Seit sich Osteuropa mit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts im Umbruch befindet, sind die damit verbundenen Auswirkungen nicht nur positiver Natur. In den Transitionsgesellschaften erreichen Korruption und organisierte Kriminalität als unmittelbare Folge der sich verbreitenden Armut ein extrem hohes Niveau. Aus dem alten kommunistischen System Russlands haben sich alte Seilschaften in den Kapitalismus herübergerettet und erzielen beachtliche Profite auf Kosten der Allgemeinheit. Drogen- und Waffenschmuggel, Menschenhandel, Schlepperunwesen und Prostitution werden zu einem weitverbreiteten Phänomen des Alltags. Als politische Folge gewinnen in dieser Phase autoritäre Parteien und Politiker wie Vladimir Putin, die eine „Diktatur des Gesetzes“ versprechen, die desillusionierte Bevölkerung für sich.
Die russische Ökonomie erleidet jedes Jahr beträchtliche volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe durch Normenverstöße von Unternehmen, privaten Haushalten und dem Staat.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Phänomen Korruption: Erklärungen und Ursachen
2.1 Definition und Dimensionen eines vielschichtigen Begriffes
2.2 Korruptionsarten
2.3 Ursachen von Korruption – der Mensch als Faktor
2.3.1 Intelligenz
2.3.2 Psychopathie
2.3.3 Organisationaler Zynismus
2.4 Ursachen von Korruption – Situationen als Faktor
2.4.1 Die klassische ökonomische Kriminalitätstheorie: Rational Choice
2.4.2 Sozial-psychologische Theorie: Kognitive Dissonanz
3 Das postsowjetische Erbe
3.1 Entwicklungen in der Sozialpolitik
3.1.1 Die Transformation als Wandel der Gesellschaft
3.1.2 Postsowjetische soziale Stratifikation
4 Korruption in der russischen Wirtschaft
4.1 Beziehungsnetzwerke in Russland
4.1.1 Blat: Transaktionen über Beziehungsnetzwerke
4.1.2 Kryši: Transaktionen und ihre private Durchsetzung
4.1.3 Entwicklung kollektiver Korruption
4.2 Korruption als Phänomen des Wandels
4.2.1 Schlupflöcher durch unterentwickelte Gesetzgebung
4.3 Rechtsunsicherheit in der russischen Rechtskultur
4.3.1 Russische Gerichtsbarkeit
4.3.2 Die Schwäche der russischen Judikative
4.4 Der Rat zur Korruptionsbekämpfung
4.4.1 Medienreaktion auf die Gründung des Anti-Korruptionsrates
5 Korruption im gesellschaftlichen Diskurs
5.1 Soziologische Analyse zur Korruption in Russland
5.1.1 Soziodemografische Angaben
5.2 Involvierungstypologien der Korruption
5.3 Bewusstsein und Gewohnheit als Korruptionskonzept
5.3.1 Nicht korruptes Verhalten in Bestechungssituationen
5.3.2 Kultur der Bestechung
5.4 Korruption im Gesundheits- und Bildungswesen
5.4.1 Bildungsqualität durch korrekte Wahl der Mittel
5.4.2 Gesellschaftliches Ansehen durch höhere Bildung
5.4.3 „Ware“ Gesundheit gegen gute Bezahlung
5.4.4 Korruption als Normalität des täglichen Lebens
6 Ausblick und Fazit
7 Quellenverzeichnis
8 Anhang: Fragebogen der INDEM-Umfrage
1 Einleitung
„Die Korruption ist unter den Straftaten ein scheues Wesen. Sie kleidet sich in feines Tuch, trägt keine Waffen, vergießt selten Blut. Noch nicht einmal die Opfer des Deliktes sind auf Anhieb auszumachen.“ [1]
Diese Aussage wirft zunächst die Frage auf, wie es möglich sein kann, bei einer Straftat nicht das klassische Opfer auszumachen. Das gemeinsame Geheimhaltungsinteresse beider beteiligter Seiten der Korruption, nämlich Korruptionsgeber und Korruptionsnehmer, ist eine plausible Erklärung hierfür. Oft genug entzieht sich das Problem der Korruption dadurch einer Aufklärung durch die Strafverfolgungsbehörden.[2] Das Thema Korruption hat im Verlauf einer relativ kurzen Zeit auf dem internationalen Parkett stark an Bedeutung gewonnen, was dessen Vordringen in das allgemeine Bewusstsein und somit auch in die öffentliche Diskussion bewirkt hat.[3]
Seit sich Osteuropa mit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts im Umbruch befindet, sind die damit verbundenen Auswirkungen nicht nur positiver Natur. In den Transitionsgesellschaften erreichen Korruption und organisierte Kriminalität als unmittelbare Folge der sich verbreitenden Armut ein extrem hohes Niveau. Aus dem alten kommunistischen System Russlands haben sich alte Seilschaften in den Kapitalismus herübergerettet und erzielen beachtliche Profite auf Kosten der Allgemeinheit. Drogen- und Waffenschmuggel, Menschenhandel, Schlepperunwesen und Prostitution werden zu einem weitverbreiteten Phänomen des Alltags. Als politische Folge gewinnen in dieser Phase autoritäre Parteien und Politiker wie Vladimir Putin, die eine „Diktatur des Gesetzes“ versprechen, die desillusionierte Bevölkerung für sich.
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Die russische Ökonomie erleidet jedes Jahr beträchtliche volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe durch Normenverstöße von Unternehmen, privaten Haushalten und dem Staat. Der jährliche Korruptionsumfang belief sich im Jahr 2006 laut dem damaligen Vizegeneralstaatsanwalt Aleksandr Buksman[4] auf 240 Milliarden US-Dollar, eine Summe, die mit dem Staatshaushalt der Russischen Föderation vergleichbar ist und welche russische Bürger und Unternehmen jährlich für Bestechungen im Alltag (Bildung, Gesundheit, Justiz etc.) ausgeben. Im Vergleich mit der Europäischen Union lässt sich das Bestechungsvolumen noch eindrucksvoller darstellen: Nach aktuellen Zahlen verlieren die EU-Staaten jährlich 162 Milliarden US-Dollar durch Korruption, dies stellt weniger als 1 % des EU Bruttoinlandsproduktes dar. Russlands Nationales Anti-Korruptions-Komitee schätzt nach den neuesten Zahlen den jährlichen Verlust durch Korruption in Russland auf 300 Milliarden US-Dollar – eine Summe, die 15 % des Bruttoinlandsproduktes entspricht.[5] Am häufigsten findet sich Korruption im Gesundheitssystem und im Hochschulwesen, daher erfahren diese beiden Sphären später noch eine intensivere Beachtung. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand bekannter Faktoren und Forschungsergebnisse die Ursachen der Korruption herauszustellen, im Fokus soll der Faktor Mensch stehen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen in Russland hat die Korruption verinnerlicht, da sie in ihrer Wahrnehmung als unumgänglich erscheint, was in der vorliegenden Arbeit analysiert werden soll. Die zu belegende These lautet wie folgt: Ohne Korruption ist das tägliche Leben für die Menschen in Russland undenkbar, da eine Vielzahl an Problemen nicht ohne sie gelöst werden kann. Aufgrund fehlender Ernsthaftigkeit in Bezug auf die Korruptionsbekämpfung bleibt sie auch in Zukunft ein Bestandteil der russischen Kultur. Dem ärmsten Teil der Bevölkerung werden dadurch jedoch notwendige und kostenlose Leistungen mangels Mittel vorenthalten.
1.2 Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit befasst sich zunächst mit der allgemeinen Definition von Korruption und ihren verschiedenen Arten, ferner soll beleuchtet werden, welche Faktoren Korruption begünstigen. Im Anschluss daran findet die Bedeutung des postsowjetischen Erbes Beachtung, da ohne das Verständnis für diese Entwicklungen in jener Zeit die heutige Korruption in Russland nur schwer nachvollziehbar ist. Nachfolgend nehmen in dieser Arbeit Transaktionen und Beziehungsnetzwerke in der russischen Wirtschaft einen gewichtigen Teil ein, gefolgt von der Entwicklung der russischen Ökonomie unter Korruption und unsicherer Gerichtsbarkeit. Als Auswirkung der zunehmenden Korruption wurde durch Vladimir Putin im Jahr 2003 der Rat zur Korruptionsbekämpfung ins Leben gerufen, mit diesem und den Reaktionen der Medien hierauf beschäftigt sich die vorliegende Arbeit im Weiteren.
Korruption im gesellschaftlichen Diskurs stellt einen essentiellen Teil dieser Arbeit dar, in dem eine groß angelegte Umfrage als ausgeschriebene Studie der Weltbank zum Thema Korruption analysiert wird. Russlands Bürger kommen hier im Rahmen der Beantwortung eines umfangreichen Fragenkataloges mit insgesamt 77 Fragen zu Wort und geben einen Einblick in ihr eigenes Korruptionsverhalten. Da es aufgrund des Umfangs dieser Arbeit unmöglich ist, auf sämtliche Fragen einzugehen, wird sich auf die für das Thema relevanten Fragen beschränkt. In diesem Zusammenhang finden, wie bereits kurz erwähnt, die Bereiche des Gesundheits- und Bildungswesens besondere Beachtung, zwei sehr stark von Korruption betroffene Sphären.
Eine technische Anmerkung gilt der Transliteration russischer Eigennamen, diese folgt der wissenschaftlichen Transliteration. Ausgenommen hiervon sind nur geografische und Personennamen, für die geläufige deutsche Bezeichnungen existieren (z. B. Jelzin, Gorbatschow, Moskau). Abkürzungen werden ebenfalls transliteriert.
2 Phänomen Korruption: Erklärungen und Ursachen
Öffentliche Entrüstung über den Skandal Korruption entlädt sich in schöner Regelmäßigkeit unbeschadet der kollektiven Erkenntnis, dass es „so etwas“ schon immer gegeben hat. Aber welche Vorgänge, Zustände oder Verhaltensweisen sind „so etwas“, wenn von Korruption die Rede ist?[6] Es sind die dunkleren Seiten menschlicher Betätigung, nämlich die (aktive) Bestechung und die (passive) Bestechlichkeit, wodurch Korruption vornehmlich verurteilt wird. Bei genauerem Hinsehen schwindet jedoch die Sicherheit des Urteils, da es Fälle von Korruption gibt, welche Verständnis finden und sogar als unvermeidlich angesehen werden. Nimmt man beispielsweise das Zahlen von Trinkgeldern, so ist sicher noch nicht von Korruption zu sprechen, weit entfernt ist sie aber nicht. Anhand dieses Beispiels lässt sich erkennen, dass bei der Korruption wie auch bei ähnlichen Aktivitäten (z. B. Schwarzarbeit) eine Grauzone besteht.[7]
2.1 Definition und Dimensionen eines vielschichtigen Begriffes
Neben der Wirtschaftswissenschaft beschäftigt das Phänomen Korruption die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen wie Verwaltungswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Kriminologie, Psychologie, Theologie, Biologie und Geschichtswissenschaft. Das Problem der Begriffsbestimmung taucht in allen wissenschaftlichen Abhandlungen auf und hat in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen keinen einheitlichen Korruptionsbegriff vorzuweisen. Daher finden bei der Definition des Korruptionsbegriffes einzelne Wissenschaftsbereiche Beachtung, um die unterschiedlichen Definitionen zu verdeutlichen.[8] Etymologisch lässt sich korrupt mit bestechlich, verderbt oder verdorben übersetzen, abgeleitet aus dem lat. corrumpere,[9] welches das Verb „rumpere“ beinhaltet. In diesem Verb kommt der Vorgang des Brechens zum Ausdruck, welcher in der Wortverbindung „cor-rumpere“ schließlich das Zusammenbrechen benennt – brechen und zusammenbrechen kann nur dort etwas, wo es zuvor heil bzw. ganz war.[10] Umgangssprachlich wird der Begriff oft mit „Bestechung“ assoziiert. Dadurch bedingt und aufgrund teilweise bestehender Informationsdefizite resultiert das mangelnde Unrechtsbewusstsein für Straftaten, wie z. B. Vorteilsannahme oder Vorteilsgewährung.[11] Im Lexikon der Wirtschaftsethik[12] wird der Terminus Korruption als normwidriges Verhalten eines Funktionsträgers beschrieben. Aus der Sichtweise der Wirtschaftswissenschaft handelt es sich um einen nicht legalen Tausch[13] zwischen dem Agenten und dem Klienten[14], bei dem der Agent durch Missbrauch der Vertrauensstellung zwischen ihm und dem Klienten eine nicht erlaubte Handlung als Leistung erbringt. Hierdurch entsteht dem Wettbewerber ein Schaden. Der Begriff Korruption ist kein juristischer Fachbegriff und nur ein ausgewählter Teil menschlicher Verhaltensweisen wird erfasst, welchen man einem weiten Definitionsbereich der Korruption zuordnen könnte. Stierle unterteilt in seinem Buch die politische Korruption in drei wesentliche Aspekte:
- „Amt und Mandat als politische Ressource zur privaten Interessendurchsetzung
- Tauschcharakter politischer und ökonomischer Ressourcen
- Konflikt zwischen privaten und öffentlichen Interessen.“[15]
Aus Sicht der Biologie wird das menschliche Korruptionsverhalten als eine Verletzung von „Standards“, die durch eigenen Willensentschluss herbeigeführt wird, definiert. Das Handeln zum eigenen Vorteil und das Verbergen[16] des erlangten Vorteils vor Mitbewerbern sind weitere Merkmale des menschlichen Korruptionsverhaltens.
Im Bereich der Verhaltensforschung setzt der Begriff der Korruption eine gewisse Abhängigkeit von der jeweiligen Phase des kulturellen Niveaus voraus und bedeutet sowohl in historischer als auch in soziokultureller Hinsicht nicht zu allen Zeiten und überall dasselbe. Jedoch umfasst hierbei die Korruption nicht jede Verletzung von Standards, sondern vor allem die Beanspruchung von Vorrechten und Ausnahmeregelungen durch die Einzelnen gegenüber der Gruppennorm. Somit ist unter Korruption das eigenwillige Außerkraftsetzen oder Nichtberücksichtigen des für eine bestimmte Gemeinschaft gültigen Standards (der Gruppennorm) zu verstehen.[17]
Um das begriffliche Spektrum interdisziplinär und in groben Zügen zu umreißen, können drei Klassen eines möglichen Begriffsverständnisses unterschieden werden:
1. Korruption als symbolische Verdichtung des Unmoralischen. Streisslers Definition[18] „unter Korruption wird ganz allgemein die moralische Minderwertigkeit von Personen, gemessen an einem Maßstab durchschnittlicher Redlichkeit oder einem bestimmten, in heiligen Schriften gebotenen Verhalten, verstanden“ deckt sich im Wesentlichen mit der allgemeineren, bereits vorstehend erläuterten Bedeutung des lateinischen corruptio, als ein (physisches oder moralisches) Verderben. Folgt man diesem Begriffsverständnis, so steht Korruption für eine nicht näher spezifizierte Amoralität in Form von moralischer Minderwertigkeit von Personen, Enttäuschung von Moralerwartungen oder als Kennzeichen sozialer Prozesse und Strukturen. Der Korruptionsbegriff gerät auf dieser normativ diffusen Ebene leicht zum pauschalisierend-umfassenden Synonym für die Schlechtigkeit der Welt, was die Metaphorik von Korruptionsdiskursen (Sumpf, Pest, Seuche, Krake, Krebsgeschwür etc.) eindrucksvoll demonstriert. Des Weiteren eignet sich der Korruptionsbegriff für undifferenzierte populistische Herrschaftskritik („die da oben sind doch alle korrupt“) ebenso wie zur denunziatorischen Instrumentalisierung im politischen Machtkampf.[19]
2. Korruption als qualifizierter Normverstoß. Wird das diffus Unmoralische des Phänomens Korruption enger eingegrenzt, dann rückt der individuelle Normverstoß – also Korruption als normative Qualität von Handlungen – in den Mittelpunkt der Betrachtung. Korruption meint auf dieser Ebene im weitesten Sinne die Verletzung einer mehr oder weniger sorgsam gezogenen Trennlinie zwischen den gesellschaftlichen Sphären des „Öffentlichen“ und des „Privaten“. Die Soziologen Lüdtke und Schweitzer kennzeichnen Korruption als „Akt des Tausches von als wertvoll geschätzten Gütern zwischen mindestens zwei Akteuren in Verfolgung des Interesses an Nutzenoptimierung; [...] wobei mindestens eine Partei in ein Dilemma der Befolgung allgemeiner, universalistischer Normen oder Standards versus spezieller, privater, partikularistischer Normen oder Standards gerät, das zugunsten der letzteren entschieden wird; [...] wobei die Akteure negative Sanktionen aus der Umwelt (bei Aufdecken der Handlung) erwarten, gegenüber der sie in Bezug auf universalistische Orientierungen verpflichtet sind“[20]. Als partikularistischer Standard wird das private Interesse selbst zu einer normativen Kategorie, die mit dem universalistischen Standard spezifischer Rollenerwartungen kollidiert. Das korrupte Handeln wird auf seine interaktive Variante – den Akt des Tausches – beschränkt. Nicht jede Missachtung einer Priorität universalistischer Normen soll also mit Korruption gemeint sein, sondern nur diejenige, die auf einer Transaktion zwischen Akteuren beruht. Dieser unmoralische Tausch, bei dem für etwas gezahlt wird, was eigentlich nicht käuflich sein sollte, bildet den Kern eines engeren Korruptionsbegriffes, der – wiederum auf den lateinische Wortstamm zurückgehend – als Synonym für der Vorgang der Bestechung aufgefasst werden kann. Hiermit ist der durch einen Tausch abgewickelte heimliche Normenverstoß zum Zweck gegenseitiger privater Bevorteilung zulasten der Allgemeinheit gemeint und noch keine strafrechtliche Kategorie.[21]
3. Korruption als Kriminalität ist die dritte Klasse, welche der Vollständigkeit halber aufgeführt wird, jedoch lediglich rudimentär Beachtung findet. An dieser Stelle wären tiefere strafrechtliche Kenntnisse vonnöten. Erwähnenswert ist jedoch die Tatsache, dass nicht alles, was als moralisch verwerflich oder sozialschädlich angesehen wird, sich zugleich strafrechtlich normiert findet. So bestimmt sich Korruption als soziale Beziehung nicht über die Strafbarkeit.[22]
Abschließend soll an dieser Stelle die Anti-Korruptionsorganisation Transparency International zitiert werden, welche Korruption „als Missbrauch öffentlicher Macht zum privaten Nutzen“[23] definiert. Bei Korruptionsverflechtungen wie bei einer strukturellen oder systemischen Korruption sind Korruptionsgeber und Korruptionsnehmer nur schwierig zu identifizieren. Daher sollen im folgenden Kapitel verschiedene Formen von Korruption gegeneinander abgegrenzt werden.[24]
2.2 Korruptionsarten
Häufig wird zwischen drei Korruptionsausprägungen unterschieden: der situativen, der strukturellen und der systemischen Korruption. Bei einer situativen Korruption geht einer Korruptionshandlung keine gezielte Planung oder Vorbereitung voraus. Zu einem dann stattfindenden einmaligen illegalen Handeln führt vielmehr ein spontaner Willensentschluss. Bei der strukturellen Korruption hingegen wird eine bewusst geplante Tat vorausgesetzt, welche auf länger andauernden Korruptionsbeziehungen basiert[25] und nicht auf Spontanität angelegten Handlungen, welche hohe Intensitäten aufweisen. Eine hohe Intensität äußert sich durch eine hohe Forderung des Agenten bzw. eine hohe Bestechungsleistung des Klienten. Zudem ist bei struktureller Korruption von einem gewissen Organisationsgrad auszugehen. Um längerfristigen Beziehungen den Weg zu ebnen, werden bei dieser Form der Korruption überwiegend größere Summen in die Planung und Durchführung investiert. Denkbar ist, dass diese Beziehungen über Jahrzehnte hinweg unbeachtet ausgebaut werden. Etabliert sich eine dauerhafte Beziehung durch sich wiederholende Transaktionen, erweitert sich oftmals der Kreis der involvierten Personen.[26]
Ein Sachverhalt der systemischen Korruption liegt vor, wenn strukturelle Korruption großflächig, international organisiert ist und möglicherweise sogar ganze politische Systeme umfasst. Die systemische Korruption gehört zur organisierten Kriminalität. Die Unterscheidung zwischen situativer und struktureller Korruption hat sich praktisch durchgesetzt, der Weg in die Illegalität beginnt hierbei häufig schleichend. Bei der strukturellen Korruption entwickeln sich regelrechte Netzwerke, in denen zahlreiche Personen auf Geber- und Nehmerseite über Jahre hinweg kooperieren. Weitere Begleitdelikte wie Betrug, Untreue oder Steuerhinterziehung gehen häufig mit Korruptionshandlungen einher. Deshalb gilt die strukturelle Korruption als besonders gefährlich und ist der Wirtschaftskriminalität zuzuordnen. Von der situativen über die strukturelle bis hin zur systemischen Korruption nimmt die Bedrohung in aufsteigender Folge für das Gemeinwesen zu. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass die vermeintlich harmlose situative Korruption den Boden für strukturelle Korruption bereitet. Die Folgerung hieraus muss also lauten, dass es keine ungefährliche Korruption gibt.[27]
2.3 Ursachen von Korruption – der Mensch als Faktor
Bevor an späterer Stelle auf die Ursachen der Korruption speziell in Russland eingegangen wird, soll zunächst das menschliche Handeln an sich im Vordergrund stehen. Hierbei sind zwei verschiedene Ansätze aus der Psychologie relevant. Die Differentielle Psychologie befasst sich mit der Erklärung von Unterschieden zwischen Personen und kann mit ihren Ansätzen aufzeigen, weshalb manche Personen eher korrupte Verhaltensweisen zeigen als andere, während die Ansätze der Persönlichkeitspsychologie erklären können, aus welchen Gründen eine bestimmte Person eine korrupte Verhaltensweise zeigt. Im Laufe der weiteren Beschäftigung mit Personenfaktoren als eine Ursache von Korruption wird sich den psychologischen Konstrukten Intelligenz, Psychopathie und organisationalem Zynismus gewidmet. Wichtig ist hier die Einschränkung vorzunehmen, dass aus dem Wissen über die Differenzen zwischen verschiedenen Personen nicht zwangsweise das Wissen über einzelne Personen resultiert.[28]
2.3.1 Intelligenz
Nach Neubauer ist Intelligenz „die Fähigkeit, sich in neuen Situationen auf Grund von Einsichten zurechtzufinden, Aufgaben mit Hilfe des Denkens zu lösen, ohne dass hierfür die Erfahrung, sondern vielmehr die Erfassung von Beziehungen, das Wesentliche ist“[29]. Definitionen sollen in dem Zusammenhang mit Korruption hier jedoch nicht im Fokus stehen, im Kern geht es vielmehr um kognitive Fähigkeiten. Im beruflichen Kontext ist die Bedeutung von Intelligenz durch eine Vielzahl von Studien untermauert worden, welche aufzeigen, dass Intelligenz klare Zusammenhänge mit beruflicher Leistung und beruflichen Kenntnissen aufweist. Jedoch hat Intelligenz nicht nur einen Einfluss auf die berufliche Leistung, sondern kann auch destruktiv eingesetzt werden, so beispielsweise um mögliche Entdeckungsrisiken zu minimieren, was wiederum die Handlungsentscheidung für oder gegen Korruption beeinflusst. Je weniger Personen Entdeckung fürchten, je sicherer sie sich fühlen, desto eher handeln diese Personen korrupt.[30]
2.3.2 Psychopathie
Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass Psychopathie mit beruflichem Erfolg zusammenhängen kann, psychopathische Personen machen mithin schneller Karriere und sind eher in leitenden Funktionen zu finden. Im Folgenden wird Psychopathie nicht als klinisches Merkmal mit Krankheitswert verstanden, sondern vielmehr als Persönlichkeitsdimension, auf der Personen verschiedene Ausprägungen haben können. Weisen Menschen ein durchgängiges Muster von Missachtungen und Verletzungen der Rechte anderer auf, spricht die klinische Psychologie von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, ein Verhalten, welches oftmals sprachlich unpräzise als Psychopathie bezeichnet wird. Beide Konzepte ähneln sich, die Konstrukte sind jedoch nicht identisch. Während die antisoziale Persönlichkeitsstörung ein psychisches Störungsbild darstellt, umfasst das Psychopathiekonzept ein Fehlen von Emotionen und Gefühlen bei sonst vorhandener Funktionalität. Somit handelt es sich bei Psychopathen um Menschen, welche keine psychische Störung aufweisen, sich jedoch besonders rücksichtslos verhalten. Menschen mit hohen Psychopathiewerten sind gewissenlos, Regel- oder Normverstöße lösen bei ihnen weder Reue noch Scham aus, ferner empfinden sie kein Mitgefühl mit anderen Menschen. Sie besitzen die Fähigkeit zu manipulieren und Menschen für eigene Zwecke auszunutzen, was erhebliche negative Folgen nach sich ziehen kann. Betroffen sind hiervon Menschen vieler Berufsgruppen und darüber hinaus lässt sich feststellen, dass gerade erfolgreiche Personen in Führungspositionen anfälliger für Korruption sind und diese auch häufiger vollziehen. Die individuelle Grenze gegenüber Korruption wird daher erwartungsgemäß umso später gezogen, je höher die Psychopathiewerte sind.[31]
2.3.3 Organisationaler Zynismus
Im Vergleich mit den Konzepten der Intelligenz und der Psychopathie ist das Konzept des organisationalen Zynismus weniger bekannt, man versteht hierunter eine negative Einstellung eines Arbeitnehmers gegenüber seiner Organisation, welche drei Dimensionen umfasst:
- Glauben, dass es der Organisation an Integrität mangelt,
- negative Gefühle gegenüber der Organisation und
- Tendenzen zu abschätzigem und kritisierendem Verhalten.
Organisationaler Zynismus ist reliabel zu erfassen, die wichtigsten Ursachen hierfür sind:
- Wahrgenommene prozedurale Ungerechtigkeit: Unfairness; fehlende Transparenz; kein Einbeziehen in Entscheidungen, die direkte Folgen für Mitarbeiter haben
- Wahrgenommene distributive Ungerechtigkeit: Massive Entlassungen bei gleichzeitig großen Steigerungen von Managergehältern
- Wahrgenommene interaktionale Ungerechtigkeit: Unfaires und nicht respektvolles Kommunikationsverhalten gegenüber Mitarbeitern; Bruch des psychologischen Vertrages durch Führungskräfte oder Mitarbeiter des Human Resource Managements
- Fehlendes Vertrauen in das Management
Weisen Personen einen starken organisationalen Zynismus auf, ist mit erheblichen negativen Folgen zu rechnen. Dies können sowohl geringere emotionale Bindungen an das Unternehmen und Abnahme der Leistungsfähigkeit als auch emotionale Erschöpfung und Unzufriedenheit sein. Bei den Betroffenen bildet sich nicht selten eine zynische Einstellung gegenüber dem eigenen Unternehmen und dessen Aktivitäten heraus. Angesichts der Tatsache, dass Unternehmen in Zeiten von Wettbewerbsdruck und sich stark verändernden Märkten auf die Loyalität und Leistungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter angewiesen sind, ist organisationaler Zynismus mehr als problematisch. Diese Mitarbeiter verringern nicht nur ihr Leistungsverhalten, sondern neigen auch zu destruktivem/devianten Verhalten, sozusagen als „Ausgleich“ für erlebte Ungerechtigkeit. Korruption ist als eine Form devianten Verhaltens anzusehen.[32]
2.4 Ursachen von Korruption – Situationen als Faktor
Um Verhalten in sozialen Aktionen gezielt vorherzusagen, genügen Personenfaktoren alleine nicht. Erst die charakteristische Interpretation von Situationen (Situationsfaktoren) durch Personen (Personenfaktoren), mit der zwischen wahrgenommener Situation und individuellem Verhalten vermittelt wird (Interaktion), schafft hierfür eine realistische Chance. Bevor die Interaktionen zwischen Personen- und Situationsfaktoren analysiert werden, soll im Folgenden zunächst auch auf die Situationsfaktoren eingegangen werden. Die Herleitung der Situationsfaktoren soll exemplarisch anhand von zwei zentralen Erklärungsansätzen, und zwar des Rational-Choice-Ansatzes als klassische ökonomische Kriminalitätstheorie und der sozial-psychologischen Theorie der kognitiven Dissonanz, erfolgen. Häufig wird Korruption sowohl durch unzureichende Transparenz von Entscheidungsprozessen in Organisationen und Unternehmen als auch fehlende Kontrollen begünstigt. Als weitere Ursachen von Korruption können die Normenflut in Form des Anwachsens rechtlicher Regelungen, insbesondere im Kontakt von Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, sowie die Tendenz zu informellen Vorgehensweisen, welche korrupte Handlungen einschließen kann, angesehen werden. Darüber hinaus begünstigen niedrige Gehälter Korruptionsstraftaten.[33]
2.4.1 Die klassische ökonomische Kriminalitätstheorie: Rational Choice
Zur Erklärung von Korruptionshandeln bieten sich kriminologische und sozialpsychologische Konzepte an, die auf kognitiven Handlungskonzepten basieren. Der Rational-Choice-Ansatz gehört dabei zu den ökonomischen Kriminalitätstheorien, Handlungsentscheidungen sollen in Abhängigkeit von Erwartung-mal-Wert-Abwägungen erklärt werden. Das bedeutet, dass diejenige Handlung gewählt wird, welche den optimalen Nutzen erwarten lässt, d. h. die wahrscheinlich zum Ziel führt (Erwartung der Zielerreichung) und dieses Ziel eine hohe Valenz aufweist. Als kognitives Wahlhandeln wird dabei Devianz, hier Korruption, verstanden, welches von subjektiv geprägten Kosten-Nutzen-Abwägungen bestimmt wird. Aus mehreren Handlungsoptionen wird in Abhängigkeit von Motiven, Einstellungen, der Wahrnehmung von Tatgelegenheiten und Tathemmnissen sowie Erfolgserwartungen rational diejenige gewählt, welche den höchsten Nutzen verspricht. Die konkrete individuelle Abwägung von Kosten und Nutzen kann hierbei durchaus von generalisierten Einschätzungen abweichen: Einigen Personen mag der Geldwert einer konkreten Korruptionshandlung nicht das Risiko wert sein, anderen wiederum schon. Daran wird ersichtlich, dass Situationsfaktoren wie auch Personenfaktoren jeweils alleine betrachtet nicht zur Erklärung von Korruption und deren Bewertung ausreichen.[34] Der Rational-Choice-Ansatz erlaubt einfache Handlungsprognosen, wenn ein Akteur „unter systematischer Berücksichtigung möglichst vieler Informationen die Situationsdefinition (aus)wählt, von der möglichst günstige Folgen zu erwarten sind“[35]. Häufig sind Handlungen in der Realität jedoch nur mit komplexeren Entscheidungsprozessen erklärbar, darum wurde der Rational-Choice-Ansatz zur Theorie geplanten Verhaltens weiterentwickelt. Neben Verhalten und Einstellungen bezieht dieser Ansatz auch Handlungsabsichten als Erklärungsparameter mit ein. Bei der Anwendung dieses Ansatzes wird eine willentliche Handlung vorausgesetzt. Bezogen auf Korruption wäre diese willentliche Handlung etwa die Absicht, der eigenen Organisation etwas „Gutes“ tun zu wollen. Für die Handlungsentscheidung ist eine wahrgenommene Verhaltenskontrolle mitbestimmend. Bei der Korruption bedeutet dies, wenn eine Person A bei einem Kollegen (Person B) erkennt, dass Korruption realisiert wird, und sieht sich Person A in der Lage und der Position, ebenso zu handeln wie Person B, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch Person A korruptes Handeln zeigt. An dieser Stelle bleibt festzustellen, dass die Parameter Einstellungen, subjektive Normen und Einschätzung der eigenen Verhaltenskontrolle handlungsrelevant sind. Folgende Annahmen lassen sich zu Korruption ableiten:[36]
- Eine positive Einstellung gegenüber Korruption fördert die Absicht, selbst korrupt zu handeln.
- Je größer die subjektive Befürwortung oder Tolerierung von Korruption (in der eigenen Organisation) ist bzw. je geringer die Ablehnung im persönlichen Umfeld, desto größer ist die Absicht, selbst korrupt zu handeln.
- Je geringer das Entdeckungsrisiko eingeschätzt wird und je autonomer die Entscheidungskompetenz ist, desto größer ist die Absicht, korrupt zu handeln.
- Je größer die Absicht ist, korrupt zu handeln, desto höher ist die Auftretenswahrscheinlichkeit von Korruption.
Somit lassen sich mit der Theorie geplanten Verhaltens situativ relevante motivationale Elemente von Korruption wie Einstellung, Antizipation von Entdeckungsrisiko (Kosten) und Vorteilsanreizen (Nutzen), Normen und Organisationskultur gut abgrenzen und operationalisieren.[37]
2.4.2 Sozial-psychologische Theorie: Kognitive Dissonanz
Als eine weitere sozial-psychologische Theorie bietet die Theorie der kognitiven Dissonanz Hilfe bei der Erfassung und Beschreibung von Entscheidungsprozessen in korruptionsgefährdeten Situationen. Innere Konflikte und Spannungen werden der Dissonanztheorie zufolge durch miteinander unvereinbare Kognitionen verursacht. Um eine Dissonanzreduktion zum Spannungsabbau zu erreichen, versuchen Menschen dissonante Kognitionen in Einklang zu bringen. Kenntnisse, Einstellungen, Meinungen und Vorurteile sind Kognitionen und der Begriff umfasst dabei alles, was ein Mensch über sich selbst, sein Verhalten und seine Umwelt weiß oder zu wissen glaubt.[38]
Dissonant sind Kognitionen immer dann, wenn sie im Widerspruch zueinander stehen. Wahrheiten, dass ein weißer Stuhl nicht gleichzeitig schwarz sein kann, sind objektiv unvereinbar. Bei weniger leicht objektivierbaren Wahrnehmungen und Einstellungen ist die psychologische Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit das entscheidende Kriterium. Das Auftreten kognitiver Dissonanz ist sowohl nach Entscheidungen als auch bei selektiver Auswahl neuer Informationen und bei Einstellungsänderungen wahrscheinlich. Entscheidet sich ein bislang zuverlässiger und redlicher Mitarbeiter erstmals, jemandem gegen Geld einen Vorteil zu verschaffen, so löst dies eine Abfolge von Kognitionsprozessen aus, die für die Aufrechterhaltung oder Wiederholung korrupten Verhaltens ausschlaggebend sind. Selbst die Beobachtung korrupter Handlungen bei einem Kollegen, der bislang integer erschien, bringt Kognitionsprozesse in Gang, die laut der Theorie der kognitiven Dissonanz die Entscheidung, selbst ebenfalls korrupt zu handeln – oder eben nicht – beeinflussen. Begeht ein bislang integrer Mitarbeiter eine korrupte Handlung, sind beispielsweise die zwei folgenden aufeinander bezogenen Kognitionen widersprüchlich und schwer auszuhalten:
- Ich bin ein redlicher Mitarbeiter.
- Ich handle korrupt.
Für den Mitarbeiter bestehen nun verschiedene Möglichkeiten, diese unangenehme Dissonanz zu beheben: bestehende Kognitionen zu verändern, neue und konsonante Kognitionen hinzuzufügen sowie dissonante Kognitionen zu entfernen. Im ersteren Fall besteht die Strategie der Dissonanz in der Modifikation der Kognition durch den Mitarbeiter, er passt also eine Kognition an die andere an. Allerdings ist eine Veränderung an diesem Element unwahrscheinlich, sofern das Selbstbild eines integren Mitarbeiters eine hohe Persistenz besitzt. Somit muss der Mitarbeiter die zweite Kognition, nämlich Geld für die Verschaffung eines Vorteils angenommen zu haben („Ich bin korrupt“), verändern. Subjektiv kann dies die Dissonanz verringern. Eine Möglichkeit, sein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, wäre die Variante, sein korruptes Verhalten zur absoluten Ausnahme zu erklären. Im zweiten Fall des Hinzufügens neuer, konsonanter Kognitionen wiegen diese im Ergebnis das dissonante Element auf. Der Mitarbeiter empfindet beispielsweise das Annehmen von Geld als üblich und normal, solche neuen kognitiven Elemente relativieren die Wahrnehmung, korrupt oder kriminell zu sein und passen zum persistierenden Selbstbild eines integren Mitarbeiters. Im dritten Fall schließlich werden dissonante Kognitionen durch Ignorieren, Vergessen oder Verdrängen entfernt. Widersprüchliche Wahrnehmungen werden hier so gedeutet, als würden sie in keinem Zusammenhang stehen oder werden in ihrer Bedeutung heruntergespielt (Neutralisierungstechnik). Der Mitarbeiter agiert nach seinem Empfinden nicht korrupt, da er die Zuwendung des Korruptionsgebers lediglich als kleine Gefälligkeit sieht. Prozesse wie dieser führen zum Fortbestand des positiven Selbstbildes vom integren Mitarbeiter.[39]
Die vorgenannten Prozesse sind lediglich Beispiele für mögliche, zum Teil wahrscheinliche Reaktionen und Kognitionsvorgänge und beinhalten keine Zwangsläufigkeit. In welchem Ausmaß zwei Kognitionen dissonant sind, lässt sich nur sehr schwer zuverlässig nachweisen. Dennoch kann die Theorie der kognitiven Dissonanz für die Untersuchung situativer Faktoren von Korruptionshandlungen hilfreich sein, da sie Anhaltspunkte für Handlungsanreize und Neutralisierungstechniken liefert.[40]
3 Das postsowjetische Erbe
Als 1991 das schwergewichtige Sowjetimperium zusammenbrach, ging eine Ära zu Ende, ein in der Oktoberrevolution 1917 seinen Anfang nehmendes sozialpolitisches Experiment. Unspektakulär tritt der Sowjetkommunismus von der politischen Bühne ab, die morsch gewordenen tragenden Säulen können ihn nicht mehr stützen. Für den Westen kommt dieser Zusammenbruch überraschend, galt die Sowjetunion doch in den Zeiten des Kalten Krieges als stabiler Staat, mit ihren wirtschaftlichen Problemen zwar krisenanfällig, aber dennoch mächtig. Nach mehr als zwei Jahrzehnten des Zusammenbruchs ist es offensichtlich, dass das friedliche Verschwinden der Sowjetunion nicht mit einem vollständigen Untergang ihrer Strukturen und Traditionen gleichzusetzen ist. Das postsozialistische Russland entwickelt sich nicht frei von seiner Vergangenheit.[41] Die nachfolgenden Kapitel verstehen sich nicht als kursorischer Durchgang durch die sowjetische resp. russische Historie, vielmehr sollen einige zentrale Punkte fokussiert werden, welche zum besseren Verständnis der russischen Kultur, Politik und Wirtschaft beitragen, um dann auf die Korruption in Russland einzugehen und diese zu analysieren.
3.1 Entwicklungen in der Sozialpolitik
Die sowjetische Sozialpolitik ist in diesem Kontext besonders erwähnenswert, da sie einen Bürger mit der Überzeugung geformt hat, sämtliche sozialen Probleme seien vom Staat zu lösen. Dieser Paternalismus verband sich insbesondere bei der älteren Generation mit politisch korrektem Aktivismus bei der Arbeit und politischer Zuverlässigkeit. Dieser Bürger ist an die soziale Nivellierung gewöhnt und hat ein starkes Empfinden für „soziale Gerechtigkeit“, was er als Gleichheit im Alltag und im Lebensstandard versteht. Dies wiederum ruft schnell Neid auf reichere und erfolgreichere Mitmenschen hervor.[42]
3.1.1 Die Transformation als Wandel der Gesellschaft
Über zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterscheidet sich die Gesellschaft Russlands in vielen Aspekten von der sowjetischen Gesellschaft. Die Grunderfahrung der meisten russischen Bürger nach 1991 ist der Verlust der eigenen gesellschaftlichen Position, die Transformation des politischen und des Wirtschaftssystems hat die soziale Organisation tief greifend verändert. In dieser Zeit verarmen große Bevölkerungsgruppen, „alte“ sowjetische Mittelschichten zerfallen und Ansätze zur Entstehung einer „neuen Mittelklasse“ auf der Basis des Privateigentums sind sichtbar. Aus Teilen der sowjetischen Nomenklatura entsteht eine neue Führungsschicht, in die schnell auch Reformpolitiker, Unternehmer und Geschäftemacher einer neuen Generation aufsteigen. Innerhalb der Gesellschaft verändern sich hierdurch die Kräfteverhältnisse und wirken auf das System der politischen Institutionen zurück. Während dieser Umbruchphase sind zwei Grundtendenzen erkennbar, welche auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen:
- Einerseits: Die sozialen Strukturen der Sowjetzeit wirkten weiterhin fort und prägten die Entwicklung der Gesellschaft im neuen Russland mit. Bei der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums in den Transformationsjahren waren die Angehörigen der sowjetischen Führungsschicht in einer privilegierten Position, welche ihnen erlaubte, ihre Positionen mit all ihren Vorzügen in das neue wirtschaftliche und politische System hinüberzuretten. Partiell war die neue Führungsschicht mit der „alten Nomenklatura“ identisch, somit trug die neue Gesellschaft die „Muttermale der alten“.
- Andererseits: In einem grundlegenden Zug unterschied sich das neue soziale System von dem der Sowjetzeit, nämlich die Logik der sozialen Hierarchie war nun eine andere. Für die Position in der Gesellschaft wurde Besitz zum Kriterium und nicht mehr die politisch begründete Verfügung über Personen und Sachen. Die private Aneignung gesellschaftlichen Reichtums wurde somit zur Triebkraft im politischen Prozess der Transformationsphase. So entstand im Prozess des Übergangs zur Marktordnung eine neue Gesellschaft, ein Hybrid aus alten sowjetischen Strukturen und Elementen einer neuen Ordnung. Bis in die Gegenwart weit gediehen, ist dieser Prozess jedoch noch keineswegs abgeschlossen.[43]
3.1.2 Postsowjetische soziale Stratifikation
Der Zugang zur sowjetischen Führungsschicht war über ein System geregelt, in welchem neben Bildung vor allem die Stellung in der Hierarchie der Nomenklatura-Positionen eine große Rolle spielte. Durch die seit 1987 in die Wege geleiteten Wirtschafts- und Sozialreformen unter der Führung von Gorbatschow wuchs die Möglichkeit, auf Eigentum zuzugreifen. Die führenden politischen Akteure dieser Zeit entstammen weitgehend der sowjetischen Nomenklatura. Diese Elite begann nun, sich auf diese Bedingungen einzustellen und – unter Nutzung ihrer Vorrangstellung – Besitz zu erwerben. Eine starke Position der Nomenklatura-Elite in dem sozialen Differenzierungsprozess war die Folge. Die Transformation war vor allem ein Umverteilungsprozess, durch den die sozialen Kräfteverhältnisse grundlegend verändert wurden. Durch die Einführung von demokratischen Normen wurde neuen Gruppen der Zugang zur Macht sowie der Übergang zur Marktwirtschaft mit der Privatisierung von Staatseigentum und einer Liberalisierung von Preisen und Kapitalverkehr ein breites Spektrum an Möglichkeiten eröffnet, sich zu bereichern. Die jungen Wirtschaftsreformer in Jelzins Umfeld sahen in der Entstehung einer besitzenden Schicht die Garantie einer Unumkehrbarkeit zum politischen System der Sowjetzeit. Deutliche Verschiebungen in den Einkommensverhältnissen waren die Folge: Verfügte 1990 das reichste Fünftel der russischen Bevölkerung über ca. 30 % des gesamten Geldeinkommens, waren es 1994 fast 50 %.[44] Der Gini-Koeffizient[45] stieg von 26 % in 1991 auf 42 % in 2012 kontinuierlich an.[46]
Im Jahr 1992 entsprach die Formation der sozialen Stellung in der Gliederung der russischen Gesellschaft mit einer kleinen Oberschicht, einer relativ kleinen Schicht armer Menschen und mit einer dominanten Mittelschicht im Großen und Ganzen den Strukturen westlicher Industriegesellschaften. Am Ende der Jelzin-Ära war die russische Sozialstruktur jedoch eine andere: Die Mittelschichten waren weggebrochen. Erst im vierten Jahr der ersten Amtszeit Putins, im Jahr 2003, hatte sich die Situation gewendet und eine größere Mittelschicht war wieder festzustellen. Die Sozialstruktur hatte sich konsolidiert, die soziale Ungleichheit blieb weiterhin bestehen.
4 Korruption in der russischen Wirtschaft
Diversen Erhebungen zufolge ist Russland eines der korruptesten Länder der Welt. Nach Analysen der internationalen Organisation „Transparency International“[47] rangiert Russland gemäß CPI[48] von 2013 im letzten Drittel auf Rang 127 von 175 Ländern und steht dabei noch hinter Pakistan, Aserbaidschan, Äthiopien und dem Libanon. Die Spitze der „saubersten“ Länder bilden Dänemark, Neuseeland und Finnland, die Schlusslichter Somalia und Nord-Korea. Immer wieder angeprangert wird die Korruption in Russland durch die Verlautbarungspresse, den offiziellen Enthüllungsjournalismus und die verbliebene kritische Berichterstattung. Zu den Pflichtübungen öffentlicher Politik gehören periodisch wiederkehrende Kampagnen zur Korruptionsbekämpfung. Als hoffnungsvoller Korruptionsbekämpfer wurde dem Wahlvolk nicht zuletzt der ehemalige Geheimdienstler Vladimir Putin für das höchste Staatsamt schmackhaft gemacht. In Putins erster Legislaturperiode als Präsident der Russischen Föderation stärkte er die Überwachungsorgane, vereinfachte und senkte einige Steuern und brachte eine Reihe von Gesetzen durch, welche die Privatinitiative fördern und wirtschaftliche Spielregeln liberalisieren. Schenkt man Meinungsumfragen aus dieser Zeit Glauben, so empfanden die meisten Russen ihr Alltagsleben als weniger korrupt als zur Jelzin-Zeit. Erklären ließe sich dies teilweise aus dem sachlichen Effektivitätshabitus der neuen Administration, mit gelegentlichen Erfolgsmeldungen der gezähmten Medien und teilweise mit Gewöhnung. INDEM-Studien[49], welche sich auf Erfahrungsberichte und Selbstaussagen von mehreren tausend Personen, darunter frühere Staatsbeamte, Ordnungshütern und Großkapitalisten, stützen, kommen zu einem anderen Befund: Die Korruption in Russland steigt seit Jelzin stetig.[50] Umfragen der russischen Bevölkerung zur Korruption in ihrem Land werden in Kapitel 5 genauer analysiert.
Korruption blickt in Russland auf eine lange Tradition zurück. Die „Fütterung“, die kormlenie, war eine frühe institutionalisierte Form der Korruption des adeligen Verwaltungsapparates durch das Volk. Das Land des Zaren wurde durch adlige Beamte verwaltet, welche Steuern in seinem Auftrag erhoben, als Gegenleistung durften sie einen Anteil der Steuerzahlungen für sich behalten. Somit waren diese Beamten direkt am Steuererfolg beteiligt und selbst dafür verantwortlich, sich ihr eigenes Einkommen beim Volk zu holen. Zudem war es im riesigen Russland kaum möglich, die Steuereinzieher zu kontrollieren. Die Einnahmen der Steuern wurden durch das Beteiligungssystem am Steuererfolg sichergestellt. Die Folge des Systems der „Fütterung“ war, dass sich die russische Bevölkerung daran gewöhnte, dass Staatsbeamte von den Steuereinnahmen selbst direkt profitierten. Diese Vorteilsnahme war üblich und wurde nicht als illegal oder amoralisch angesehen. Erst mit zunehmender Zentralisierung des Staates im 16. Jahrhundert und neuen Möglichkeiten, den Verwaltungsapparat zu kontrollieren, wurde das System der Fütterung abgeschafft.[51]
Korruption war auch in der Sowjetunion weitverbreitet, Privilegien wurden erkauft oder zwischen Freunden und Bekannten verschoben (wie im folgenden Kapitel über blat beschrieben). Die Nomenklatura verkaufte ihre Privilegien und die Polizei war bestechlich. Durch Bestechung wurden falsche Angaben über die Erfüllung von Plänen und der Produktion verheimlicht. Diente die Korruption den Zielen des Staates, wurde sie toleriert, denn nicht die Befolgung von Regeln und Gesetzen waren gefordert, sondern das Erreichen von Zielen. In der postsowjetischen Gesellschaft und Wirtschaft bleibt die Korruption weitverbreitet.[52] „Die Erfahrung der Korruption ist total und existentiell. Sie erfasst alle Sphären der Wirtschaft und des Lebens, kennt keinen Anfang und kein Ende“[53].
4.1 Beziehungsnetzwerke in Russland
In der Jelzin-Zeit reichte der Einfluss der Oligarchen bis tief in den Kreml hinein, sie diktierten dem Staat ihre Gesetze. Der russische Staat war durch die Wirtschaft „gekapert“[54] worden. Als sich Vladimir Putin nach seiner Machtübernahme im Juli 2000 mit 21 Oligarchen traf, sollte das Verhältnis von Staat und Wirtschaft geordnet werden. Die Wirtschaft versprach, sich nicht in politische Fragen einzumischen und den Staat zu respektieren, im Gegenzug sicherte der Kreml der Wirtschaft zu, die Privatisierungsergebnisse nicht rückgängig zu machen und der Wirtschaft liberale Rahmenbedingungen zu bieten. Putin organisierte den Staat zentraler und beschnitt den Einfluss einiger Oligarchen, welche nun befürchten mussten, dass ihre Eigentumsrechte nicht geschützt werden konnten und der Staat ihr Eigentum an sich reißt. Als Konsequenz agierten Unternehmen nicht mehr im formellen Sektor, sondern versteckten ihre Geschäftstätigkeit im informellen Sektor, verborgen durch Korruption. Anstelle der offiziellen Steuern werden Steuerbeamten geringere Beträge in die private Tasche geschoben und Regis-trierungen und Lizenzen werden gegen Bezahlung eines Bestechungsgeldes nicht mehr eingefordert. Durch diese Bestechungsgelder von Beamten wird es Geschäftsleuten erst ermöglicht, Transaktionen am Staat vorbei im informellen Sektor durchzuführen. Das bereits oben angeführte „Kapern“ des Staates ist gleichbedeutend mit dem Verbergen von Transaktionen, welche aktiv vor dem Staat verborgen werden, indem seine Beamten bestochen werden. Der Staat wird durch die Wirtschaft im Eigeninteresse gelenkt.[55] Das Regeln von Transaktionen über Beziehungsnetzwerke wurde in der Sowjetunion unter Bezeichnungen wie snakomstva i svjazi [56] oder einfach unter dem Begriff blat bekannt. Um die im heutigen Russland vorherrschende Korruption verständlich zu machen, soll im folgenden Kapitel auf blat als den institutionellen Rahmen eingegangen werden, welcher Transaktionen über Bekanntennetzwerke ermöglicht, und in einem weiteren Kapitel die private Durchsetzung von Transaktionen erläutert werden.
4.1.1 Blat: Transaktionen über Beziehungsnetzwerke
In der Sowjetunion waren Beziehungen der Schlüssel zum Zugang sowohl zu knappen Lebensmitteln und Konsumgütern als auch zu ausreichend Wohnraum. Freunde und Bekannte hatten einen direkten ökonomischen Nutzen, Waren und Dienstleistungen, welche sie beschaffen konnten, waren praktisch Teil ihres Namens und wichtigster Bestandteil ihrer Identität. Unter diesen Bedingungen wurden Waren und Dienstleistungen nicht über einen anonymen Markt ausgetauscht, sondern an Bekannte oder Bekannte von Bekannten weitergereicht. Das Zahlungsmittel hieß nicht Geld, sondern Gefallen.[57] Denn Güter konnten gegen Geld nicht erworben werden, da es keinen tatsächlichen Gegenwert darstellte, sondern nur über Beziehungen. Selbst wer im Besitz von Geld war, konnte sich keine Waren kaufen, denn die Regale in den Läden waren leer, der Rubel war praktisch eine virtuelle Währung. Ledeneva schreibt hierzu:
„I would prefer to overpay ‘for a service’ as it were, because you pay and feel free from obligations. But money was not what people needed, especially trades people. Everyone could repay with money but this did not count.” [58]
So diente blat der Beschaffung knapper Konsumgüter, blat war dazu da, einen Arbeitsplatz zu bekommen oder Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. Über blat wurden Waren wie beispielsweise Kleidung und Haushaltsgeräte besorgt, aber auch schwer erhältliche und prestigeträchtigere Güter wie Bücher, Urlaube oder importierte, ausländische Waren.[59]
Doch nicht nur zwischen Privatpersonen wurden Transaktionen über persönliche Beziehungen abgewickelt, sondern auch zwischen Unternehmen, da Güterengpässe von Zulieferern für die Sowjetunion charakteristisch waren. Nicht die zentrale Moskauer Planung, sondern langfristige Beziehungen und gegenseitige Geschäfte garantierten die Lieferung von Gütern. Planungsfehler und Engpässe wurden durch direkte Beziehungen ausgeglichen. Eigens von den Unternehmen eingestellte tolkači, Verbindungsmänner, waren damit beauftragt, persönliche Beziehungsnetze aufzubauen, um Engpässe informell über Gegengeschäfte auszugleichen.[60] Tolkači werden von Berliner wie folgt charakterisiert:
„[...] a nervous, energetic man, a master of high-pressure techniques, able to talk his way into enterprises and quickly establish a working friendship with the relevant officials. He is lavish with gifts and entertainment and `knows how to drink´ with all people.“ [61]
Eine ganz ähnliche Charakterisierung nimmt Mehnert vor:
„Der Erfolgsmensch in der Sowjetwirtschaft braucht, wie man sieht, neben Sachkenntnis, Fleiß und Energie die Fähigkeit, durch allerlei Gefälligkeiten Beziehungen aufzubauen, eine gewisse Treue gegenüber seiner Clique, zugleich aber auch die Bereitschaft diese fallenzulassen, wenn es ihm selbst an den Kragen geht [...]“. [62]
Der Begriff blat bezieht sich hauptsächlich auf die private Nutzung von Beziehungsnetzwerken. Um jedoch durch Gefälligkeiten von Freunden und Bekannten Güter und Dienstleistungen zu erhalten, kann blat auch im Zusammenhang mit Unternehmen gesehen werden.[63] Informelle Beziehungsnetzwerke und ungeschriebene Regeln substituieren ein formelles Verteilungssystem.[64] Die Verpflichtung, Freunden und Bekannten zu helfen, drückt sich in blat aus. Zwischen den Transaktionspartnern besteht die Erwartung reziproken Verhaltens.
Ein wichtiger Grund für den holprigen und langwierigen Übergangsprozess von der Plan- zur Marktwirtschaft dürfte das Übersehen der Existenz und Bedeutung von blat für wirtschaftliche Transaktionen gewesen sein. Eine lange kollektivistische Tradition, wie die der Sowjetunion, kann der Einführung eines anonymen Marktes im Wege stehen. Transaktionen über den Markt bedeuten, dass Geschäfte sowohl mit Bekannten als auch mit Fremden abgeschlossen werden, während blat bedeutet, dass Geschäfte lediglich mit Bekannten oder mit Bekannten von Bekannten, die empfohlen wurden, getätigt werden. Das notwendige Vertrauen gegenüber Fremden kann jedoch nur in einem langfristigen Prozess erworben werden und entsteht nicht von heute auf morgen.[65]
Die Quellen für blat sind meist anekdotischer Natur, belegt ist der Terminus blat jedoch bereits für die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts.[66] Im Westen wurde die professionelle Anwendung von blat durch die tolkači in den 1950er Jahren beschrieben.[67] Auch der sowjetische Film hat sich an das Thema blat herangewagt: Obwohl ideologisch geprägt und zensiert, kann er als Abbild der realen Gesellschaft interpretiert werden. In Surikovas Film „Hochachtungsvoll, Ihr...“ beschafft ein Netzwerker knappe Konsumgüter über seine Beziehungen. In „Die Sage eines Schurken“ von Tregubovič nutzt ein Reifenhändler sein Netzwerk aus Freunden und Bekannten für seine Geschäfte. In Razjanovs populärem Film „Bahnhof für zwei“ aus dem Jahr 1982 ist der Bahnhof ein illegaler Umschlagplatz für Wassermelonen. In „Die vergessene Melodie für die Flöte“, ein weiterer Film von Razjanov aus dem Jahr 1987, wird die korrumpierte Bürokratie des finalen sowjetischen Staates gezeigt, in dem Karrieren über Beziehungen gemacht werden.[68]
[...]
[1] Schraven, 2004
[2] Litzcke, 2012: 1
[3] Perzanowska, 2006: 85
[4] Gegenüber RIA Novosti
[5] Orttung, 2014: 4
[6] Höffling, 2002: 7
[7] Schmidt, 2003: 87
[8] Stierle, 2008: 18
[9] Riecke, 2014: 481
[10] Joisten, 2003: 19
[11] Stierle, 2008: 18
[12] Enderle u.a., 1993: 571
[13] Schmidt/Garschagen, 1978: 565
[14] Agent und Klient treten hier in der Bedeutung von Korruptionsgeber und Korruptionsnehmer auf.
[15] Stierle, 2008: 19
[16] v. Arnim, 2001: 180
[17] Illies, 1981: 121 - 123
[18] Streissler, 1981: 299
[19] Höffling, 2002: 15
[20] Lüdtke/Schweitzer, 1993: 467 f.
[21] Höffling, 2002: 16
[22] Höffling, 2002: 18
[23] Transparency International, 2009: 12
[24] Litzcke, 2012: 9
[25] Litzcke, 2012: 9
[26] Höffling, 2002: 32
[27] Litzcke, 2012: 9 - 10
[28] Litzcke, 2012: 16 - 18
[29] Neubauer, 2005: 323
[30] Litzcke, 2012: 18 - 19
[31] Litzcke, 2012: 19 - 20
[32] Litzcke, 2012: 20 - 22
[33] Litzcke, 2012: 22 - 23
[34] Litzcke, 2012: 23
[35] Kroneberg, 2005: 350
[36] Litzcke, 2012: 24 - 25
[37] Litzcke, 2012: 25
[38] Litzcke, 2012: 25
[39] Litzcke, 2012: 25 - 27
[40] Litzcke, 2012: 27
[41] Plaggenborg, 2010: 29 - 30
[42] Gontmacher, 2010: 379
[43] Schröder: 2010: 361 - 362
[44] Schröder, 2010: 362 - 363
[45] Der Gini-Koeffizient (auch Gini-Index) ist ein statistisches Maß, welches als Kennzahl für die Ungleichverteilung von Vermögen eingesetzt werden kann. „0“ bedeutet, das gesamte Vermögen eines Staates ist auf alle Bewohner gleichmäßig verteilt, „100“ absolute Ungleichheit, da das gesamte Staatsvermögen einem einzigen Bewohner gehören würde.
[46] https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/fields/2172.html
[47] Transparency International ist eine weltweit agierende Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich in der Korruptionsbekämpfung engagiert.
[48] Der Corruption Perceptions Index (CPI) listet Länder nach der Wahrnehmung der Korruption des öffentlichen Sektors. Der Index erscheint als Skala mit Werten von eins bis zehn: je höher der Wert, desto niedriger ist das Korruptionsniveau.
[49] Die INDEM-Stiftung wurde 1990 gegründet und ist eine der ersten unabhängigen gesellschaftlichen Forschungsorganisationen in Russland (www.indem.ru).
[50] Holm, 2006: 11 - 12
[51] Kiess, 2007: 147 - 148
[52] Kiess, 2007: 148
[53] Holm, 2006: 15
[54] „State capture“ ist eine Erscheinungsform von Korruption, bei der es um aktive korrumpierende Handlungen der Wirtschaft geht, die Entscheidungen, im Allgemeinen regelsetzender Art, in verschiedenen Organen der Macht vom Parlament bis zur Zentralbank beeinflussen.
[55] Kiess, 2007: 141 - 142
[56] Wörtlich: Bekanntschaft und Beziehungen.
[57] Kiess, 2007: 39 - 40
[58] Ledeneva, 1998: 139
[59] Ledeneva, 1998: 22
[60] Kiess, 2007: 39 - 40
[61] Berliner, 1952: 358
[62] Mehnert, 1958: 148
[63] Kiess, 2007: 40
[64] Ledeneva, 2001: 3
[65] Kiess, 2007: 40 - 41
[66] Ledeneva, 1998: 11
[67] Berliner, 1957: 182
[68] Kiess, 2007: 42 - 43
- Quote paper
- BA Claudia Nickel (Author), 2014, Die Entwicklung der russischen Ökonomie unter den Bedingungen von Korruption und Rechtsunsicherheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334563
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