Anhand einer komparativen Lektüre von Baudelaires Gedicht "Les sept vieillards" aus dem "Les Fleurs du Mal"-Zyklus der Tableaux Parisiens, von Walter Benjamins Übersetzung "Die sieben Greise" und der gleichnamigen Übersetzung von Friedhelm Kemp, soll das Übersetzungsverhältnis zueinander betrachtet werden und Auffälligkeiten sollen dabei herausgearbeitet werden.
Zunächst wird dazu die französische Originalversion interpretiert, um dann auf die wortwörtliche Übersetzung Kemps und auf die freie Übersetzung Benjamins zu kommen. Unterschiede werden dabei sowohl den Inhalt als auch die Formalität betreffend aufgezeigt. Anschließend werden Benjamins Auffassung und Motive, die in seiner Version sichtbar werden, aufgezeigt. Zum Schluss werden exemplarisch noch einmal die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Interpretation der Originalversion Baudelaires
III. Charakterisierung der Übersetzungen
IV. Zusammenfassung
V. Literatur
I. Einleitung
Anhand einer komparativen Lektüre von Baudelaires Gedicht Les sept vieillards aus dem Les Fleurs du Mal -Zyklus der Tableaux Parisiens, von Walter Benjamins Übersetzung Die sieben Greise und der gleichnamigen Übersetzung von Friedhelm Kemp, soll das Übersetzungsverhältnis zueinander betrachtet werden und Auffälligkeiten sollen dabei herausgearbeitet werden. Zunächst wird dazu die französische Originalversion interpretiert, um dann auf die wortwörtliche Übersetzung Kemps und auf die freie Übersetzung Benjamins zu kommen. Unterschiede werden dabei sowohl den Inhalt als auch die Formalität betreffend aufgezeigt. Anschließend werden Benjamins Auffassung und Motive, die in seiner Version sichtbar werden, aufgezeigt. Zum Schluss werden exemplarisch noch einmal die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.
II. Interpretation der Originalversion Baudelaires
[1] Das Gedicht Les sept vieillards aus dem Les Fleurs du Mal -Zyklus der Tableaux Parisiens ist Baudelaires Freund Victor Hugo gewidmet. Baudelaire gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der Moderne in Europa. In seinem Gedicht stellt er die Großstadt als abstoßende und düstere Welt vor und orientiert sich dabei am überbevölkerten, explosionsartig wachsenden und schmutzigen Paris der Zeit. Das Gedicht, das dreizehn Strophen zu je vier Versen aufweist, ist durchgehend mit umarmenden Reimen versehen. Es kann in drei Abschnitte unterteilt werden: die Beschreibung der Großstadtszenerie (I-III), die unheimliche Erscheinung der Greise (IV-IX) und des lyrischen Ich Bekennung und Einsicht zu seinen Ängsten (X-XIII).
Dargestellt wird zunächst eine Großstadtszenerie (fourmillante cité I.1), in der der flâneur seine unheimliche Begegnung macht. Das lyrische Ich, „der flanierende Dichter“[2], ist eine urbane Figur, ein Mann der sich in der Menge aufhält. Beim Bild der Großstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist, handelt es sich „um die amorphe Menge der Passanten, um Straßenpublikum.“[3] Die Stadt ist noch voller Träume (rêves I.1) und Geheimnisse (mystères I.3), doch ist sie dabei vom Nebel (la brume II.2) verschleiert zu werden. Ein gelber, schmutziger „brouillard“ (III.1) legt sich über die ganze Metropole, in der der flâneur auszuharren versucht. Der Nebel und der Dunstkreis ergeben eine geheimnisvolle, traumähnliche Welt. Die ganze Szenerie ist jenseits der Vernunft, sie ist irrational. „Die Hyperrealität schiebt sich über die Realität.“[4] Es ist die Semantik des Unheimlichen, mit der man das Bild bezeichnen könnte. Die „tombereaux“ (III.4), also Kipkarren, werden hier absichtlich benutzt, da sie ähnlich wie „tombeaux“, Gräber, klingen.
Diese unheimliche, düstere Szenerie, die in den ersten drei Strophen dargestellt wird, wird dann von einem „tout à coup“ (IV.1) plötzlich unterbrochen. Hier findet eine Wende statt. Unerwartete Dinge tauchen auf. Der flâneur sieht eine verschwommene, „geisterhafte Erscheinung.“[5] Ein „vieillard“ (IV.1), ein Greis taucht wie aus dem Nichts auf. Hier verändert sich auch die Zeit. Wo vorher der Imparfait benutzt wurde, wird jetzt vom Passé simple Gebrauch gemacht. Waren Zeitangaben am Anfang noch präzise durch „un matin“ (II.1) oder „en plein jour“ (I.2), so geht die genaue Zeitebene hier verloren.[6] Die merkwürdige Erscheinung ist ein in Lumpen gekleideter Greis. Allerdings wirkt er nicht mitleiderregend, sondern boshaft durch die Galle in seinen Augen und seinen frostigen Blick. Sein langer, spitzer Bart (barbe à long poils V.3), ein Teufelsattribut, macht ihn noch unheimlicher. Der Bart, der hier wie ein Schwert (épée V.3) nach vorne steht, wirkt wie eine Waffe und vermittelt Aggressivität. Man kann ihm sogar eine phallische Dimension zukommen lassen.[7] Dieser Phallus, der starr nach vorne steht (se projettait V.4) „kann geradezu als Vergewaltigungsversuch [...], zumindest aber als deutlicher Exhibitionismus gedeutet werden.“[8] Zudem wird der Bartwuchs mit dem eines „Judas“ (V.4) verglichen.
Dass der Greis „cassé“ (VI.1), also gebrochen ist, nimmt ihm seine Menschlichkeit und ordnet ihm eine Dinghaftigkeit zu. Grunwald zufolge wird er durch seinen Stock (bâton VI.3) und sein gebrochenes Rückgrat zur „Puppe“ oder zur „Marionette.“[9] Seine Mehrbeinigkeit, die ihm der „kranke Vierbeiner“ (quadrupède infirme VII.1) oder der „Jude auf drei Pfoten“ (juif à trois pattes VIII.1) verleihen, geben ihm wiederum etwas Animalisches. Doch ist er weder Tier noch Mensch, denn Menschen sind zweibeinig. Der Greis wird allerdings entweder als dreibeinig dargestellt, wenn er sich auf seinem Stock abstützt, oder aber als lahmer Vierbeiner. Als Jude entfällt er der Einordnung ins Mensch- oder Tiersein. Er ist nichts von beiden und damit ein Außenseiter, möglicherweise etwas „Monströses.“[10] Er verkörpert „die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch und zwischen Norm und Abnorm.“[11] Genauso wie die Stadt, die sich im Nebel aufgelöst hat, haben sich auch „die Grenzen des Mensch-Seins [...] in gattungsbiologischer und moralischer Hinsicht“[12] im Greis aufgelöst.
Dass er sich vervielfältigen kann, kommt mehrmals vor, wenn einerseits von seinem Ebenbild (son pareil VIII.1) und andererseits davon, dass er sich vermehren kann (se multiplier IX.4), die Rede ist. Die Zuordnung multipler Persönlichkeiten macht den Greis zu einem Wahnsinnigen. Zudem kommt sein Ebenbild aus der Hölle (enfer VIII.2). Der „hundertjährige Zwillingsbruder“ (jumeau centenaire VIII.3) benimmt sich genauso unheimlich wie der erste Greis und unterscheidet sich in keiner Hinsicht von ihm, er ist eine Kopie. Insgesamt vermehrt er sich siebenmal, Minute für Minute (IX.3). Dass der Hundertjährige (centenaire VIII.3) in der Lage ist, Siebenlinge zur Welt zu bringen, macht ihn noch unmenschlicher. Auch das Ewige (éternel X.4) der Greise gibt ihnen etwas Mechanisches, Unmenschliches. Alle kommen aus derselben Hölle (du même enfer VIII.2) Man kann von Inzest sprechen, wenn er sich selbst vervielfältigt und „fils et père de lui-même“ (XII.3) ist. Die Reproduktion wirkt fabrikartig und mechanisch, als ob sie von einer Maschine unendlich oft durchgeführt werden könnte – „ein Trauma der entindividualisierten Großstadterfahrung der Moderne.“[13] Die Vervielfältigung steht für eine irreguläre, unnatürliche Fortpflanzung. Man entzieht sich hier radikal jeder Natur. Die Fabrikhaftigkeit und Industrie wird im Gedicht alles andere als positiv bewertet. Die Abwesenheit von Natur, die „Hölle“ und die beschriebenen Massen der Großstadt ähneln einem Gruselkabinett, in dem kein Mensch leben will. Das lyrische Ich kehrt dem „cortège infernal“ (XI.4), dem „Höllenzug“ den Rücken, dennoch kann es ihm nicht entkommen. Erschöpft (exaspéré XII.1) und entsetzt (épouvanté XII.2) sieht es womöglich ein, dass dieser Greis das Ebenbild seiner selbst ist. Diese Erkenntnis löst den Schockmoment aus. Die „Erfahrung des Chocks gehört zu [den Momenten], die für Baudelaires Faktur bestimmend geworden sind.“[14] Die großstädtische Wirklichkeit setzt seine „Bewohner einer Vielzahl visueller und haptischer Schocks“[15] aus und zwingt sie „zur Herausbildung neuer ‚Formen des Reagierens’“.[16]
Die dargestellte Hölle repräsentiert die Schrecken der industrialisierten Welt. Eine Modernitätserfahrung, die Angst verbreitet. Baudelaires Werk ist dabei grundsätzlich von einem „tiefen und verzweifelten Gefühl des Ohne-Gott-Seins“[17] markiert. In seiner Poesie manifestiert sich dieses traurige „Gefühl der Gottverlassenheit“[18] in unheimlichen, „monströsen Erscheinungen,“[19] die sich in diesem Fall in den reproduzierbaren Greisen widerspiegeln. Der Greis in der ihm umgebenden, abstoßenden Stadt, wird zum Spiegelbild des lyrischen Dichter-Ich in einem düsteren Paris. Baudelaire, der selbst Jude war, stellt sich hier einer grausigen Modernitätserfahrung aus.
Die beschriebene Struktur entspricht der im 19. Jahrhundert von Baudelaire vertretenen Bewegung, die sich in der Redewendung „l’art pour l’art“ ausdrückt. Sie steht für eine Kunst, die nur um ihrer selbst Willen existiert. Indem sie sich selbst genügt, wird sie autonom und braucht keinen anderen Zweck mehr zu erfüllen. In der Wendung kommt die Liebe zum Künstlichen, die keine Natur zulässt, zum Vorschein. In Deutschland mündet diese Bewegung etwas später in die Auffassung des Ästhetizismus. Was sich in diesem Gedicht von der Bewegung unterscheidet, ist, dass es der Auffassung, sie brauche nicht zu moralisieren, widerspricht. Denn die Industrialisierung der Moderne wird zutiefst kritisiert und es wird vor deren Gefahren gewarnt. Baudelaires Lyrik hatte somit revolutionäre Tendenzen.
III. Charakterisierung der Übersetzungen
Die zwei Übersetzungen ins Deutsche könnten unterschiedlicher nicht sein. Fast kein Wort stimmt mit dem anderen überein. Die Unterschiede sollen in einem analytischen Vergleich der zwei Versionen und in Bezug auf den Originaltext festgemacht werden. Sie unterscheiden sich dabei sowohl in ihrer Tendenz als auch in ihrer Formalität. Interpretatorisch entsteht ein überraschendes Bild bei Benjamin, das bei Kemp so nicht der Fall ist. Zunächst sollen Beispiele aufgezeigt werden, wie die beiden Übersetzungen sich inhaltlich unterscheiden, um später formale Unterschiede zu betrachten und Motive bei Benjamin herauszuarbeiten.
[...]
[1] Textzitate werden der besseren Übersicht wegen folgendermaßen wiedergegeben: die jeweilige Strophe wird mit einer römischen Ziffer gekennzeichnet und der Vers mit einer arabischen Ziffer. Das Original und die zwei Übersetzungen befinden sich am Ende dieser Arbeit.
[2] Caroline Grunwald: „Sept monstres hideux“. Das Monströse zwischen Baudelaire und Benjamin. In: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Hrsg. von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein. Bielefeld: Transcript Verlag 2009, S. 572.
[3] Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974, S. 114.
[4] Grunwald, S. 573.
[5] Ebd., S. 573.
[6] Siehe ebd., S. 573.
[7] Siehe ebd., S. 575.
[8] Ebd., S. 575.
[9] Ebd., S. 574.
[10] Ebd., S. 571.
[11] Ebd., S. 574.
[12] Ebd., S. 574.
[13] Ebd., S. 573.
[14] Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974, S. 113.
[15] Benjamin-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler Verlag 2006, S. 572.
[16] Ebd., S. 572.
[17] Grunwald, S. 578.
[18] Ebd., S. 572.
[19] Ebd., S. 572.
- Arbeit zitieren
- Nadine Weber (Autor:in), 2015, Komparatistischer Vergleich von "Les sept vieillards" und "Die sieben Greise". Unterschiede von Inhalt und Form bei Charles Baudelaire, Friedhelm Kemp und Walter Benjamin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335441
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