In seinem 1982 erschienen Werk „Liebe als Passion: zur Codierung von Intimität“ geht es Niklas Luhmann um die Beschreibung einer Kommunikationstheorie, die auf seine Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme zurückgreift und vieles von dem voraussetzt, was Luhmann später in seinem Hauptwerk „Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie“ bündelt. Im Mittelpunkt dieser Kommunikationstheorie steht der Begriff der Liebe, vielmehr der Code in Intimbeziehungen, der erfolgreiches Kommunizieren und damit „Liebe“ überhaupt erst ermöglicht. Ausgangspunkt der weiteren Theorieentwicklung ist, daß sich Ideengut/Semantik und Veränderungen der gesellschaftlichen Realität wechselseitig beeinflussen. Dementsprechend wird Liebe nicht als Gefühl untersucht, „sondern als symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann. Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden.“ (Luhmann, 9). Die entscheidende Prämisse ist, daß Ideengut tiefgreifende Veränderungen in Sozialstrukturen vorbereiten kann; die Gesellschaftstransformation bedeutet eine Transformation der Semantik und umgekehrt. Der Anspruch der eigenen Theorie ist dabei, „Unwahrscheinliches“ als wahrscheinlich erklären zu können und zwar mit einer abstrakten Theorie, die soziologisches Material erhellt. Als Quelle dient die Romanliteratur und die Maximen- und Traktatliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, da „der Roman selbst zum Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten wird“ (Luhmann, 12). Gerade in der Fixierung auf literarische Vorlagen kann aber ein noch darzulegender Kritikpunkt der Luhmannschen Theoreme liegen. Im weiteren soll kurz auf die systemtheoretischen Grundlagen eingegangen und die epochale Beschreibung Luhmanns chronologisch geordnet referiert werden. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit den Thesen Luhmanns und ihre Gegenüberstellung mit der Theorie des sexuellen Diskurses nach Michel Foucault an.
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Theoretische Grundlagen
2.1 Grundlagen, Prämissen und Positionen
2.2 Symbiotische Mechanismen
2.3 Selbstreferenz
2.4 Doppelte Kontingenz
2.1 Initialisierung und Selbstreferenz
2.2 Epochenbegriff und Ausdifferenzierung
2.3 Der Begriff der "Passion"
III Epochenbeschreibungen
3.1 1600 BIS 1660
3.2 1700 BIS 1760
3.3 1760 BIS 1800
3.4 1800 BIS 1850
3.5 MODERNE
IV Kritik
4.1 Allgemeine Kritik
4.2 Kritik: Liebessemantik in der Moderne?
V Quellenverzeichnis
1 Einleitung
In seinem 1982 erschienen Werk „Liebe als Passion: zur Codierung von Intimität“[1] geht es Niklas Luhmann um die Beschreibung einer Kommunikationstheorie, die auf seine Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme zurückgreift und vieles von dem voraussetzt, was Luhmann später in seinem Hauptwerk „Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie“[2] bündelt. Im Mittelpunkt dieser Kommunikationstheorie steht der Begriff der Liebe, vielmehr der Code in Intimbeziehungen, der erfolgreiches Kommunizieren und damit „Liebe“ überhaupt erst ermöglicht. Ausgangspunkt der weiteren Theorieentwicklung ist, daß sich Ideengut/Semantik und Veränderungen der gesellschaftlichen Realität wechselseitig beeinflussen. Dementsprechend wird Liebe nicht als Gefühl untersucht, „sondern als symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann. Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden.“ (Luhmann, 9). Die entscheidende Prämisse ist, daß Ideengut tiefgreifende Veränderungen in Sozialstrukturen vorbereiten kann; die Gesellschaftstransformation bedeutet eine Transformation der Semantik und umgekehrt. Der Anspruch der eigenen Theorie ist dabei, „Unwahrscheinliches“ als wahrscheinlich erklären zu können und zwar mit einer abstrakten Theorie, die soziologisches Material erhellt. Als Quelle dient die Romanliteratur und die Maximen- und Traktatliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, da „der Roman selbst zum Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten wird“ (Luhmann, 12). Gerade in der Fixierung auf literarische Vorlagen kann aber ein noch darzulegender Kritikpunkt der Luhmannschen Theoreme liegen. Im weiteren soll kurz auf die systemtheoretischen Grundlagen eingegangen und die epochale Beschreibung Luhmanns chronologisch geordnet referiert werden. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit den Thesen Luhmanns und ihre Gegenüberstellung mit der Theorie des sexuellen Diskurses nach Michel Foucault[3] an.
II Theoretische Grundlagen
2.1 Grundlagen, Prämissen und Positionen
In Antithese zur marxistischen Gesellschaftstheorie weist Luhmann in der weiteren Folge die Konzentration auf die unpersönlichen Aspekte der modernen Gesellschaft zurück; nur wer die Gesellschaft einseitig als Wirtschaftssystem betrachte, könne die Vorherrschaft unpersönlicher Beziehungen in den Vordergrund rücken; der marxistischen Entfremdungs-These widerspricht er insofern, als er nicht nur die Steigerung unpersönlicher, sondern auch die intensiverer persönlicher Beziehungen miteinbezieht. Die Intensivierung von Rollenmerkmalen ermöglicht unpersönliche Kommunikation und schafft Sicherheit; in erstaunlicher Nähe zum textlinguistischen Konzept von „frames“ und „scripts“ tendiert Luhmann im weiteren dazu, „Liebe“ als spielbare Rolle zu beschreiben. In punkto „Entfremdungs-These“ nähert er sich Simmel an, der, wie z. B. in seinem Werk „Philosophie des Geldes“, mit der Arbeitsteilung zunehmende Freiheit auch in persönlichen Beziehungen verbindet. Ferner gehört es zu den Grundvoraussetzungen der Systemtheorie, keine anthropologischen Konstanten oder Notwendigkeiten anzunehmen[4], die ja einer Selbstgenerierung des Systems, und sei es das kommunikative der Liebe, widersprechen müßte. Indem Individualität nicht anthropologisch, sondern als Produkt sozialstruktureller Bedingungen verstanden wird[5], kommt das Luhmannsche Konzept der „Doppelten Kontingenz“ ins Spiel. Der Begriff des Individuums sei in der modernen Welt schon dadurch revidierbar geworden, so Luhmann, daß das Individuum als sozial ortlos vorausgesetzt werden muß, d. h. daß es schwierig ist, die Einzelperson im Schichtungssystem zu definieren und überhaupt zu orten. Differenz wird vor allen Dingen als persönliche Differenz erfahren, d. h. als „Differenzierung von personalen und sozialen Systemen“; die Differenz der Person zur Umwelt wird folglich auf die eigene Person zurückinterpretiert. Selbstidentifikation erfordert Differenz und zugleich eine Nahwelt, die eben diese Differenz bestätigt. „Zunehmende Individualisierung“ kann schon deswegen kein angemessener Begriff sein, weil die selbstreferentielle Theorie des „Ich“ also des Ego, stets das „Alter Ego“ voraussetzt bzw. erst erzeugt. Luhmann geht es hier um die Begründung, wieso ein Bedarf an Nahwelt überhaupt existiert, wie und warum es überhaupt zu Intimbeziehungen kommt. Das Kommunikationsmedium zwischen Ego und Alter Ego ist dabei das semantische Feld von Freundschaft und Liebe; die gemeinsame Privatwelt ergibt sich insofern, als „daß jeder die Welt des anderen mittragen kann (obwohl er selbst höchst individuell erlebt), weil ihm selber darin eine Sonderstellung zugewiesen ist: weil er in dieser Welt des anderen vorkommt als der, der geliebt wird“ (Luhmann, 18). Luhmann entwickelt sein Theoriegebäude wiederum in Anschluß an Parsons, wie er auch in „Soziale Systeme“ hervorhebt, insbesondere in der Betonung der Anschlußfähigkeit bei der Ausdifferenzierung von semantischen Systemen. Zugleich postuliert er den Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und der Regulierung ihrer symbiotischen Mechanismen, man könnte auch sagen, der Zusammenhang zwischen Semantik/Kommunikation und Faktizität. Der Betrachtungsbereich der Untersuchung ist der „Intimbeziehungen“ (Luhmann, 14); dabei greift Luhmann wiederum der in „Soziale Systeme“ dargelegten Sinnanalyse vorweg, indem er behauptet, die Gesamtheit des fremden Sinnsystems könne dem anderen niemals völlig zugänglich sein und ermögliche erst dadurch eine graduelle Steigerung des Zugangs zum fremden Sinnsystem. Anders gesagt: Erst die Verweigerung von Zugang zur „Welt des anderen“ bzw. die prinzipielle Unmöglichkeit, sie in allen Bereichen zu durchdringen, ermöglicht persönliche Nähe/Distanz und Intimität.
Liebe wird daher als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium begriffen, das zur Ausmerzung von Unwahrscheinlichkeiten und zur Bildung von Systembildungsmöglichkeiten dient. Liebe ist hier kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, mit dessen Hilfe Gefühle ausgedrückt werden können; Medien sind nicht Sachverhalte, sondern Kommunikationsanweisungen. Liebe ist von daher zugleich ein Verhaltensmodell, das gespielt werden kann (Luhmann, 23). Die Funktion der Literatur zum Thema Liebe ist dabei fundamental[6] (Luhmann, 24):
Die folgenden Überlegungen lassen sich von der These tragen, daß literarische, idealisierende, mythisierende Darstellungen der Liebe ihre Themen und Leitgedanken nicht zufällig wählen, sondern daß sie damit auf ihre jeweilige Gesellschaft und auf deren Veränderungstrends reagieren; daß sie, auch wenn in deskriptiver Form gehalten, nicht unbedingt die Realsachverhalte des Liebens wiedergeben, wohl aber angebbare Probleme lösen, nämlich funktionale Notwendigkeiten des Gesellschaftssystems in eine tradierbare Form bringen. Die jeweilige Semantik der Liebe kann uns daher einen Zugang eröffnen zum Verständnis des Verhältnisses von Kommunikationsmedium und Gesellschaftsstruktur.
Persönliche Kommunikation, so Luhmann, wird mit der Individualisierung des personalen Weltbezugs zunehmend schwierig; je individueller der Standpunkt, desto unwahrscheinlicher der Konsens und das Interesse beim Gegenüber. Wird der Weltbezug mitindividualisiert, so läßt sich dieser egozentrische Weltentwurf nur bestätigen oder ablehnen; nicht „totale Kommunikation“, sondern ständiger Miteinbezug des anderen wird gefordert; nicht von ihrem Thema, sondern von ihrer Codierung ist Liebe daher zu begreifen. Dieser Code, d. h. Kommunikation überhaupt, kommt erst zustande, wenn eine Situation vorherrscht, die Luhmann in „Soziale Systeme“ mit dem Begriff der „Doppelten Kontingenz“ umschreibt. In einer anonymen Welt haben alle Informationen ebenso Bedeutung wie in der persönlichen intimen. Liebesbeziehungen ergeben sich erst, wenn Handlungsanschlüsse vorhanden sind, die Reduktionen ermöglichen. Der Liebende muß handeln und die Selektion des anderen bestätigen, sich selbst aber wiederum durch die Reaktionen des Alter bestätigen lassen. Die der „Doppelten Kontingenz“ inhärente Asymmetrie von actio und reaktio bzw. Erleben und Handeln enthält die Chance des Zuvorkommens; erst dadurch wird verständlich, wieso sich Liebe auf Vorwegnahme und Schonverstandenhaben verläßt. Auf diese Weise kann Liebe Kommunikation unter Verzicht auf Kommunikation intensivieren; da der Selektionshorizont des anderen nicht beobachtbar ist, kann dessen Informationsverarbeitung nicht erfaßt werden; erst Liebe als Medium ermöglicht diese Art von „Verstehen“. Das Leitsymbol des Codes der Liebe ist die "Passion", d. h. man erleidet etwas, das man nicht ändern und von dem man keine Rechenschaft ablegen kann.
2.2 Symbiotische Mechanismen
Unter dem Begriff der symbiotischen Mechanismen faßt Luhmann seine Auseinandersetzung mit dem Problem der Sexualität zusammen. Jedes Kommunikationssystem nimmt aber auch Bezug auf die Leiblichkeit des Menschen, „die funktionale Spezialisierung einer Mediensemantik erfordert eine Mitsymbolisierung dieses Körperbezugs“ (Luhmann, 31). Es handelt sich dabei um symbiotische Mechanismen, die erwartungsgemäß vollziehbare organische Prozesse bezeichnen, so z. B. Wahrnehmung, Sexualität, Befriedigung von Bedürfnissen und physische Gewalt. Durch Konzentration auf einen symbiotischen Mechanismus, z. B. Sexualität, kann eine Situation, für nur ein Kommunikationsmedium, hier Liebe, reserviert werden. Luhmann beschreibt die Bedeutung des Miteinbezugs von Sexualität in den Kommunikationsprozeß folgendermaßen: Sie unterstreicht die Bedeutung von Nähe und Zusammensein; sie setzt sich über Rück- sichten auf andere und die Zustimmung anderer hinweg, erfüllt ihren Sinn in sich selbst. Im körperlichen Zusammenspiel begehrt man das Begehren des anderen; die Stärke des eigenen Begehrens wird zum Maßstab dessen, was man zu geben in der Lage ist. Die körperliche Kommunikation bietet zugleich einen Interpretationshorizont für sprachliche Mitteilungen, unterläuft und ergänzt die Sprache zugleich. Da die „Diffusität des sexuellen Kontaktes“ (Luhmann, 33) ein Aufrechnen von Geben und Nehmen unmöglich macht, wird das eigene Erleben zu dem des Partners:
Mit all dem durchbricht die Sexualität den Schematismus von Egoismus/Altruismus ebenso wie die Hierarchisierung menschlicher Beziehungen nach dem Schema Sinnlichkeit/Vernunft. Das zeigt sich nicht zuletzt historisch daran, daß die Ausdifferenzierung von sexuell basierten Intimbeziehungen unter dem Code der Liebe, wie wir im einzelnen nachzeichnen werden, diese beiden Distinktionen der Moral und Anthropologie Alteuropas sprengt.
Symbolisierung bedeutet aber auch Negation/negative Selektion, z. B. der Ausschluß von sexuellen Beziehungen in der Liebessemantik.
2.3 Selbstreferenz
Selbstreferenz ist in diesem Kommunikationssystem in zwei Hinsichten von Bedeutung: Zum einen schafft Selbstreferenz auf der Ebene der semantischen Struktur eine Systematisierung der Themen und die Geschlossenheit des Codes; jeder Topos ist nur im Verbund mit anderen zu verstehen. Aus dieser Ausdifferenzierung doppelter Kontingenz erwächst Unsicherheit, die wiederum zu einem Kommunikationsthema werden kann - die Kommunikation thematisiert sich selbst. Zum anderen bedeutet Selbstreferenz Reflexivität; erst hier kann sich die Ausdifferenzierung vollenden. Hier wird endlich klar, wieso Luhmann überhaupt die Semantik der Liebe zu seinem Untersuchungsgegenstand macht: sie erweist sich als systemtheoretischer Musterfall (Luhmann 36):
Liebe bezieht sich auf Liebe, sucht Liebe, wächst in dem Maße, als sie Liebe finden und sich selbst als Liebe erfüllen kann.
Verteilungsprobleme führen in der Entwicklung der Liebessemantik dazu, daß alle Eigenschaften/Voraussetzungen vernachlässigt werden, die nicht in der Liebe selbst liegen. Reichtum, Jugend, Schönheit und Tugend sind Seltenheitswerte, die nicht überall verfügbar sind. Luhmann vergleicht diese Entwicklung mit der Ablösung des positivistischen Naturrechts-Verständnisses durch das Konzept des codifizierten, relationalen Rechts. Der Code wird im Roman reflektiert, regelt das Verhalten und erfaßt das Wiedervorkommen im Verhaltensbereich. Liebessemantik, so Luhmann, besitzt aber auch eine „Zumutungsabwehrfunktion“ (Luhmann, 38); die Codierung von Intimität läuft außerhalb etablierter Ordnungen ab, da Intimität gesellschaftlich erschwert wird; dies findet sich in semantischen Konzessionen wieder, wie z. B. der Betonung des Wahnhaften, der Unvernunft, der Instabilität.
2.4 Doppelte Kontingenz
Unter dem Begriff der "Doppelten Kontingenz" faßt Luhmann seine Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsvorgang selbst zusammen (3. Kapitel, 41ff.). Die erste Voraussetzung intimer Kommunikation ist, daß die Kommunikationspartner soweit individualisiert sind, daß man zwischen eigenem Interesse und Rücksicht auf die Beziehung zu anderen unterscheiden kann. Die Differenz von Handeln und Beobachten kommt insofern ins Spiel, als daß es zu einem Attributionskonflikt kommt: Der Handelnde sieht sich durch die Situation motiviert und legitimiert, der Beobachter rechnet es der Persönlichkeit des Handelnden zu; je nach Sichtweise liegen also andere Ursachen zugrunde. Die Beschreibung von Liebe als Sympathie oder Empathie wird damit vermieden, vielmehr werden die Nuancen des Verhaltens attributionsfähig profiliert und die Kommunikationssituation zum Test: "handelt er so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grunde legt?" (ebd. 42). Intimkommunikation verläuft entlang von Anzeichen fortdauernder Liebe; Liebesbekundungen müssen wiederholt werden, ohne als Wiederholung erkenntlich zu sein. Nur die kontinuierliche Aufmerksamkeit und Dauerhandlungsbereitschaft mit Blick auf den anderen symbolisiert Liebe; der andere wird permanent auf jedes Zeichen von Liebe beobachtet. Indem sich der Liebende mit seiner Handlung gleichsetzt, verspricht er Dauer, da man dem, den man liebt, bescheinigt, daß man durch ihn und durch die Liebe zu ihm das eigene Ich entfaltet. Die Kommunikationssituation wird durch Einsatz der personalen Identität stabilisiert und diese wiederum durch das Wachsen an der Beziehung gesteigert. Alter "tastet" das Handeln Egos auf Liebe ab und umgekehrt, obwohl Ego als Handelnder durch die Situation eingespannt ist. Nur die Verdichtung der Interaktion im Gespräch ist so intensiv, daß Handeln und Beobachten zugleich möglich sind; auch hier wird wieder die Luhmannsche Konzeption der "Doppelten Kontingenz" deutlich. In dieser Atmosphäre schafft Individualität notgedrungen Probleme (Luhmann, 46):
Man hat seit langem gesehen, daß der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Personen Ehen gefährdet und ganz allgemein Intimverhältnisse unter schwer zu erfüllende Anforderungen stellt. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil gerade das personenorientierte Kommunikationsmedium es nahelegt, alle Konflikte auf die Personen zuzurechnen, sie also nicht als bloße Verhaltens- oder Rollenkonflikte zu behandeln.
Ein derartiges Wagnis kann nur unter Rückgriff auf eine tradierte Semantik erfolgreich sein, d. h. kulturelle Überlieferung, literarische Vorlagen, Sprachmuster etc. Von daher erklärt sich die Beschäftigung mit Literatur und deren Liebessemantik; Luhmann läßt allerdings die Frage unbeantwortet, ob nicht Literatur ihre eigene Tradition besitzt, aus der heraus sie operiert und die von der gesellschaftlichen Realität weitgehend entkoppelt ist. Die Frage nach der Motivation eines so schwierigen Unternehmens, dessen Dauer von vornherein fraglich ist, kann in systemtheoretischer Tradition nicht anthropologisch, etwa in Bezug auf sexuelle Bedürfnisse, gesehen werden; vielmehr ist sie abhängig von der Semantik und der soziokulturellen Evolution eben dieser Semantik. Diese setzt sich mit ihren Formen in den Bedingungen ihrer Möglichkeit selbst voraus; die Erklärung ihrer Entstehung wäre ein unendlicher Regreß und ist damit ein Paradoxon der Selbstreferenz. Die Reproduktion dieser Semantik setzt wiederum ein Leserinteresse voraus, das wiederum erst durch die Semantik in Gang kommen kann.
[...]
[1] Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982.
[2] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984.
[3] Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981.
[4] Luhmann dazu (S. 15): „Nach allem, was wir soziologisch über die soziale Genese persönlicher Individualität wissen und vermuten, kann man nicht davon ausgehen, daß der Bedarf für persönliche Individualität und die Möglichkeit, sich selbst und andere als einzigartig zu stilisieren, durch anthropologisch Konstanten erklärt werden können; vielmehr korrespondieren dieser Bedarf und seine Möglichkeit, in kommunikativen Beziehungen Ausdruck und Anerkennung zu finden, mit sozialstrukturellen Bedingungen, vor allem mit der Komplexität und Differenzierungstypik des Gesellschaftssystems.“
[5] Insbesondere mit dieser These müßte sich eine Kritik an Luhmann auseinandersetzen.
[6] Luhmann übersieht hier allerdings die Eigenständigkeit und Selbständigkeit der literarischen Tradition und liefert damit einen weiteren Kritikpunkt.
- Quote paper
- Jochen Müller (Author), 1996, Analyse von Niklas Luhmanns "Liebe als Passion", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33224
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