Selbstverletzendes Verhalten (im Folgenden SVV) ist längst kein unbekanntes Problem für Psychologen und Psychotherapeuten. Auch in den öffentlichen Medien liest oder hört man gelegentlich etwas über bestimmte Formen SVVs. Die Verletzung der Haut mit scharfen oder spitzen Gegenständen, auch Ritzen genannt, scheint aber immer noch ein Tabuthema zu sein, auch wenn dieses Verhalten keinesfalls ein seltenes Problem darstellt. Bei den Vorbereitungen zu dieser Arbeit ist mir aufgefallen, dass fast jeder meiner Bekannten, der mich nach meinem Thema fragte, meinte: „Oh, da kenne ich auch jemanden.“ oder „Ja, damals in der Schule hatten wir auch eine, die das tat.“ Nahezu jeder scheint, mit dem Wort „Ritzen“ etwas anfangen zu können und zu wissen, worum es sich handelt: Eben um Leute, die Narben an Handgelenken oder Unterarmen haben, vermutlich von Schnitten, die sie sich selbst zufügten, vielleicht um Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht! Fragt man aber genauer nach, merkt man schnell, dass sich kaum jemand ernsthafte Gedanken darüber macht, warum diese Personen so etwas tun. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass jemand sich selbst Verletzungen zufügt. Mein Eindruck in Gesprächen mit einigen Lehrern aus meinem Bekanntenkreis war, dass auch sie, selbst wenn sie eine Schülerin, die sich ritzte in der Klasse haben, sich wenig Gedanken um die Gründe des Verhaltens machen und sich eher unverantwortlich oder überfordert fühlen und nicht eingreifen.
Ich selbst habe eine Ritzerin getroffen als ich nach meinem Abitur aushilfsweise in einem Kindergarten arbeitete. Sie war dort für einige Wochen meine Kollegin. Wir verstanden uns recht gut, und sie machte sich keine Mühe, ihre verschorften Einschnitte am Unterarm mir gegenüber zu verbergen. Auch ich habe damals nicht viel darüber nachgedacht. Für mich war klar, dass ihr Verhalten etwas mit der Suche nach Aufmerksamkeit zu tun haben muss. Ich habe dies aber nicht ernst genommen und nicht gesehen, dass vielleicht ein größeres Problem hinter der Selbstverletzung steht. Viele Pädagogen sind meiner Meinung nach zu wenig über das Thema SVV aufgeklärt, sie wissen zu wenig über psychische Probleme und Belastungen ihrer Schüler, und so denken sie vielleicht oft genauso wie ich damals.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Adoleszenz – eine notwendige Krise der Entwicklung
1.1. Definition Adoleszenz
1.2. Funktion der Adoleszenz
1.3. Die Probleme einer Generation
1.4. Veränderungen in der Adoleszenz
1.5. Psychische Störungen im Jugendalter
1.5.1. Identitätsstörung
1.5.2. Essstörungen
1.5.3. Depression
1.5.4. Suizid
1.6. Von den Schwierigkeiten ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden
1.6.1. Unterschiede in der Entwicklung von Jungen und Mädchen
1.6.2. Der weibliche Körper in unserer Gesellschaft
1.6.3. Die Bedeutung der Menstruation in der Entwicklung
1.6.4. Konflikte und Psychische Störungen junger Mädchen und Frauen
2 Was bedeutet selbstverletzendes Verhalten?
2.1. Begriffsbestimmung
2.2. Definition „selbstverletzenden Verhaltens“, „Selbstbeschädigung“ bzw. „Autoaggression“
2.3. Theorien selbstverletzenden Verhaltens – verschiedene Erklärungsansätze
2.3.1. Homöostatische Funktion oder Selbststimulationshypothese
2.3.2. Tiefenpsychologische Erklärungsversuche
2.3.3. Lernpsychologischer Ansatz nach Dollard
2.3.4. Narzissmus- und Objektbeziehungstheorie bzw. psychodynamische Modellvorstellung
2.3.5. Entwicklungspsychologische Interpretation
2.3.6. Lerntheoretische Hypothesen
2.3.6.1. Selbstverletzendes Verhalten als reaktives Verhalten
2.3.6.2. Selbstverletzendes Verhalten als operantes Verhalten
2.3.6.3. Modelllernen
2.3.7. Hypothese der biochemischen Verursachung – SVV als Suchtverhalten
2.3.8. Bindungstheorie
2.4. Formen selbstverletzenden Verhaltens
2.4.1. „Erlaubte“ Formen selbstverletzenden Verhaltens
2.4.1.1. Religiöse und rituelle Selbstverletzung
2.4.1.2. Schönheitsideale
2.4.1.3. Schönheitsoperationen
2.4.1.4. Extremsportarten
2.4.1.5. Äußerungsformen moderner Jugendkultur
2.4.2. „Krankhafte“ Formen selbstverletzenden Verhaltens
2.4.2.1. Formen heimlicher Selbstverletzung
2.4.2.2. Formen offener Selbstverletzung
2.4.2.3. Essstörungen
2.4.2.4. Stereotype Bewegungsstörungen mit selbstverletzendem Verhalten bzw. autoaggressive Stereotypien
2.5. Ursachen – die Wurzeln des selbstverletzenden Verhaltens
2.5.1. Deprivation/Isolation
2.5.2. Traumatisierung
2.5.2.1. Körperliche, sexuelle und seelische Gewalt
2.5.2.2. Unfälle und Krankheiten
2.5.3. Fallbeispiele
2.6. Prävalenz
3 Ritzen – eine besondere Form selbstverletzenden Verhaltens in der Adoleszenz
3.1. Begriffsbestimmung
3.2. Beschreibung des Phänomens „Ritzen“
3.2.1. Definition Ritzen
3.2.2. Der Akt des Schneidens
3.2.3. Der Teufelskreislauf „Ritzen“
3.3. Beschreibung der Betroffenen
3.3.1. Die Ritzerin und ihr Verhältnis zum eigenen Körper
3.3.2. Die Ritzerin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
3.4. Funktionen des Ritzens
3.4.1. Ritzen als Antidepressivum – Funktion der Suizid- und der Psychoseprophylaxe
3.4.2. Ritzen als Selbstbestrafungsmechanismus
3.4.3. Funktion des seelischen Gewinns
3.4.4. Funktion der sexuellen Befriedigung
3.4.5. Ritzen als Kotrollmechanismus
3.4.6. Ritzen als Signal (Kommunikative Funktion)
3.4.7. Ritzen als Problemlöseversuch (Zusammenfassung)
3.5. Ritzen als Form aggressiven Verhaltens in der Jugend
3.6. Ritzen als geschlechtsspezifisches Verhalten
3.7. Ritzen versus Suizidalität
3.8. Der Zusammenhang von Ritzen und Essstörungen
3.9. Die Adoleszenz als Auslöser selbstverletzenden Verhaltens in Form von Ritzen
3.10. Folgen des Ritzens
3.11. Therapie
3.11.1. Anforderungen an den Therapeuten
3.11.2. Die therapeutische Arbeit
4 Schulische Intervention
4.1. Mögliche Veränderungen in der Schule
4.2. Probleme wahrnehmen und richtig handeln
4.2.1. Gründe zur Besorgnis – eine Checkliste für Lehrer
4.2.2. Was tun, wenn ein Schüler psychisch leidet?
4.2.2.1. Der Schulpsychologische Dienst
4.2.2.2. Beratungsstellen
4.2.3. Maßnahmen bei sexuellem Missbrauch von Schülerinnen
4.3. Zum Umgang mit Ritzerinnen in der Schule
4.3.1. Vorschläge von Betroffenen aus dem Internet
4.3.2. Rückschlüsse aus der Therapie
Zusammenfassung
Literatur- und Quellenverzeichnis
Rote Tränen
Unendliche Stille macht sich breit
Es kommt dieser Schmerz der in dir schreit
Du hoffst es nicht wieder zu tun
Doch ohne es kannst du nicht ruh'n
Die Vergangenheit holt dich wieder ein
Du kannst nichts dagegen tun, du bist allein
Mit der Klinge in der Hand blickst du auf deinen Arm
Du fängst an zu weinen, aber du weinst anders
Denn du weinst Rote Tränen
von Eve*
Einleitung
Selbstverletzendes Verhalten (im Folgenden SVV) ist längst kein unbekanntes Problem für Psychologen und Psychotherapeuten. Auch in den öffentlichen Medien liest oder hört man gelegentlich etwas über bestimmte Formen SVVs. Die Verletzung der Haut mit scharfen oder spitzen Gegenständen, auch Ritzen genannt, scheint aber immer noch ein Tabuthema zu sein, auch wenn dieses Verhalten keinesfalls ein seltenes Problem darstellt. Bei den Vorbereitungen zu dieser Arbeit ist mir aufgefallen, dass fast jeder meiner Bekannten, der mich nach meinem Thema fragte, meinte: „Oh, da kenne ich auch jemanden.“ oder „Ja, damals in der Schule hatten wir auch eine, die das tat.“ Nahezu jeder scheint, mit dem Wort „Ritzen“ etwas anfangen zu können und zu wissen, worum es sich handelt: Eben um Leute, die Narben an Handgelenken oder Unterarmen haben, vermutlich von Schnitten, die sie sich selbst zufügten, vielleicht um Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht! Fragt man aber genauer nach, merkt man schnell, dass sich kaum jemand ernsthafte Gedanken darüber macht, warum diese Personen so etwas tun. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass jemand sich selbst Verletzungen zufügt. Mein Eindruck in Gesprächen mit einigen Lehrern aus meinem Bekanntenkreis war, dass auch sie, selbst wenn sie eine Schülerin, die sich ritzte in der Klasse haben, sich wenig Gedanken um die Gründe des Verhaltens machen und sich eher unverantwortlich oder überfordert fühlen und nicht eingreifen.
Ich selbst habe eine Ritzerin getroffen als ich nach meinem Abitur aushilfsweise in einem Kindergarten arbeitete. Sie war dort für einige Wochen meine Kollegin. Wir verstanden uns recht gut, und sie machte sich keine Mühe, ihre verschorften Einschnitte am Unterarm mir gegenüber zu verbergen. Auch ich habe damals nicht viel darüber nachgedacht. Für mich war klar, dass ihr Verhalten etwas mit der Suche nach Aufmerksamkeit zu tun haben muss. Ich habe dies aber nicht ernst genommen und nicht gesehen, dass vielleicht ein größeres Problem hinter der Selbstverletzung steht. Viele Pädagogen sind meiner Meinung nach zu wenig über das Thema SVV aufgeklärt, sie wissen zu wenig über psychische Probleme und Belastungen ihrer Schüler, und so denken sie vielleicht oft genauso wie ich damals.
Es gibt heute einige interessante Veröffentlichungen über das Thema der autoaggressiven Beschädigung der Haut. Sie beziehen sich aber ausschließlich auf die Psychotherapie in Kliniken oder in der ambulanten Behandlung. Die Ärzte oder Psychologen geben in ihren Veröffentlichungen keinerlei Hinweise für Pädagogen oder informieren darüber, wie zu handeln ist, wenn man SVV entdeckt. Ich konnte keine Literatur ausfindig machen, die sich auf das Problem Ritzen oder SVV in der Schule bezieht oder Lehrer darüber informiert, wie sie auf Schüler, die ritzen, zugehen sollen. Dabei sind doch Lehrer die Personen, die das Verhalten oder Probleme der Schüler am ehesten wahrnehmen und vielleicht professionell handeln können. Als angehender Lehrer ist es mir wichtig, nach Möglichkeiten zu suchen, mit Schülern die ritzen umzugehen, zu fragen welche Schritte ich einleiten sollte, ob und wie ich den Schülern helfen und vielleicht sogar Einfluss auf das Verhalten haben kann. Als Sonderschullehrer für Erziehungshilfe werde ich vielleicht auch an Schulen psychiatrischer Kliniken oder an Sonderschulen für Kranke dem Phänomen des autoaggressiven Hautritzens häufiger gegenüberstehen.
Um aber zu klären, wie man sich als Lehrer verhalten soll und ob man SVV eventuell sogar intervenieren kann, muss man zunächst mehr über das Ritzen und seine Hintergründe erfahren. Will man einer Person helfen, muss man ihr Verhalten verstehen.
Beschäftigt man sich mit dem Ritzen, so wird schnell deutlich, dass zumeist junge Frauen betroffen sind. Warum ist dies so? Warum beginnt das SVV so oft in der Adoleszenz? Ist die Adoleszenz mit ihren Veränderungen im Leben der Jugendlichen vielleicht auch Auslöser des SVVs? Welchen Einfluss hat die Schule? Fragen wie diese müssen zunächst beantwortet werden, damit ich das Verhalten besser verstehen kann.
Zur Klärung dieser Fragen möchte ich zunächst auf die Adoleszenz als Lebensphase eingehen und untersuchen, welche besonderen Schwierigkeiten in dieser Phase auf junge Menschen zukommen, ob es in dieser Phase Ursachen, Erfahrungen, Probleme geben kann, die zum SVV führen oder dieses auslösen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch spezielle gesellschaftliche und biologische Probleme von heranwachsenden Mädchen erläutern, die evtl. mit dem Ritzen in Zusammenhang stehen könnten.
Anschließend werde ich allgemein auf SVV eingehen und feststellen, worum es sich überhaupt handelt, wenn man von SVV spricht. Ich werde einige Erscheinungsformen des Verhaltens erläutern, um Ritzen von anderen Formen abzugrenzen bzw. Gemeinsamkeiten herzustellen. Es ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass in unserer Gesellschaft viel mehr SVV existiert als angenommen wird und dass es sich um kein neues Phänomen handelt.
Die Ursachen sind für die meisten Formen SVVs ähnlich bis identisch, aus diesem Grund werde ich bereits hier auf verschiedene Erlärungsansätze SVVs und seine Ursachen eingehen.
Schließlich werde ich mich im dritten Kapitel konkreter mit dem Ritzen auseinandersetzen. Ich werde das Verhalten und die Gefühle, die damit verbunden sind, genauer beschreiben. Auch werde ich konkreter auf die Betroffenen und ihr Verhältnis zum eigenen Körper eingehen. Weiterhin möchte ich deutlich machen, welche Ziele, welchen Sinn eine Ritzerin mit ihrem Verhalten verfolgt. All dies ist mir wichtig, weil es die Gründe und die Motivation für das Verhalten verständlicher werden lässt.
Schließlich werde ich einen Bezug zwischen Adoleszenz und Ritzen herstellen und versuchen zu klären, warum so viele Mädchen gerade in dieser Lebensphase mit dem Ritzen beginnen. Dies erscheint mir auch wichtig im Hinblick auf das Verhalten der Lehrer und die Rolle der Schule in dieser Lebensphase.
Auf die Therapie beim Ritzen werde ich nur ansatzweise eingehen. Sie spielt für die Schule eher eine untergeordnete Rolle. Die Schwierigkeiten, die in der Therapie auftreten, lassen aber wichtige Rückschlüsse auf den Umgang mit Ritzerinnen in der Schule zu. Deshalb werde ich die wichtigsten Punkte knapp erläutern.
Auf psychische Störungen in deren Rahmen SVV auftritt, möchte ich ebenfalls nur kurz eingehen. Über einzelne Störungen, die im Jugendalter häufiger auftreten, kann sich jeder Lehrer an anderer Stelle informieren, zudem ist es Sache des Psychologen oder des Therapeuten herauszufinden, unter welcher Störung eine Ritzerin leidet. Wichtig ist es aber, als Lehrer psychische Beeinträchtigungen wahrzunehmen, deshalb werde ich gelegentlich kurz einige Merkmale für psychisches Leiden oder psychische Störungen, die häufig im Jugendalter und evtl. im Zusammenhang mit Ritzen auftreten, skizzieren.
Es ist mir wichtig auch Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Da ich aber keine Möglichkeit hatte, persönlich mit Selbstverletzern in Kontakt zu treten, werde ich aus Lebensgeschichten und Erfahrungsberichten Betroffener von verschiedenen Internetseiten zitieren. Dies sind vor allem Seiten, auf denen Betroffene Kontakt zu anderen Betroffenen suchen und sich über ihre Sorgen austauschen. Diese Zitate sollen meine theoretischen Ausführungen untermauern und anschaulicher werden lassen. Ich werde die Lebensgeschichten und Erfahrungsberichte der Betroffenen gekürzt, aber im Wortlaut sowie in der Grammatik und Rechtschreibung unverändert, wiedergeben. Ebenso werde ich auf bestimmte Internetseiten zurückgreifen, die von Betroffenen erstellt wurden, um Hinweise über das Verhalten und den Umgang mit SVV zu bekommen, Hinweise, die in der wissenschaftlichen Literatur nicht zu finden sind und über die es sich nachzudenken lohnt.
Auf der Grundlage meiner Ergebnisse werde ich schließlich versuchen, Möglichkeiten der Intervention für die Schule zusammenzutragen.
(Im Verlauf meiner Arbeit werde ich aus Gründen der Übersichtlichkeit für Personengruppen in der Regel die männliche Form (Schüler, Lehrer, Selbstverletzer, Therapeuten etc.) verwenden. In diesem Fall sind Frauen und Mädchen stets eingeschlossen. Verwende ich die weibliche Form, meine ich in der Regel ausschließlich Personen weiblichen Geschlechts.)
1 Adoleszenz – eine notwendige Krise der Entwicklung
1.1. Definition Adoleszenz
Adoleszenz ist „im weiteren Sinne (die) Bezeichnung für das gesamte Jugendalter. Im engeren Sinne (eigentlich) die Bezeichnung für den letzten Abschnitt des Jugendalters (17. bis etwa 21. Lebensjahr), auch Nachpubertät genannt. Trotz einer noch vorhandenen gewissen »psychischen Pubertät« festigt sich in dieser Phase nach Eintritt der (biologischen) Geschlechtsreife die Persönlichkeit in zunehmendem Maße. In der Adoleszenz werden Jugendliche oft mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, nach Möglichkeit eigenverantwortlich und realitätsgerecht in die Erwachsenenwelt hineinzufinden. Kennzeichnend für die Zeit der Adoleszenz sind ein wachsender Freiheitsdrang, verbunden mit zunehmendem Selbstbewusstsein, der Übernahme persönlicher Verantwortung sowie das Bewusstwerden beziehungsweise die Stabilisierung der Geschlechtsidentität“ (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG 2001, Stichwort: Adoleszenz).
„Viele Experten dehnen diesen Begriff neuerdings bis in die frühen Zwanziger hinein aus. Dieses Lebensstadium beginnt mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät, die das Ende der Kindheit markieren. Die Adoleszenz ist abgeschlossen, wenn das Individuum Erwachsenenrollen übernimmt“ (Schaub/Zenke 1999, 14).
In der Pädagogik bezeichnet der Begriff „Adoleszenz“ (vom lateinischen adolescere, zu deutsch heranwachsen, auflodern) als Lebensphase die Zeit des Übergangs von der Pubertät in das junge Erwachsenenalter.
„Die Adoleszenz ist eine lebensgeschichtliche Phase, in der die Verbindung körperlicher, seelischer und sozialer Prozesse besonders augenscheinlich ist. Die umfassenden körperlichen und biologischen Veränderungen dieser Periode markieren den Abschied von der Kindheit und geben die Grundlage für eine Entwicklung, deren Ziel die Ausgestaltung einer psychosexuellen Identität, die Modifizierung der Beziehung zu den Eltern und schließlich ... die Gestaltung einer Liebes- und Arbeitsbeziehung ist. Dabei kommt es zu einer Integration individueller und gesellschaftlicher Faktoren, (die Adoleszenz ist) somit ein Heraustreten des jungen Menschen in die Gesellschaft“ (Zimprich/Wölzl 1994, 35).
Der Psychoanalytiker Erikson hat diese Phase als „Krise der Entwicklung“ bezeichnet, als die Zeit der Identitätsfindung (vgl. Wittchen 1998, 289; Endres 1994, 15).
Biologisch betrachtet, ist die Adoleszenz die Zeit des beschleunigten Längenwachstums, der Veränderung der körperlichen Proportionen sowie der abschließenden Reifung bzw. Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Pädagogisch bedeutsam ist aber die zunehmende Stabilisierung des Selbstkonzeptes, der sozialen Identität und der gesellschaftlichen Orientierung des Jugendlichen (vgl. Schaub/Zenke 1999, 14).
1.2. Funktion der Adoleszenz
Man kann die Adoleszenz in drei Phasen unterteilen:
Die frühe Adoleszenz findet ungefähr im Alter zwischen 12 und 14 Jahren statt. Aufgaben sind hier die Lockerung der Bindung zu den Eltern und die Suche nach neuen Rollenvorbildern, die Verarbeitung früherer Traumen, die Herstellung von Kontinuität[1] und die Festigung der sexuellen Identität.
In der mittleren Adoleszenz werden sich die „Halbwüchsigen“ zwischen dem 14. und 17. bis 18. Lebensjahr in der Regel ihrer sexuellen Identität und Orientierung sicher, viele haben erste sexuelle Erfahrungen. Dies ist ein weiterer Beitrag zur Identitätsfindung. Weiterhin wird in dieser Phase durch Anpassung an „Leitfiguren“ das Selbstwertgefühl gestärkt.
Die späte Adoleszenz findet ca. zwischen dem 18. Lebensjahr bis zu den frühen 20ern statt. Der Ablösungsprozess ist hier gewöhnlich abgeschlossen. Es geht um ernsthafte und realistische Ziele für die Zukunft. Der Heranwachsende ist nun in der Lage ernsthafte intime Bindungen einzugehen. (vgl. Wittchen 1998, 290ff).
Eckhardt (1994) zählt vier wichtige Funktionen der Adoleszenz auf:
1. Der Abschied von der Kindheit; bei Mädchen spielt hier z.B. der Eintritt der Menstruation eine Rolle.
2. Die Veränderung des Körpers, die mit einem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem eigenen Körper verbunden ist, weil z.B. durch Menstruation (bei Jungen durch die Erektion) die Kontrolle über ihn verloren scheint.
3. Die Entwicklung der Sexualität, die auch mit dem Wiedererwachen kindlicher ödipaler Wünsche einhergeht, sie steht im Zusammenhang mit der Lösung aus der Bindung zum Vater (bei Mädchen) und der Partnersuche.
4. Die Veränderung der Mutter-Tochter-Beziehung; die mit Abgrenzungsproblemen einhergeht, denn Adoleszente wollen einerseits eigenes Leben, sie wollen die Mutter aber auch nicht allein lassen (vgl. Eckhardt 1994, 138).
Neben dem Versuch, sich von den Eltern zu lösen und eine intime Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen herzustellen, wird der Jugendliche in dieser Phase versuchen, seinen sexuellen Körper in sein Selbstbild zu integrieren und von einem Familienmitglied zu einem Mitglied der Gesellschaft zu werden (vgl. Endres 1994, 15f).
Erikson (1968) verstand die Adoleszenz mit all diesen Aufgaben als Zeit der Identitätsfindung. (zit. n. Wittchen 1998, 289). Oder anders gesagt: Sie dient der Persönlichkeitsentwicklung. Darin enthalten ist die sexuelle Orientierung bzw. Organisation, die wohl wichtigste Funktion der Adoleszenz (vgl. Laufer/Laufer 1989, 10, 19ff).
Verschiedene entwicklungsorientierte Aufgaben sind: Die veränderte Einstellung zu ödipalen Objekten, die veränderte Einstellung zu Gleichaltrigen und ein neues Verhältnis zum eigenen Körper (vgl. Ebd., 21).
Die Adoleszenz als Zeit der Krise verheißt nicht unbedingt eine drohende Katastrophe, vielmehr ist sie ein notwendiger Wendepunkt. Die Entwicklungsprozesse der Adoleszenz bergen aber zugleich Chancen und Risiken für die weitere Entwicklung eines Individuums (vgl. Endres 1994, 15). Jugendliche suchen nach Treue und nach der Fähigkeit, sich ganz auf jemanden oder etwas einzulassen. Dabei ist die Aussicht sich selbst zu finden, und die Gefahr sich selbst zu verlieren so eng miteinander verknüpft, wie in keinem anderen Stadium des Lebens (vgl. Erikson, zit. n. Wittchen 1998, 289).
1.3. Die Probleme einer Generation
Die Entdeckung der Adoleszenz als eigene Entwicklungs- und Lebensphase ging mit der pädagogischen Entdeckung der Kindheit im 18.Jahrhundert einher. Als eigenständige Lebensphase des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen wird sie aber erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen. Seitdem hat sich diese Lebensphase stark gewandelt.
Die Bedeutung der schulischen und beruflichen Bildung, die ja in der Regel im Jugendalter stattfindet, ist bis heute deutlich gewachsen und entscheidet darüber, inwieweit der einzelne an der kollektiv erwirtschafteten Prosperität teilhaben wird. Kennzeichen der Jugendphase sind Statusunsicherheit und ein verunsicherter Zukunftsbezug. Denn die Qualifikationen, die jeder einzelne erwirbt, entscheiden über zukünftige Erwerbs- und Lebenschancen. Innerhalb des Gesamtsystems nimmt die Konkurrenz und der Anteil derer, die als Verlierer frustriert werden zu. Da in unserer heutigen Gesellschaft die berufliche Zukunft stark vom Bildungskapital anhängig ist, kann jeder Rückschlag in der schulischen Laufbahn die schulische und berufliche Perspektive des Jugendlichen verunsichern (vgl. Engel/Hurrelmann 1989, 5ff). Viele Jugendliche bezweifeln, dass die Schule tatsächlich aufs Leben vorbereiten kann, denn die Berufseinmündung ist äußerst schwierig, und die Zukunftsperspektive enthält viele Risiken (vgl. Bärsch 1989, 21).
Im Jugendalter hat auch die Gleichaltrigengruppe und die mit ihr verbundene Jugend- und Freizeitkultur eine große Bedeutung. Diese erscheint heute äußert vielseitig und unübersichtlich. Heutige Lebensäußerungen und –stile der Jugendlichen zeigen eine „Aktionssprache“ und Visualisierung, die im Vergleich zu früheren Jugendkulturen undeutlicher erscheint. Damals bot die Bindekraft aus sozialen Milieus oder religiösen Gemeinschaften die Basis für Gemeinsamkeiten. Koch und Resch (2002, 160f) sprechen von einer damaligen „kollektiven Symbolsprache“, die von einer „individuellen Aktionssprache“ abgelöst wurde.
Durchaus finden Jugendliche auch heute noch Gemeinschaften in Einrichtungen der Kirche oder in Sportvereinen etc. vor. Auch besteht heute meiner Meinung nach noch eine kollektive Symbolsprache unter Jugendlichen. Jedoch bezieht sich diese meist auf Gruppen außerhalb dieser Gemeinschaften, auf sogenannte Cliquen oder den engeren Freundeskreis, mit dem Jugendliche ihre übrige Freizeit verbringen. Es existieren heute viele verschiedene Trends und Jugendkulturen parallel. Viele Jugendliche schließen sich mehreren Jugendkulturen an, probieren aus, wo sie dazu gehören wollen, und welche Trends ihnen gefallen könnten. Auch mir erscheint es so, dass es heute schwieriger für Heranwachsende ist, eine eigene Identität zu finden, da sie aus einer Vielzahl von Gruppen bzw. Kollektiven auswählen können.
Mit der einsetzenden Pubertät fühlen sich die Jugendlichen genötigt, den emotional vertrauten Kreis der Familie zu verlassen, um zu lernen auf eigenen Füßen durch das Leben zu gehen. Sie dürfen und müssen zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Lebensbewältigung auswählen. Dabei können sie sich nicht auf eine sozial abgesicherte Orientierung verlassen.
„In einer Gesellschaft, die keine allegemeinverpflichtenden Rituale für den Übergang von Kindheit ins Erwachsenenalter kennt, ist jeder vermehrt darauf angewiesen, individuell seinen Weg zu finden“ (Schröder 1996, 37f).
Die Adoleszenzphase ist heute entritualisiert, auch wenn sie in vielen neuen „Teilkulturen“ und Milieus sehr wohl wieder eigene Rituale hervorbringt (Schröder 1996, 37f).
Bärsch (1989) vertritt die These, dass die familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen gemeinsam das Verhalten von Kindern und Jugendlichen bestimmen. Er ist der Meinung, dass die Lebenssituation der Kinder sehr widersprüchlich ist: Zum einen hat heute jeder Mensch eine große Freiheit darin, wie er sein Leben gestaltet. Es bestehen gute Chancen zur Selbstverwirklichung und zur Gestaltung der Individualität. Zum anderen scheint aber die soziale, psychische und körperliche Lebensqualität für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gesichert zu sein. So ist die körperliche wie die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen nicht befriedigend, was von Ärzten, Mitarbeitern in Beratungsstellen und Lehrern berichtet wird (Bärsch 1989, 19ff).
Der Konsum von illegalen und legalen Drogen spielt eine beachtliche Rolle bei den 12- bis 18jährigen (vgl. Ebd., 20). Dabei ist Drogenkonsum in der Jugendphase eine gesellschaftlich und kulturell verankerte Verhaltensweise, die als Kompensation von Konflikten und Belastungssituationen weitgehend akzeptiert scheint. In der Jugendphase tritt der Gebrauch von Drogen als ein Mittel zur Bewältigung von Belastungssituationen erhöht auf (vgl. Engel/Hurrelmann 1989, 157f).
Die Suizidrate in diesem Alter ist beunruhigend hoch. Ende der 1980er Jahre versuchten täglich, 40 Kinder sich das Leben zu nehmen, vier davon starben. Jährlich waren es bei den unter 15jährigen ca. 90, bei den 15- bis 20-jährigen ca. 600! (vgl. Bärsch 1989, 20). (Dabei ist zu bedenken, dass sich diese Werte aus den 80er Jahren natürlich nur auf die alte Bundesrepublik beziehen.)
Die Familien haben sich in den 80er Jahren sehr verändert. Es gibt viele Alleinerziehende, viele Ehen bestehen durch Scheidung oder Getrenntleben nicht mehr. Und die Familie an sich ist nicht unbedingt mehr eine Gemeinschaft, in die man sich zurück zieht und glücklich zu werden hofft, sondern äußerst konfliktanfällig (Ebd.).
Die Bedeutung der Familie als Lebensstil prägende Wohn- und Lebensgemeinschaft hat abgenommen. Trotzdem ist die Familie nach wie vor eine zentrale, wenn nicht die zentralste Bezugsgruppe der Jugendlichen. Streit- und Meinungsverschiedenheiten im Elternhaus sind entscheidend an psychosozialer Belastung im Jugendalter beteiligt. Auseinandersetzungen gibt es zum Beispiel über Schulleistungen, wenn der Heranwachsende die Erwartungen der Eltern nicht erfüllt oder auch als Folge von Belastungen denen primär die Eltern ausgesetzt sind (vgl. Engel/Hurrelmann 1989, 9). Auch wenn Jugendliche sich jetzt mehr an Gleichaltrigen orientieren, bleiben die Eltern doch wichtige Bezugspersonen, von denen Jugendliche zudem sehr lange finanziell abhängig sind. Bei Mädchen ist das Verhältnis zu den Eltern etwas häufiger schwierig als bei Jungen (Ebd., 46ff).
Die Gleichaltrigengruppe ist neben der Familie eine zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen. Sie bietet den Rahmen für sensible soziale Vergleiche und kann entscheidenden emotionalen Rückhalt bieten. Es ist eine schwierige Entwicklungsaufgabe, die Anerkennung dieser Gruppe zu gewinnen und gleichzeitig in der Welt der Gleichaltrigen eine eigene Persönlichkeit auszubilden. Der Jugendliche wird sich um soziales Ansehen innerhalb der Gruppe der Peers bemühen und versuchen, bestimmten Leitbildern, die durch die Massenmedien suggeriert werden, zu entsprechen. Die Vorstellung von Jugendlichsein ist eng an Rollenattribute gekoppelt. Verfügt man über diese nicht, kann es zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und zu abweichendem Verhalten kommen (Ebd., 10). Dies wird durch weitere Faktoren bestärkt. Der Freizeitbereich spielt im Jugendalter eine entscheidende Rolle. Freizeit bedeutet auch Freunde zu finden, setzt aber häufig finanzielle Ressourcen voraus. Die meisten Aktivitäten sind heute ohne eigenes Geld kaum ausübbar. Zudem ist die Jugendkultur stark an „marktvermittelten sozialen Stereotypien und demonstrativem Konsum“ orientiert. Jugendliche können in ihrer Gleichaltrigengruppe zum Außenseiter werden und Deprivationserfahrungen machen, die zur Quelle psychosozialer Belastungen werden können. Ein Mangel an Dingen, die sich der Jugendliche gern kaufen möchte, weil sie bei anderen gut ankommen, berührt das Selbstwertgefühl entscheidend (Engel/Hurrelmann 1989, 53ff).
Die Gleichaltrigengruppe als zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen ist der Kontext für den Großteil seines sozialen Lebens. Sie eröffnet Chancen, sich kreativ in seiner Persönlichkeit zu entfalten und zu entwickeln, birgt aber auch Risiken in sich. Jedem Jugendlichen wird ein bestimmter marginaler Status im sozialen Geschehen der Gruppe zugewiesen. Die Bewertung durch andere Mitglieder des sozialen Netzwerkes ist soziale Grundlage des Selbstwertgefühles. Im Klassenverband oder in der Gemeinschaft der Peers an der Schule können soziale Kontakte kaum vermieden werden. Diese Kontakte können Risiken in sich tragen, die das Selbstwertgefühl beeinflussen (Ebd., 106f).
Weiterhin kann ein ungünstiges Abschneiden im Vergleich der Schulleistungen in einer Klasse zur Folge haben, dass ein Schüler sozial negativ bewertet wird. Dabei ist aber bedeutsam inwieweit Schulleistungen eine Bewertungsdimension im Klassenverband darstellen (Ebd., 108). Dem schulischen Leistungsstand kommt im Selbstbild der Schüler eine zentrale Bedeutung zu (Ebd., 19).
In einer Befragung von 12- bis 16jährigen aus dem Jahr 1986 ging hervor, dass aus der Sicht der Jugendlichen ihre Probleme vor allem schul- und leistungsbezogen sind, sich auf die Gleichaltrigengruppe beziehen oder im Elternhaus liegen. Danach folgen mit großem Abstand Probleme wie Geld, Freizeit, eigenes Aussehen, Gesundheit, Sinn- und Glaubensfragen, Religion und Zukunft und Beruf. Viele Jugendliche gaben auch an, keine Probleme zu haben. Die Jugendphase ist also eine Lebensphase, in der sich Heranwachsende spürbar mit leistungsbezogenen (Rollen-)Erwartungen auseinandersetzen müssen (Ebd., 31).
Dauerhafte Konflikte und damit verbundene Frustration in der Eltern-Kind-Beziehung oder in der Schule können manchmal - durch plötzliches Auftreten eines an sich belanglosen Ereignisses oder auch ohne erkennbaren Anlass - der Auslöser für Stress-Symptome sein. Das heißt, dass in diesem Fall nicht das plötzliche Ereignis, sondern die lang andauernde Strapazierung des Selbstwertes den Stress-Symptomen den Weg bereitet. In diesem Zusammenhang spielt die Fähigkeit des Individuums, mit der Belastung fertig zu werden, eine Rolle. Die Belastungsfaktoren sind das Resultat der institutionellen und sozialen Gegebenheiten einer Gesellschaft. Das heißt: Ein Verhalten ist nie allein auf das Individuum zurückzuführen (Ebd., 14).
Diese Belastungsfaktoren scheinen im Jugendalter sehr vielfältig zu sein, was bei den Jugendlichen eine aktive Anpassungsleistung in verschiedenen Bereichen erfordert. Unterschiedliche Defizite können über längeren Zeitraum eine chronische Überforderung bewirken (vgl. Engel/Hurrelmann 1989, 19).
„Viele der sozial, psychisch und körperlich von der Normalität abweichenden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen sind Folge der psycho-sozialen Belastungen, die die modernen Lebensumstände einer Industrie-, Konsum- und Informationsgesellschaft mit sich bringen“ (Bärsch 1989, 21f).
1.4. Veränderungen in der Adoleszenz
Die physiologischen Veränderungen des Körpers und die neuen körperlichen Erfahrungen der Pubertät müssen mit der, sich rasch entwickelnden, psychischen Welt und der gesellschaftlichen Realität in Einklang gebracht werden, um letztendlich Identität herzustellen (Bovensiepen 2002, 57). Diese hormonellen und anatomische Veränderungen, die hauptsächlich zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr stattfinden, beeinflussen die innere Welt der Jugendlichen stark (vgl. Wittchen 1998, 290).
Das Körpererleben hat für das „Verständnis der intrapsychischen Organisation“ eine große Bedeutung (Bovensiepen 2002, 69). Zwar scheinen die hormonellen Veränderungen in der Adoleszenz keine Relevanz für die Psyche des Heranwachsenden zu haben. Die rasche und auch diskontinuierliche Veränderung des Körpers allerdings, führt zu großer Verunsicherung. Mit der Umgestaltung des kindlichen in einen sexuellen Körper gehen Entfremdungsgefühle einher (vgl. Zimprich/Wölzl 1994, 36). Die körperlichen Veränderungen können zu verwirrenden, manchmal quälenden Gefühlen führen (vgl. Wittchen 1998, 289).
Auch die psychischen Umwälzungen in dieser Lebensphase führen zu heftigen Stimmungsschwankungen, sprunghaftem Denken und Auflehnung. Viele Fachleute vertreten die These, dass diese Periode nicht nur typisch, sondern auch notwendig für die normale Entwicklung ist (vgl. Ebd.).
Bereits Freud war der Meinung, dass mit dem Eintritt der Pubertät Wandlungen einsetzen, die das infantile Sexualleben in seine endgültige, normale Gestalt überführen sollen. Die Pubertät ist die körperliche und sexuelle Reife, die einen Prozess in Gang setzt, der während der gesamten Adoleszenz anhält. Bis zur Pubertät war der Körper passiver Träger von Bedürfnissen und Wünschen. Jetzt wird er zur aktiven Kraft (vgl. Laufer/Laufer 1989, 20f).
Eine bedeutende Rolle spielt die Interpretation und Wertung der körperlichen Veränderungen durch die Umwelt (Eltern und Peergroup) bei der Entwicklung des körperlichen Selbstbildes und der Selbstakzeptanz (vgl. Zimprich/Wölzl 1994, 37).
In der frühen Adoleszenz kommt es neben den hormonellen und anatomischen Veränderungen oft zu ersten Masturbationsphantasien und -erfahrungen. Falsche und angsterfüllte Vorstellungen darüber können Schuld- und Schamgefühle auslösen, die die Selbstachtung beeinträchtigen. Für beide Geschlechter ist die Masturbation ein Mittel, um mit neuen Triebregungen zu experimentieren, sie zu kontrollieren und zu integrieren. Jugendliche lernen, mit eigenen Körperreaktionen vertraut zu werden und mit sexueller Spannung und Entspannung umzugehen, bevor sie mit anderen Menschen intim werden. Bei Mädchen tritt außerdem in diesem Stadium die Menstruation ein.
Zwischen beiden Geschlechtern herrscht in den gesamten Jugendjahren ein auffälliger Unterschied im Reifegrad. Besonders ausgeprägt ist dieser aber in der frühen Adoleszenz. Mädchen sind hier in der geschlechtlichen Entwicklung, vor allem was das sexuelle Verlangen betrifft, den Jungen bis zu drei Jahren voraus (vgl. Wittchen 1998, 292).
In der mittleren Adoleszenz sind die „Halbwüchsigen“ immer noch stark an die Eltern gebunden und von ihnen abhängig, auch wenn sie sich wünschen frei zu sein. Sie pendeln von den Eltern weg und wieder zu ihnen zurück. Oft gehen die Jugendlichen in dieser Phase starke und plötzliche Verbindungen zu Leitfiguren ein, mit denen sie sich identifizieren. Dies können Stars aber auch Lehrer oder Trainer sein. Jugendliche sehen sich oft mit den Augen ihrer Altersgenossen. Abweichungen im Verhalten oder im Äußeren, z.B. in der Kleidung kann zu einem Verlust an Selbstachtung führen (vgl. Wittchen 1998, 292).
Wechselhaftes Verhalten sollte in dieser Phase keine Besorgnis erregen, solange der Jugendliche Familienregeln einhält, gut gelaunt scheint und sich die schulischen Leistungen nicht enorm verschlechtern (Ebd.).
Gleichzeitig zu den körperlichen Veränderungen kommt es auch zu Wandlungen im kognitiven Bereich (vgl. Zimprich/Wölzl 1994, 37). Die intellektuellen Fähigkeiten entwickeln sich in dieser Phase besonders. Jugendliche gewinnen die Fähigkeit zur Einsicht und zum überlegtem Urteilen. Jugendliche beginnen vor allem in dieser Phase, ein schlüssiges Bewusstsein über Vergangenheit zu entwickeln. Dies äußert sich darin, dass sie sich Gedanken über die Zukunft machen und sich für ihre Wurzeln interessieren. In dieser Phase setzen sie sich auch mit dem Wertesystem der Eltern auseinander. Das Gewissen des Jugendlichen wird zu einem festen Bestandteil seiner Identität. In der Regel werden Jugendliche sich in dieser Zeit auch ihrer sexuellen Orientierung sicher (vgl. Wittchen 1989, 292).
In der späten Adoleszenz ist der Ablösungsprozess gewöhnlich abgeschlossen. Der Mensch beginnt ernsthafte, realistische Ziele anzusteuern und geht wahrscheinlich eine erste ernsthafte intime Beziehung ein. Er ist überhaupt erst zu echter Intimität fähig. Die erste Liebesbeziehung, zu der es in dieser Phase kommen kann, ist etwas ganz besonderes (vgl. Wittchen 1998, 293).
Die wichtigste Veränderung der Adoleszenz ist wohl die sexuelle Reifung, durch die sich auch der Gang der psychischen Entwicklung ändert (vgl. Laufer/Laufer 1989, 9).
Pathologische Episoden gewinnen in der Adoleszenz an Bedeutung und Dynamik (vgl. Ebd.). Der Begriff „Jugend und Krise“ wird aber seit Ende der 60er Jahre nicht mehr als pathologisches Phänomen verwendet, sondern dient der Beschreibung normaler Entwicklungsprozesse. Wie die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz gemeistert werden, ist abhängig davon, wie vorangegangene Entwicklungsaufgaben bewältigt wurden und welches psychosoziale Milieu dem Heranwachsenden bereit steht (Endres 1994, 15).
1.5. Psychische Störungen im Jugendalter
Psychische Erschütterungen in der Adoleszenz sind nicht selten. SVV geht meist mit psychischen Störungen und Belastungen einher. Aus diesen Gründen möchte ich hier kurz auf Störungen im Jugendalter eingehen. Es ist wichtig, diese frühzeitig zu erkennen. Mindestens zwölf Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden irgendwann vor dem 18. Lebensjahr unter emotionalen Problemen oder psychischen Störungen. Schätzungsweise sind es sogar bis zu 20 Prozent. Allerdings werden bei weniger als der Hälfte dieser Jugendlichen die Probleme diagnostiziert und therapiert, obwohl wahrscheinlich nahezu allen in irgendeiner Weise geholfen werden könnte. Störungen, die unerkannt und unbehandelt bleiben, erfordern von den Familien der Betroffenen einen erheblichen Energieaufwand. Zudem behindern sie die normale Entwicklung eines Kindes und können den gesamten Lauf ihres Lebens beeinflussen. Die meisten Störungen, unter denen später Erwachsene leiden, beginnen bereits in der Kindheit. Hier können durch rechtzeitige Diagnose und Behandlung spätere Leiden durchaus reduziert oder verhindert werden. Entscheidend für die Beurteilung einer psychischen Störung ist, ob das eigene Verhalten oder die eigenen Emotionen beim Kind bzw. Jugendlichen starken Leidensdruck verursachen und sein Leben und das der Familie beeinträchtigen (vgl. Wittchen 1998, 242).
Lange Zeit wurden die Wurzeln der Probleme primär im Umfeld der Kinder und Jugendlichen gesucht. Heute geht man allerdings davon aus, dass die meisten Störungen aus vielen, miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren resultieren: aus biologischen, psychologischen und soziologischen (vgl. Wittchen 1998, 258).
Eine Studie von Engel und Hurrelmann (1989) zeigt aber, dass es Zusammenhänge von psychischen Belastungen und familienstrukturellen Merkmalen (z.B. Unvollständigkeit der Familie, emotional angespannte Ehepartner, inkonsistenter Erziehungsstil, mangelnde emotionale Zuwendung der Eltern) gibt. Wahrscheinlich ist, dass in sozial und materiell benachteiligten Familien die Belastungen größer und schwieriger zu bewältigen und die Strategien und Formen der Bewältigung weniger effizient sind. An dieser Stelle sei nur das höhere Risiko der Arbeitslosigkeit, die geringeren materiellen Ressourcen und eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit in diesen Familien erwähnt (vgl. Engel/hurrelmann 1989, 17f).
Psychische Erkrankungen in der Adoleszenz werden in der Regel in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht mit:
1. einer längerfristigen Fehlorganisation der präpubertären Persönlichkeitsentwicklung,
2. aktuellen inner- wie außerfamiliären Belastungen im Rahmen der adoleszenten Umorientierung sowie
3. familiären Beziehungsproblemen, als deren Ausdruck der erkrankte Jugendliche unter Umständen als designierter Patient des ganzen Systems aufgefasst werden kann (vgl. Schütze 1990, 246).
Die umfassenden körperlichen, kognitiven und psychischen Veränderungen und die besonderen Belastungen durch Schule, Peergroup, Eltern etc. in der Adoleszenz wirken, gemeinsam mit individuellen schwerwiegenden familiären Problemen, auf den Jugendlichen ein.
Die Zeit der Adoleszenz, auch wenn sie hier äußerst dramatisch als Zeit der Krisen und Wirrungen dargestellt wird, ist trotz allem eine Zeit, in der die meisten Jugendlichen Spaß am Leben haben, sich unter normalen Umständen entspannt fühlen und auch ein positives Selbstwertgefühl haben. Viele Jugendliche scheinen keine schwerwiegenderen Probleme in dieser Lebensphase zu haben. Dennoch ist der Teil der Jugendlichen, der mäßige bis schwerwiegende psychische Probleme aufweist und sich emotional leer, depressiv, ängstlich oder verwirrt fühlt, enorm hoch. Jeder fünfte Jugendliche ist sich nicht sicher, ob er seine Probleme bewältigen kann. Nun kann man davon ausgehen, dass auch von diesen zwanzig Prozent ein Großteil tatsächlich bloß eine Entwicklungskrise durchmacht und zu einem gesunden Erwachsenen reifen wird. Dieser Prozess kann durch Beratung oder Psychotherapie erleichtert werden. Für eine kleine Gruppe Jugendlicher kann dies aber auch den Beginn ernsthafter psychischer Probleme bedeuten (vgl. Wittchen 1998, 290).
Zu den tiefgreifenden Störungen, die in den Jugendjahren beginnen können, zählen Identitätsstörungen, Essstörungen, Depression, Bipolare Störung (manisch-depressive Störung) und Schizophrenie (vgl. Wittchen 1998, 293). Zimprich und Wölzl (1994, 44) zählen zu den Ausdrucksformen der Adoleszenzkrise u.a. Zwanghaftes Essen bzw. Fasten, Suizidversuche, Selbstverletzungen, Drogenkonsum und schwere Depressionen.
SVV in Form von Ritzen kann bei allen diesen Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten begleitend oder als Symptom vorkommen. Ich möchte hier nur kurz auf einige Störungen, die im Jugendalter gehäuft auftreten und ggf. mit Ritzen in einem engeren Zusammenhang stehen können, eingehen.
1.5.1. Identitätsstörung
Der Aufbau einer eigenen, unverwechselbaren Identität ist der Kernpunkt der Entwicklung in den Jugendjahren. Probleme in diesem Bereich kommen nicht selten vor. Leidensdruck kann durch die Notwendigkeit, sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden und langfristige Ziele setzen zu müssen, aber auch durch Liebesbeziehungen und Loyalitätskonflikte gegenüber Gleichaltrigen und der Familie entstehen. Für einige Jugendliche ist es nahezu unmöglich, aus der großen Anzahl an Lebensstilen, Laufbahnen und Wertvorstellungen die auszusuchen, mit denen sie sich indentifizieren können. Es ist aber durchaus normal, sich in der Adoleszenz auszuprobieren und sozusagen in unterschiedliche Identitäten zu schlüpfen (vgl. Wittchen 1998, 294).
Auch die eigene Geschlechtsidentität spielt eine wesentliche Rolle im Jugendalter. Eine Unsicherheit hinsichtlich dieser oder der homo-, hetero- oder bissexuellen Orientierung, die sich in der Adoleszenz entwickelt, kann zu Depressionen führen (vgl. ICD-10 2000, 248).
1.5.2. Essstörungen
Essstörungen können mit Identitätsstörungen einhergehen. Die Identitätsängste der Adoleszenz werden durch die Beschäftigung mit Nahrung, Diäten und Körpergewicht „in Schach gehalten“ (Hirsch 2002, 44). Die Betroffenen können sich meist mit Veränderungen an ihrem Körper nicht abfinden. Manche Mädchen fürchten sich vor dem Erwachsenwerden. Bei den ersten Anzeichen von Brustentwicklung oder Menstruation kommen sie zu der Überzeugung, übergewichtig zu sein. Die Betroffenen sind unzufrieden mit ihrem Körper, der – trotz normaler Nahrungsaufnahme - nicht einem, in den Medien gezeigtem, idealisiertem Körper entspricht. Dies kann zu chronischem Diäthalten oder auch zu „abwechselndem Fressen und Fasten“ führen. Nicht selten führen Teenager, wenn sie sich für übergewichtig halten, Erbrechen herbei oder nehmen Abführ- oder Entwässerungsmittel ein. Dabei nehmen sie erhebliche Risiken für ihre Gesundheit in Kauf (vgl. Wittchen 1998, 295).
Auf die Essstörungen als Form SVVs wird im nächsten Kapitel noch einmal genauer eingegangen. An dieser Stelle war es mir wichtig, den Bezug zur Adoleszenz herzustellen, da Formen von Essstörungen besonders typisch für das Jugendalter sind.
1.5.3. Depression
Häufige Stimmungsumschwünge bei Jugendlichen sind nicht unbedingt Anlass zur Beunruhigung. Meist sind sie vorübergehend und stehen mit bestimmten Ereignissen in Zusammenhang. Bei etwa fünf Prozent der Jugendlichen kann sich eine ernsthafte Depression entwickeln. Mädchen sind etwas häufiger als Jungen betroffen (vgl. Wittchen 1998, 295).
Die Betroffenen leiden unter einer gedrückten Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und einer Verminderung des Antriebs. Durch den Energieverlust kommt es zur Einschränkung der Aktivität und zu erhöhter Ermüdbarkeit, auch schon nach kleinen Anstrengungen. Andere Symptome sind z.B. Schlafstörungen, verminderter Appetit, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, ein geringeres Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle sowie Gefühle von Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Selbstverletzungen, Suizidgedanken oder Suizidhandlungen. Die Symptome zeigen sich nicht konstant. Gelegentlich können auch motorische Unruhe und Reizbarkeit und übermäßiger Alkoholgenuss vorkommen. Einige der Betroffenen neigen dazu übermäßig und unangebracht über bestimmte Gegebenheiten zu grübeln (vgl. ICD-10 2000, 139f). Mädchen wirken er still und gehemmt, gelten als „artig“ und sind sehr zurückgezogen. Jungen weinen häufig unkontrolliert, zeigen Kontaktschwäche und isolieren sich, oft haben sie Lernschwierigkeiten. Sie sind häufig gereizt und verhalten sich eher aggressiv (vgl. Fend/Schröer 1990, 59).
1.5.4. Suizid
Anhaltende Depressionen können bei Jugendlichen zu Suizidversuchen oder zur Selbsttötung führen. Suizid ist die dritthäufigste Todesursache bei Jugendlichen. Die Hintergründe sind äußerst vielfältig. Nicht alle Heranwachsenden, die Suizidgedanken haben oder sich tatsächlich selbst töten sind depressiv. Manche haben ernste Probleme in der Familie, oft bestehen hier schwere Konflikte mit den Eltern oder in der Schule. Viele reagieren gegen andere oder gegen sich selbst äußerst aggressiv (vgl. Wittchen 1998, 296).
„Die hohe suizidale Mortalität in der Adoleszenz muss auf den Hintergrund entwicklungsbedingter Umstellungen und Aufgabenstellungen gesehen werden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf Wachstumsprobleme, Probleme mit dem körperlichen Gestaltwandel, sexuelle Probleme, Geschlechtsrollenprobleme, Ablösungsprobleme, Selbstwert- und Identitätsprobleme. Unter besonderen Belastungen, wie sie in der schulischen und beruflichen Ausbildung, in Systemen mit starken Begrenzungen und Anforderungen, sowohl in kognitiver als auch in emotionaler und sozialer Hinsicht gegeben sind, können entwicklungsbedingte Probleme mit institutionsbedingten Problemen zu einem Problembündel werden, das ... Schüler ... zu überfordern vermag und sie im Hinblick auf Suizidalität zu Risikogruppen macht“ (Myscher 1996, 351).
Dieses Zitat von Myschker macht deutlich, wie die von mir aufgeführten Schwierigkeiten und Veränderungen in der Adoleszenz einen Jugendlichen psychisch stark beeinträchtigen können.
Oft ist ein Suizidversuch der Höhepunkt einer ungünstigen Entwicklung. Er scheint Ausdruck einer tiefen Isolierung zu sein und soll als Hilferuf nach Zuwendung und Liebe verstanden werden (vgl. Kos-Robes/Reinelt 1977, 152).
Jugendliche, die vom Suizid sprechen, scheinen darin eine Lösung für ihre Lebensprobleme zu sehen. Manche Jugendliche empfinden Rückschläge und Enttäuschungen als unüberwindbare Krisen. Erwachsene hingegen wissen aus Erfahrung, dass eine Krise nicht bedeutet, dass man alle Hoffnung verlieren muss, sondern dass es weitergeht.
Die Selbstachtung und das Identitätsgefühl können in der Phase der Adoleszenz äußerst zerbrechlich sein und auch bereits bei kleinen Krisen (wie z.B. einer schlechten Zensur) erschüttert werden. Freunde, Eltern, aber auch Lehrer sollten hellhörig werden, wenn ein Jugendlicher über Tod oder Suizid spricht (vgl. Wittchen 1998, 296).
1.6. Von den Schwierigkeiten ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden
1.6.1. Unterschiede in der Entwicklung von Jungen und Mädchen
Nicht nur in der Adoleszenz, auch in andern Lebensstadien sind Frauen wie Männer geschlechtsspezifischen Belastungen und Erwartungen, die die Familie, die Gesellschaft oder die eigene Person betreffen, ausgesetzt. Männer und Frauen bzw. Jungen und Mädchen erleben also zu einem großen Teil unterschiedliche rollenbedingte Konflikte (vgl. Wittchen 1998, 229).
Die Identität als Mann oder Frau ist für jeden Menschen das Gerüst, um das herum er seine Persönlichkeit entwickelt und sein Verhalten formt. Schon im Kindesalter, bevor Menschen überhaupt wissen, dass sie unterschiedliche Geschlechtsorgane haben, gehen Mädchen und Jungen abgrenzbare Wege. Bereits ab einem bestimmten Punkt im fötalen Leben entwickeln sich die Gehirne von Jungen und Mädchen unterschiedlich. Auch dies führt offenbar zu einem unterschiedlichen Verhalten (Ebd., 331). Bei der Geburt werden bereits unterschiedliche Verhaltensweisen zwischen beiden Geschlechtern deutlich. Zum Beispiel reagieren Mädchen empfindlicher auf Geschmack und Berührung als Jungen (vgl. Hoffmann 2002, 77).
Viele Verhaltensweisen, die wir heute als typisch männlich oder weiblich ansehen, sind aber nicht angeboren (vgl. Wittchen 1998, 331). Anhand empirischer Untersuchungen lässt sich ein Zusammenhang zwischen geschlechtsspezifischen Unterschieden und der Sozialisation feststellen. Aufgrund einer spezifisch weiblichen oder männlichen Sozialisation entwickeln beide Geschlechter unterschiedliche innerpsychische Bewältigungsmechanismen für Spannungen und Konflikte. Jungen werden eher als Mädchen ermuntert, mit Ängsten und negativen Affekten motorisch-aktiv und expansiv umzugehen. Das Bild vom Jungen, der stark, wild und ohne Angst ist, ist in der Gesellschaft immer noch relativ fest verankert (vgl. Hoffmann 2002, 73). Mädchen hingegen werden in unserer Gesellschaft immer noch häufig dazu angehalten, Rücksicht auf andere zu nehmen und ihre Aggressionen zu zügeln (vgl. Wohne 2002, 62; Hoffmann 2002, 73; Eckhardt 1994, 30; Teuber 1997, 8f).
Die Geschlechtsunterschiede werden vor allem in der Adoleszenz sehr ausgeprägt. Bei Mädchen nimmt die Wendung nach innen und die Selbstexploration zu, bei Jungen „alloplastisches Agieren“ mit „Acting-out“ (Weglaufen, Stehlen, Zornausbrüche). Beide Verhaltensweisen sind Ausdruck narzisstischer Stabilisierungsversuche (Hoffmann 2002, 76).
In der unterschiedlichen Entwicklung von Jungen und Mädchen spielt aber auch die Familienkonstellation eine Rolle. Es ist z.B. entscheidend, ob Geschwister anwesend sind, mit denen man sich identifizieren kann oder ein Vater und welche Rolle diese innerhalb der Familie einnehmen (vgl. Hoffmann 2002, 77).
1.6.2. Der weibliche Körper in unserer Gesellschaft
Die individuelle Vorstellung, wie eine schöne Frau auszusehen hat, orientiert sich weitgehend am Schönheitsideal der jeweiligen Zeit. Die Frau soll nicht für sich schön sein, sondern in erster Linie der Bewertung von Männerblicken standhalten. Der Körper muss reizen und als Objekt der Begierde zur Verfügung stehen. Aber auch Frauen vergleichen sich untereinander, „um ihre Chancen in der Konkurrenz auszuloten“. Auch wenn diese Norm von der Frau entlarvt wird, nützt es ihr kaum, denn die Vorstellungen wie eine Frau zu sein hat, sind lange im Frausein verankert (Teuber 1997, 18f). Die Kindheit ist der Moment, indem der „weibliche Code“ in den zukünftigen Frauenkörper eingeschrieben wird (Sykora 1989, zit. n. Teuber 1997, 19).
Um zu gefallen oder einem Schönheitsideal zu entsprechen, unterziehen sich Frauen nicht selten kosmetischen Behandlungen oder trimmen ihren Körper und richten ihn zu. Sie sind oft hart mit sich selbst, wenn es um Verschönerung geht, nach dem Motto: Wer schön sein will, muss leiden. Wenn sie es schaffen, sich ihren strengen Vorsetzen zu unterwerfen, stärkt dies enorm ihr Selbstwertgefühl. Hält die Bearbeitung des Körpers, die mit der Sehnsucht einhergeht, irgendwann das Schönheitsideal zu erreichen an, so kann die Diskrepanz zwischen innen und außen immer größer werden. Der Körper wird den Frauen fremd, eine realistische Einschätzung des Körpers geht verloren. Manchmal werden die Maßstäbe perfekt internalisiert bis der Körper zum Instrument wird (vgl. Teuber 1997, 20).
1.6.3. Die Bedeutung der Menstruation in der Entwicklung
Die Menstruation spielt in der Entwicklung von Mädchen eine entscheidende Rolle. Sie ist das „unausweichliche Zeichen (dafür), dass die Kindheit vorbei ist“. Auch bedeutet sie den Abschied von der anderen Geschlechtsidentität (Eckhardt 1994, 138f). Besonders die erste Menstruation, die Menarche hat eine tiefe Bedeutung für ein Mädchen. Sie ist Zeichen sexueller Reife und veranlasst jedes Mädchen „über ihre potentiellen Rollen als geschlechtliches Wesen, Frau und Mutter nachzudenken“. Die Menarche kann aber auch als traumatisch erlebt werden, wenn das Mädchen vorher nicht ausreichend darüber aufgeklärt wurde (vgl. Wittchen 1998, 291).
Einige Mädchen können durch das Auftreten der Menstruation, durch die unregelmäßigen oder nicht beeinflussbaren Blutungen einen erheblichen Kontrollverlust über ihren Körper erleben (vgl. Müller-Schlotmann 2003, 230).
Die Einstellung und das Erleben der Menstruation wird weitgehend durch die Überzeugungen der Mutter beeinflusst, und auch dadurch, wie das Mädchen darauf vorbereitet wurde. Einen weniger großen Einfluss haben ältere Schwestern, Freundinnen und Lehrerinnen. Wenn die Mutter das Ereignis ignoriert oder davon ständig von etwas Unangenehmen oder Lästigem spricht, wird die Tochter ihre Menstruation vermutlich auf die selbe Weise erleben. Die Mutter vermittelt ihrer Tochter ein Bild von Weiblichkeit und Frausein, nicht nur durch das, was sie ihr vorlebt und verbal vermittelt, sondern auch über das, was sie der Tochter über das Frauwerden verschweigt (vgl. Wittchen 1998, 291).
Gesellschaftlich wird die Menstruation als weibliches Körpergeschehen widersprüchlich vermittelt. Einerseits macht sie den Prozess des Frauwerdens deutlich, ist mit Stolz verbunden und ermöglicht Vorstellungen über den Körperinnenraum zu aktualisieren. Andererseits gelten Mädchen aber vor der monatlichen Blutung als weinerlich, launisch, aggressiv. Oft wird die Menstruation „tabuisiert oder als schmutzig, krankhaft oder störungsanfällig medizinisch erfasst“(Teuber 1997, 24). In den Medien wird ein Bild vermittelt, in dem die Unabhängigkeit der Frau nur gesichert scheint, wenn sie die Blutung nicht spürt, die Menstruation unsichtbar wird. Diese Haltung kann dazu führen, dass Mädchen Gegebenheiten ihrer Weiblichkeit verstecken oder verleugnen wollen. Selten lernen Mädchen die Menstruation als etwas völlig normales im Leben einer Frau kennen. Das Akzeptieren der eigenen Geschlechtlichkeit wird dadurch nicht gerade gefördert (vgl. Ebd.).
1.6.4. Konflikte und Psychische Störungen junger Mädchen und Frauen
Viele Formen psychischer Konflikte sind durch Rollen innerhalb unserer Gesellschaft bedingt. Dazu zählen soziale Rollenkonflikte (Beruf und Mutter), die zwanghafte Fixierung auf Beziehungen, Furcht vor Liebesverlust, die Übernahme einer Opferrolle in Beziehungen, Arbeitshemmungen, sexuelle Schwierigkeiten, Hemmungen bei der Äußerung von Aggressionen und Gefühle von Machtlosigkeit mit daraus folgender Depression. Dies sind Konflikte, die häufig bei Frauen zu beobachten sind. Untersuchungen zeigen, dass Frauen über mehr Symptome psychischen und physischen Leidens berichten und sich öfter um professionelle Hilfe bemühen als Männer. Allerdings bleibt offen, ob Frauen tatsächlich mehr Probleme haben oder sie nur eher bereit sind, sich zu diesen Problemen zu bekennen. Heute wird davon ausgegangen, dass die Belastbarkeit von Frauen häufig durch ein Zusammenspiel von psychischer Veranlagung, Kultur, sozioökonomischen Faktoren und biologischen Konflikten an ihre Grenzen gerät (vgl. Wittchen 1998, 229ff).
In Untersuchungen von Engel und Hurrelmann (1989) wurde deutlich, dass bei Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren wesentlich häufiger Stresssymptome auftreten als bei Jungen. Beschwerden bei Symptomen wie Kopfschmerzen, Nervosität, Schwindelgefühl, Schlaflosigkeit, Magenbeschwerden, Konzentrationsschwierigkeiten, starkes Herzklopfen, Händezittern, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schweißausbrüche etc. sind bei Mädchen jeweils mindestens doppelt so häufig wie bei Jungen zu verzeichnen. Mädchen gaben häufiger an, emotionale Reaktionen wie Wut, Zorn, Ärger, Trauer, Überforderung, Angespanntheit, Unzufriedenheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Überflüssigkeit, Schuldgefühle etc. zu spüren als Jungen. Deutlich wurde auch, dass Mädchen um das siebenfache häufiger Angst haben als Jungen (vgl. Engel/Hurrelmann 1989, 80f).
Neben Genen und Hormonen ist vor allem die Situation und Stellung in der Familie und der Gesellschaft verantwortlich für die Entstehung der weiblichen Identität. Dabei vermitteln Eltern und das kulturelle Umfeld indirekt, welche Arten von Emotionen und Verhaltensweisen für Mädchen als ideal gelten und welche Arten von Bestätigungen und Werten im Leben der Frau offenstehen. Das kleine Mädchen beginnt irgendwann, sich als weiblich zu identifizieren und die Mutter zu imitieren. Später spielt dann die Gleichaltrigengruppe eine größere Rolle. Das Mädchen lernt hier, was normale, angemessene und gebilligte Verhaltensweisen für Mädchen und Frauen sind. Nach den Jugendjahren wird die Frau versuchen, einem Weiblichkeitsideal zu entsprechen, dass sie sich über diese Jahre aufgebaut hat. Ein Problem dabei kann sein, dass sich in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels die kulturellen Werte verändert haben, wenn die Frau erwachsen ist. Viele Frauen tragen diesen Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart heute in sich, d.h. dass sie sich äußerlich zu einer „neuen Weiblichkeit“ bekennen, aber innerlich mit dem Weiblichkeitsideal verbunden sind, mit dem sie aufwuchsen. Ich sehe in diesem Zusammenhang heute eher ein Problem für Jugendliche, die zu Hause ein völlig anderes Weiblichkeitsideal vermittelt bekommen, als in ihrem kulturellen Umfeld, z.B. der Schule und der Gleichaltrigengruppe. Ich stelle mir vor, dass es für diese Mädchen äußerst schwer ist, ein eigenes Weiblichkeitsideal zu entwickeln, bzw. dass sie in der Adoleszenz Teile ihres aufgebauten Weiblichkeitsideals unterdrücken müssen. Unterschiedliche Vorstellungen des Weiblichkeitsideals von Gesellschaft und Familie können laut Wittchen zu Konflikten führen.
Manche Frauen macht angeblich auch die überragende Bedeutung, die ihrer Rolle als Ehefrau oder Geliebte beigemessen wird, psychisch anfällig für soziale Faktoren. Wie aber die einzelne Frau oder das einzelne Mädchen auf Belastungen reagiert, hängt von der Persönlichkeit oder der momentanen psychischen Befindlichkeit der Person ab und auch davon, wie die Person Konflikte in der vergangenen Zeit überstanden hat (vgl. Wittchen 1998, 230f ).
Die Entstehung von psychischen Störungen kann auch mit Spannungen in der Mutter-Tochter-Beziehung zusammenhängen. Symbolisch kann die Störung dann als Versuch angesehen werden, die vollkommene Weiblichkeit zu beweisen oder sich gegen diese aufzulehnen, z.B. durch die Abmagerung nicht mehr weiblich zu wirken. Manchmal stellen Essstörungen auch den Versuch dar, die Kontrolle über das eigene Leben auszuüben. Auch eine Mutter-Tochter-Rivalität kann eine Erklärung für das Verhalten sein (vgl. Wittchen 1998, 340f).
In der Pubertät oder der frühen Adoleszenz kann es bei beiden Geschlechtern zu Konflikten kommen, wenn sich der Körper durch die hormonellen Veränderungen schneller oder langsamer entwickelt als bei Gleichaltrigen. Ein Mädchen, dass z.B. mit elf schon Busen und Schamhaare hat, kann sich freuen, der älteren Schwester zu ähneln. Es kann aber auch verwirrend für das Mädchen sein. Das Mädchen könnte das Gefühl haben, dass es nicht länger Kind sein dürfe. Eventuell glaubt es, „Anteile von sich opfern und erwachsener auftreten zu müssen, wie sie es bei älteren Mädchen gesehen hat“. In seltenen Fällen kann dies zu einer Anorexie führen, um den kindlichen Körper zu behalten (Ebd., 290f).
Zu weiteren Störungen, die eher Frauen betreffen, gehören z.B. Kleptomanie, Depressionen, andere Essstörungen (vgl. Ebd., 340), auch SVV tritt vorwiegend bei Frauen auf, wenngleich es nicht als psychische Störung, sondern eher als Symptom einer Störung, zu bezeichnen wird.
2 Was bedeutet selbstverletzendes Verhalten?
2.1. Begriffsbestimmung
Für selbstverletzendes Verhalten finden sich in der Literatur zahlreiche Synonyme. Häufig vertreten sind die Begriffe Autoaggression, Automutilation, Selbstbeschädigung und Autodestruktion. Laut Brezovsky (1985, 1) gab es Versuche, diese voneinander abzugrenzen, welche aber nicht gelungen sind. Rohmann und Hartmann (1988), die sich allerdings eher mit der Problematik im Zusammenhang mit geistig behinderten Kindern und Jugendlichen befassen, bevorzugen den Begriff Autoaggression, da sie „autoaggressives Verhalten als einen aggressiven Akt gegen das Selbst“ interpretieren. Sie verstehen Autoaggression als Oberbegriff „aller Formen von Schadenszufügungen dem eigenen Körper gegenüber“ (Rohmann/Hartmann 1988, 12f). Der Begriff Autoaggression geht aber mit einer Wertung einher und impilziert einen einseitigen Erklärungsversuch, so Brezovsky (1985, 1).
Im englischsprachigen Raum lässt sich eine Fülle von Begriffen finden, die in diesem Zusammenhang genannt werden: autoaggression, local self-destruction, self-aggressive behaviour, self-attacking behaviour, self damaging behaviour, self-wounding behaviour, self-mutilation u.v.m. (vgl. Rohmann/Hartmann 1988, 13).
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Selbstbeschädigung in Form des Einschneidens und Einritzens der Hautoberfläche. Viele Autoren verwenden für dieses Verhalten die Begriffe Selbstbeschädigung bzw. Selbstverletzung oder auch Automutilation. In der Regel werden alle diese Begriffe für ein gemeinsames Phänomen, welches im folgenden Abschnitt definiert wird, verwendet.
Ich werde die Begriffe selbstverletzendes Verhalten, Selbstbeschädigung und auch Autoaggression verwenden, da sie meiner Meinung nach alle einen wichtigen Aspekt dieses Verhaltens beschreiben: Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird zum Ausdruck kommen, dass der Betroffene nicht nur seinen Körper selbst verletzt und nachhaltig schädigt, sondern dass er auch seinem Selbstwertgefühl, seiner Persönlichkeit großen Schaden zufügt. Den Begriff Autoaggression verwende ich, weil das Verhalten ein großes Maß an Aggressivität zum Ausdruck bringt, dass die Betroffenen nicht nach außen richten können und so auf sich selbst projizieren. Zudem wird das Verhalten von Außenstehenden oft als aggressiv wahrgenommen (vgl. Siefen et al. 2002, S.141).
Ritzen, aber auch andere Formen SVV, beinhalten also (selbst-)schädigende, (selbst-)verletzende und (auto-)aggressive Tendenzen. Zum größten Teil, werde ich die Begriffe so verwenden, wie sie von den Autoren, die ich zitiere, gebraucht wurden. Ich denke, dass keiner dieser Begriffe das Phänomen ausreichend oder treffend benennt oder definiert.
Spreche ich von selbstverletzendem Verhalten meine ich damit also auch autoaggressives und selbstschädigendes Verhalten. Ich verwende die Begriffe, wie auch andere Autoren, synonym für das selbe Phänomen.
2.2. Definition „selbstverletzenden Verhaltens“, „Selbstbeschädigung“ bzw. „Autoaggression“
Heinemann und Hopf (2001, 135) verstehen unter Autoaggressionen die wiederholte Beschädigung des eigenen Körpers. Brezovsky beschreibt SVV folgendermaßen:
„Autoaggression ist ein beobachtbares Verhalten, das häufig wiederholt auftritt, stereotypen Charakter haben kann und bei dem ein Individuum Reize gegen den eigenen Körper setzt, deren Ziel und Wirkung die physische Verletzung ist.“ (Ebd. 1985, 3).
Rohmann und Hartmann (1988, 17) sprechen von einer extremen Reizung, die dem Körper zugefügt werden kann. Nach Törne (1974) ist Selbstbeschädigung normalerweise eine als schmerzhaft empfundene Manipulation, vom Individuum am eigenen Körper durchgeführt (zit. n. Bogyi 1993, 107).
Koch und Resch (2002, 159f) sind der Meinung, dass selbstverletzendes Verhalten eine tiefgreifende Beeinträchtigung des verletzten Selbst und somit Ausdruck bzw. Symptom einer ernst zu nehmenden psychischen Krankheit ist.
Folgende Definition lässt sich zusammenstellen: SVV oder Autoaggression ist ein Verhalten, bei dem sich ein Individuum aufgrund einer psychischen Schädigung bzw. Beeinträchtigung selbst Schmerzen oder körperliche Schädigungen zufügt und dessen vordergründige Ziele die Verletzung des Körpers, Schmerzempfinden oder eine extreme Reizung sind.
2.3. Theorien selbstverletzenden Verhaltens – verschiedene Erklärungsansätze
Für Rohmann und Hartmann (1988, 14) bedeuten alle Definitionen und Erklärungsversuche lediglich eine Form der Spekulation. Ich halte, wie Brezovsky (1985, 29) eine Synthese der verschiedenen Theorien bei der Betrachtung von SVV für sinnvoll. Die Theorien die im Folgenden beschrieben werden, überschneiden sich z.T. in einigen Punkten und sind nicht klar voneinander getrennt darzustellen.
2.3.1. Homöostatische Funktion oder Selbststimulationshypothese
Homöostase bedeutet Gleichgewicht bzw. Stabilität eines Verhältnisses. Die Homöostatische Grundannahme besagt, dass ein Organismus dazu tendiert Gleichgewicht und Harmonie herzustellen. Andersherum kann Ungleichgewicht zu Verhaltensstörungen führen. Dieses Ungleichgewicht bezieht sich im Zusammenhang mit SVV auf die Diskrepanz individueller Bedürfnisse nach sensorischer Stimulation und den von der Umwelt bereitgestellten Reizen (vgl. Meier 1993, 270).
SVV kann laut dieser Theorie die Funktion haben, ein Gleichgewicht zu erhalten oder ein bestehendes Verhältnis zu stabilisieren, nämlich dann, wenn dem Organismus von der Umwelt zu wenig Reize entgegen gebracht werden, sozusagen eine Reizdeprivation vorherrscht. Dann versucht der Organismus, durch das selbständige Setzen von Reizen diesem Ungleichgewicht entgegen zu wirken (vgl. Brezovsky 1985, 17).
In Verbindung mit dieser Theorie werden häufig Experimente an Affen erwähnt, bei denen erkannt wurde, dass Tiere, die unter Isolationsbedingungen, also ohne Bezugstiere aufwuchsen, eine Vielzahl von Stereotypien einschließlich Autoaggressionen zeigten (vgl. Brezovsky 1985, 17; Meier 1993, 270; Eckhardt 1994, 98; Paar 1996, 150). Aber auch durch Untersuchungen an Menschen wurde deutlich, dass nicht nur absolute Isolation, sondern schon der Mangel an Sinnesreizen bei gesund entwickelten erwachsenen Personen, zu Ängsten führen kann (vgl. Meier 1993, 270). Aber auch ein Überangebot an Reizen kann intensive Selbststimulation auslösen (vgl. Brezovsky 1985, 18; Elbing/Rohmann 1996, 49). Es muss also ein erträgliches Intervall von bestimmten Reizstärken geben. Möglich ist auch, dass bestimmte Reize nicht wahrgenommen werden können. So wird z.B. bei blinden Kindern häufig beobachtet, dass sie in den Augen bohren, um einen Ersatz zum visuellen Reiz zu finden (vgl. Brezovsky 1985, 18). Autoaggressionen wird also eine homöostatische Funktion zugeschrieben, da sie sowohl Über- als auch Unterstimulation ausgleichen können (vgl. Elbing/Rohmann 1996, 49).
2.3.2. Tiefenpsychologische Erklärungsversuche
Die Theorien der Tiefenpsychologie gehen auf Freud zurück. Grundannahme ist, dass die Aggressionen, die nicht befriedigt werden können, vom Über-Ich übernommen werden und gegen das eigene „Ich“ gestellt werden. Aggressionen gegen die Objektwelt (die äußere Welt) können nicht abgebaut werden und müssen sich deshalb gegen den eigenen Körper richten. Psychoanalytische Erklärungen gehen weiter davon aus, dass SVV als symbolische Attacken gegen die eigene Mutter verstanden werden können oder auch als Versuch dienen, die „Körperrealität zu finden“. SVV kann auch den Druck durch das Über-Ich befriedigen und funktioniert dann gewissermaßen als Selbstbestrafung (Brezovsky 1985, 18f).
Diese Theorie stimmt weitgehend mit dem lernpsychologischen Ansatz nach Dollard (1939) überein.
2.3.3. Lernpsychologischer Ansatz nach Dollard
SVV wird als besondere Form aggressiven Verhaltens gewertet und somit in verschiedene Theorien der Aggressionsforschung, z.B. in den lernpsychologischen Ansatz von Dollard (1939) eingebaut. Demnach entsteht autoaggressives Verhalten dadurch, dass Aggression bzw. das Ausleben von Aggression gegenüber der Umgebung gebremst wurde. Die Aggressionslust soll unschädlich gemacht werden und wird deshalb introjiziert bzw. verinnerlicht. Das heißt: Die Aggression wird eigentlich dahin zurückgeschickt, wo sie hergekommen ist und so gegen das eigene Ich gewendet (vgl. Bogyi 1993, 109).
[...]
[1] Hier das Bewusstwerden des untrennbaren Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft.
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- Kathleen Seifert (Author), 2004, Ritzen als Problem selbstverletzenden Verhaltens bei Mädchen in der Adoleszenz. Grenzen und Möglichkeiten schulischer Intervention, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33380
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