentlichen Fragen, mit denen sich diese Arbeit befassen möchte, lauten daher: Welche vorhandenen und denkbaren sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen gibt es im Umgang mit irregulären Einwanderern in Deutschland? Wie lassen sich die Möglichkeiten in der Sozialen Arbeit mit Menschen ohne Papiere um-setzen und deren Grenzen überwinden? Welche konkrete Unterstützung kann ich als Sozialpädagoge in ihrer jeweiligen Lebenssituation geben?
In dieser Arbeit sollen dabei vor allem zwei Konzepte aus der sozialpädagogischen Fachdebatte näher betrachtet werden, welche für die Soziale Arbeit mit illegalisierten Migranten mögliche Handlungsansätze bieten können: Die beiden Konzepte Lebens- weltorientierung und Lebensbewältigung finden heute in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit Anwendung, allerdings wurden sie noch nicht für die Arbeit speziell mit Men- schen ohne Papiere untersucht und auf ihre Nützlichkeit und Bedeutsamkeit in diesem Bereich überprüft.
Zunächst sollen in Kapitel 2 wichtige und allgemeine Informationen über irreguläre Mig- ration gegeben werden, d.h. Begriffserklärungen, Ursachen und Motive für (irreguläre) Migration, Fakten und Zahlen zu der irregulären Bevölkerungsgruppe in Deutschland sowie politische Maßnahmen gegen illegalisierte Einwanderung auf deutscher und eu- ropäischer Ebene. Diese sollen als Grundlage für ein besseres Verständnis der wei- teren Kapitel dienen.
Die Vorstellung der zwei zentralen Begriffe bzw. Konzepte „Lebensweltorientierung“ und „Lebensbewältigung“ aus der sozialpädagogischen Fachdebatte, welche für die Soziale Arbeit mit illegalisierten Migranten bedeutend und hilfreich sein können, erfolgt im dritten Kapitel.
Kapitel 4 thematisiert die Lebenssituation von irregulären Einwanderern. Um sozialpädagogisch überhaupt tätig werden bzw. Migranten ohne Papiere sozial und rechtlich unter-stützen zu können, ist ein umfassendes Wissen über die Lebenslage von illegalisierten Einwanderern notwendig. Bevor es also zum eigentlichen Schwerpunkt dieser Arbeit kommt, soll die Lebenssituation von irregulären Migranten ausführlich dargestellt und die Erfahrungen und Schwierigkeiten in den verschiedenen Bereichen ihres Alltags (z.B. Wohnsituation, Arbeit, Gesundheitsversorgung) bzw. spezifischer Personengruppen (Frauen, Kinder und Jugendliche) aufgezeigt werden.
Danach werden im fünften Kapitel die vorhandenen und die denkbaren sozialpädago- gischen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen im Umgang mit irregulären Einwande- rern vor allem in Deutschland, aber auch in anderen Ländern präsentiert. Hierbei sollen die in Kapitel 3 vorgestellten sozialpädagogischen Konzepte der Lebensweltorientie- rung und der Lebensbewältigung besondere Berücksichtigung finden und außerdem untersucht werden, welche weiteren Hilfeleistungen, Perspektiven und Forderungen es von Organisationen, Einrichtungen und Einzelpersonen für illegalisierte Migranten in sozialer, politischer und rechtlicher Hinsicht gibt. Die Arbeit schließt mit einem persönli- chen Fazit über das Dargestellte und der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fra- gen.
2. Irreguläre Migration in Deutschland
In diesem Kapitel werden grundlegende Informationen zur irregulären Einwanderung in Deutschland gegeben. Zunächst erfolgen einige Erläuterungen und Definitionen zu den Begriffen irreguläre/illegale Migration und irreguläre Einwanderer. Danach wird auf die Ursachen und Motive eingegangen, die Menschen dazu veranlasst, sei es regulär oder irregulär, nach Europa bzw. nach Deutschland zu migrieren. Dabei soll der (Flucht- )Weg in die Illegalität an sich beschrieben und die vorhandenen Netzwerke möglicher Fluchthelfer dargestellt werden. Das anschließende Unterkapitel „Fakten und Zahlen“ handelt von den bisher vorliegenden Daten aus verschiedenen Studien zu der Größe, nationalen Zusammensetzung, Alters- und Geschlechter- sowie räumlichen Verteilung der irregulären Bevölkerung in Deutschland. Hierzu sei angemerkt, dass diese Anga- ben keinen Anspruch auf Vollständigkeit besitzen, da es bis heute keine seriösen Ein- schätzungen zu den irregulären Migranten in der Bundesrepublik gibt. Dies liegt zum einen an der versteckten und geheimen Lebenswelt der Menschen ohne Aufenthalts- rechte, zum anderen am Fehlen von Studien, die nicht nur die Situation einzelner Städ- te und Regionen oder nur bestimmte Aspekte (z.B. die soziale Situation), sondern die eine Gesamtdarstellung der irregulären Migration in Deutschland untersuchen. Mit der Darstellung der Migrationspolitik im Umgang mit und den Maßnahmen zur Bekämpfung von irregulärer Einwanderung in Deutschland sowie in der Europäischen Union endet das zweite Kapitel.
2.1 Begriffserklärungen
„ Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus sind Migranten, die im Spannungs feld von Migration und nationalstaatlichen Ordnungsprinzipien nicht unter die festgelegten Kategorien von gewünschter Zuwanderung des jeweiligen Landes fallen. “ (Hunold 2003: 65)
Für irreguläre Einwanderer, d.h. Menschen, die in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben, gibt es viele Begriffe: Menschen ohne Papiere - in Anlehnung an die französische Bezeichnung der sans-papiers -, Statuslose, Migranten ohne Aufenthaltsstatus oder sogar „ Illegale “ - in Anführungszeichen, da man sich der Tatsache bewusst ist (bzw. sein sollte), dass ein Mensch nicht illegal sein kann, sondern nur sein Aufenthaltsstatus (vgl. Anderson 2003: 4, 6).
Weil der Begriff „Illegaler“ trotz Anführungszeichen doch sehr unglücklich bzw. unpas- send gewählt und falsch erscheint, und deren Verwendung (verständlicherweise) im- mer wieder auf Proteste stößt, wie es sich beispielsweise in dem Namen der Kampag- ne Kein Mensch ist illegal 2 zeigt, soll der Ausdruck in dieser Arbeit nicht benutzt wer- den. Stattdessen soll in diesem Zusammenhang beispielsweise von illegalisierten Mi-granten, Menschen ohne Papiere, Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus oder von irregulären Einwanderern gesprochen werden.
Dass illegale Migration an sich kein kriminelles Vergehen ist, versucht Bade deutlich zu machen.
„ Die Rede von der >illegalen Migration< erscheint manchen als terminologische Stabilisierung einer Fehleinschätzung: zum einen weil die meisten derer, die ille- gal, d.h. ohne Aufenthaltstitel, in Europa leben, nicht >illegale Migranten< in dem Sinne sind, dass sie illegal die europäischen Außengrenzen oder nationale Grenzenüberschritten hätten; zum anderen, weil Illegalität in diesem Sinne kein kriminelles, sondern ein aufenthaltsrechtliches bzw. arbeitsrechtliches Delikt ist. “ (Bade 2001: 65)
Illegale Migration ist, wie die Migration allgemein, eine globale Erscheinung der Neuzeit und steht im Zusammenhang mit dem Gedanken des Nationalstaates seit Ende des 18. Jahrhunderts. Durch die Bildung von Nationalstaaten wird die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, einer Nation und Kultur konstruiert, aber gleichzeitig auch das Fremde und die Ausgrenzung gegenüber anderen Völkern hervorgebracht (vgl. Düvell 2005: 43ff.; vgl. Hunold 2003: 60, 62).
Die Staatsbürgerschaft bildet das entscheidende Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat (Schmitt 2007: 15) und damit gleichzeitig „eine scharfe, rechtlich festge- legte Unterscheidung von Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern“ (Hunold 2003: 62). Ein Bürger eines Landes, der in einen anderen Staat auswandert, kann sich nur legal in diesem aufhalten, wenn er auch eine „Genehmigung“ dafür erhalten hat. Zur Illegali- sierung von Menschen kommt es dann, wenn die Migranten diese Zulassung nicht (mehr) haben oder sie sich auf die Bürgerrechte ihres Nationalstaates und die allge- meinen Menschenrechte stützen, die aber in dem betreffenden Land wegen nationaler Motive und Ursachen eingeschränkt wurden. Für Hannah Arendt liegt das Problem der Umsetzung der allgemeinen Menschenrechte, die sich einzig und allein an den Men- schen orientieren, nämlich daran, dass der Nationalstaat zuallererst seine Aufgabe in der Durchsetzung der Rechte seiner Bürger sieht, erst danach kann er für die allge- meinen Menschenrechte, die auch seine Nicht-Bürger einschließen, garantieren (Hu- nold 2003: 63f.). Dagmar Hunold sieht darin für die irregulären Migranten die Konse- quenz, „dass sie sich auf keine Rechte mehr berufen können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind, die damit (…) auch Gefahr laufen, sich strafbar zu machen“ (Hunold 2003: 64).
Die Idee der irregulären Migration wurde in Deutschland zum ersten Mal zur Zeit des Anwerbestopps in den 1970er Jahren angewendet. Während sich innerhalb der Euro- päischen Union eine zunehmende Lockerung der Binnengrenzen in den letzten Jahr- zehnten zeigte, verstärkte sich gleichzeitig die Abschottung von Migrationen aus Dritt- staaten außerhalb Europas (z.B. das Schengen-Abkommen). Einschränkungen und Verbote im Bereich des Asyl- und Einwanderungsrechts seit den 1990er Jahre waren die Folgen. Dennoch oder gerade deshalb vermag die Europäische Union nicht, eben- so wenig wie die internationale Staatengemeinschaft, das Phänomen der illegalen Mig- ration in den Griff zu bekommen. (vgl. Bade 2001: S. 66; vgl. Düvell 2005: S. 45f.; vgl. Schmitt 2007: 15).
Düvell kommt zu dem Schluss, dass die illegale bzw. irreguläre Migration unter ande- rem
„ ein Beleg für die Unzulänglichkeiten der Struktur und der Institutionen unserer politischen Gemeinschaften und ein Charakteristikum der damit einher gehenden sozialen Ungerechtigkeiten unseres Zeitalters [ist]. “ (Düvell 2005: 52)
2.1.1 Kategorien des illegalen Aufenthalts
Norbert Cyrus weist darauf hin, dass der Begriff des irregulären Aufenthalts weder in Deutschland noch in der EU eindeutig bestimmt ist, was schnell zu Missverständnissen und -deutungen führen kann:
„ Das Bundesinnenministerium unterscheidet einerseits zwischen Personen, die sich unerlaubt in Deutschland aufhalten, jedoch eine Duldung oder Grenzüber trittsbescheinigung erhalten haben und den Behörden bekannt sind, und an dererseits Personen, die sich unter Verstoßgegen das Ausländergesetz uner laubt in Deutschland aufhalten und gleichzeitig untergetaucht sind, den Behörden also regelm äß ig nicht bekannt sind. “ (Cyrus 2004a: 10f.)
Für Menschen, die in der Illegalität leben, machen Worbs et al. folgende (ähnliche) Einteilung:
„ (1) Ausländer, denen eine Duldung erteilt wurde. Bei ihnen ist eine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich, die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels liegen jedoch (noch) nicht vor. Der Betreffen de bleibt ausreisepflichtig.
(2) Ausländer, die im Ausländerzentralregister als ausreispflichtig registriert sind und keine Duldung besitzen.
(3) Ausländer, die keinen Aufenthaltstitel und keine Duldung besitzen und weder im Ausländerzentralregister noch sonstwie registriert sind. “ (Worbs et al. 2005: 3)
Vor diesem Hintergrund sind in dieser Arbeit mit irregulären Migranten nur die letztge- nannte Gruppe gemeint, also Menschen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung.
Die Gründe, weshalb Menschen in diese Situation gelangen, sind sehr verschieden. Neben Migranten, die mit einem Touristenvisum legal einreisen und trotz dessen Ab- lauf nach drei Monaten sich weiter im Einreisestaat aufhalten, den so genannten „ Overstayers “, gibt es auch viele, die ihren regulären Aufenthaltsstatus nach langer Zeit verlieren, z.B. durch neue härtere Bestimmungen im Aufenthaltsrecht. Weiterhin gibt es Asylbewerber, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, die aber dennoch im Land blei- ben; oder Studenten, die nach oder schon während ihres Studiums keine Verlängerung für ihren Aufenthalt mehr bekommen. Eine ähnliche Situation kann man bei Aupair- Mädchen finden. Eine besonders dramatische Lage stellt sich für die Gruppe von Per- sonen, besonders die der Frauen dar, mit denen Menschenhandel betrieben wird und die zur Prostitution gezwungen werden. Außerdem gibt es noch die Arbeitsmigranten, die aus wirtschaftlichen, aber auch persönlichen und sozialen Motiven illegal in Deutschland leben, sowie Personen, die im Rahmen des Familiennachzugs auf erheb- liche Schwierigkeiten aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Situation in einem Staat tref- fen. In Deutschland können beispielsweise ältere Familienangehörige von Migranten nur im Fall „außergewöhnlicher Härte“ zu ihren Familien ziehen. Auch bei Kindern, dieüber sechzehn Jahre alt sind, besteht die Möglichkeit, dass sie schnell in die „Illegali- tät“ gelangen, wenn sie nicht zuvor von ihren Eltern angemeldet wurden. Es können weitere Gruppen genannt werden, wie beispielsweise EU-Bürger, die keine Meldebe- scheinigung besitzen oder Migranten, deren Ehe mit einem deutschen Staatsbürger noch vor den zwei Jahren, die die Ehe bestehen sollte, auseinander bricht, sowie Flüchtlinge, die aus Furcht vor Ablehnung gar keinen Asylantrag mehr stellen (vgl. An- derson 2003: 25ff.; vgl. Hunold 2003: 62f.; vgl. Zabel 2001: 92f.).
2.2 Migrationsursachen und -motive und der Weg in die Illegalität
Die Ursachen und Motive, warum ein Mensch legal oder illegal migriert, können so unterschiedlich wie die Menschen selbst sein, wie es sich aus den oben genannten Beispielen bereits gezeigt hat. Trotzdem sollen noch einmal die Hauptgründe kurz dar- gestellt werden.
Bade nennt die vier Migrationsgründe, die aus europäischer Sicht legitim sind (Bade 2001: 66):
a) Der Nachzug von Migranten zu ihren Familien,
b) die traditionell privilegierten Migrationsbeziehungen, wie beispielsweise Minder- heitenbewegungen und die postkoloniale Migration,
c) Arbeitsmigration,
d) die Migration von Flüchtlingen und Asylsuchenden.
Die Motive aus Perspektive der Migranten selbst wurden von Anderson 2003 in der Studie über papierlose Migranten in der Stadt München untersucht. Neben den eben erwähnten Gründen, wie Flucht und Verfolgung, sowie persönlichen Verbindungen, wie z.B. zu der Familie, beschreibt Anderson die materielle Bedürftigkeit durch eine wirt- schaftlich aussichtslose Situation im Heimatland, den Ehepartner aus einem nichteuro- päischen Land, Wunsch nach Abenteuer oder (Reise- und beruflicher) Erfahrung, be- sonders auf Seiten der jungen Menschen, oder den Wunsch nach beruflicher Weiter- qualifikation als persönliche Beweggründe der Migranten (vgl. Anderson 2003: 16ff.). Dass das Hauptproblem des illegalen Aufenthaltes, in den Menschen häufig quasi ge- drängt werden, vor allem an der sozialen, ökonomischen und auch menschenrecht- lichen Ungleichheit weltweit liegt, dürfte (schon) an dieser Stelle klar geworden sein.
Oft lassen es auch die strengen und harten Regelungen des Ausländer- und Asylge- setzes nicht zu, dass eine Person die Chance bekommt, ein „besseres“ Leben legal in Deutschland zu führen. Ihre Gründe für Migration bzw. Flucht werden von den Behör- den in den meisten Fällen nicht anerkannt (vgl. hierzu: Bischofskonferenz 2001: 21ff.; vgl. Anderson 2003: 16ff.). So kann sich beispielsweise seit dem „Asylkompromiss“ der damaligen deutschen Bundesregierung von 1993 keiner auf das Asylrecht nach Artikel 16 a GG berufen, wer auf dem Landwege über einen „sicheren Drittstaat“, d.h. aus einem Land, in dem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europä- ischen Menschenrechtskonvention garantiert werden, eingereist ist (vgl. Bischofkonfe- renz 2001: 22; vgl. Herbert 2003: 318). Darüberhinaus wurden durch den „Migrations- kompromiss“, wie Bade den Asylkompromiss auch nennt (vgl. Herbert 2003: 318), Flüchtlinge aus Staaten, in denen es Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnöte oder Umweltka- tastrophen gibt, aus dem Asylverfahren herausgenommen. Diese Gründe reichen also nicht mehr aus, um als Asylberechtigter in Deutschland anerkannt zu werden (vgl. Her- bert 2003: 318; vgl. Bischofskonferenz: 22).
2.2.1 Der (Flucht-)Weg in die Illegalität
Für viele irreguläre Migranten beginnen die Schwierigkeiten jedoch nicht erst, wenn sie in Deutschland oder einem anderen europäischen Land angekommen sind oder dort untertauchen müssen. Schon die Vorbereitung der Auswanderung bzw. Flucht im Heimatland und die Flucht bzw. Migration kosten die Migranten einige Anstrengungen, Ängste und manche sogar das Leben:
„ Wie viele Menschen bisher den Versuch der heimlichen Einreise nach Europa mit dem Leben bezahlt haben, kann niemand sagen, denn die kleinenüberfüllten Boote werden bei ihrer Abfahrt von keiner Hafenbehörde registriert, keine Passagierliste gibt Auskunftüber die Identität der Reisenden auf ihrer gefährlichen Ü berfahrt. “ (Bierdel 2008: 11)
Die Dunkelziffer der Menschen, die vor der von Migranten aus Drittstaaten stark abge- schotteten Festung Europa ertrinken, verdursten oder ersticken, sei sehr viel höher, so Bierdel, als die öffentlich bekannten und bestätigten Todesfälle (ebd.: 11). Aber nicht nur auf dem Meer, sondern auch auf dem Landweg sterben Migranten auf dem Weg nach Europa: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind zwischen 2003 und 2007 280 Menschen durch Minen ums Leben gekommen, die zur Abwehr von Flüchtlingen zwischen der Türkei und Griechenland gelegt wurden (vgl. Bierdel 2008: 11). Bierdel macht darauf aufmerksam, dass das massenhafte, anonyme Sterben vor unseren Türen ein Tabuthema ist, welches der Öffentlichkeit verheimlicht wird (ebd.: 13f.).
Oft genauso wenig bekannt ist den meisten europäischen Bürgern, wie die Menschen aus ihren Heimatländern, z.B. aus China und Pakistan, aus kurdischen Gebieten des Iraks, Irans, Syriens und der Türkei, aus Osteuropa, Tunesien und Marokko und aus dem subsaharischen Afrika (vgl. Schwelien 2004: 9f.) nach Europa gelangen.
Neben den irregulären Migranten, welche legal nach Deutschland einreisen und erst dort angekommen irgendwann untertauchen bzw. ihren legalen Aufenthaltsstatus verlieren, gibt es viele Menschen, die illegal nach Europa einreisen, alleine oder mithilfe sogenannter Schleuser oder Schlepper.
Bei den Schlepper- und Schleusergruppen muss zwischen ganz unterschiedlichen Ty- pen unterschieden werden: Zum einen gibt es Privatpersonen, die als Fluchthelfer tätig werden (vgl. Schneider 1999), dies können unter anderem Familienangehörige, Freun- de, Nachbarn oder Bekannte sein. Dann bieten sogenannte kommerzielle Agenturen, Organisationen oder Einzelpersonen ihre „Dienstleistungen“ an, welche für eine illegale Einreise nötig sind (vgl. Alt 2001: 9; vgl. Anderson 2003: 21). Sie „[betrachten] ihre Tä- tigkeit als ein Geschäft in einer Marktnische“ (Anderson 2003: 21). Außerdem gibt es noch kriminelle Netzwerke, wie Schleppergruppen, die Menschenhandel betreiben und beispielsweise Frauen und Mädchen aus osteuropäischen Ländern unter falschen Ver- sprechungen ins westliche Europa bringen und dort zur Prostitution zwingen (vgl. Alt 2001: 9; vgl. Anderson 2003: 21). Jörg Alt nennt noch zwei weitere Netzwerke, welche im irregulären Migrationsgeschehen eine Bedeutung haben können (Alt 2001: 8f.): Zu den politischen Netzwerken gehören in erster Linie Menschen, die den gleichen politi- schen Hintergrund besitzen und der Person bei der illegalen Einreise helfen. Die hu- manitären Netzwerke bringen die irregulären Einwanderer innerhalb der EU in die von den Migranten gewünschten Aufnahmeländer oder versuchen, ihnen den Zugang zu einem Asylverfahren zu verschaffen.
Helmut Dietrich, Mitglied der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration in Berlin, weist darauf hin, dass die Regierungen der Industriestaaten ein ganz anderes Ver- ständnis vom Migrationsgeschehen haben, nach dem die Migrationsbewegungen unter Kontrolle der „kriminellen Schleuserbanden“ stehen, und sie die Handelnden, die irre- gulären Einwanderer hingegen die machtlosen Opfer sind (Dietrich 2005: 61). Für Diet- rich handelt es sich jedoch bei den Schleppern und Fluchthelfern um „sekundäre Phä- nomene“, deren Geschäfte, seien sie nun kriminell oder fair, nur am Rande zustande kommen. Die primären Subjekte sind nach Dietrichs These die Migranten und Flücht- linge selbst, „auch wenn sie sich für einen begrenzten zeitlichen und räumlichen Hori- zont in die Hände anderer begeben“ (ebd.: 61). Auch Schneider macht darauf auf- merksam, dass durch die europäische Politik Fluchthilfe kriminalisiert und aus privaten Fluchthelfern Schwerverbrecher gemacht werden (vgl. Schneider 1999: 9). „Die aller- meisten Fluchtbewegungen bleiben, auch wenn sie letztlich auf weite soziale Netze und diverse Dienstleistungen angewiesen sind, familiäre oder gar individuelle Unter- nehmungen.“ (Dietrich 2005: 59)
2.3 „Fakten und Zahlen“
2.3.1 Umfang der irregulären Bevölkerungsgruppe
Anders als in den Ländern wie z.B. den Niederlanden, Großbritannien oder den USA begann man in Deutschland erst Mitte der 1990er Jahre, sich in der wissenschaftlichen Forschung mit der Lebenssituation irregulärer Migranten zu befassen (vgl. Cyrus 2004a: 13). Cyrus merkt jedoch an, dass die bisher vorgelegten Studien sich nur auf einzelne Städte oder in erster Linie auf die soziale Situation von Menschen ohne legale Aufenthaltsrechte beziehen (Cyrus 2004a: 14): „Eine Gesamtdarstellung der illegalen Einwanderung nach Deutschland steht noch aus […].“ (Ebd.)
Die Migranten, die in der Illegalität leben, statistisch zu erfassen, erweist sich als schwierig. Man kann nur von Schätzungen ausgehen, die aber auch weit auseinander gehen (vgl. Cyrus 2004a: 17f.; vgl. Worbs et al. 2005: 7; vgl. Schönwälder et al. 2004: 27f.).
„ Immer wieder werden Zahlen zwischen 100.000 und 1,5 Millionen Menschen genannt. [ … ] Offizielle Angaben gibt es nicht; so hält die Bundesregierung ver- lässliche Schätzungen für derzeit nicht möglich. “ (Schönwälder et al. 2004: 27)
Es können nur die Personen gezählt werden, die auch entdeckt wurden. Hinzu kommt aber eine „Dunkelziffer“ von Menschen, die nicht sofort aufgegriffen werden. Diese Zahl kann nur geschätzt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Anzahl der illegalisierten Migranten variiert, da es auch Saisonarbeiter und Pendler gibt, die sich zeitweise „illegal“ in Deutschland aufhalten (vgl. Worbs et al. 2005: 7). Daraus ergibt sich für Cyrus auch das eigentliche Problem, weshalb keine seriösen Schätzungen und Studien über den Umfang der irregulären Einwanderer vorliegen, denn aus keiner der Schätzungen geht eindeutig hervor, „wer eigentlich gemeint ist“ (Cyrus 2004a: 32):
„ Wegen der unterschiedlichen Muster illegaler Aufenthalte sind diese immer wieder genannten Vermutungen mit großen Unsicherheiten behaftet. Auf Grund des hohen Anteils der Pendelmigration an der illegalen Migration ist es nicht möglich, von den Zu- und Abgängen auf den Bestand zu schließen. “ (Ebd.)
Schönwälder, Sciortino und Vogel schlagen für einen verbesserten Überblick über Größe und Entwicklung dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland unter anderem vor, eine gründlichere Auswertung von Polizeistatistiken, die Lieferung von bestimmten Daten aus Arbeitsmarktkontrollen, zusätzliche Gewinnung von Informationen aus wis- senschaftlichen, in Deutschland und den Herkunftsländern durchgeführten Studien, sowie die Erfassung von Daten über illegalisierte Migranten im Ausländerzentralregis- ter und deren Auswertung durchzuführen (vgl. Schönwälder et al. 2004: 33).
Entwicklungstrends der illegalen Migration unterliegen auch nur Schätzungen. Laut Schönwälder, Sciortino und Vogel wuchs die Zahl der Menschen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung seit 1989 bis zum Ende der 1990er Jahre. Ab diesem Zeitraum bis heute blieb sie aber relativ konstant, wenn sie nicht sogar rückläufig ist (vgl. Schönwälder et al. 2004: 30, 33).
2.3.2 Nationale Zusammensetzung
Ähnlich wie für die Größenordnung gibt es für die nationale Zusammensetzung der irregulären Migranten keine sicheren Statistiken. Nach Cyrus' Angaben auf Grundlage eines breiten Konsens' in der Migrationsforschung kann ein „Zusammenhang zwischen legaler und illegaler Einwanderung“ bestehen (Cyrus 2004a: 17):
„ Die legal in Deutschland lebenden Einwanderer können für Verwandte, Bekann te oder Freunde zu Erstanlaufstellen oder 'Brückenkopf' für eine illegale Migration werden. “ (Ebd.: 17)
Trotzdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die nationale Zusammenset- zung der illegalisierten Migrantengruppe analog zu der legalen Einwanderungsbevölke- rung ist. Die irreguläre Einreise hängt stark von den unterschiedlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen des jeweiligen Herkunftslandes ab. So ist es einem EU- Bürger nach dem Freizügigkeitsgesetz erlaubt, in einen anderen europäischen Staat zu migrieren, seit dem 01.01.2005 braucht er dafür auch keinen Aufenthaltstitel mehr. Des Weiteren gibt es Drittstaaten, für deren Bürger kein Visum erforderlich ist, um nach Deutschland zu reisen, andere Länder wiederum sind visumspflichtig. Ihre Staatsange- hörigen brauchen für die Einreise und den Aufenthalt eine Genehmigung (vgl. Cyrus 2004a: 18).
Cyrus` Grundlagen für seine Untersuchung über die nationale Zusammensetzung bil- den sowohl die polizeiliche Kriminalstatistik3 als auch qualitative Studien, mittels denen er irreguläre Einwanderer in folgende drei Kategorien bzw. Gruppen unterteilt (vgl. Cy- rus 2004a: 19ff.):
a) Menschen aus visumsfreien ostmitteleuropäischen Staaten, vor allem aus Po- len, Tschechien und Litauen, bilden die erste Kategorie. Viele von ihnen pen- deln zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland. Aber auch andere vi- sumsfreie Staaten sind hier aufzuführen, wie die lateinamerikanischen Länder.
b) Migranten, die aus visumspflichtigen Staaten kommen und historische, wirt- schaftliche und soziale Migrationsbeziehungen zu der BRD und der ehemaligen DDR haben bzw. hatten, z.B. durch frühere Gastarbeiterabkommen. Bei dieser Gruppe geht es in erster Linie um (illegalen) Familiennachzug zu den bereits in Deutschland legal lebenden Angehörigen. Hier sind nach kriminalstatistischen Angaben vor allem türkische, jugoslawische, ukrainische, russische, rumäni- sche, vietnamesische und bosnische Staatsangehörige zu nennen.
c) Wie zu der zweiten Kategorie gibt es auch zu dieser Gruppe nur wenige Infor- mationen. Hierzu gehören Angehörige aus Staaten mit Visumspflicht, die keine Verbindungen zu Deutschland haben. Sie fliehen meist aus Krisengebieten oder Staaten mit einer politisch und wirtschaftlich instabilen Lage. Die haupt- sächlich vertretenen Staatsangehörigkeiten sind irakisch, iranisch und afgha- nisch. Viele kommen aber auch aus verschiedenen afrikanischen Staaten, Chi- na und den Philippinen. Ein großer Teil von diesen Migranten reist illegal nach Deutschland und stellt im Nachhinein einen Asylantrag.
Die Deutsche Bischofskonferenz gliedert die Menschen ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland nach regionaler Herkunft und ihrer Arbeitstätigkeit in verschiedene Grup- pen (Bischofskonferenz 2001: 17f.): So seien nach ihren Angaben Migranten und Mi- grantinnen aus Afrika vor allem in der Bau- und Reinigungsbranche tätig. Im häus- lichen Dienstleistungsgewerbe (z.B. als Babysitter, Putz- oder Einkaufshilfen) wären vor allem Einwanderinnen aus Lateinamerika anzutreffen. Männer aus Mittel-, Ost- und Südeuropa würden hauptsächlich im Reinigungs- und Baugewerbe sowie in Spedi- tionsunternehmen beschäftigt werden. Die Frauen aus diesen Regionen Europas ar- beiten vorwiegend als Haushaltshilfen, aber auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. Im kleingewerblichen Handel und als verborgene Dienstleister in der Hotel- und Gas- tronomiebranche seien oft irreguläre Einwanderer aus Asien tätig, asiatische Frauen zusätzlich als Hilfen in privaten Haushalten. In der gewerblichen Prostitution gäbe es keine spezielle Gruppe von Frauen aus einer bestimmten geografischen Region.
Leider gibt die Bischofskonferenz keine Quellen an, woher diese Informationen und Zuordnungen nach regionaler Herkunft und Tätigkeit stammen. Meiner Ansicht nach erweist es sich als schwierig, solche Einteilungen ohne Belege vorzunehmen, zumal die Daten- und Informationslage über irreguläre Migranten in Deutschland sowieso (noch) so unsicher ist. Zumindest sollten die Quellen für diese Gruppenunterteilung angegeben werden.
Cyrus kommt zu dem Ergebnis, wie Forscher anderer Studien auch (vgl. hierzu Schönwälder et al. 2004: 35; vgl. Zabel 2001: 93), dass Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus aus vielen Teilen der Welt kommen (vgl. Cyrus 2004a: 23). Wie schon an einer vorherigen Stelle betont, handelt es sich hierbei aber um Einschätzungen, die nicht vollständig sein können.
Dass nicht einfach irgendwelche Rückschlüsse von Statistiken auf eindeutige Zahlen oder Nationalitäten gezogen werden dürfen, wird an einer Stelle aus der Studie von Schönwälder et al. besonders deutlich:
„ Allerdings wissen wir weder, wie viele abgelehnte Asylbewerber illegal in Deutschland bleiben, noch ob Mitglieder bestimmter Nationalitäten stärker oder weniger stark dazu neigen. “ (Schönwälder et al. 2004: 35)
2.3.3 Geschlechter- und Altersverteilung
Laut Cyrus` Angaben gibt es etwas mehr Männer als Frauen, die in der Illegalität leben. Jedoch spielen viele Faktoren eine Rolle, wie z.B. die Region oder der Arbeitsmarkt (vgl. Cyrus 2004a: 28). Schönwälder et al. kommen mit Hilfe der polizeilichen Kriminalstatistik zu dem Ergebnis, dass mindestens ein Viertel der statuslosen Migranten Frauen sein müssen (vgl. Schönwälder et al. 2004: 34).
Es kann nur wieder hervorgehoben werden, wie unsicher die Datenlage bzw. Statisti- ken über die irregulären Einwanderer in Deutschland sind und wie schwierig es ist, Einschätzungen zur Sozialstruktur dieser Bevölkerungsgruppe zu machen.
Menschen ohne Duldung und Aufenthaltsrecht gibt es in jeder Altersklasse, hauptsäch- lich aber im Alter von 20 bis 40 Jahren. Ältere Migranten reisen überwiegend aus fami- liären Gründen illegal ein. Besonders sei aber auf die Kinder hingewiesen, welche mit ihren Eltern gemeinsam oder später in die Illegalität geraten oder in diesen Status hi- neingeboren werden. Ihre Zahl bzw. Anwesenheit dürfe nach Cyrus’ Angaben nicht unterschätzt werden (vgl. Cyrus 2004a: 27).
Zwischen November 2001 und Mai 2002 hat das Projekt Illegalität, eine gemeinsame Aktion der Evangelischen Kirchen und der Diakonischen Werke im Rheinland und Westfalen bis Ende 2005, Migrationsberatungsstellen und Kirchengemeinden in den eben genannten Regionen zum Thema Illegalität/Menschen ohne Aufenthaltsstatus mithilfe unterschiedlicher Fragebögen befragt (vgl. Eckeberg/Sextro 2007: 133). Dabei wurde unter anderem die Altersstruktur der irregulären Migranten untersucht, die eine Beratung aufsuchen. Eckeberg und Sextro überraschte hierbei vor allem der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen. 21 Prozent der Personen sind zwischen 0 und 16 Jahren, über 50 Prozent der Menschen ohne Aufenthaltsrechte in dieser Befragung sind bis zu 27 Jahre alt (vgl. Eckeberg/Sextro 2007: 144).
2.3.4 Räumliche Verteilung
Auch bei der sozialräumlichen Verteilung der illegalisierten Bevölkerung in Deutschland greift Cyrus auf die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zurück (vgl. Cyrus 2004a: 24): Irreguläre Einwanderer leben im gesamten Bundesgebiet. Von 566.918 ausländischen Tatverdächtigen besaßen im Jahr 2002 insgesamt 19,9 Prozent keinen regulären Auf- enthaltsstatus. Allerdings ist der Anteil der irregulären Tatverdächtigen4 in Bundeslän- dern wie Sachsen (11,09%), Brandenburg (16,70%) und Mecklenburg-Vorpommern, die Grenzen zu anderen Staaten haben, teilweise höher, weil in der PKS „Festnahmen im Zusammenhang mit illegaler Einreise […] mit aufgenommen werden“ (Cyrus 2004a: 24).
Auch in Niedersachsen ist die Zahl mit 9,17% der Tatverdächtigen ohne Aufenthalts- status relativ hoch. In Bremen (0,46%) ist der Anteil im Verhältnis zur ausländischen Wohnbevölkerung dafür erstaunlich niedrig (bzw. am niedrigsten insgesamt) im Ver- gleich zu anderen Stadtstaaten wie Hamburg (2,14%) und Berlin (1,80%). Nordrhein- Westfalen (0,67%) und Baden-Württemberg (0,88%) liegen unter dem bundesweiten Durchschnitt von 1,55%, obwohl es in diesen Bundesländern einen eher hohen Migran- tenanteil in der Bevölkerung gibt. Bayern (1,82%), Hessen (1,79%) und Schleswig- Holstein (2,49%) sind aber über dem Bundesdurchschnitt (Cyrus 2004a: 24f.).
In Großstädten, wie z.B. München, Frankfurt, Stuttgart und Offenbach, gibt es mehr irreguläre Einwanderer als in kleineren Städten oder auf dem Land aufgrund der höhe- ren Chancen eine Arbeit und Wohnung zu finden oder der Beziehungen zu bereits in Deutschland lebenden Migranten. Die neuen Bundesländer sind aufgrund der ökono- misch schlechteren Situation nicht so stark von illegaler Zuwanderung betroffen. Eine Ausnahme bilden die Städte Leipzig und Rostock, in die vietnamesische DDR- Vertragsarbeitnehmer migrierten und dort Selbstorganisationen aufbauten. In Leipzig kommt noch weitere irreguläre Migration in Betracht aufgrund der Stationierung von Streitkräften der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Cyrus 2004a: 25f.).
Im Rhein-Main-Gebiet leben sehr viele papierlose Menschen aus asiatischen Ländern. Die Zahl der irregulären Migranten aus Afrika ist in den Städten Norddeutschlands hö- her als in denen Süddeutschlands. Dafür gibt es in den süddeutschen Städten mehr südosteuropäische Einwanderer ohne Duldung und Aufenthaltsrecht. Illegalisierte Men- schen aus Polen und Lateinamerika sind in ganz Deutschland anwesend, besonders viele Polen leben allerdings in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Die türkischen oder kurdischen Einwanderer ohne Papiere sind aufgrund ihrer engen Beziehungen räum- lich ähnlich wie die legal eingewanderte türkische oder kurdische Bevölkerungsgruppe vertreten. Allgemein lässt sich aber festhalten, dass die nationale Zusammensetzung der irregulären Bevölkerung in Deutschland sehr different ist (vgl. Cyrus 2004a: 26).
2.4 Politische Maßnahmen gegen irreguläre Migration
2.4.1 … in Deutschland
„ Illegalität in Deutschland ist geprägt von einer Mischung aus Problembewusst sein und Ausblendung. “ (Sonntag-Wolgast 2006: 128)
Wie bereits erwähnt, wird das Thema Irreguläre Migration in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten, öffentlich und politisch verdrängt. Die ehemalige Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister des Innern von 1998 bis 2002 und Vorsitzende des Innenausschusses Cornelie Sonntag-Wolgast sieht hierin drei Gründe (Sonntag-Wolgast 2006: 128f.):
a) In der Bundesrepublik wird Illegalität als Bedrohung betrachtet. Den meisten deutschen Bürgern fehlt das Bewusstsein, dass die große Mehrheit der irregulären Zuwanderer hierzulande ein besonders unauffälliges Leben führt.
b) Es findet eine Gleichsetzung von illegalisierten Migranten und ihren (eventuellen) „Helfern“, d.h. mit den Schleppern, Menschenhändler, Pass- und Visafälschern sowie den Ausbeutern statt. Man setzt sich nicht differenziert mit den einzelnen Gruppen auseinander.
c) Bis heute teilt in Deutschland die Zuwanderungspolitik die Lager:
„ Wer sich zum Themaäußert, wird entweder den ‚ Abschottern ‘ zugeord- net oder der Phalanx derjenigen, die das Tor für Einreisewillige aus aller Welt weitöffnen wollen und jegliche Reglementierungen kritisieren. “ (Sonntag-Wolgast 2006: 128)
Eine pragmatische Debatte über Migration ist laut Sonntag-Wolgast, auch nach dem 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, immer noch kaum realisierbar (vgl. Sonntag-Wolgast 2006: 129).
Wer in Deutschland keine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Duldung besitzt, also illegalisiert hierzulande lebt, macht sich nach Paragraph 92 Absatz 1 des Ausländergesetzes5 strafbar (vgl. Hartmann 1999: 12). Dass für die Bundesrepublik die irreguläre Einwanderung ein eher kriminelles Delikt ist, zeigt sich laut Hartmann in der repressiven Migrationspolitik, mit der Deutschland auf Illegalität reagiert. In der Politik wird die irreguläre Migration in erster Linie als Problem der „organisierten Kriminalität“ und der „inneren Sicherheit“ empfunden (ebd.: 12).
In Deutschland werden verschiedene Maßnahmen ausgeübt, um die Illegalität zu be- kämpfen:
Zum einen gibt es Ausweiskontrollen. Für einen Menschen ohne Papiere und Aufenthaltsrechte in der Bundesrepublik erweist es sich aufgrund der Melde- und Ausweispflicht als sehr schwierig z.B. Zugang zu einer Wohnung zu finden. (vgl. Hartmann 1999: 12; vgl. Schönwälder et al. 2004: 39). Deutschland besitzt
„ ein hoch entwickeltes System der Registrierung und Ü berwachung [ … ] mit einer Meldepflicht, wechselseitigen Zugriffsmöglichkeiten unterschiedlicher Institutio- nen auf Daten und einem Ausländerzentralregister, das es stark erleichtert, die Aufenthaltsberechtigung eines Ausländers zuüberprüfen “ (Schönwälder et al: 2004: 39).
Schonwälder et al. formulieren vorsichtig, dass diese in Deutschland betriebene Praxis der Kontrollen und Identifizierung unter Umständen eine längerfristige illegale Ansied- lung begrenzen kann (vgl. Schönwälder et al. 2004: 39). Für irreguläre Einwanderer ist die Politik der internen Kontrolle vor Ort oft ausschlaggebender für das Alltagsleben als die Kontrollen an den Grenzen (vgl. Buckel 2008: 35).
Neben dieser allgemeinen Form des Kontrollsystems in Deutschland spielt die Praxis des Kontrollpersonals und der Behörden eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung von Illegalität. Dadurch, dass die Durchführung von Kontrollen den einzelnen Bundes- ländern obliegt, gibt es auch regionale Unterschiede (Schönwälder et al. 2004: 39). Buckel weist auf das Dilemma hin, in dem sich die Kommunen oftmals befinden: Auf der einen Seite sind sie dazu verpflichtet, die staatliche Migrationskontrollpolitik, z.B. über Meldebehörden, Sozialämter, Gesundheitszentren u.a., umzusetzen (vgl. Buckel 2008: 35). Auf der anderen Seite „ist es gerade die repressive Migrationspolitik, die immer mehr irreguläre Migrant(innen) hervorbringt, die letztlich versuchen, in den Städ- ten Europas ihre Existenz zu organisieren“ (ebd.).
Ein weiteres Mittel der deutschen Migrations„politik“ (Hartmann 1999: 12) gegen irregu- läre Einwanderer besteht aus Razzien in Restaurants und auf Baustellen sowie Perso- nenkontrollen am Arbeitsplatz. Sowohl die Ausgestaltung dieser Personenkontrollen im Arbeitsmarkt als auch allgemein der Umgang der Behörden mit irregulärer Zuwande- rung sind jedoch bisher kaum wissenschaftlich untersucht worden (vgl. Schönwälder et al. 2004: 39f.).
Mit immer neuen Einschränkungen und Verschärfungen der Asyl- und Ausländergeset- ze sollen der Anreiz für eine Einreise nach Deutschland minimiert bzw. mögliche Scheinasylanten abgeschreckt werden. Dies geschieht unter anderem durch ständige Schmälerungen im Asylbewerberleistungsgesetzes sowie der unbeirrt durchgeführten Praxis von Ausweisungen und Abschiebungen abgelehnter Asylantragssteller und ent- deckter irregulärer Migranten (vgl. Hartmann 1999: 12f.; vgl. Alt 1999: 329).
Aber auch die Sicherung der deutschen Außengrenzen vor illegalen Grenzübertritten wird seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall des Ostblocks durch organisato- rische und rechtliche Reformen ständig versucht, zu verbessern. Hierzu bezieht man sogar die in den Grenzregionen ansässige Bevölkerung mit ein, indem man um ihre Mitarbeit im Kampf gegen illegale Zuwanderung und grenzbezogene Kriminalität wirbt (vgl. Alt 1999: 336ff.).
Desweiteren ist Deutschland darum bemüht, bilaterale Abkommen, beispielsweise mit Ländern in Mittel- und Osteuropa, abzuschließen, um gegen die organisierte Kriminalität, Rauschgifthandel und die illegale Einreise bzw. Einschleusung von Personen gemeinsam vorzugehen (vgl. Alt 1999: 336).
Ob die von der Bundesrepublik durchgeführten Maßnahmen Erfolg haben, wurde bis- her noch kaum untersucht. Hartmann ist der Ansicht, dass die restriktive Politik und rechtlichen Beschränkungen Migranten auf Dauer nicht davon abhalten werden, irregu- lär einzureisen, besonders, wenn es ihnen - aus wirtschaftlichen oder politischen An-lässen - ums Überleben geht (vgl. Hartmann 1999: 13). In dieser „strikten und kostenin- tensiven Kontrollpolitik“, die durch eine „Verkopplung von Aufenthalts- und Arbeits- recht, eine hohe Kontrolldichte und die Priorisierung von Kontrolle unter dem Ge- sichtspunkt von ‚innerer Sicherheit‘“ (Bommes 2006: 105) gekennzeichnet ist, vermutet Bommes einen wesentlichen Grund für die Abdrängung irregulärer Einwanderer auf bestimmte Bereiche von Beschäftigung6 und für die geringere Zahl illegalisierter Mi- granten in Deutschland als in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Italien (vgl. ebd.).
Für Alt lässt sich irreguläre Migration mit rein repressiven Mitteln nicht bekämpfen (vgl. Alt 2001: 15). Empirische Untersuchungen, aber auch Sicherheitsdienste, kamen zu dem Ergebnis, dass viele Wege und Möglichkeiten vorhanden sind, um sogar die Grenze mit der „höchsten Kontrolldichte“ in der EU zu überwinden (vgl. ebd.: 17). „Denn: Repressive Ansätze in der Bekämpfung illegaler Zuwanderung werden das Mi- grationsverhalten der Menschen vor allem VERÄNDERN, nicht aber VERHINDERN.“ (Ebd.: 17)
Auch nach dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wird diese restriktive Politik in Deutschland weiterhin verfolgt: Die Maßnahmen gegen irreguläre Einwanderung und irregulären Aufenthalt bleiben in erster Linie im Bereich der Kontrolle (Alt 2005a: 235). Das Zuwanderungsgesetz setzt sich nicht mit dem Thema Irreguläre Migration ausein- ander, außer in den Bereichen Zurückschiebung, Zurückweisung und Übermittlungs- pflicht von Daten. Die Bestimmungen zu diesen Bereichen wurden wortgetreu vom alten Ausländerrecht übernommen (Alt 2004: 21). Änderungen im sozialen, im Bil- dungs- oder Gesundheitsbereich für Menschen ohne Aufenthaltsrechte, wie sie zum Teil von der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ sowie von Menschenrechts- verbänden, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen gefordert wurden, brachte das neue Gesetz nicht (vgl. Alt 2004: 20; vgl. Alt 2005a: 235). Jörg Alt kritisiert: „Was als Paradigmenwechsel in der deutschen Zuwanderungspolitik begann, endete als das, was Ausländerpolitik bislang meistens war: Gefahrenabwehrpolitik.“ (Alt 2005a: 244)
2.4.2 … in der EU
Deutschland verficht seine restriktive Migrationspolitik erfolgreich auch innerhalb der Europäischen Union (vgl. Hartmann 1999: 13; vgl. AutorInnenkollektiv 2000: 7). Die Bekämpfung irregulärer Einwanderung hat in den letzten fünfzehn Jahren in der euro- päischen Migrations- und Asylpolitik an großer Bedeutung gewonnen (vgl. Schwenken 2008: 17). Der wesentliche Grundgedanke in allen Programmen und Maßnahmen der EU lautet: „Legale Einwanderung kann nur dann auf Akzeptanz bei der (Migration gegenüber skeptisch eingestellten) Bevölkerung stoßen, wenn der illegalen mit aller Härte begegnet wird.“ (Schwenken 2008: S. 17)
Diese Härte zeigt sich in einer scharfen, europaweit betriebenen Politik der Kontrolle, Abschottung und Ausgrenzung (vgl. AutorInnenkollektiv 2000: 7).
Neben dem heutigen von der europäischen Migrationspolitik verfolgten Grundsatz der Einwanderungsbegrenzung, in erster Linie der Abwehr von irregulären Migranten, gibt es laut Schwenken seit den Anwerbestopps von Gastarbeitern in den 1970er Jahren, den in den Medien und Politik betriebenen Kampagnen gegen „Asylmissbrauch“ in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts und dem Endes des Eisernen Vorhangs und den sich daraus ergebenden Migrationen ein zweites Prinzip, nämlich die Gestaltung eines Systems selektiver und kontrollierter Arbeitsmigration seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Schwenken 2006: 95f.). Bezüglich der Notwendigkeit dieses zweiten Grundsatzes gibt es zwischen den Mitgliedsstaaten der EU etliche Unterschie- de. Einig sind sich hingegen alle in der Dringlichkeit der Abwehr irregulärer Einwande- rer (ebd.: 96).
Die Zusammenarbeit in Angelegenheiten von Migration, Asyl, Grenzkontrollen und Vi- saregelungen auf europäischer Ebene hat ihren Beginn in den 1980er Jahren. Im Juli 1985 unterzeichneten Belgien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande und Luxem- burg das Abkommen von Schengen, dem sich später noch weitere EU-Staaten an- schlossen, aber auch Länder, die nicht der Europäischen Union7 angehören (vgl. Schwenken 2006: 96; vgl. Schwelien 2004: 49). Wesentlicher Kern dieses Abkommens war die Erleichterung des Grenzverkehrs und - fünf Jahre später - die konkrete Reali- sierung des freien Personen-, Kapital- Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedsländern dieses Abkommens: „Die Schengenstaaten begriffen sich als Motor einer gemeinsamen Migrationspolitik.“ (Schwenken 2006: 96).
Mit den neuen Zuwanderungen aus dem ehemaligen Ostblock und den Kriegsgebieten Ex- Jugoslawiens nach 1989 wuchs das Interesse der europäischen Staaten weiterer Kooperationen in den Bereichen Migration, Asyl und Grenzkontrolle. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 gründeten die EG-Staaten die Europäische Union. Mit diesem Vertrag kam es zur „Versäulung von Politikbereichen“, außerdem wurde „die Migra- tionskontrolle zu einem wichtigen politischen Thema“ (Schwenken 2006: 97).
Mit der wachsenden Zuwanderung in den 1990er Jahren bei zugleich unterschiedlicher Betroffenheit der EU-Mitgliedsstaaten wurde die Forderung nach einer Harmonisierung der Innen- und Justizpolitik laut (Weller-Monteiro Ferreira 2004: 100). Durch den 1997 von den EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichneten und 1999 in Kraft getrete-nen Vertrag von Amsterdam wurde die Asyl- und Migrationspolitik von der dritten in die erste Säule des Maastrichters Vertrags verschoben und damit vergemeinschaftet (Hartmann 1999: 13; vgl. Weller-Monteiro Ferreira 2004: 100). Ziele des Amsterdamer Vertrages sind unter anderem die „Vereinheitlichung der Politiken“ (Schwenken 2006: 98), „eine Kooperation von Polizei, Zoll und Justiz in Asyl- und Migrationsfragen“ (ebd.) sowie die Einigung der EU „auf gemeinsame Kriterien im Asylbereich [und] bei der Bekämpfung illegaler Migration […]“ (ebd.).
Auf der Konferenz in Tampere 1999 wurde die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik vom Europäischen Rat weiterentwickelt (Schwenken 2006: 98f.):
„ Die Elemente [ … ] sind die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern zur Fluchtursachenbekämpfung, der Aufbau eines gemeinsamen Asylsystems auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention, die gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die Steuerung von Migrationsströmen, die Bekämpfung illegaler Einwanderung sowie eine koordinierte Grenzsicherung und Rücknah meabkommen, d.h. die Verpflichtung eines Herkunftsstaates, ausreisepflichtige Staatsangehörige wieder aufzunehmen. “ (Ebd.)
Auf dem Sevilla-Gipfel zu illegaler Immigration beschloss Europa unter anderem die Maßnahme, dass die Herkunfts- und Transitländer mit Androhungen von Sanktionen dazu gebracht werden sollen, in ein gemeinsames Migrationsmanagement und in die Wiederaufnahme ihrer in der Europäischen Union nicht erwünschten Staatsbürger einzuwilligen (Schwenken 2006: 99).
Die konkreten Maßnahmenmöglichkeiten und Instrumente der Abwehr irregulärer Migration, die der auf EU-Ebene 2002 vorgeschlagene „Gesamtplan zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels“ empfiehlt, hat der Leiter des Referats für Grundsatzfragen der Migrations-, Ausländer- und Asylpolitik im deutschen Bundesinnenministerium Hans-Joachim Stange zusammengefasst:
Im Bereich der Visapolitik soll ein Informationsaustausch über ausgestellte Visa zwi- schen den EU-Staaten stattfinden sowie ein Europäisches Visa-Informationssystem aufgebaut werden. Zudem müssen die Kooperation, der Austausch von Informationen und die Koordinierung zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedsstaaten verbessert werden. Dem Plan zufolge ist es wichtig, dass die EU für die Herkunfts- und Transitländer finanzielle und technische Beiträge für Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel und irregulärer Einwanderung entrichtet. Darüberhinaus ist eine en- gere Kooperation der Grenzschutzdienste der EU-Mitgliedstaaten notwendig. Das eu- ropäische Polizeiamt Europol8 muss vermehrt einbezogen und dessen Rolle gestärkt werden. Für die EU-Mitgliedsstaaten gilt es, gemeinsame Konzepte und Normen be-züglich der Rückkehrmaßnahmen sowie der Rückübernahmepolitik zu finden. Im Be- reich des Ausländer- und Strafrechts soll eine Harmonisierung der Sanktionen für Menschen erfolgen, die irreguläre Einwanderung unterstützen (vgl. Stange 2006: 143f.).
Für irreguläre Einwanderer hat die strikte Kontroll- und Abschottungspolitik der Europä- ischen Union mit ihren einschränkenden Gesetzen, Erlässen und Maßnahmen oftmals zur Folge, dass sie in einen illegalen Aufenthaltsstatus gedrängt werden, obwohl sie zuvor jahrelang legal in Europa gelebt haben. Durch die ständig verschärften Visabe- dingungen und restriktiven Regelungen bei der Familienzusammenführung und den Drittstaatlern haben Migranten, die neu in die europäischen Länder einwandern, oft- mals keine andere Möglichkeit als den Weg der irregulären Einreise (vgl. AutorInnen- kollektiv 2000: 7): „Schon die Landung auf einem Flughafen oder der Schritt über eine ‚Schengenaußengrenze‘ verwandelt Flüchtlinge in ‚Illegale‘.“ (Ebd.)
Weller-Monteiro Ferreira stellt fest, dass es sich bei den seit 1999 ergangenen Rechts- akten für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik in erster Linie um die Abwehr und Rückführung irregulärer Migranten, Schengen, Visapolitik und Flüchtlinge dreht, nicht aber um Themen wie Familienzusammenführung, Arbeitsmarktzugang oder Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen (Weller-Monteiro Ferreira 2004: 100f.). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Schwenken, wenn sie über die große Bedeutung, die dem Kampf gegen irreguläre Einwanderung innerhalb der EU beigemessen wird, schreibt, und diesen als „die verbindende Klammer sämtlicher Maßnahmen“ bezeich- net (Schwenken 2006: 99).
Schönwälder et al. zeigen die folgenden Konsequenzen für Deutschland auf, welche der Prozess der europäischen Integration in die Migrationspolitik, besonders in das Feld der irregulären Einwanderung hat (vgl. Schönwälder et al. 2004: 40f.): Zuallererst erfolgt durch die von der Europäischen Union und dem Schengen-Abkommen be- stimmte Visapolitik eine Neustrukturierung des Migrationsmusters und eventuell auch der Zusammensetzung von Migranten, denn durch die neuen Visabedingungen wird Migranten gewisser Herkunftsstaaten die Einreise und der Aufenthalt in der Bundesre- publik erleichtert, anderen hingegen (z.B. bedingt durch die beschränkte Vergabe von Visen oder durch Visumspflicht) erschwert. Zweitens verlagern sich durch den Prozess der europäischen Integration Kontrollen an die Außengrenzen der Europäischen Union und damit ändern sich auch die Konstellationen der Akteure (z.B. die Übertragung staatlicher Aufgaben an private Akteure, wie die Passkontrolle an Flughäfen durch die Fluggesellschaften) und unter Umständen auch die Kontrollpraxis (vgl. ebd.).
„ Durch die Verlagerung der Migrationskontrolle in Räume jenseits der nationalen Grenze wurde [ … ] der politische Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure vermin- dert und die Beachtung von Menschenrechtsnormen schwererüberprüfbar. “ (Schönwälder et al. 2004: 41)
Deutschland versucht sich seit Mai 1993 mit der Änderung des Artikel 16 des Grund- gesetzes zusätzlich vor unerwünschten Einwanderern abzusichern. Da Deutschland nur von Ländern der Europäischen Union und sicheren Drittstaaten umgeben ist, kön- nen Asyl-suchende nur noch über den Luftweg einreisen. Für Asylbewerber, die aus sicher geltenden Herkunftsstaaten oder ohne Papiere im Flugzeug nach Deutschland einreisen, wurde zusätzlich das Flughafenverfahren entwickelt, welches man schon vor der Einreise im Transitbereich anwendet, wenn davon ausgegangen wird, dass der Asylantrag sowieso abgelehnt werden wird. Schwenken stellt fest: „Der ‚richtige Einrei- seweg ist relevanter als die tatsächliche politische Verfolgung geworden.“ (Schwenken 2006: 103) Darüberhinaus zeigt dieses Beispiel, dass sich die Kontrollen und Grenzen nicht nur nach außen verlagert haben, sondern dass auch eine Binnenverlagerung von Außengrenzen stattgefunden hat (vgl. Schwenken 2006: 103f.).
3. Standards aus der Fachdebatte zum sozialpädagogischen Han- deln
Der wesentliche Schwerpunkt dieser Arbeit liegt bei den Möglichkeiten sozialpädagogischen Handelns im Umgang mit irregulärer Einwanderung bzw. irregulären Migranten. Hierzu sind zwei zentrale Begriffe bzw. Konzepte aus der sozialpädagogischen Fachdebatte zu nennen, die für die Arbeit des Sozialpädagogen bzw. des Sozialarbeiters mit Menschen ohne Aufenthaltsrecht mögliche Handlungsansätze und Lösungen bieten können. Dies ist zum einen der Begriff Lebensweltbezug bzw. Lebensweltorientie rung, zum anderen der Begriff Lebensbewältigung bzw. die Bewältigung von Krisen und schwierigen Lebenssituationen. Im Folgenden sollen die zwei genannten Konzepte kurz vorgestellt und ihre Bedeutung für die sozialpädagogische bzw. Soziale Arbeit insbesondere mit irregulären Einwanderern erläutert werden.
3.1 Lebensweltorientierung
Der Begriff Lebensweltbezug bzw. das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit wurde vor allem von Hans Thiersch geprägt.
Grunwald und Thiersch haben das Konzept Lebensweltorientierte Sozialer Arbeit folgendermaßen definiert:
„ Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit verweist auf die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an den AdressatInnen mit ihren spezifischen Selbstdeutungen und individuellen Handlungsmustern in gegebenen gesell- schaftlichen Bedingungen. [ … ] Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nutzt ihre rechtlichen, institutionellen und professionellen Ressourcen dazu, Menschen in ihrem vergesellschafteten und individualisierten Alltag zu Selbständigkeit, Selbst- hilfe und sozialer Gerechtigkeit zu verhelfen. “ (Grunwald/Thiersch 2001: 1136)
Thiersch et al. betonen, dass es sich bei der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit um ein Konzept mit theoretischen sowie praktischen Bestandteilen und Intentionen handelt, welche die Entwicklung der Sozialen Arbeit seit den 1970er entscheidend beeinflusst hat und die es gilt konsequent einzuhalten. Denn leider wird der Begriff der Lebensweltorientierung in der heutigen Sozialen Arbeit oftmals als bloßer Oberbegriff und Passepartout wahllos für die verschiedensten Arbeitskonzepte verwendet (vgl. Thiersch et al. 2002: 161; vgl. Grunwald/Thiersch 2001: 1136f.).
3.1.1 Theoretischer Hintergrund des Konzepts Lebensweltorientierung
Der theoretische Hintergrund von Lebensweltorientierung gründet sich vor allem auf dem Zusammenspiel von vier Wissenschaftskonzepten: Es verknüpft die Traditionslinie der hermeneutisch-pragmatisch Erziehungswissenschaft (unter anderem geprägt von Nohl, Dilthey und Weniger) mit dem phänomenologisch-interaktionistischen Paradigma (unter anderem vertreten von Schütz, Goff und Berger/Luckmann) und betrachtet diese mit der kritischen Alltagstheorie (z.B. Kosik, Heller und Bourdieu) sowie im Kontext neuerer gesellschaftlicher Entwicklungen (Modernisierungstheorien, z.B. von Beck, Habermas oder Böhnisch) (vgl. Thiersch et al 2002: 167ff.; vgl. Grunwald/Thiersch 2001: 1138f.; vgl. Grunwald/Thiersch 2004: 17ff.).
Für die Strukturierung der Aufgaben in der Sozialen Arbeit bevorzugt das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit den Zugang über eine Rekonstruktion von Lebenswelt, die sich in fünf Aspekte unterteilen lässt (vgl. Thiersch et al 2002: 169ff.; vgl. Grunwald/Thiersch 2001: 1139f.; vgl. Grunwald/Thiersch 2004: 19ff.):
a) Der Mensch wird in dem beschreibenden, phänomenologisch-ethnomethodolo- gisch Zugang von Lebenswelt in der Erfahrung einer schon immer vorhandenen Wirklichkeit gesehen, und nicht davon losgetrennt als Individuum. Diese in der Er- fahrung des Menschen präsente Realität besitzt sowohl materielle Ressourcen, als auch immaterielle, die wiederum in Erfahrungen des Raumes (z.B. geschlossener oder offener Raum), der Zeit (z.B. attraktive oder perspektivlose Zeit) und der so- zialen Beziehungen (z.B. stützende oder belastende Beziehungen) gegliedert wer- den können. Sowohl die Selbstdarstellung, die (Über-)Anpassung, aber auch unzu- längliches oder abweichendes Verhalten werden in diesem Aspekt von Lebenswelt als ein Sich-Arrangieren im Überleben bzw. als Anstrengungen des Menschen ver- standen, sich in den gegebenen Verhältnisse zu behaupten.
b) Der zweite Aspekt unterteilt die Lebenswelt als erfahrene Wirklichkeit in ver- schiedene Lebensfelder oder -räume (z.B. Familie, Arbeit, Öffentlichkeit, Jugend- gruppe):
„ Das Konzept Lebenswelt ist engagiert in der Rekonstruktion der konkreten lebensweltlichen Verhältnisse in unterschiedlichen Lebensfeldern, der Span- nung und Konflikte zwischen den Lebensfeldern und schließlich sensibel für Bewältigungsaufgaben und Vermittlung zwischen den Lebensfeldern und die im Lebenslauf erworbenen lebensweltlichen Ressourcen. “ (Grunwald/ Thiersch 2004: 20f.)
c) Der normativ-kritische Aspekt sieht die widersprüchlichen Erfahrungen des Men- schen in den Handlungsmustern, Ressourcen und Deutungen des Alltags. Sie er- zeugen zum einen Entlastungen, fördern soziale Sicherheit und Identität. Zum an- deren können sie aber auch einengen, blockieren sowie Trauer und Protest brin- gen. Der normativ-kritische Zugang beharrt auf dieser Dialektik des Gelingens und Nichtgelingens in der Lebenswelt und der daraus erforderlichen Destruktion des Gegebenen mit der Absicht, bessere Möglichkeiten und freiere Ansprüche zu schaf- fen.
d) Desweiteren kann Lebenswelt als historisch und soziales Konzept betrachtet werden, nach dem erfahrene Wirklichkeit auch immer von Strukturen und Ressour- cen beeinflusst werden. „Lebenswelt - als Ort des Arrangements in der Erfahrung -ist die Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem, von Strukturen und Handlungsmustern.“ (Thiersch et al. 2002: 170)
e) In dem Konzept Lebenswelt profilieren sich Handlungs- und Deutungsmuster in der heutigen Zeit neu, weil es Ungleichheiten in den Strukturen und Ressourcen gibt und ebenso Widersprüche, „wie sie sich im Zeichen zunehmender Pluralisie- rung und Individualisierung der Lebensverhältnisse und im Zeichen der neuen Ver- gesellschaftungsansätze abspielen“ (Thiersch et al. 2002: 170f.). Es wird dem ein- zelnen Individuum und Gruppen zugemutet, ihre Lebenswelt und ihren Lebensplan bewusst zu gestalten in der Offenheit gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen, die mit der Offenheit normativer Orientierungen übereinstimmt, in der offen ist, was als gelingend und was als unzumutbar gilt. Im Konzept Lebenswelt muss das Profil von Lebensräumen und Bewältigungsmustern für jeden ausgehandelt und in der Sozia- len Arbeit die Vermittlung von Widersprüchlichkeiten, Offenheiten und erforderlicher Verlässlichkeit sowie Perspektivität verwirklicht werden.
3.1.2 Aufgaben und Strukturen des Konzepts Lebensweltorientierung
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert in unterschiedlichen Dimensionen (Grun- wald/ Thiersch 2001: 1141f.; Thiersch et al. 2002: 171ff.; Grunwald/Thiersch 2004: 32ff.):
Sie handelt zum ersten in der Dimension der erfahrenen Zeit. Die Gegenwart spielt darin eine entscheidende Rolle. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Bewältigungsaufgaben in der Gegenwart, und damit auch auf die Aufgaben des „Daseins und des Aushaltens“. Grunwald und Thiersch betonen diesbe- züglich: „Soziale Arbeit muss sich - wie die Pädagogik - aus einer Tradition befreien, in der Hilfe immer im Horizont von Entwicklung und Verbesserung stand.“ (Grun- wald/Thiersch 2001: 1141)
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert zweitens in der Dimension des erfahrenen Raumes, d.h. sie betrachtet den Menschen in seinen jeweiligen erfahrenen, räumlichen Verhältnissen, die sich für jeden ganz unterschiedlich präsentieren. Aneignung und Milieubildung sind in dieser Dimension wichtige Kennzeichen ihrer Arbeit, genauso wie die Vermittlung neuer Möglichkeiten in ansonsten unattraktiven und deprivierenden Strukturen, indem sie den Menschen gegebene Ressourcen zugänglich macht und neue aufzeigt.
Die dritte Dimension ist das Handeln in den Ressourcen und Spannungen der sozialen Bezüge (z.B. Familie oder Freunde), also im Zusammenhang des sozialen Geflechts, in dem sich Menschen befinden, und das Verhandeln von Brüchen und Verwerfungen in diesen sozialen Beziehungen (vgl. Grunwald/Thiersch 2004: 34).
[...]
1 Wenn beide Geschlechter gemeint sind (z.B. bei bestimmten Berufs- und Personenbezeichnungen), wird von mir der Einfachheit halber die männliche Form verwendet. (Anmerkung der Verfasserin)
2 Siehe hierzu: Kein Mensch ist illegal. Ein Handbuch zur Kampagne. Hrsg. von cross the border. 1. Auflage. Berlin: ID-Verlag 1999.
3 „[Die polizeiliche Kriminalstatistik] enthält Informationen über Menschen, die eines Vergehens (meist der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts) verdächtigt und als sich illegal in Deutschland aufhaltend eingestuft werden.“ (Schönwälder et al. 2004: 34).
4 Bei dieser Zahl kann nur von den illegalisierten Tatverdächtigen, die in der PKS erfasst sind, ausgegangen werden. Die wirkliche Anzahl der irregulären Bevölkerung kann, wie bereits erwähnt, nur geschätzt werden. (Anmerkung der Verfasserin)
5 Das Ausländergesetz wurde mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes seit dem 01.01.2005 von dem Aufenthaltsgesetz abgelöst. Nach dem AufenthG § 95, Absatz 1 wird derjenige mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft, wer „ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet aufhält, vollziehbar ausreisepflichtig ist und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist“ (Deutsches Ausländerrecht 2005). (Anmerkung der Verfasserin)
6 „Abhängig von den rechtlichen und politischen Regulationsformen scheinen illegale Migranten in Ländern wie den USA, GB und Italien in sehr viel mehr Bereichen Beschäftigung als in Deutschland zu finden und auch der Modus illegaler Migration (dauerhaft vs. zirkulär) scheint damit zusammenzuhängen (Cyrus/ Düvell/ Vogel 2004, Stobbe 2004).“ (Bommes 2006: 105)
7 Damals noch die Europäische Gemeinschaft. (Anmerkung der Verfasserin)
8 „Das unabhängige Polizeiamt der Europäischen Union mit Sitz in Den Haag koordiniert seit 1999 die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung internationaler Schwerkriminalität (Terrorismus, illegaler Waffenhandel, Drogenhandel, Kinderpornographie und Geldwäsche). Es hat vorrangig die Aufga- be, den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden zu verbessern. (Zandonella 2007: 46)
- Quote paper
- Dipl.Paed. Julia Schulenburg-Bouassiria (Author), 2009, Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns im Umgang mit irregulärer Einwanderung in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337058
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