Sprache, als zentrales Element der Politik, dient der Vermittlung politischer Ansichten und der Verhandlung von Sachverhalten und Problemen. In der repräsentativen Demokratie kommt der politischen Kommunikation deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil Macht in Form eines politischen Mandates von der Zustimmung der Bürger abhängt und zeitlich begrenzt ist.
Politiker müssen nicht nur im Wahlkampf, sondern tagtäglich um das Vertrauen der Bürger_innen werben, um im Amt bleiben zu können. Vor diesem Hintergrund dient Sprache bei der Beeinflussung von Wahlentscheidungen nicht nur der bloßen Vermittlung von Inhalten, beziehungsweise Weltanschauungen.
Vielmehr wird sie von Politiker strategisch eingesetzt, um die eigene Teilnahme an der Machtausübung und somit die Durchsetzung von Interessen zu sichern. Dabei kann Ideologie, im Sinne einer negativen Begriffsbedeutung als Weltanschauung mit umfassendem Anspruch, instrumentalisiert werden, um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu verhindern. Die Offenlegung solcher diskurseinschränkender Tendenzen ist vor allem vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Forderungen nach mehr demokratischer Partizipation essentiell.
Am Beispiel zweier Reden (anlässlich seines Amtsantritts 1999 vor dem venezolanischen Kongress und vor den Vereinten Nationen 2006) des ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez (1999-2013) wird im Rahmen der vorliegenden diskurslinguistischen Analyse auf Grundlage des DIMEAN Modells von Spitzmüller und Warnke (2011) gezeigt, wie das lateinamerikanische Staatsoberhaupt Sprache und Ideologie zur Legitimierung seiner Macht nutzte.
Inhaltsverzeichnis
ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGEN
TABELLEN
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
SPRACHE UND IDEOLOGIE IN DER POLITISCHEN KOMMUNIKATION
SPRACHE UND POLITIK
SPRACHFUNKTIONEN IN DER POLITISCHEN KOMMUNIKATION: SPRACH- UND
ANALYSEMODELLE POLITISCHER SPRACHE
IDEOLOGIE IN DER POLITISCHEN SPRACHE UND IHRE ROLLE BEI DER KONSTRUKTION VON
WIRKLICHKEIT UND MACHTLEGITIMIERUNG
METHODOLOGIE UND METHODE DER DISKURSLINGUISTIK
BEGRIFF „DISKURS“ UND DISKURSLINGUISTIK
DISKURSLINGUISTISCHE MEHR-EBENEN-ANALYSE (DIMEAN) NACH SPITZMÜLLER UND
WARNKE (2011)
DISKURSLINGUISTISCHE ANALYSE DER REDEN HUGO CHÁVEZ’ ANLÄSSLICH SEINES AMTSANTRITTS (1999) UND VOR DEN VEREINTEN NATIONEN (2006)
KONTEXTUELLE EINORDNUNG DER REDEN HUGO CHÁVEZ’
Rede anlässlich des Amtsantritts 1999: neuer politischer Kurs in Venezuela
Rede vor den Vereinten Nationen 2006: auf dem Weg zur Wiederwahl
TRANSTEXTUELLE EBENE DER DISKURSLINGUISTISCHEN ANALYSE: DISKURSORIENTIERTE ANALYSE
Historizität und Kontinuität: Simón Bolívar und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts
Frames: Konstruktion nationaler Identität
Gouvernementalität: der Caudillo
DIE AKTEURSEBENE DER DISKURSLINGUISTISCHEN ANALYSE
Diskursposition: Hugo Chávez als ideology broker
Medialität: Medium„Fernsehen“
INTRATEXTUELLE EBENE DER DISKURSLINGUISTISCHEN ANALYSE: TEXTORIENTIERE ANALYSE
Metaphernfelder: Krise, Gefahr und Rettung
Isotopie- und Oppositionslinien: Chávez/ el pueblo vs. lasélites/ imperialistas neoliberales
INTRATEXTUELLE EBENE DER DISKURSLINGUISTISCHEN ANALYSE:
PROPOSITIONSORIENTIERTE ANALYSE
Deontische Bedeutung: Direktion und Normierung
Rhetorische Tropen und Figuren
INTRATEXTUELLE EBENE DER DISKURSLINGUISTISCHEN ANALYSE: WORTORIENTIERTE ANALYSE
Schlüsselwörter: Miranda und Anti-Miranda
Schlagwörter: Fahnen- und Stigmawörter
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
PRIMÄRLITERATUR
SEKUNDÄRLITERATUR
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen
Abbildung 1: Das Organon-Modell nach Karl Bühler ([1934]1965: 28)
Abbildung 2: Die Konversationsmaximen nach Grice ([1975]1979: 249-250)
Abbildung 3: Faktorenmodell der politischen Kommunikation nach Hannapel/Melenk 1984: 21 und Herrgen 2000: 38 (Darstellung nach Girnth 2002: 31)
Abbildung 4: Klassisches repräsentationales Zeichenmodell
Abbildung 5: Ideologisches Zeichenmodell (nach Vološinov[1929]1975: 71)
Abbildung 6: Darstellung der Konstituentenposition des Diskurses innerhalb der Sprache (nach Spitzmüller/Warnke 2011: 24)
Abbildung 7: Status der Akteure in der Diskurslinguistik (nach Spitzmül- ler/Warnke 2011: 136)
Abbildung 8: Die Gliederung des Ideologievokabulars (Darstellung nach Girnth 2002: 55)
Tabellen
Tabelle 1: Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) nach Spitzmüller und Warnke (2011)
Tabelle 2: Oppositionslinien im Diskurs von Hugo Chávez (eigene Darstellung)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
Hugo Chávez gehört zu den bekanntesten südamerikanischen Politiker_innen und das nicht zuletzt wegen seiner auffallenden medialen Präsenz und populistischen Rhetorik. Der ehema- lige venezolanische Präsident, der bereits 2013 während seiner noch laufenden zweiten (bzw. dritten) Amtszeit seinem Krebsleiden erlag, polarisierte sowohl im In- als auch Ausland wie kaum ein anderer. Grund dafür waren seine umstrittenen politischen Ansichten und die von ihm propagierte Ideologie, deren Umsetzung weitreichende Folgen nicht nur für Venezuela, sondern auch für die Staaten in der Region und darüber hinaus hatte und infolgedessen welt- weit kontrovers diskutiert wurde.
Als zentrales Element der Politik gilt die Sprache. Über sie werden politische Ansichten ver- mittelt und Sachverhalte und Probleme verhandelt. In der repräsentativen Demokratie kommt der politischen Kommunikation deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil Macht in Form eines politischen Mandates von der Zustimmung der Bürger_innen abhängt und zeitlich be- grenzt ist. Insofern müssen die Politiker_innen für die Erlangung eines Mandates nicht nur im Wahlkampf um das Vertrauen der Bürger_innen kämpfen, sondern für das Verbleiben im Amt diesen Kampf tagtäglich führen. Bei der Beeinflussung von Wahlentscheidungen dient die Sprache in der Kommunikation mit den Wähler_innen jedoch nicht nur der bloßen Ver- mittlung von Inhalten, bzw. Weltanschauungen. Vielmehr wird die Sprache von den Politi- ker_innen strategisch eingesetzt, um die eigene Teilnahme an der Machtausübung und somit die Durchsetzung von Interessen zu sichern. Dabei kann Ideologie im Sinne einer negativen Begriffsbedeutung als Weltanschauung mit umfassenden Anspruch instrumentalisiert werden, um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu verhindern. Als Mittel der Diskurseinschrän- kung dient sie damit der Legitimierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Eine Aus- einandersetzung mit diesem Thema ist insofern interessant, dass in den Demokratien und auch anderen politischen Regierungsformen weltweit immer mehr demokratische Mitbestim- mungsrechte gefordert werden. Diskurseinschränkungen wirken diesen Tendenzen jedoch entgegen und sind teilweise derart subtil, dass eine Offenlegung der Mechanismen politischer Kommunikation essentiell im Zusammenhang mit mehr demokratischer Partizipation ist. In diesem Zusammenhang wurde auch Hugo Chávez immer wieder vorgeworfen, er nutze Ideo- logie zur Legitimierung seiner Macht. Ob diese Vorwürfe gerechtfertigt sind, soll im Rahmen dieser Arbeit geklärt werden. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt darin, mit Hilfe heu- ristischer Methoden die dem Diskurs Hugo Chávez’ zugrunde liegende Ideologie herauszuar- beiten und aufzudecken, wie er diese Ideologie für das Erlangen bzw. den Erhalt seiner Macht nutzbar macht. Ein vielversprechendes Analysemodell bietet hier die Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) nach Spitzmüller und Warnke (2011). Es integriert epistemologisch-diskurssemantische mit kritisch-machtanalytischen Ansätzen der linguistischen Diskursanalyse und ermöglicht damit eine umfassende Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Ideologie und Sprache in der politischen Kommunikation.
Grundlage für die diskurslinguistische Analyse bilden zwei von Hugo Chávez’ berühmtesten Reden - die Rede anlässlich seines Amtsantritts 1999 vor dem venezolanischen Kongress und die Rede vor den Vereinten Nationen 2006. Bevor diese jedoch näher betrachtet werden, soll im Theorieteil dieser Arbeit zunächst näher auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Politik sowie auf Sprach- und Analysemodelle politischer Sprache eingegangen werden. Dar- über hinaus soll auf das Thema Ideologie in der politischen Sprache und ihre Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit und Machtlegitimierung eingegangen werden. Im Methoden- teil wird der Fokus zunächst auf dem Begriff „Diskurs“ und auf den verschiedenen Strömun- gen innerhalb der Diskurslinguistik liegen, um daran anschließend das der vorliegenden Ar- beit als Analysemodell dienende DIMEAN-Modell von Spitzmüller und Warnke (2011) vor- zustellen. Der folgende Analyseteil teilt sich in vier Unterpunkte. Zunächst soll eine kontex- tuelle Einordnung der zu analysierenden Reden Hugo Chávez’ erfolgen. Daran schließt sich die Analyse der Reden dem DIEMAN-Schema folgend auf drei unterschiedlichen Ebenen an. Auf der ersten, der transtextuellen Ebene, werden Historizität und Kontinuität und die Rolle Simón Bolívars bei der Darstellung und Vermittlung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts sowie die Rolle von Frames bei der Konstruktion nationaler Identität und Gouvernementalität und Caudillismo als politischer Führungsstil näher betrachtet werden. Auf der zweiten Ebene, der Akteursebene, werden Diskursposition (Hugo Chávez als ideology broker) und Medialität (die Rolle des Mediums „Fernsehen) im Fokus der Betrachtungen stehen. Die dritte Ebene, die intratextuelle Ebene, teilt sich in drei analytische Unterebenen: erstens die textorientierte Analyse, in der Metaphernfelder und Isotopie- und Oppoistionslinien betrachtet werden, zwei- tens die propositionsorientierte Analyse mit der Betrachtung von deontischen Bedeutungen sowie rhetorischen Tropen und Figuren und drittens die wortorientierte Analyse, in der es um die Erforschung von Schlüssel- und Schlagwörtern gehen soll. Bei den Analysekategorien handelt es sich lediglich um eine Auswahl, die als am geeignetsten für die Beantwortung der Forschungsfrage betrachtet wird. Spitzmüller und Warnke selbst haben darauf hingewiesen, dass der Vorteil des DIMEAN-Modells darin liegt, dass es keinen Anspruch auf eine konse- kutive Analyse aller Kategorien erhebt und somit Detailperspektiven ermöglicht. In diesem Sinne ist darauf hinzuweisen, dass die hier vorliegende Analyse ein erster Schritt zur Untersu- chung der Forschungsfrage ist, jedoch Raum für weitere Analysen besteht.
Sprache und Ideologie in der politischen Kommunikation
Sprache und Politik
Sprache und Politik sind so alt wie die Menschheit selbst und so setzten sich bereits die Philosophen der Antike damit auseinander. In seinem Werk Politik spricht Aristoteles bereits im vierten Jahrhundert vor Christus vom Menschen als zoon politicon, als soziales und politisches Wesen, das der Vernunft und der Sprache („Logos“) mächtig ist. Sprachfähigkeit sei die Bedingung für die Staatenbildung, die Bedingung für das Erreichen des „guten Lebens“ des Menschen sei. So wird bereits bei Aristoteles deutlich, dass Sprache und Politik fest miteinander verbunden sind. Aber auch die Ausführungen Eugenio Coserius und Óscar Loureda Lamas, die sich in ihrem Werk Lenguaje y discurso (Coseriu/Loureda Lamas 2006) mit dem Thema auseinandersetzt, verdeutlicht die enge Verbindung zwischen Sprache und Politik. Er spricht von zwei fundamentalen Perspektiven auf das Thema:
El tema ’lenguaje y política’ puede entenderse -y de hecho se entiende- en varios sentidos di- ferentes que, sin embargo, corresponden a sólo dos perspectivas fundamentales: la perspectiva de la política, en la que el lenguaje se considera como uso lingüístico propio de las actividades llamadas ’políticas’ […], y las perspectiva del lenguaje, en la que lo político se presenta como dimensión esencial del lenguaje mismo, dimensión que, a su vez, se manifiesta en -y determi- na- actitudes y actividades ’políticas’ (una ’política del lenguaje’). (Coseriu/Loureda Lamas 2006: 35)
Aus der Perspektive der Politik ist Sprache demnach als sprachliches Werkzeug der Politik zu verstehen. Im Sinne der Auffassung Coserius und Loureda Lamas‘ hat Girnth aber auch da- rauf hingewiesen, dass „Sprache [eben] nicht nur irgendein Instrument der Politik, sondern überhaupt erst die Bedingung ihrer Möglichkeit [ist]“ (Girnth 2002:1). Laut Niehr ist Politik ohne Sprache überhaupt nicht denkbar (Niehr 2014: 11), eine Annahme, die uns zur Perspek- tive der Sprache führt. Ihr zufolge ist Politik eine der Sprache inhärente Dimension, die sich in politischen Handlungen manifestiert. Anders gesagt: Politik vollzieht sich in Sprache. Grü- nert führt hierzu aus:
Politik wird durch (mit) Sprache entworfen, vorbereitet, ausgelöst, von Sprache begleitet, beeinflußt, gesteuert, geregelt, durch Sprache beschrieben, erläutert, motiviert, gerechtfertigt, verantwortet, kontrolliert, kritisiert, be- und verurteilt. (Grünert 1983:43)
Hier wird sehr deutlich, dass erst die Sprache Politik überhaupt ermöglicht und dass demzu- folge politische Tätigkeit eben immer auch sprachliche Tätigkeit ist (Heringer 1990: 9). Bei der Auseinandersetzung mit der politischen und sprachlichen Tätigkeit erscheint es sinnvoll, zunächst auf die Ausführungen Max Webers zum sozialen Handeln von Menschen einzugehen. In seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie ([1921]1972) schreibt der Begründer der Soziologie:
’Handeln’ soll [...] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales’ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in einem Ablauf orientiert ist. (Weber:[1921]1972: 1)
Soziales Handeln beinhaltet demnach die Absicht, bei den Mitmenschen bestimmte Reaktio- nen und Handlungen auszulösen. Geht man davon aus, dass „Sprache in der Politik [...] vor allem sprachliches Handeln in der Politik“ (Girnth 2002: 1) bedeutet, dann liegt der Sprache in der Politik die Absicht des/der Sprechenden zu Grunde, bei den Mitmenschen eine be- stimmte Reaktion oder ein bestimmtes Handeln auszulösen. In der westlichen Demokratie wäre dies die Absicht des Politikers/der Politikerin die Entscheidung des Wählers/der Wähle- rin, sich an die Wahlurne zu begeben und seine/ihre Stimme für den/die jeweilige(n) Politi- ker_in abzugeben.
Die Staatsform der Demokratie im Allgemeinen basiert auf dem Prinzip der Volksherrschaft, bzw. der Herrschaft der Mehrheit der Bürger, die das Recht auf politische Mitbestimmung und Partizipation an Entscheidungsprozessen haben (Schultze 2005: 124). In der repräsentati- ven Demokratie geschieht dies durch die politischen Repräsentant_innen, sprich die Politi- ker_innen. Diese entscheiden im Namen der Bürger_innen, aber nur solange, wie sie deren Vertrauen genießen, weshalb sie permanent für deren Zustimmung werben müssen. Kommu- nikation und Information sind daher grundlegende Kategorien der westlichen Demokratie, da die diskursive Meinungsbildung die Basis für die demokratische Entscheidungsfindung und für politisches Handeln bildet (Jäger 1996: 67). Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass politische Kommunikation nicht mit Politik selbst gleichzusetzen ist. Politische Kommunikation „ergänzt die Politik, sie organisiert und steuert die Bereitschaft, einer be- stimmten Politik zuzustimmen“ (Girnth 2002: 3). Politik hingegen kann man verstehen als „auf die Durchsetzung bestimmter Ziele bes. im staatlichen Bereich u. auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtetes Handeln von Regierungen, Parlamenten, Parteien, Organisati- onen o.Ä.“ (Duden: Politik). Politisches Handeln ist in diesem Zusammenhang der „Kampf um Macht und Herrschaft, um Teilnahme an der Machtausübung und ihre Sicherung zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen und Interessen“ (Grünert 1974: 2), bei dem die Sprache und sprachliches Handeln nicht nur eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch grundlegende Voraussetzung für ihn sind.
Sprachfunktionen in der politischen Kommunikation: Sprach- und Analysemodelle politischer Sprache
Grundlegend für das Verständnis der Funktion von Sprache in der politischen Kommunikati- on ist das in der Sprachtheorie am häufigsten auftauchende Organon-Modell von Karl Bühler ([1934]1965), auf das im Allgemeinen die heute in der Linguistik existierenden Modelle von Sprachfunktionen zurückgehen. Bühler versteht die Sprache als organon, als Werkzeug, das dazu dient, „dem anderen etwas mitzuteilen über die Dinge“ (Bühler[1934]1965: 24). Wie man in der Abbildung 1 erkennen kann, steht die Sprache bzw. das sprachliche Zeichen (hier „Z“) im Zentrum der Kommunikation, die dargestellt ist als Gefüge von Sender, Empfänger und Gegenständen/Sachverhalten. Das sprachliche Zeichen, das eine Verbindung zwischen Sender, Empfänger und Gegenständen/Sachverhalten herstellt, besitzt hier drei Funktionen: Ausdrucks-, Darstellungs- und Appellfunktion. Mithilfe des sprachlichen Zeichens, bzw. über die Sprache, kann der Sender sich ausdrücken, Gegenstände und Sachverhalte darstellen und einen Appell an den Empfänger richten, der diesen dazu bewegen soll, etwas zu tun oder zu unterlassen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Das Organon-Modell nach Karl Bühler ([1934] 1965: 28)
In der Kommunikation im Allgemeinen und in der politischen Kommunikation im Besonde- ren, sind stets alle drei Sprachfunktionen vorhanden. Sie sind als „die in einer sprachlichen Handlung encodierte Intention des Politikers zu verstehen“ (Girnth 2002: 38). Andersherum bedeutet das, dass es die Intention des Sprechers/der Sprecherin bzw. des Politikers/der Poli- tikerin ist, darüber entscheidet welche der drei Funktionen überwiegt. Zwar wird oft behaup- tet, in der politischen Kommunikation sei die Darstellungsfunktion der Sprache entscheidend, doch hat Dieckmann zu Recht darauf hingewiesen, dass „dem Menschen, der sich rein auf diese Funktion beschränken wollte, außerhalb wissenschaftlicher Publikationen nicht viel zu reden übrig bliebe“ (Dieckmann 1975: 26). Vergegenwärtigt man sich, dass Sprache in der politischen Kommunikation vor allem dazu dient, „im Medium der Öffentlichkeit Zustim- mungsbereitschaft zu erzeugen“ (Niehr 2014: 12)1, dann wird deutlich, dass
[...] anders als [...] in der alltäglichen Kommunikation oder auch in der Wissenschaft [in der politischen Sprachverwendung] das Moment des Appellativen eine bevorzugte Rolle einnehmen [wird], weil es in der Politik im allgemeinen um das Durchsetzen von Interessen und Herrschaftsansprüchen und im Sonderfall des demokratischen Staates mit parlamentarischem System um die Schaffung von öffentlicher Akzeptanz und um die Beeinflussung von Wahlentscheidungen geht. (Burkhardt 1988: 340)
Wenn man sich mit der Durchsetzung von Interessen und der Beeinflussung von Wähler_innen durch Sprache beschäftigt, dann taucht schnell die Frage nach Manipulation auf. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Grice’sche Kommunikationsmaximen-Modell ([1975]1979). Grundidee des von H. Paul Grice entwickelten Modells ist, dass der Kommunikationsprozess ohne bestimmte den Verstehensprozess steuernde Voraussetzungen nicht möglich ist. Diese Voraussetzungen, die er Kommunikationsmaxime nennt, sollen die effektive Kommunikation garantieren (siehe Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Die Konversationsmaximen nach Grice ([1975]1979: 249-250)
Soll politische Kommunikation erfolgreich sein, dann ist der/die Politiker_in angehalten, den/die Wähler_in umfassend (= Maxime der Quantität), wahrhaftig (= Maxime der Qualität), angemessen und adressatenorientiert ( = Maxime der Relevanz) und verständlich (= Maxime der Modalität) zu informieren. Das „Hintergehen von Maximen [könnte] als Verlust an politi- scher Moral und Glaubwürdigkeit gewertet [werden]“ (Girnth 2002: 27) und könnte dem/der Politiker_in seine/ihre Basis entziehen, nämlich das Vertrauen der Bürger_innen, das die Grundlage seines/ihres Mandates bildet. Die Folge wäre das Verlieren einer Wahl oder die Amtsenthebung.
Hans Jürgen Heringer, der das Grice’sche Modell weiterentwickelte (1990), ist der Ansicht, dass das Nichtbefolgen oder sogar Hintergehen der Maxime eine typische Eigenschaft sprach- lichen Handelns in der Politik sei. Er verweist auf „Ersatzmaxime“, wie beispielsweise „Be- achte nicht, was deine Adressaten wissen wollen“ oder „Sag wenig, aber wiederhole es immer wieder“ (Heringer 1990: 125). Auch bei Straßner findet man den Vorwurf der wissentlichen und vorsätzlichen Störung in der politischen Kommunikation. Er hat darauf hingewiesen, dass
[...] es [...] in der Politik um Erfolg [geht], der offensichtlich nicht erzielt werden kann durch streng sachbezogene, wahre, einsichtige, nachvollziehbare Aussagen, Begründungen, Erklä- rungen, Beweise, Argumente. Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um ein Lügen, Betrügen, Täuschen, Ablehnen, Heucheln, aufs Kreuz legen, das aber als eigene Wahrheit ausgegeben wird. (Straßner 1991: 137)
Erfolg meint hier Wahlsieg oder das Verbleiben im Amt, das primäres Ziel von Politi- ker_innen ist. Natürlich spielt auch das Informieren, oder in Bühlers Kategorien die Darstel- lung, eine Rolle. Jedoch ist es (wie bereits eingangs dargelegt wurde) die Appellfunktion, die in der politischen Sprache überwiegt. Der Appell richtet sich an die Wähler_innen, dem/der Politiker_in weiterhin oder erneut das Vertrauen auszusprechen. Erfolg impliziert in diesem Sinne immer auch eine Absicht, eine Intention, durch eine handelnde Person, den/der Politi- ker_in. In der politischen Kommunikation bedeutet das (und hier soll auf die vorangegange- nen Ausführungen verwiesen werden), dass Sprache in der Politik vor allem sprachliches Handeln in der Politik bedeutet. Dies führt zur Theorie des Sprachhandelns, der Sprechakt- theorie, die John R. Searle ([1969]1990) in Anlehnung an John L. Austin2 entwickelte wurde und den Handlungscharakter der Sprache betont. Grundannahme der Theorie ist, dass der Sprechende mit jeder Äußerung eine Handlung vollzieht. Nach Searle besteht jeder Sprechakt aus vier Teilakten, bzw. Teilhandlungen: den Äußerungsakt, den propositionalen Akt, den illokutionären und den perlokutionären Akt. Äußerungsakt meint das Hervorbringen einer Äußerung an sich, die sich nach den phonologischen und grammatikalischen Regeln einer Sprache richtet. Der propositionale Akt besteht wiederum aus zwei Teilakten, dem Referenz- akt, mit dem sich der/die Sprecher_in auf bestimmte Objekte bezieht, und dem Prädikations- akt, durch den der/die Sprecher_in dem Referenzobjekt eine bestimmte Eigenschaft zu- schreibt. Der propositionale Akt ist demnach der Teil des Sprechaktes, der sich auf die Aus- sage über die den/die Sprecher_in umgebende Welt bezieht. Mit dem illokutionären Akt wird eine intentionale, eine situations- oder adressatenbezogene Sprachhandlung durchgeführt. Hierzu gehören zum Beispiel das Versprechen, Fragen, Befehlen und Warnen, die beim Kommunikationspartner bestimmte Handlungen auslösen sollen. Dies führt zum vierten und letzten Akt, dem perlokutionären Akt, unter dem die Wirkungen zusammengefasst werden, die ein Sprechakt bei den Adressat_innen Auslösen sollen und auch auslösen (der/die Adres- sat_in antwortet, führt den Befehl aus, reagiert auf die Warnung). Es ist offensichtlich, dass dem illokutionären Akt in der politischen Kommunikation eine besondere Bedeutung zu- kommt. Politiker_innen versprechen, bestimmte Politiken umzusetzen oder warnen vor den Folgen falscher Politik der Konkurrent_innen. Wenn sie einen Sprechakt vollziehen, dann meinen sie jedoch nicht immer das, was sie tatsächlich äußern. Searle hat das seiner Sprech- akttheorie inhärente Problem, nämlich die Annahme, dass eine Äußerung nicht immer wört- lich gemeint ist, dadurch gelöst, dass er in seiner Theorie der indirekten Sprechakte (1975) den illokutionären Sprechakt in zwei Teilakte gliedert: den primären und den sekundären (o- der wörtlichen) Illokutionsakt. Vollzieht ein Sprechender einen illokutionären Akt A, indem er einen anderen illokutionären Akt B vollzieht, spricht man von einem indirekten Sprechakt (Hindelang 2010: 92). Dazu ein Beispiel. Ein_e Sprecher_in (Politiker_in) äußert gegenüber einem/einer Wähler_in folgendes: „Würden Sie mich wählen?“ Damit wird vom Sprechenden der sekundäre Illukationsakt der Frage („Könnten Sie sich vorstellen mich zu wählen?“) und gleichzeitig der eigentlich entscheidende primäre Illokutionsakt der Bitte („Bitte wählen Sie mich.“) vollzogen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass der/die Adressat_in (hier der/die Wähler_in) nicht nur den sekundären, sondern auch den primären Illokutionsakt identifiziert, sich die Frage stellt: „Was meint der/die Politiker_in wirklich?“. Er oder sie muss zunächst den sekundären, wörtlichen Akt verstehen und dann mit Hilfe der Kenntnis von Gesprächs- prinzipien und seines oder ihres Hintergrundwissens den primären Illukationsakt erschließen (Hildelang 2010: 93), wobei ihm oder ihr natürlich auch Kenntnisse der Intention des spre- chenden Politikers oder der sprechenden Politikerin nützlich sind.
Ein letztes Modell, das vorgestellt werden soll, ist das Faktorenmodell der politischen Kom- munikation. Es folgt dem pragmatischen Ansatz, der infolge der so genannten kommunikativ- pragmatischen Wende Ende der 1960er Jahre Einzug in die Sprachwissenschaft gehalten hat. Dem Ansatz zufolge ist „Sprache [...] kein Selbstzweck, sondern [...] richtet sich an ein Ge- genüber [,] ist zielorientiert“ und „findet immer in bestimmten Situationen statt“ (Girnth 2002: 31). Die Situation ist eine Komponente der politischen Kommunikation, die in dieser Arbeit bisher noch nicht beachtet wurde, aber wie viele andere bereits vorgestellte Faktoren Einfluss auf die Wahl sprachlicher Mittel durch den/die Politiker_in hat. In der Abbildung 3 wird deutlich, dass Politiker_innen eine Intention haben, diese in eine (Sprach-)Strategie um- wandeln und eine konkrete Äußerung tätigen, die von den Adressat_innen verstanden werden und sie zu einer bestimmten Handlung veranlassen soll (hier „Konsequenz“). Dabei spielt aber auch die politische Situation eine wichtige Rolle. Politische Situation meint hier einen bestimmten Situationstypen, wie beispielsweise die parlamentarische Debatte. Aus ihr leitet „der Politiker bestimmte Annahmen über die Adressaten ab, so genannte Partnerhypothesen, wobei auch umgekehrt die Adressaten bestimmte Erwartungen an den Politiker haben“ (Girnth 2002: 32). Für die Umsetzung seiner/ihrer Absicht und auf Basis der Annahmen über die Adressat_innen bildet der/die Politiker_in seine/ihre (sprachliche) Strategie, die dann zu einer Äußerung führt. Hier wird erneut deutlich, dass eine der zentralen Funktionen der Spra- che in der Politik die Beeinflussung der Rezipient_innen ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Faktorenmodell der politischen Kommunikation nach
Hannapel/Melenk 1984: 21und Herrgen 2000: 38 (Darstellung nach Girnth 2002: 31)
Es darf nicht vergessen werden, dass sich die Intention eines Politikers/einer Politikerin in einem Text als Textfunktion, also als sprachlich codierte Intention, ausdrückt. Dabei besteht immer die Möglichkeit der Manipulation und Täuschung (Girnth 2002: 32) - eine Erkenntnis, die im Analyseteil dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen wird. Es soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den hier vorgestellten Sprach- und Analysemodellen politischer Kommunikation lediglich um eine Auswahl han- delt, die als Grundlage für das Verständnis des strategischen Gebrauchs von Sprache in der Politik dienen soll.
Ideologie in der politischen Sprache und ihre Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit und Machtlegitimierung
Der strategische Gebrauch von Sprache spielt vor allem bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Ideologie und Sprache in der politischen Kommunikation eine Rolle. Zunächst scheint eine Klärung des der vielschichtigen Begriffs „Ideologie“, unter dem die Menschen ganz un- terschiedliche Dinge verstehen, sinnvoll. Im Allgemeinen ist Ideologie die Lehre von den Ideen in der versucht wird „die unterschiedlichen Vorstellungen über Sinn und Zweck des Lebens, die Bedingungen und Ziele des Zusammenlebens etc. zu ordnen“ (Bundeszentrale für politische Bildung: Ideologie). Als wertneutralen Begriff kann man Ideologie als ein „weltan- schauliches System[ ] von Überzeugungen“ (Weiß 2005: 341) oder „die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung oder einer bestimmten Gesellschaftsordnung zugrundeliegen- den Wertvorstellungen und Denkmuster“ (Girnth 2002: 3) verstehen. Diesem wertneutralen Begriff steht eine negative Auffassung von Ideologie entgegen, wonach Ideologien „als dogmatische Gedankenkomplexe, als Weltdeutungen mit umfassendem Anspruch und begrenztem Horizont sowie als interessengebundenes polit[isch] instrumentalisiertes ‚falsches Bewusstsein’“ (Weiß 2005: 341) verstanden werden. Für ein umfassendes Verständnis des Begriffs der „Ideologie“ erscheint folgende Definition erkenntnisreich:
Im politischen Sinne dienen I[deologien] zur Begründung und Rechtfertigung politischen Han- delns. I[deologien] sind daher immer eine Kombination von a) bestimmten Weltanschauungen (Kommunismus, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, die jeweils eine spezifische Art des Denkens und des Wertsetzens bedingen, und b) eine Kombination von bestimmten Interes- sen und Absichten, die i. d. R. eigenen (selten: uneigennützigen) Zielen dienen, d. h. neben der Idee und Weltanschauung auch den Wunsch (und die Kraft) zur konkreten politischen und so- zialen Umsetzung ausdrücken. (Bundeszentrale für politische Bildung: Ideologie)
Ideologien sind in diesem Sinne Kombinationen von Weltanschauungen, denen bestimmte Interessen und Absichten zu Grunde liegen und die in der Politik häufig der Begründung und Rechtfertigung von Handlungen dienen.
Die Sprache spielt hierbei aus zwei Gründen eine wichtige Rolle. Zunächst einmal, weil sich (wie bereits dargestellt wurde) die Politik und politisches Handeln über Sprache vollziehen und die Sprache somit zu dem Ort wird, an dem sich Ideologien als Bewusstseinstatsachen manifestieren (Girnth 2002: 3). Zum besseren Verständnis soll hier noch einmal auf die Sprachmodelle Bühlers’ und Searles’ zurückgegriffen werden. Bühler hat gezeigt, dass die Sprache als Werkzeug dient, mit deren Hilfe ein Mensch einem anderen etwas über Gegen- stände und Sachverhalte mitteilen kann. Searle hat diesen Gedanken in seiner Sprechakttheo- rie vertieft und gezeigt, dass sich während des Sprechaktes ein propositionaler Akt vollzieht, bei dem der/die Sprecher_in sich auf ein Referenzobjekt bezieht und diesem eine bestimmte Eigenschaft zuschreibt, wodurch er eine Aussage über die ihn umgebene Welt trifft. Der/die Sprecher_in drückt somit über das Medium Sprache seine/ihre Weltsicht, seine/ihre Ideologie aus. Der Sprachphilosoph Valentin Vološinov hat darauf hingewiesen, dass Sprache, bzw. das sprachliche Zeichen, die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern immer nur ideologisch be- einflusst darstellt (Vološinov[1929]1975). Abbildung 4 veranschaulicht das klassische reprä- sentationale Zeichenmodell, dem die Idee zugrunde liegt, dass das sprachliche Zeichen die Wirklichkeit eins-zu-eins wiedergibt und somit eine Darstellung der „wahren“ Wirklichkeit ermöglicht, die im Kontrast steht zum ‚falschen’ ideologischen Bewusstsein. Das in Abbildung 5 dargestellte ideologische Zeichenmodell Vološinovs basiert jedoch auf der Annahme, dass jeder referentielle Bezug ideologisch geprägt ist. Die Sprecher_innen haben zwar Zugang zu denselben sprachlichen Zeichen, verwenden diese aber unterschiedlich ideologisch geprägt um dieselben oder verschiedene Aspekte der Wirklichkeit zu betonen oder auf diese zurückzugreifen (Auer 1999: 121-122).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Klassisches repräsentationales Zeichenmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Ideologisches Zeichenmodell (nach Vološinov[1929]1975: 71)
In der Politik geht es um die Darstellung von Weltsichten durch die Sprache. Über sie wird die politische Wirklichkeit aber auch erst ausgehandelt (Bundeszentrale für politische Bil- dung: Ideologie und Sprache). Dabei ist zu beachten, dass für manche Ideologien (wie bereits angedeutet wurde) teilweise der Alleingeltungsanspruch erhoben wird und es weniger um ein Aushandeln, sondern eher um die Durchsetzung einer Weltsicht geht. Dies führt zum zweiten Grund, warum der Sprache in der Beziehung zwischen Ideologie und Politik eine wichtige Rolle zukommt. Sie ist das zentrale Werkzeug zur (strategischen) Vermittlung von Inhalten und Ideologien, vor allem für die herrschenden Klassen, die „bestrebt [sind], den ideologi- schen Bereich zu hegemonialisieren, d.h. ihre Ideologie auch für andere Klassen akzeptabel zu machen“ (Auer 1999: 122).
Dies ist vor allem deshalb interessant, weil „politische Sprache in einem konstruktivistischen Sinne realitätskonstituierenden Charakter besitzt“ (Girnth 2002: 5). Hier bestehen Verbindun- gen zu den Annahmen des Sozialkonstruktivismus, eine Theorie der Soziologie die davon ausgeht, dass die Welt und die Realität in der wir leben, gesellschaftlich konstruiert sind. So- ziale Wirklichkeit wird der Theorie zufolge von Menschen produziert und reproduziert und ist demzufolge einem Wandel unterlegen (Berger/Luckmann 1966). Dies geschieht (wie bereits geschildert) durch Sprache weshalb sich die Frage nach dem Einfluss politischer Sprache auf die Gestaltung und Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit stellt. Wenn durch die Sprache die Dinge geordnet und bewertet werden, dann wird durch sprachliches Handeln in der Politik auch eine gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen, bzw. wird diese verändert. Das impliziert natürlich, dass sich Sprache nicht nur auf das Handeln, sondern primär auf das Denken der Menschen auswirkt. Ihre primäre Leistung besteht in der Konstruktion von Wis- sen (Spitzmüller/Warnke 2011: 54). Das manipulatorische Potenzial der Sprache macht sie zu einer gefährlichen Waffe, da der strategische Gebrauch von Sprache in der Politik nicht nur das Denken der Menschen beeinflusst, sondern sich auch auf ihr Handeln und somit auf die politische und gesellschaftliche Realität auswirkt. Vor dem Hintergrund der Konstruktion von Wirklichkeit spielt die sich durch Sprache vollziehende Ideologie für die Legitimierung poli- tischen Handelns eine Rolle. Versteht man Ideologie als „Weltdeutung mit umfassenden An- spruch“ (Weiß 2005: 341), dann verhindert ihr allgemeiner Geltungs- und Wahrheitsanspruch den politischen Diskurs, sprich die Aushandlung gesellschaftlicher Wirklichkeit (Straßner 1987: 6). Straßner hat das folgendermaßen formuliert:
Ideologie bewirkt durch ihre Mechanismen der Diskurseinschränkung und - verhinderung, daß die Intersubjektivität, die Kommunikation konstituiert, aufgelöst wird zu- gunsten eines Bedienungsverhältnisses, in dem faktisch nur ein Partner Subjekt und der andere - trotz seines andauernden und oft institutionell eifrig gepflegten falschen Bewusstseins seiner Subjekthaftigkeit - dessen Objekt ist, in dem also Kommunikation pervertiert wird zu einem Herrschaftsverhältnis und deshalb in der Lage ist, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und auszuüben. (Straßner 1987: 6-7)
In der Geschichte hat es mehr als nur ein_e Politiker_in es geschafft, über die sprachliche Vermittlung seiner/ihrer Ideologie die Führungsposition im Volk zu erringen und zu festigen. Vor diesem Hintergrund ist die Analyse von konkreten Versprachlichungen von Ideologien von Interesse (während ihre Auswirkungen auf die politische Wirklichkeit in dieser Arbeit eine geringe Rolle spielen). Es soll dabei nicht vergessen werden, dass bei der Analyse von ideologischem Sprachgebrauch immer auch der Kontext der historischen und politischen Si- tuation, in der ein Sprechakt durchgeführt wird, eine Rolle spielt und daher näherer Betrach- tung bedarf.
Methodologie und Methode der Diskurslinguistik
Begriff „Diskurs“ und Diskurslinguistik
Im Allgemeinen versteht man unter „Diskurs“ eine Debatte oder Gespräch bzw. den Mei- nungsaustausch zwischen Menschen. In den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie, Philosophie oder Linguistik beschäftigte man sich seit Anfang der 1960er Jahre vor dem Hintergrund des wachsenden Interesses an der Bedeutung von sprachlichen Symbolen für die Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Welt mit dem Thema und entwickelte unterschiedliche Definitionen für den Begriff „Diskurs“. Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas versteht unter Diskurs einen argumentativen Dialog, in dem über die Richtigkeit von Annahmen und die Gültigkeit und Legitimität von Normen gestritten wird (Habermas 1972: 130). Er führt in diesem Zusammenhang den Begriff des „rationalen Diskurses“ ein, den er als „Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprü- che“ (Habermas 1992: 138) definiert. Bei Diskursen handelt es sich aber nicht um einen in einer konkreten Situation stattfindenden argumentativen Dialog, sondern vielmehr um „ab- grenzbare Zusammenhänge von Kommunikation oberhalb der Ebene situativ-singulärer Äu- ßerungen“ (Keller/Viehöfer 2005: 155). In diesem Sinne wird der Diskurs in der Sprachwis- senschaft vom Text als ihm übergeordnete Einheit abgegrenzt: „Diskurse sind [...] (vorläufig) übergeordnete Konstituenten von Texten und bilden deren virtuelle Kontexte“ (Spitzmül- ler/Warnke 2011: 24). Abbildung 6 veranschaulicht das Verhältnis von Diskurs zu Text:
[Diskurs [ Text [ Satz [ Wort [ Morphem [ Phonem/Graphem ] ] ] ] ] ]
Abb. 6: Darstellung der Konstituentenposition des Diskurses innerhalb der Sprache (nach Spitzmüller/Warnke 2011: 24)
Dennoch sind Diskurse nicht nur Sammlungen von Texten, sondern vielmehr transtextuelle Sprachstrukturen. Der französische Philosoph Michel Foucault versteht Diskurse in diesem Zusammenhang als Aussagegeflechte. In seinem berühmten Werk Die Archäologie des Wis-sens vertritt er die Annahme, dass Aussagen unter bestimmten Voraussetzungen erscheinen und stellt die Frage, „wie [es kommt], dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle“ (Foucault 1981: 42) - die zentrale Frage der Diskursanalyse. Dies führt zum sprachlichen Handeln in der Politik. Politiker_innen nutzen, wie bereits dargestellt wur- de, Sprache strategisch als Mittel zur Durchsetzung ihrer Weltsichten und Politiken. In diesem Sinne kann man Diskurs verstehen als
[...] eine komplexe Form sprachlichen Handelns, die sich in einem funktionalen Zusammen- spiel von Texten manifestiert. Jeder Diskurs besteht aus einer bestimmten Anzahl von Texten, die ein gemeinsames Thema haben. [...] Ein Diskurs stellt demnach eine komplexe Aufeinan- derfolge von thematisch eng zusammengehörigen Texten dar, die untereinander im Verhältnis der Diskursivität stehen. Diskursivität bezeichnet das strukturierte Beziehungsgeflecht der Tex- te eines Diskurses. [...] Die thematische Einheit des Diskurses und damit seine Diskursivität wird durch die Nomination auf bestimmte, kommunikativ relevante Wirklichkeitsausschnitte gewährleistet. (Girnth 2002: 76)
Wenn Diskurse komplexe Formen sprachlichen Handelns sind, dann können sie als „Bündel von Texten mit der gleichen Handlungsabsicht“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 115) bzw. als Texte mit derselben Intention verstanden werden. Demzufolge wird durch sie bewusst gesell- schaftliche Wirklichkeit geschaffen. Foucault hat in Archäologie des Wissens bereits darauf hingewiesen, dass bei einer Gleichsetzung von Diskurs mit Diskussion ein entscheidender Aspekt vernachlässigt würde: die realitätserzeugende Eigenschaft des Diskurses (Foucault 1981: 74). Diskurse sind demnach
[...] mehr oder weniger machtvolle, institutionalisierte und geregelte Formen mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauchs durch soziale Akteure [...] [die] die gesellschaftliche Wahrnehmung der Welt einschließlich verfügbarer Subjekt- und Sprecherpositionen [konstituieren]. Sie produzieren gesellschaftliche Wirklichkeit. (Keller/Viehöfer 2005: 155)
In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Diskursanalyse, der es „um die soziale Aushandlung von Wissen durch eine sprachliche Praxis, die wir Diskurs nennen“ (Spitzmül- ler/Warnke 2011: 53) geht, für die politische Kommunikation ersichtlich. Ihr zentrales Ziel ist die Untersuchung von Bedeutungsaushandlungsprozessen und den ihnen zugrunde liegenden Strategien (Niehr 2014: 133), wobei sie sich mit der Beschreibung von Bedeutungskonstituti- onen, der Veränderungen von Bedeutungen sowie der Handlung- und Denkmuster sowie Handlungsstrategien beschäftigt (Spieß 2011: 181). Dabei stützen sich die verschiedenen La- ger innerhalb des Diskurslinguistik unter Berufung auf die französische Diskurstheorie fol- gende Grundannahmen: 1. Sprache ist eingebettet in gesellschaftliche und historische Kontex- te, 2. Sprache schafft Wirklichkeit und löst sie auf, 3. Aussagen sind miteinander verknüpft und stehen nicht isoliert, und 4. gesellschaftliche Wissens- und auch Machtstrukturen können durch Untersuchung von Aussagen beschrieben werden. Die lange Zeit vernachlässigte und im Zuge der Einführung des Diskursbegriffs und der Diskursanalyse neuerdings beachtete Beleuchtung der gesellschaftlich-historischen Einbettung von Sprache und deren Funktion bei der Konstruktion von Gesellschaft und Wissen hat den Fokus der Linguistik schließlich enorm erweitert (Spitzmüller/Warnke 2011: 79).
Wie bereits angedeutet ist die Diskurslinguistik heute keine einheitliche Fachrichtung und es existieren verschiedene diskurssemantische und diskursanalytische Ansätze. Eine spezielle Ausrichtung der linguistischen Diskursanalyse ist die dem epistemologisch- diskurssemantischen Lager zuzuordnende Diskurssemantik, die die Analyse der Entstehung gesellschaftlichen Wissens durch Diskurse thematisiert (Busse/Teubert 2013: 47). Ihr geht es darum,
[…] wie gesellschaftliche, soziale Wirklichkeit sprachlich konstruiert wird, dass dies ständig der Fall ist und dass dies aufgrund von unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen auf jeweils he- terogene und konkurrierende Weise geschieht. Gezeigt werden kann, wie sich bestimmte Sicht- weisen durchsetzen und andere im kollektiven Gedächtnis verloren gehen. (Wengeler 2011: 41- 42)
Begründet wurde die Diskurssemantik von Dietrich Busse, der in seiner Dissertation Histori-sche Semantik (1987) sein Konzept einer linguistisch begründeten Diskursanalyse vorstellt. In seinem Werk greift er auf das Diskurskonzept Foucaults zurück, wobei er es dahingehend kritisiert, dass es die Dimension von sprachlichem Handeln vernachlässigt. Busse ist der An- sicht, dass sprachliches Handeln in einem bestimmten Kontext Bedeutung konstruiert und diese sich daher im Sprachgebrauch selbst konstruiert. Die diskurslinguistische Analyse soll es ermöglichen, das freizulegen was in einer Gesellschaft Bedeutung hat (deshalb auch Dis- kurssemantik). Sie soll die „unbewussten Zusammenhänge [aufzeigen,] die sich [dem] Ein- fluss [des Kommunikationsteilhabers] entziehen, weil sie den Möglichkeitsspielraum seines Wissens und seines kommunikativen Handelns bestimmen“ (Busse 1987: 256). In einem wei- teren häufig rezipierten Text mit dem Titel Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? (1994), den Busse in Zusammenarbeit mit Wolfgang Teubert veröffentlichte, erklären die Autoren, dass es ihre
[…] Absicht [sei], [bei der Analyse von Diskursen] die sprachlichen Manifestationen alternativer Sichtweisen und Vorstellungswelten, Gedanken- und Bedeutungsparadigmen, der epistemischen Voraussetzungen und Leitelemente, die das Thema bzw. den Untersuchungsgegenstand bestim- men, ausfindig zu machen, zu dokumentieren und zueinander in Beziehung zu setzen. (Bus- se/Teubert 1994: 18)
Eines der zentralen Ziele der Diskurssemantik ist demnach die Rekonstruktion eines Diskurses über einen ausgewählten Textkorpus, die Schlüsse über die Weltsicht und die Intention des Sprechers/der Sprecherin zulässt.
[...]
1 Niehr verweist hier auf Lübbe, der Politik und nicht politische Sprache als „Kunst, im Medium der Öffentlich- keit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen“ (Lübbe 1975: 107) charakterisierte. Niehr folgt dagegen Girnth (2002) der die Auffassung vertritt, dass diese Definition nicht für die Politik, sondern für die politische Sprache angemessen sei.
2 Austin entwickelte seine Sprechakttheorie 1955 im Rahmen einer Vorlesung. Die Nachschrift dieser Vorlesung wurde postum unter dem Titel How to do things with words veröffentlicht.
- Citation du texte
- Josephine Susan Götze (Auteur), 2016, Sprache und Ideologie in der politischen Kommunikation. Diskurslinguistische Analyse zweier Reden von Hugo Chávez, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335257
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