„An/thro/po/tech/nik; die; - : Gebiet der Arbeitswissenschaft, auf dem man sich mit dem Problem befasst, Arbeitsvorgänge, - mittel u. – plätze den Eigenarten des menschlichen Organismus anzupassen.“ Der Duden war gerade mal neun Jahre alt und niemand dachte an eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, als Peter Sloterdijk im Juli 1999 mit der Forderung nach einem Kodex für Anthropotechniken für Furore sorgte. Es ging um das genaue Gegenteil. Die gentechnologische Anpassung des Menschen an seine Umwelt. Die gewendete Bedeutung des Wortes ist nur Ausdruck einer Bewegung der
fundamentalen Umkodierung von Menschenbildern, von Individualität und
Körperlichkeit. Die Humangenetik liefert die nötigen Stichwörter.
Ist von der Sloterdijk-Debatte die Rede, liest man oft, dass eigentlich zwei Themen verhandelt wurden, die vo neinander getrennt werden müssten – Genmanipulationen am Menschen einerseits und das Selbstverständnis einer Gesellschaft andererseits. Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Stellungnahmen zur Gentechnologie und kommt dennoch zu einem anderen Ergebnis. Den Hauptteil bilden einzelne Textanalysen, in denen gezeigt wird, wie eng die beiden Themen miteinander verknüpft werden und es von ihrer Konzeption her auch sind. Daneben wird auf aufgeworfene Fragen, sofern sie für
Gentechnologiedebatten im Allgemeinen von Bedeutung sind, eingegangen. Für eine empirische Aussage über Tendenz und Wirkungsmacht des Diskurses zu Gentechnologie ist der Umfang der untersuchten Beiträge zu gering, weshalb ich mich mit Stellungnahmen zurückhalte. Die untersuchten Texte entstammen der Wochenzeitung
Die Zeit, in dem ein wesentlicher Teil der Sloterdijk-Debatte ausgetragen und der Stein des Anstoßes, Sloterdijks Regeln für den Menschenpark, veröffentlicht wurde. Damit lassen sich Aussagen zur Rolle der Zeit im gesellschaftlichen Diskurs treffen. Nach den
Betrachtungen der Artikel um Sloterdijks Rede folgt ein Ausblick in die Anfänge der Debatte um Gentechnologie, die bis heute andauert. Ausgangspunkt hier war ein im Januar 2001 im Tagesspiegel veröffentlichter Artikel von Julian Nida-Rümelin, der als
„Fremdbeitrag“ in die Betrachtung aufgenommen wird. Mit der abschließenden Analyse der Positionen Robert Spaemanns ist die Sloterdijk-Debatte um den theologischen Standpunkt ergänzt, ein Eindruck ihrer unmittelbaren Relevanz für und ein Einstieg in
den aktuellen Diskurs gewonnen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Regeln für den Menschenpark (Peter Sloterdijk)
2.1 Eine transzendente Seinswahrheit
2.2 Soziale Evolution
2.3 Bio ethik und Eu genetik
2.4 Codex für Anthropotechniken
2.5 Subjektive Seite der Selektion
3. Die Sloterdijk-Debatte
3.1 Das Zarathustra-Projekt (Thomas Assheuer)
3.2 Die kritische Theorie ist tot (Peter Sloterdijk)
3.3 Zwischenspiel
3.4 Die falsche Angst Gott zu spielen (Ronald Dworkin)
3.5 Die Guten ins Töpfchen (Jörg Albrecht)
3.6 Es gibt keine Gene für die Moral (Ernst Tugendhat)
3.7 Retrospektive
4. Konkretisierung der Debatte
4.1 Wo die Menschenwürde beginnt (Julian Nida-Rümelin)
4.2 Gezeugt, nicht gemacht (Robert Spaemann)
5. Schlussgedanken
Literaturverzeichnis & Anhang
1. Einleitung
„An/thro/po/tech/nik; die; -: Gebiet der Arbeitswissenschaft, auf dem man sich mit dem Problem befasst, Arbeitsvorgänge, - mittel u. – plätze den Eigenarten des menschlichen Organismus anzupassen.“[1] Der Duden war gerade mal neun Jahre alt und niemand dachte an eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, als Peter Sloterdijk im Juli 1999 mit der Forderung nach einem Kodex für Anthropotechniken für Furore sorgte. Es ging um das genaue Gegenteil. Die gentechnologische Anpassung des Menschen an seine Umwelt. Die gewendete Bedeutung des Wortes ist nur Ausdruck einer Bewegung der fundamentalen Umkodierung von Menschenbildern, von Individualität und Körperlichkeit. Die Humangenetik liefert die nötigen Stichwörter.
Ist von der Sloterdijk-Debatte die Rede, liest man oft, dass eigentlich zwei Themen verhandelt wurden, die voneinander getrennt werden müssten – Genmanipulationen am Menschen einerseits und das Selbstverständnis einer Gesellschaft andererseits. Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Stellungnahmen zur Gentechnologie und kommt dennoch zu einem anderen Ergebnis. Den Hauptteil bilden einzelne Textanalysen, in denen gezeigt wird, wie eng die beiden Themen miteinander verknüpft werden und es von ihrer Konzeption her auch sind. Daneben wird auf aufgeworfene Fragen, sofern sie für Gentechnologiedebatten im Allgemeinen von Bedeutung sind, eingegangen. Für eine empirische Aussage über Tendenz und Wirkungsmacht des Diskurses zu Gentechnologie ist der Umfang der untersuchten Beiträge zu gering, weshalb ich mich mit Stellungnahmen zurückhalte. Die untersuchten Texte entstammen der Wochenzeitung Die Zeit, in dem ein wesentlicher Teil der Sloterdijk-Debatte ausgetragen und der Stein des Anstoßes, Sloterdijks Regeln für den Menschenpark, veröffentlicht wurde. Damit lassen sich Aussagen zur Rolle der Zeit im gesellschaftlichen Diskurs treffen. Nach den Betrachtungen der Artikel um Sloterdijks Rede folgt ein Ausblick in die Anfänge der Debatte um Gentechnologie, die bis heute andauert. Ausgangspunkt hier war ein im Januar 2001 im Tagesspiegel veröffentlichter Artikel von Julian Nida-Rümelin, der als „Fremdbeitrag“ in die Betrachtung aufgenommen wird. Mit der abschließenden Analyse der Positionen Robert Spaemanns ist die Sloterdijk-Debatte um den theologischen Standpunkt ergänzt, ein Eindruck ihrer unmittelbaren Relevanz für und ein Einstieg in den aktuellen Diskurs gewonnen. Zunächst aber erfolgt eine Annäherung an die gentechnologischen Implikationen der Regeln für den Menschenpark.
2. Regeln für den Menschenpark
Sloterdijk inszeniert seine Regeln für den Menschenpark als Antwortschreiben auf Martin Heideggers 1947 veröffentlichten Humanismusbrief. Sloterdijk versteht darin den Humanismus als Versuch der „Entwilderung des Menschen, und [dessen] latente These lautet: Richtige Lektüre macht zahm.“[2] In dieser zentralen Aufgabe sei der Humanismus gescheitert und hätte eine Leerstelle hinterlassen, die von Anthropotechniken ausgefüllt werden müsse.
Einiges spricht dafür, dass die in Sloterdijks Rede formulierte Kritik am Humanismus in erster Linie aus dessen vermuteter Unbrauchbarkeit bei der Bildung einer Nation rekurriert. Er referiert, „In den bürgerlichen Nationalstaaten [...] organisierten sich die Völker als durchalphabetisierte Zwangsfreundschaftsverbände, die auf einen jeweils im Nationalraum verbindlichen Lektürekanon eingeschworen wurden.“[3] Und: „Seiner Substanz nach war der bürgerliche Humanismus nichts anderes, als die Vollmacht, der Jugend die Klassiker aufzuzwingen und die universale Geltung nationaler Lektüren zu behaupten.“[4] Zweimal ist von Zwang die Rede, wogegen der „Rechtsgrund [der Menschenführer] die Einsicht ist, wie Menschen – ohne je ihrer Freiwilligkeit Schaden anzutun – am besten zu sortieren und zu verbinden wären.“[5] Erst erklärt er, die Aufgabe des Humanismus sei es, Menschen zu zähmen, um dann mit Platon die Zähmung und Züchtung zur Staatskunst zu erklären. Nur alleine aus den „Mithirten und Freunde[n] des Seins [lässt sich] keine Nation [...] bilden“[6], es sind zu wenige. Auf der Suche nach einer Grundlage für diese Freiwilligkeit begibt sich Sloterdijk auf die „Mythen-Baustelle“[7] und entwirft eugenische Selektionsphantasien unter Zuhilfenahme der Genetik.
2.1 Eine transzendente Seinswahrheit
Das zentrale Problem des Scheiterns des Humanismus als „Zähmungsinstanz“ und damit als integrativer Faktor für die Nation, beschreibt Sloterdijk wie folgt:
Der neuzeitliche Humanismus habe den Menschen definiert als „animal rational“[8]. Die darin angedeutete metaphysische Trennung von Körper und Geist (Bewusstsein, Seele) führt Sloterdijk einen Schritt weiter und trennt den Geist als das menschliche am Menschen vom Individuum: „Christentum, Marxismus und Existentialismus [...] als drei Spielarten des Humanismus [seien] drei Arten und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen.“[9] Hierin lehnt sich Sloterdijk an Heidegger an, der gegen das „animal rationale“ eine „existential-ontologische Analyse [setzt], in der der Mensch zum Tier in ontologischer, nicht in spezifischer oder generischer Differenz steht.“[10] Sloterdijk hebt mit Heidegger ab und proklamiert das „Sein“ als etwas transzendentales Ganzes, in dem die eine Wahrheit liegt; es wohne in der Sprache. Das Wesen des Menschen sei nach Heidegger ein Bezug zum Sein über die Sprache. Danach könne von Würde des Menschen nur gesprochen werden, „weil eben der Mensch der vom Sein selbst Angesprochene und [...] zu seiner Hütung Bestellte ist.“[11] Individuelle Menschenrechte lassen sich aus diesem Verständnis von Menschenwürde nicht ableiten, schließlich liegt das Menschliche außerhalb jeden Individuums. Lebensaufgabe und Sinn des menschlichen Lebens ist es danach, die Sprache zu hüten, auf dass das Sein mit der Wahrheit rüber rückt. In Abgrenzung zum Humanismus ist damit „nicht der Mensch das Wesentliche [...], sondern das Sein“[12]. Ein kurzer Blick auf Heidegger verrät die Seinsgestalt: „Die reine, unbesudelte deutsche Sprache“, so der post-nationalsozialistische Heidegger, „ist das vorzüglichste Medium der Philosophie“[13], im Gegensatz zu allen anderen Sprachen. Das Individuum ist aufgelöst im kollektiven Übersinn lichen des Deutschen. Nicht individuelle Rechte, Pflichten und Bedürfnisse sollen mehr das Ziel bei der Gestaltung des Politischen sein, sondern die Erfordernisse eines größeren Ganzen. Bereitet Sloterdijk dem „Volkskörper“ seine philosophische Wiederauferstehung?
2.2 Soziale Evolution
Sloterdijk kommt präzisierend zum Wesen des Seins und vollzieht eine auffällige Kehrtwende in biotechnologische Semantik. In einer evolutionsgeschichtlichen Retrospektive hätte sich in den „Abenteuer[n] der Hominisation“ eine „anthropogenetische Revolution“[14] vollzogen. „Durch sein Scheitern als Tier stürzt das unbestimmte Wesen aus der Umwelt und erwirbt so die Welt im ontologischen Sinn. [...] Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann weil er einer Bewegung angehört, die ihn zur Welt bringt und ihn der Welt aussetzt. Er ist das Produkt einer Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling macht.“[15] Der Mensch sei ein „ein „frühgeburtliche[s] Wesen“[16]. Hierin liege die „abgründige Bedeutung [...] der Neotenie“[17]. „Hypergeburt“ und „Frühgeburtlichkeit“ dürfen dabei nicht missverstanden werden als Schritt zur Menschwerdung durch Bewusstwerdung, eher als Eintritt in die Bewegung fürs transzendente Ganze. In einer zweiten historischen Rückblende stellt Sloterdijk das Einziehen der Menschen in Häuser als Konstitution eines „biopolitische[n] Komplex[es]“[18] Haus-Mensch-Tier dar. „Die Bindung an Häuser aus Stein sei eine Geschichte von Zähmung und Züchtung [und] zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und Selektion: Darin wird der „Mensch[] selber zu des Menschen bestem Hausthiere.“[19] Hier wird dreierlei vorbereitet. Erstens lädt Sloterdijk sukzessiv seine über weite Strecken in nazistischen[20] Sprachschatz gebettete Mystik mit biotechnologischen Begriffen auf, um sie dann ineinander übergehen zu lassen. Zweitens lässt er Zucht und Selektion als etwas erscheinen, was schon immer stattfindet und einer Regelung bedarf. Drittens deutet Sloterdijk die zu vollziehende Spaltung von Züchter und Gezüchteten, von Elite und Masse, Führer und Volk an, was er ebenfalls noch ausführen wird. In diesen drei Andeutungen verbergen sich grundlegende Fragen, die der Diskussion um Genmanipulation am Menschen innewohnen. Sie werden im folgenden anhand der Rede Sloterdijks herausgearbeitet.
2.3 Bio ethik und Eu genetik (zu Erstens)
„Mit Hilfe einer geschickten Verbindung von Ethik und Genetik“[21] haben sich die Menschen „selbst der Domestikation unterworfen und eine Zuchtwahl“[22] getroffen, das heißt „Selektion“[23] betrieben. Selektiert wird „in der Tat und durch die Tat.“[24] Selektionskriterium ist die transzendente Wahrheit, wobei „der wahre Züchter den Göttern näher steht“. Sloterdijk fabuliert von „Menschenproduktionen [oder] allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken“. Er geht über die sprachliche Fusion von Zucht, Selektion und Genetik hinaus. „Die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften“[25] erhebt er zum Seinsdienst selbst. Ethik wird nicht mit Genetik verbunden, sondern durch sie ersetzt.
Sloterdijk spricht damit ein Legitimationsdefizit der Humangenetik an: Wie kann das zu Bewertende – die Gentechnologie – Grundlage oder Maßstab für das sein, was eigentlich das Kriterium der Bewertung ist – die Ethik. Das funktioniert nur bedingt, weil die Technologie Weltbilder produziert, die die der Ethik zugrunde liegenden verändern oder ersetzen. Dieser Zusammenhang hat Geschichte und auch Sloterdijks „Aufartungs“-Fantasien zeigen es an, einen Blick auf Traditionslinien zur eugenischen Ideologieproduktion am Ende des 19. Jahrhunderts zu werfen. Noch bevor die „Rassenhygiene“ Einzug in die Programmatik der politischen Akteure erhielt, erhoben Eugeniker Anspruch mehr zu leisten als bloße Forschung. „Sowohl Francis Galton als auch die deutschen Eugeniker teilten die szientistische Programmatik, wonach ihre Wissenschaft zur Grundlage einer neuen Ethik gemacht werden müsse.“[26] Die eugenischen Ideen wären sonst, so ihre Rechnung, auf enorme Akzeptanzprobleme gestoßen. Die scheinbare Objektivierung einer Wertordnung menschlichen Lebens als wissenschaftliche Erkenntnis sollten herkömmliche ethische Leitbilder ausstechen. „>Entwicklungsethik< oder >evolutionäre Ethik< waren die Schlagwörter, unter denen diese eugenisch-sozialdarwinistische Spielart des Szientismus auftrat.“[27] An dieser Stelle sei die Anlehnung Sloterdijks an Galton erwähnt, der gefordert hatte „den Menschen wie sein domestiziertes Tier [zu] züchten.“[28]
Thomas Assheuer weist in seinem Zarathutra-Projekt auf deutliche Parallelen in der Entwicklungsgeschichte der Humangenetik hin: „Von der ersten Stunde an hat die Gentechnologie Menschenbilder transportiert, dunkle Bedrohungsszenarien entworfen und das Blaue vom Himmel versprochen. [...] Schon unmittelbar nach der Entdeckung der DNA-Struktur ließen Genforscher ihren Bemächtigungsfantasien freien Lauf“[29]. Tatsächlich reihen sich die Entdecker der Doppelhelix zwanglos in eugenische Traditionen ein. Francis Crick beispielsweise stellte sich die Frage, ob „die Menschen überhaupt ein Recht [haben], Kinder zu bekommen? [Es wäre] nicht schwierig, der Nahrung etwas beifügen zu lassen, was den Nachwuchs unterbindet. [Man könnte] ein anderes chemisches Mittel bereit halten, das nur solche Leute erhalten, deren Fortpflanzung erwünscht ist.“[30]
Auf dem sogenannten Ciba-Kongress 1962 in London wurde die selbe Sprache gesprochen, nun unter dem Aspekt der Gentechnologie. „Eugenische Selektion“ müsse sein, stellte Aldous Huxleys fest, sonst „wird der Mensch schließlich zum Krebsgeschwür unseres Planeten anstatt zum Führer und Lenker seiner weiteren Evolution.“[31] Dabei gehe es „für die moderne psychosoziale Evolution viel zu langsam, wenn man nur die hochwertigen Individuen ermutigen würde, mehr Kinder zu zeugen.“[32] Joshua Lederberg erfreute sich an der Aussicht bald „die Größe des menschlichen Gehirns durch vorgeburtliche oder frühe nachgeburtliche Eingriffe regulieren zu können.“[33]
Als wissenschaftliche Disziplin erhielt die Bioethik Ende der 1970er Jahre in den USA als direkter Ableger der biotechnischen Studiengänge Einzug in die Universitäten.[34] Die Entkoppelung und Nichtbeachtung von anderen Geisteswissenschaften und eine Fokussierung auf praktische Fragen, die ethischen Bedenken gegen Projekte der Biotechnologie zu relativieren, brachten der Bioethik den Ruf der „Legitimationstheorie“ ein.[35] In aktuellen bioethischen Argumentationsschemata ist regelmäßig von der Notwendigkeit der Anpassung der Ethik an die gewandelten technischen Möglichkeiten die Rede. Die Legitimationsproblematik besteht fort, die Bioethik trägt auch hier klar szientistische Züge. Menschenbilder werden kodiert, Grundlagen des herrschenden Wertesystems aufgerollt. Nicht wenige Vertreter der Zunft sehen sich dabei in einer ungebrochenen Traditionslinie zu den eugenischen Gesellschaftsideen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts[36], was auch die Betrachtung Ronald Dworkins Beitrag unterstreichen wird.
2.4 Codex für Anthropotechniken (zu Zweitens)
Sloterdijk bietet sich nun an, das Rechtfertigungsdilemma zu lösen, indem er die fortschreitende Annäherung der Bioethik an verwandte Geisteswissenschaften auf seine spiritistische Reinterpretation der Philosophiegeschichte zu lenken versucht. Er kehrt die in der Latenz versunkenen eugenischen Traditionslinien der Bioethik wieder hervor und versieht sie – in nazistischer Manier - mit seinem Seinsmythos.
Eugenische Selektion erscheint bei ihm als etwas Natürliches, Unausweichliches, das es schon immer gegeben hat und immer geben wird. Er schreibt die Geschichte der Menschheit kurzerhand in eine von Zähmung und Zucht um. Der Humanismus könne, erklärt Sloterdijk, zwar nur „zähmend-abrichtend-erzieherische[] Mittel[]“ thematisieren, habe sich aber dennoch einer „Zuchtwahl in Richtung auf haustierliche Umgänglichkeit [unterworfen]. Tatsächlich, es wäre nicht harmlos, wenn Menschen Menschen in Richtung auf Harmlosigkeit züchteten.“[37] Diese Fehlentwicklung will gewendet sein. Sobald auch noch die Gentechnik das Zuchtwerkzeug bereitlegt, „wird es darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“[38]
Mit einem solchen Kodex solle festgeschrieben werden, dass „mit wachsender Explizitheit [...] der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.“[39] In Platos Dialog vom Politiker entdeckt Sloterdijk „die Präambeln einer politischen Anthropotechnik“[40] um dann daraus vorzutragen: „Menschenführer [...] müssen also über die Endogamie wachen und Bastardisierungen zu verhindern suchen. [...] das schwierigste Stück der Menschenhüte-Kunst [ist] die züchterische Steuerung der Reproduktion. [...] die relativen Optima der Menschenartung [sind] die kriegerische Tapferkeit einerseits, die philosophisch-humane Besonnenheit andererseits.“[41] Aber aufgepasst, denn beide „Tugenden [können] spezifische Entartungen hervorbringen [...] mitsamt ihren verheerenden Folgen für die Vaterländer“[42]. Das Rassenpolitische Amt der NSDAP hat es auch nicht anders formuliert. Festzustellen bleibt, dass Sloterdijks Kodex eine „explizite[] Merkmalsplanung“[43] einschließt, zumindest eine Richtung vorgibt, in der diese geschehen soll. Zudem leistet er der Vorstellung von der genetischen Determination von „Tugend“, also einer explizit sozialen Eigenschaft, Vorschub, naturalisiert soziale Ungleichheit und löst sie im größeren Ganzen auf.
Betrachtet man die Forderung nach Regelungen für die Humangenetik außerhalb des ideologischen Kraftfelds, in dem sie hier auftritt, so formuliert Sloterdijk prinzipiell ein legitimes Anliegen. Gebiert Wissenschaft neue technische Möglichkeiten, wirft das die Fragen auf, ob und wofür sie verwendet werden sollen. Genaugenommen müssen sie schon früher gestellt werden. Dringt Grundlagenforschung in eine Erkenntnistiefe vor, in der sich potentielle Anwendungsfelder absehen lassen, stehen Richtungsentscheidungen der weiteren Forschungstätigkeit an. Theoretisch wäre dies der Punkt, an dem in einer demokratischen Gesellschaft ein kollektiver Willensbildungsprozess einsetzten sollte. Ein herrschaftsfreier gesellschaftlicher Diskurs, in dem das bessere Argument die Zustimmung der Mehrheit erobert und sich in einem Kodex manifestiert – was ist dagegen einzuwenden? Aber auch Habermas weiß, „dass die Welt nicht so ist, wie der kleine Max sie sich vorstellt“[44]. Weder gibt es den herrschaftsfreien Diskurs, noch legitimieren sich Richtungsentscheidung in der Forschung demokratisch. Kann es in einem Kodex also doch nur um gesetzlich fixierte letzte Schranken für die Humangenetik gehen, abgeleitet aus einem Akzeptanzdiskurs, geführt mit und für ein Publikum „freiwillig lenkbarer Menschen“[45] ? Diskurstheorien sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Es ging hier nur darum, mögliche Perspektiven auf die Funktion eines Kodex anzudeuten und die Unmöglichkeit zu unterstreichen, diesen außerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen zu denken.
Die Bioethik tendierte häufig dazu, eine Willensbildung erst dann einzuleiten, respektive Akzeptanz herzustellen, wenn technische Entwicklungen in ihre Anwendungsphase treten. Ist diese Phase erreicht, scheiterten „bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität“[46]. Es ist natürlich kein ethisches Argument, das Sloterdijk hier einführt, erfreut sich aber dennoch ausgesprochener Beliebtheit. Es ist die Absage an die Moral, die Glorifizierung der normativen Kraft des Faktischen. Sloterdijk führt weiter aus: „sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie – wie in den Zeiten seines früheren Unvermögens – eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall [...] an ihrer Stelle handeln lassen wollen.“[47] Handeln wird hier ohne die vorgelagerten Instanzen der Entscheidung und deren Begründung gedacht. Begründetes Unterlassen ist unüberlegtem Handeln allemal vorzuziehen. Die kritisch zu befragende Größe aber bleibt immer das der Begründung zugrundeliegende Bewusstsein. Der Zufall ist kein handelnder Akteur, er passiert. Gott und höhere Gewalt bilden zumindest eine, wenn auch irrationale, Begründungsgröße.
[...]
[1] Der Duden – Fremdwörterbuch; Mannheim/Wien/Zürich 1990.
[2] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 17.
[3] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 11.
[4] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 13.
[5] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 52.
[6] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 29.
[7] Assheuer, Thomas: Was ist Deutsch?; in: Die Zeit 40/99.
[8] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 24.
[9] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 23.
[10] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 25.
[11] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 26.
[12] Heidegger, Martin: Über den Humanismus; 1981, Seite 24; zitiert nach: Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 26.
[13] Ettinger, Elzbieta: Hannah Arendt – Martin Heidegger; München 1995, Seite 54.
[14] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 33.
[15] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 34.
[16] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 33.
[17] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 34.
[18] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 36.
[19] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 38.
[20] Diese sprachliche Nähe wird nicht thematisiert, aber deutlich unter 2.4 und 2.5.
[21] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 40.
[22] Ebenda.
[23] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 43.
[24] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 37.
[25] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 46.
[26] Weingart, Peter: Politik und Vererbung; in: Propping, Peter / Schott, Heinz (Hg.): Wissenschaft auf Irrwegen – Biologismus – Rassenhygiene – Eugenik; Bonn / Berlin 1992, Seite 29.
[27] Weingart, Peter: Politik und Vererbung; in: Propping, Peter / Schott, Heinz (Hg.): Wissenschaft auf Irrwegen – Biologismus – Rassenhygiene – Eugenik; Bonn / Berlin 1992, Seite 30.
[28] Galton, Francis zitiert nach: Menninger, Toni: Genfaschismus; in: ÖkoLinX 18/1995, Seite 29.
[29] Assheuer, Thomas: Das Zarathustra-Projekt; in: Die Zeit 36/99.
[30] Crick, Francis; zitiert nach: Menninger, Toni: Genfaschismus; in: ÖkoLinX 18/1995, Seite 31.
[31] Zitiert nach: Mürner, Christian: Konferenz über die Zukunft des Menschen; in: Die Wochenzeitung 45/92.
[32] Zitiert nach: Mürner, Christian: Konferenz über die Zukunft des Menschen; in: Die Wochenzeitung 45/92.
[33] Zitiert nach: Mürner, Christian: Konferenz über die Zukunft des Menschen; in: Die Wochenzeitung 45/92.
[34] Vgl. hierzu: Hermann, Svea Luise: >Bioethics Education< - Bioethik und Normalisierung; in: Braun, Kathrin (Hg.): >Life< is a battlefield – Aspekte der Bio-Macht; Hannover 1999, Seiten 69 ff.
[35] Vgl. hierzu: Fuchs, Ursel: Die Ethik der Bio-Macht. Bioethik oder: Tabubrüche hinter verschlossenen Türen; in: Emmerich, Michael (Hg.): Im Zeitalter der Bio-Macht. 25 Jahre Gentechnik – eine kritische Bilanz; Frankfurt am Main 1999, Seiten 261 ff.
[36] Vgl. hierzu: Weß, Ludger: Der >neue Mensch< als Ware – Von der Zwangseugenik zur Konsumeugenik; in: Mürner/Schmitz/Sierck (Hg.): Schöne, heile Welt – Biomedizin und Normierung des Menschen; Hamburg/Berlin 2000, Seite 11ff.
[37] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 40.
[38] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 45.
[39] Ebenda.
[40] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 50.
[41] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seiten 50ff.
[42] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 53.
[43] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 46.
[44] Habermas, Jürgen: Post vom Bösen Geist; in: Die Zeit 38/99.
[45] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 53.
[46] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 45.
[47] Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark; Frankfurt am Main 1999, Seite 44f.
- Quote paper
- Pascal Grübl (Author), 2002, Menschenwürde im Menschenpark - Einwände zur Sloterdijk-Debatte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33511
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