Das Essay beschäftigt sich mit der Frage, wie weit Erziehung Gender beeinflussen kann. Ist Geschlecht tatsächlich nur ein soziales Konstrukt? Oder spielen biologische Faktoren doch eine große Rolle?
Dabei wird die These "Unser Geschlecht ist nicht angeboren, sondern anerzogen" von John Money und sein John/Joan Experiment, sowie die Erziehungspraxis zur Fa`fafine von Familien in Samoa näher beleuchtet und kritisch betrachtet.
Einleitung
„Unser Geschlecht ist nicht angeboren, sondern anerzogen.“ Diese These vertrat der Psychologe und Soziologe John Money. Er führte das Experiment durch, was als John/Joan Experiment bekannt wurde. In diesem Experiment empfahl er Eltern eines Jungens, dessen Penis verstümmelt wurde, ihn als Mädchen zu erziehen. Auch Familien in Samoa erziehen ihren Kindern das dort sogenannte dritte Geschlecht der Fa`fafine an. Ein Junge wird als Fa`fafine erzogen, um der Mutter im Haushalt helfen zu können. Wie viel Einfluss hat die Erziehung dabei wirklich auf die Individuen und deren Genderwahrnehmung? Ist Gender wirklich nur ein soziales Konstrukt oder liegt es doch an biologische Faktoren, die unsere Geschlechtsidentität einschneidend beeinflussen?
Um die Fragestellung zu beantworten, werde ich zuerst die beiden Fälle vorstellen und vergleichen.
Hauptteil
Der Fall John/Joan war die Erfolgsgeschichte für den US-amerikanischen Psychologen und Soziologe John Money und ist in soweit relevant für die Fragestellung, da Money behauptete, dass Erziehung Gender bestimme. Er war sich sicher, dass das weitverbreitete Muster, dass Mädchen lieber mit Puppen und Jungs lieber mit Autos spielen, nur anerzogen sei. Er glaubte, man könnte ein Kleinkind bis zum Alter von 18 Monaten zu jeder sexuellen Identität erziehen. Für seine These brauchte er nur noch Beweise. Die Grundlage für sein John/Joan Experiment wurde durch ein Unglück 1966 geschaffen. Die Reimerzwillinge Bruce und Brian sollten im achten Monat bei einem Routineeingriff beschnitten werden. Der Eingriff missglückte bei Bruce und er verlor seinen Penis. Die Eltern von Bruce machten sich große Sorgen um seine Zukunft. Wie sollte ein Junge ohne Penis glücklich werden? Sie erfuhren von John Money und seiner Überzeugung und wandten sich an ihn. Dieser überzeugte sie, Bruce als Mädchen großzuziehen. Nur durch die Erziehung sollte sich Bruce als Mädchen fühlen. Er war das perfekte Versuchskaninchen, denn sein Zwillingsbruder Brian, mit dem er alle seine genetischen Informationen teilte, konnte als Vergleichsobjekt dienen. Wenn Bruce tatsächlich als glückliches Mädchen aufwachsen würde, wäre John Moneys These bewiesen. Mit 21 Monaten wurde Bruce zu Brenda. Die Ärzte entfernten in einer Operation die noch vorhandenen Hoden und formten eine Scheide. Jetzt produzierte Bruce alias Brenda keine männlichen Hormone mehr. Wenn Brenda[1] in die Pubertät kommen würde, sollte er zusätzlich weibliche Hormone einnehmen, um die Geschlechtsumwandlung vollständig zu machen. Damit das Experiment erfolgreich abgeschlossen werden könnte, dürfe Brenda nie von der Geschlechtsumwandlung erfahren. John Money untersuchte die Zwillinge jedes Jahr und als Brenda sieben Jahre alt war, erklärte Dr. John Money das Experiment für geglückt. Brenda fühle sich als Mädchen, sei ein normales, glückliches Kind. Er wurde daraufhin in der Fachwelt hochgelobt. Was aber wirklich mit Brenda los war, verschwieg er.
Denn das Experiment war nicht geglückt. Anscheinend reichte die Erziehung allein nicht aus, um aus einem Jungen ein Mädchen zu machen. Brenda war ein unglückliches Kind mit vielen sozialen Problemen. Er riss sich die Mädchenkleider vom Leib, urinierte im stehen und wollte nicht mit Mädchensachen spielen. Er hatte kaum Freunde. Mit den Mädchen in seiner Umgebung wusste er nichts anzufangen, er hatte keine gemeinsamen Interessen mit ihnen und die Mädchen fanden ihn zu wild. Die Jungen hingegen wollten kein Mädchen dabei haben. Die Eltern, und vor allem John Money bestanden dennoch darauf, ihn weiterhin als Mädchen zu erziehen. Brenda befand sich in einer tiefen Identitätskrise. In der Pubertät begann er anzuecken, prügelte sich mit Mitschülern, die ihn nicht akzeptieren. Sie beschimpften ihn als Höhlenfrau, er war aggressiv und unglücklich. Ihm wuchsen durch die Hormonbehandlung Busen und als ihm eine künstliche Scheide eingesetzt werden sollte, wehrte er sich vehement. Auch mit Money wollte er nicht mehr sprechen, da dieser äußerst schreckliche Methoden anwendete, Brenda von seiner Weiblichkeit zu überzeugen. Er drohte schließlich mit Selbstmord. Die Verzweiflung von Brenda führte dazu, dass ihm seine Eltern mit 14 die Wahrheit sagten. Das Geständnis war eine Befreiung für ihn, er hatte endlich Antworten auf die große Verwirrung. Bruce alias Brenda änderte seinen Namen in David und lebte fortan als Junge. David Reimer ließ die Geschlechtsumwandlung rückgängig machen. Er heiratete später eine Frau und adoptierte ihre Kinder. Doch wirklich glücklich wurde er nie, im Alter von 38 Jahren beging er Selbstmord.
Hatte John Money also Unrecht? Nur in diesem Fall, sagen viele seiner Unterstützer und halten weiterhin an seiner These fest. Aber kann Erziehung wirklich die Geschlechtsidentität bestimmen? Bestimmen tatsächlich die Kleidung, Spielsachen, Regeln und Aufgaben, die unsere Eltern uns geben, ob wir uns männlich oder weiblich fühlen?
Das kann man gut am dritten Geschlecht Samoas, der Fafafine, untersuchen. Fafafine sind Männer, die als Frauen erzogen wurden und sich als Frau fühlen. Sie werden als eigenständiges Geschlecht und nicht als Homosexuell angesehen. Fa`fafine sind in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Das liegt daran, dass es eine Tradition gab, Jungen als Mädchen aufzuziehen. In Samoa ist die Geschlechtsidentität weitgehend darauf gestützt, welche Rolle die Person in der Familie hat. Deshalb war es nicht unüblich, dass samoanische Familien Jungen zu Mädchen erzogen, da sie weibliche Aufgaben übernehmen sollten. Ihnen fehlte schlichtweg eine Hilfe für die Mutter, und so wurde aus einem Sohn eine Tochter gemacht. Das Kind wurde in Mädchenkleidung gesteckt und bekam alle weiblichen Aufgaben. Seine gesellschaftliche Aufgabe war klar. Die Fa`fafine sollen die Familie unterstützen, sich um die Kinder, die Alten und Kranken und den Haushalt kümmern. Viele Ältere glauben daran, dass die Jungen mit dem „Fa`fafine spirit“ geboren wurden, andere sind der Überzeugung, dass man es anerziehen kann. Phineas Hartmon ist eine Fa`fafine und überzeugt, mit dem „fa`fafine spirit“ geboren zu sein. Er hat die Rolle der Fa`fafine in seiner Familie gern angenommen und sagt von sich selbst, dass er eine tolle Kindheit und eine liebevolle Familie hatte. Trotzdem er als Mädchen aufgezogen wurde, lebt er heute als Mann. Er trage die Weiblichkeit in sich, fühle sich trotzdem wohler als ein Mann, sagte er in einem Interview mit Patrick Abboud, einem Redakteur von „The Feed“. Auch Ymania ist eine Fa`fafine. Er ist als Junge geboren, hat sich aber relativ früh wie ein Mädchen gefühlt. Seine Familie erkannte den „Fa`fafine spirit“ und zog ihn als Mädchen auf. Ymania hat immer als Frau gelebt, sich so gekleidet und verhalten. Im Interview mit Patrick Abboud sagte er, dass er eine tolle Kindheit hatte, ihn niemals jemand für sein „Anderssein“ bestraft oder ihn eingeschränkt hätte. Allerdings gibt es auch viele Fa`fafine wie Leo Tanoi. Er hat sich nicht wie ein Mädchen gefühlt, wurde aber von seiner Mutter für die Rolle der Fa`fafine ausgewählt. Leo sagte im Interview, dass es nicht immer gut geht, wenn ein Junge als Fa`fafine ausgewählt wird. Er ist ein gutes Beispiel dafür. Seine Mutter erzog ihn als Mädchen, seine Brüder verprügelten ihn aber, weil er sich wie ein Junge verhalten sollte. Auf ihn wurde unheimlicher Druck ausgeübt, was zu ziemlich viel Verwirrung führte. Sowohl die körperliche als auch psychische Gewalt wurde zu viel für ihn. Er begann Petrol zu schnüffeln um all dem zu entfliehen. Mit 11 entschied er, seine Männlichkeit beweisen zu wollen. Er begann Football zu spielen. Heute sagt er, dass er niemandem wünscht, gegen den eigenen Willen als Fa´fafine großgezogen zu werden. Er empfindet dieses Vorgehen als Verbrechen.
Die ausgewählten Beispiele der Fa`fafine machen eines deutlich: Wenn das Kind sich sowieso eher für weibliche Dinge interessiert und sich weiblich fühlt, ist die Erziehung zu einem Mädchen ein Geschenk. Geschieht die Erziehung zu einem Mädchen aber als Zwang, so ist es für das Kind die reinste Tortur. So wie auch die Erziehung von Bruce zu Brenda die reinste Qual für Bruce war.
An den beiden Fällen David Reimer und Leo Tanoi kann man aufzeigen, dass sich die Kinder trotz konsequenter Erziehung vom Kleinkindalter an zum Weiblichen niemals wirklich weiblich gefühlt haben. Die weibliche Kleidung, die Spielsachen, die Regeln und die Aufgaben haben nicht gereicht, um aus einem Jungen ein Mädchen zu machen. Beide haben sich später entschieden, Männer zu sein.
Ist es nur bei diesen beiden gescheitert? Schließlich gibt es auch viele glückliche Fa`fafine.
Allein die Definition des Begriffes „Gender“ legt eigentlich nahe, dass es als sozial ausgehandeltes, veränderliches Konzept auf jeden Fall von Erziehung beeinflusst und anerzogen werden kann. Schließlich ist Gender veränderbar. Allerdings kann Erziehung nicht den kompletten Lebensbereich eines Individuums abdecken, sodass trotz Erziehung zu einem „weiblichen“ Individuum außerhalb der Familie „männliche“ Einflüsse sehr wohl Wirkung auf das Individuum haben können. Kinder nehmen nicht nur Eltern oder Familienmitglieder wahr, sondern auch andere Menschen um sie herum. Sie vergleichen sich, entdecken Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Entweder bestärken diese Erfahrungen sie in ihrer Geschlechtsidentität oder sie verwirren. Man sieht dies an beiden gewählten Fällen, sowohl am Falle von David Reimer als auch bei Leo Tanoi. Die Brüder von Leo ließen ihn spüren, dass er eigentlich kein Mädchen ist.
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[1] Ich benutze fortan zwar den Namen Brenda aber das Personalpronomen „er“, weil sich das Kind nie wirklich als „sie“ begriffen hat.
- Citation du texte
- Anonyme,, 2014, Wie weit kann Erziehung Gender beeinflussen und wo sollten die Grenzen liegen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336768
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