Im Jahre 2008 bricht in Island die große finanzielle, soziale und politische Krise aus, die noch heute das Leben der Isländer prägt. Wie jedoch ist es dazu gekommen? Welche Voraussetzungen spielten eine führende Rolle? Gab es Warner gegen diese Entwicklung? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieser Essay.
„Gott segne Island.“ Mit dieser für isländische Verhältnisse unüblichen Anempfehlung des Schicksals seines Landes an eine transzendente Macht leitet Ministerpräsident Geir Haarde am 06. Oktober 2008 in der isländischen Gesellschaft das Bewusstsein ein, sich in einer wirtschaftlich-finanziellen und sozialen Krise zu befinden.
Zunächst eine Schockstarre erleidend, beginnen die Isländer im Januar 2009 mittels der sogenannten Kochtopfrevolution gegen die konservativ-sozialdemokratische Regierung zu rebellieren. Diese tritt nicht unter dem Druck der protestierenden Bevölkerung aufgrund einer Verantwortlichkeit zurück; vielmehr bricht sie offiziell wegen gesundheitlicher Probleme der Führungspersonen zusammen. Im April 2009 wird erstmals in der isländischen Geschichte eine mehrheitlich linke Regierung gewählt.
Die schicksalhaften drei Worte der Rede von Geir Haarde erwecken nicht nur den Widerstand der Isländer gegen dieneoliberale Politik, sondern auch neue politisch-gesellschaftliche Impulse, die unter anderem zur Gründung der Protestpartei BestiFlokkurinn führen. Dies jedoch ist eine rezeptionell-empirische Sicht auf die Ereignisse am Ende des Jahres 2008.
In diesem Essay soll eine andere Frage im Vordergrund stehen: Standen die Isländer bis zum Platzen der neoliberalen Wirtschaftsblase dem Wirken der ‚Expansionswikinger‘ wirklich blind gegenüber? Oder gab es gegenüber dieser Form des ungezähmten Kapitalismus warnende Stimmen?
„Gott segne Island.“
Mit dieser für isländische Verhältnisse unüblichen Anempfehlung des Schicksals seines Landes an eine transzendente Macht leitet Ministerpräsident Geir Haarde am 06. Oktober 2008 in der isländischen Gesellschaft das Bewusstsein ein, sich in einer wirtschaftlich-finanziellen und sozialen Krise zu befinden. Zunächst eine Schockstarre erleidend, beginnen die Isländer im Januar 2009 mittels der sogenannten Kochtopfrevolution gegen die konservativ-sozialdemokratische Regierung zu rebellieren. Diese tritt nicht unter dem Druck der protestierenden Bevölkerung aufgrund einer Verantwortlichkeit zurück; vielmehr bricht sie offiziell wegen gesundheitlicher Probleme der Führungspersonen zusammen. Im April 2009 wird erstmals in der isländischen Geschichte eine mehrheitlich linke Regierung gewählt.
Die schicksalhaften drei Worte der Rede von Geir Haarde erwecken nicht nur den Widerstand der Isländer gegen dieneoliberale Politik, sondern auch neue politisch-gesellschaftliche Impulse, die unter anderem zur Gründung der Protestpartei BestiFlokkurinn führen. Dies jedoch ist eine rezeptionell-empirische Sicht auf die Ereignisse am Ende des Jahres 2008. In diesem Essay soll eine andere Frage im Vordergrund stehen: Standen die Isländer bis zum Platzen der neoliberalen Wirtschaftsblase dem Wirken der ‚Expansionswikinger‘ wirklich blind gegenüber? Oder gab es gegenüber dieser Form des ungezähmten Kapitalismus warnende Stimmen?Um zu verstehen, was im Island der frühen 2000er Jahre geschehen ist, stütze ich mich, da Island für deutsche Ökonomen erst nach Ausbruch der Krise interessant wurde, auf isländische Quellen, die in den Jahren 2006 und 2009 verfasst wurden, jedoch – aufgrund mangelnden Interesses von deutscher Seite – erst zwischen 2009 und 2011 in Deutschland erschienen sind:1. Als früheste warnende Stimme ist Andri Snær Magnason anzuführen.Seine2006 geschriebene Polemik „Traumland – Was bleibt, wenn alles verkauft ist?“ gegen die Industrialisierung Islands mittels Aluminiumwerken, die für amerikanische Interessen erbaut und mit der auf Island billigen Wasserkraft betrieben werden,wird zunächst nicht erhört;heute ist sie alsgewichtige Stimme gegen die Umweltzerstörung auf Island durch das Kárahnjúkar-Projekt[1] zu werten. 2. Der Schriftsteller Einar Már Guðmundsson schreibt in Reaktion auf den Zusammenbruch des isländischen Finanzsystems im Jahre 2009 ebenso eine Polemik zu den Ursachen des Kapitalismus und dessen Wirken auf Island.[2] 3. Eine weit gemäßigtere Stimme ist Halldór Guðmundssons in Zusammenarbeit mit Dagur Gunnarson erstellte Zusammenfassung der Geschehnisse im Jahre 2008/09 unter dem Titel „ Wir sind alle Isländer – Von Lust und Frust, in der Krise zu leben “[3], die ihrenWert dadurch gewinnt, dass hier Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen mit ihren Erfahrungen in der Zeit der wirtschaftlichen Expansion und ihrer Reaktion auf den Zusammenbruchzu Wort kommen. 4. Eine vierte Quelle ist die polemisch-witzige Autobiographie des Komikers Jón Gnarr, der durch Geir Haardes Worte eine politische Berufung erfuhr und zwischen 2010 und 2014/15 als Bürgermeister von Reykjavík gemäß seinen Idealen wirkte.[4]
Da dieser Essay sich vordergründig auf die Finanzkrise bezieht, werden ausschließlich die von Einar Már Guðmundsson und Halldór Guðmundsson verfassten Schriften zu Rate gezogen; jedoch dürfen weder „Traumland“ noch Jón Gnarr als in direkter Beziehung zu den Ereignissen von 2008/09 stehende Erscheinungen nicht vergessen werden: Sie sind relevant für die isländische Realwirtschafts- und Umweltpolitik der 2000er Jahre ebenso wie für die aus der Krise erstandene Parteienkonstellation sowie die Kommunalpolitik. Obwohl beide Schriften hier nicht bearbeitet werden, stellen sie eine wichtige Hintergrundinformation zur Entwicklung Islands in den Jahren vor und inmitten der Krise dar.
Wird der Hintergrund der Verfasser aller vier Auseinandersetzungen zu der Krise von 2008 betrachtet, fällt auf, dass sich liberale und konservative Kreise mit den politischen Geschehnissen der frühen 2000er Jahreund der daraus entstandenen Folgen nicht öffentlich befassen; vielmehr geschieht dies durch linksgerichtete Intellektuelle.
Als konservativste Stimme im Reigen der Kritik an der Regierung Haarde gilt Halldór Guðmundsson, der durch seine Position als Vorstandsvorsitzender des in Forlagið umbenannten Verlages Málog Menning als Vertreter der nach rechts gerückten Sozialdemokratie anzusehen ist. Diese Spielart der linken Auseinandersetzung mit der seit den 1980ern existierenden politischen Hegemonialstellung des Konservatismus in der westlichen Hemisphäre bezeichnet Einar Már Guðmundsson nach dem Briten Tony Blair, desjenigen „Sozialdemokraten“, dem es als erstes gelingt, diese zu durchbrechen, „Blairismus“. Einar Már bezeichnet den Blairismus als „Packesel der freien Marktwirtschaft“ [5], da sich in deren Zeichen nach kurzzeitigen (Wahl-)Erfolgen der Niedergang der Sozialdemokratie und der Siegeszug des Neoliberalismus beschleunigen. Der deutsche Vertreter dieser Politstrategie ist Gerhard Schröder, jener Bundeskanzler, der einerseits triumphal die „Ära Kohl“ beendete, andererseits mit seiner durch Missbräuche des alten Systems notwendig gewordenen liberalisierten Sozialpolitik die „Ära Merkel“ möglich machte. Im Jahre 2008 ist das Zwischenspiel des deutschen „Blairismus“ bereits beendet; mit der zu jener Zeit regierenden Großen Koalition begann Merkels Kanzlerschaft der in sich ruhenden Raute.
Einen Warner vor dieser parteipolitischen Entwicklung in Deutschland gab es nicht: Günther Grass, der in Deutschland diese Position literarisch-historisch-politisch innehielt, hatte sich 2004 mit der Novelle „Im Krebsgang“ als Mitläufer der Nationalsozialisten disqualifiziert. Ebenso wenig existierte auf deutscher Seite ein Warner vor den wirtschaftspolitischen Folgen des Neoliberalismus: Die Finanzkrise von 2008, ausgelöst durch die in den USA geplatzte Immobilienblase, traf Deutschland ebenso unerwartet wie viele andere Staaten in der westlichen Hemisphäre.Wie Deutschland entbehrt(e) Island eines Warners, der von Politik und Gesellschaft gleichermaßen ernst genommen wird: Halldór Laxness starb 1998. Ironischerweise legte Halldór Guðmundsson im Jahr der Selbstdisqualifizierung des deutschen Warners eine Biographie des isländischen Nobelpreisträgers vor, die bei Málog Menning erschien, jenem Verlag, dessen Nachfolger Forlagið die „Hvítabókin“, die isländische Ausgabe der Polemik Einar Már Guðmundssons, herausgab. Diese Tatsache kann als politische Richtung des Verlages gewertet werden; möglicherweise war die Veröffentlichung der „Hvítabókin“ aber auch eine Anregung für den Verlagschef, sich selbst aufklärerisch mit der Krise zu befassen.
Während auf Island polemisch-protestierendüber die Krise geschrieben wurde, kam es in den Jahren 2008/09 in Deutschland zu einer Schwemme mehr oder weniger seriöser Veröffentlichungen, die von „Wirtschaftsexperten“ verfasst wurden, die den aufmerksamen Leser aufklärten, vor weiteren Krisen warnten und mit deren Verunsicherung Geschäfte machten.
Wie jedoch kam es zur isländischen Krise?
Einar MárGuðmundsson bringtdie Quelle für Islands „Wirtschaftsaufschwung“ in den Jahren 2005/06 polemisch-direkt zur Sprache: „ Die Basis dazu [dem korrupten System, Einar MárGuðmundsson ] schufen sie [die Parteien der Mitte, Einar MárGuðmundsson ] mit Quoten im Fischereisektor, die vom Staat in die Hände der Reeder gelegt wurden und es ermöglichten, das Recht an ungefangenem Fisch auf dem Geldmarkt zu verbraten [sic] und sich so an der Naturressource der Nation zu bereichern.“[6] Als Parteien der Mitte bezeichnet der Schriftsteller die konservative Selbständigkeitspartei und die „ehemals bäuerliche“[7] Fortschrittspartei; übertragen auf die deutsche Parteienlandschaft entspräche dieseParteienverbindung einer konservativ-liberalen Koalition[8]. Die Regierung der Mitte-Parteienverwandeltemit dem Quotensystem auf den gesamten im Meer schwimmenden Fisch eine auf Island als unendlich eingeschätzte Ressource in einenknappen Wirtschaftsfaktor;diesführte dazu, dass große Reedereien Gewinn erwirtschafteten, während kleinere Betriebe – ebenso wie sich selbstversorgende Fischer – in die Pleite getrieben wurden. Die Funktion dieser Quoten kann als privatwirtschaftlich-staatliches Arrangement bezeichnet werden, weil die Fischerei als wichtigster Wirtschaftsfaktor einerseits teilweise aus der staatlichen Kontrolle entlassen wurde,umandererseits einseitig durch Großbetriebe privatwirtschaftlich kapitalisiert zu werden. Dadurch hat „die Wirtschaft gewissermaßen die Macht über Island übernommen“ [9], eine Problematik, die ebenso auf Deutschland übertragbar ist.
Dass der in den Jahren 2005/06 auf Island stattgefundene Boom der isländischen Wirtschaft auf Krediten, die sich mittels weiterer Kredite finanziert worden sind,basierte, ist nicht nur eine Folge des von den USA forcierten Neoliberalismus, sondern auch der Gier geschuldet, am weltweiten ökonomischen Boom teilzunehmen. Mittels Einrichtung der sogenannten ICESAVE-Konten wurde die Teilnahme Islands am internationalen Geldmarkt gesichert; diese „wurden eingerichtet, nachdem kein nennenswertes Geldinstitut den isländischen Banken noch Kredite einräumen wollte“ [10]. Die ICESAVE-Konten waren als Sparkonten mit hohen Zinsen ideal, aus England, Holland und Deutschland frisches Kapital in den isländischen Markt zu spülen[11]. Somit gestaltet sich ICESAVE als ein halbwegs gelungener Versuch mittels ausländischen Kapitals, den bereits um 2004 drohenden Kollaps des isländischen Bankensystems zu verschieben oder gar zu verhindern. Mittels ICESAVE wurden die Schulden Islands internationalisiert. Dieses Geld jedoch wurde nicht verwendet, die Schulden zu tilgen, sondern zur weiteren Anhäufung derselben genutzt.
Durch das international existente System des billigen Geldesals Grundlage zur Teilnahme am weltweiten Finanzmarkt haben sich als weiteres Problem die isländischen Wertvorstellungen verschoben: In der relativ homogen geschichteten Gesamtgesellschaft Islands hat sind aufgrund des „Verdienstes“ der Banker, der sich zusammensetzt aus astronomischen Gehältern, Vorkaufsrechten und Bonuszahlungen[12], eine Stratifizierung der Sozialgesellschaft entwickelt, die nunmehr aus Superreichen, einer bittstellerischen Mittelschicht und einer abgehängten Unterschicht besteht[13].
Obwohl umweltpolitisch mit Andri Snær Magnason ein Warner vor der Expansion der isländischen Wirtschaft existierte, haben die Isländer – sowohl die Bürger als auch die Regierung – die Augen vor den Risiken der wild expandierenden Marktwirtschaft verschlossen; ein ebensolcher Vorwurf ist jedoch auch den neoliberalen Regierungen in Gesamteuropa und den USA zu machen.
Literaturverzeichnis
Andri SnærMagnason: Traumland – Was bleibt, wenn alles verkauft ist? Freiburg 2011.
Einar MárGuðmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin. München 2010.
Halldór Guðmundsson: Wir sind alle Isländer. Von Lust und Frust, in der Krise zu leben. München 2009.
JónGnarr: Hören Sie gut zu und wiederholen Sie. Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte. Stuttgart 2014.
[...]
[1] Kárahnjúkarist nicht nur die schwerstedurch Menschen verursachte Umweltsünde Islands, sondern gilt als Pionierschwerindustrieprojekt für eine tiefgreifende Industrialisierung des Landes, die laut Andri SnærMagnason in alle wirtschaftlich-sozialen Bereiche hineinwirkt. Vgl. Andri SnærMagnason: Traumland – Was bleibt, wenn alles verkauft ist? Freiburg 2011. S. 49-50.Über die Schwerindustrialisierung Islands.
[2] Einar MárGuðmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin. München 2010. (= Einar Már)
[3] Halldór Guðmundsson: Wir sind alle Isländer. Von Lust und Frust, in der Krise zu leben. München 2009. (= Halldór)
[4] JónGnarr: Hören Sie gut zu und wiederholen Sie. Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte. Stuttgart 2014.
[5] Einar Már S. 21.
[6] Einar Már S. 18.
[7] Einar Már S. 17.
[8] Eine solche hat in Deutschland ebenso Lobbyarbeit geleistet wie auch auf Island.
[9] Einar Már S. 18.
[10] Einar Már S. 30.
[11] Halldór S. 20.
[12] Vgl. Einar Már S. 14.
[13] Vgl. Einar Már S. 14.
- Citar trabajo
- Petra Rodloff (Autor), 2016, Die Finanzkrise in Island im Jahr 2008 und ihre sozialen und politischen Folgen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335453