Intention der vorliegenden Diplomarbeit ist die Darstellung und Reflexion der Gestalttherapie. Es wird der Frage nachgegangen, ob die Ideen des Konzepts für die Soziale Arbeit/Sozialpädagogik relevant und einsatzfähig sind, und wie dieser Ansatz in einem speziellen Arbeitsfeld, nämlich der Beratung, angewendet wird. Nach einer kurzen Erläuterung der Geschichte und Entwicklung der Gestalttherapie gehe ich im ersten Teil meiner Arbeit auf die theoretischen Wurzeln des humanistischen Psychotherapieverfahrens ein. Anschließend stelle ich das Therapiekonzept mit seinen Hauptzielen Steigerung der Bewusstheit, Persönlichkeitssentwicklung und Wachstum sowie Übernahme von Verantwortung vor, beschreibe schließlich einige Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik, in denen die Gestalttherapie ihre Anwendung findet, und zeige auf, wo meiner Meinung nach ihre Grenzen liegen.
Im zweiten Teil mache ich auf die wesentlichen Merkmale von Beratungsprozessen in der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik aufmerksam und versuche, Beratung von Therapie zu differenzieren. Schließlich präsentiere ich das Konzept der Gestaltberatung und gehe dann auf die Notwendigkeit der Supervision ein. Die Fragestellungen werden auf der Grundlage der aktuellen Fachliteratur diskutiert. Als Ergebnis wird deutlich, dass die Gestalttherapie nicht vollständig auf die Soziale Arbeit/Sozialpädagogik übertragbar ist, und sich das Konzept in der Praxis nur teilweise durchgesetzt hat. Zu begrüßen wäre vor allem der verstärkte Einsatz der Gestaltberatung in sozialpädagigischen und anderen psychosozialen Arbeitsfeldern.
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Gestalttherapie
1. Geschichte und Entwicklung
2. Theoretische Wurzeln
2.1 Psychoanalyse
2.2 Feldtheorie
2.3 Existenzialismus
2.3.1 Phänomenologie
2.3.2 Die dialogische Beziehung
2.3.3 Schöpferische Indifferenz
2.4 Psychodrama
2.5 Zen-Buddhismus
2.6 Gestaltpsychologie
3. Das Therapiekonzept
3.1 Zum Begriff „Gestalt“
3.2 Zielsetzung
3.3 Gestaltprinzipien und die Bedeutung der Wahrnehmung
3.3.1 Die holistische Doktrin
3.3.2 Figur und Grund
3.3.3 Die Tendenz zur Bildung guter Gestalten
3.3.3.1 Die Tendenz zur Geschlossenheit
3.3.3.2 Das Prägnanzprinzip
3.3.3.3 Das Kontinuitätsprinzip
3.3.3.4 Das Homöostaseprinzip
3.4 Zentrale Konzepte der Gestalttherapie
3.4.1 Bewusstheit (Awareness)
3.4.1.1 Interne Awareness
3.4.1.2 Externe Awareness
3.4.1.3 Mediative Awareness
3.4.1.4 Das Bewusstheitskontinuum
3.4.2 Das Jetzt-Prinzip
3.5 Kontakt und Kontaktgrenze
3.6 Das Kontaktmodell
3.6.1 Vorkontakt
3.6.2 Kontaktnehmen
3.6.3 Kontaktvollzug
3.6.4 Nachkontakt
3.7 Anwendung des Phasenmodells
3.7.1 Reflexionshilfe
3.7.2 Planungsinstrument für Lehr- und Lernsituationen
3.7.3 Struktur für die Entwicklung von Konzepten
3.8 Kontaktstörungen
3.8.1 Introjektion
3.8.2 Projektion
3.8.3 Retroflexion
3.8.4 Konfluenz
3.9 Diagnostik
3.10 Die Entstehung einer Neurose
3.11 Die fünf Schichten der Neurose
3.11.1 Das Klischeestadium
3.11.2 Die Rollenspielphase
3.11.3 Ausweglosigkeit (Impasse)
3.11.4 Implosion
3.11.5 Explosion
3.12 Transkript einer Gruppengestaltsitzung
3.13 Ergänzende Methoden und Techniken
3.13.1 Integration von Polaritäten
3.13.2 Frustrationen
3.13.3 Arbeit mit Träumen
3.13.4 Kreative Methoden
3.14 Die Haltung des Therapeuten
3.14.1 Übertragung und Gegenübertragung
3.14.2 Das Paradox der Veränderung
3.15 Für wen sich Gestalttherapie eignet
4. Gestalttherapie und Soziale Arbeit/Sozialpädagogik
4.1 Gestalttherapie mit geistig behinderten Menschen
4.2 Gestalttherapie mit Drogensüchtigen
4.3 Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen
4.4 Gestalttherapie mit Familien
Zweiter Teil: Gestaltberatung
5. Beratung in der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik
6. Beratung versus Therapie
7. Das Gestaltberatungskonzept
7.1 Indikation und Diagnostik
7.2 Die Beziehung zwischen Berater und Klient
7.3 Kompetenzen des Beraters
7.4 Beratungsziele
7.5 Der Beratungsprozess
7.5.1 Orientierung
7.5.2 Bestandsaufnahme (Commitment)
7.5.3 Bedeutung
7.5.3.1 Aktuelle Bedeutungsebene
7.5.3.2 Lebensgeschichtliche Bedeutungsebene
7.5.3.3.Sozio-kulturelle und institutionelle Bedeutungsebene
7.5.3.4 Existenzielle Bedeutungsebene
7.5.4 Perspektive
7.6 Checkliste für Konfliktklärung
7.7 Methoden und Interventionsmöglichkeiten
7.7.1 Die Klientenzentrierte Gesprächsführung
7.7.2 „Sherlock Holmes“ und „Inspektor Columbo“
7.7.3 Bewusstheitssteigernde Methoden
7.7.4 Verantwortungs- und entscheidungsfördernde Methoden
8. Supervision
9. Schlusswort
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Abschließende Erklärungen
Erster Teil: Gestalttherapie
1. Geschichte und Entwicklung
Kaum ein anderes Psychotherapieverfahren ist im Hinblick auf seine Entwicklung solch vielfältigen Missdeutungen und Unstimmigkeiten ausgesetzt wie die Gestalttherapie. Bereits bei der Frage wer sie begründet hat, weist die Fachliteratur einige Widersprüche auf. Ich beziehe mich bei meiner Darstellung auf die am häufigsten genannten Gründerpersönlichkeiten: Die Psychoanalytiker Friedrich Salomon Perls (1893 - 1970) und Lore Perls (1905 - 1990) sowie den Sozialphilosophen Paul Goodman (1911 - 1972), welche die Gestalttherapie in den 1930er und 1940er Jahren entwickelten.
Als Juden, die in der antifaschistischen Liga aktiv waren und starke philosophische und politische Interessen hatten, verließen die Perls Deutschland aufgrund des immer stärker werdenden Nationalsozialismus, um nach Südafrika zu emigrieren. Während ihrer Zeit im Exil, in der auch das bedeutende Buch „Ego, Hunger und Aggression“ entstand, entwickelten sie die ersten Ansätze, die später in die Gestalttherapie eingeflossen sind: „Sie haben den ‚sicheren’ Platz der Psychoanalytiker hinter der Couch aufgegeben und sich vor den Klienten gesetzt. Damit symbolisierten sie, dass sie die Macht über den Klienten (die der Therapeut in der Psychoanalyse durch den nicht hinterfragbaren Deutungsanspruch erhält) ablehnten und den Klienten als Gleichberechtigten begegnen wollten.“ (Doubrawa, 2003, 14)
1946 siedelte sich das Ehepaar in New York an, wo es dem avantgardistischen Schriftsteller und politischen Aktivisten Paul Goodman begegnete. Goodman beschäftigte sich zwar mit Freud, wandte seine Einsichten aber weniger im Sinne der Psychotherapie an, sondern versuchte vielmehr in ihnen Erklärungen zu finden, warum die bestehende Gesellschaft dem Neuen ablehnend gegenüber steht, Außenseiter, z. B. Schwule, ablehnt und bereit ist, sich im Massenkrieg selbst zu vernichten. 1951 erschien das zweite zentrale Werk „Gestalt-Therapie“, das, objektiv gesehen, allen weiteren therapeutischen Bemühungen zugrunde lag. Es enthält einen von Goodman verfassten theoretischen Teil, in welchem er die vielfältigen Ideen und Gedanken der Perls ordnete und formulierte sowie einen Teil mit Experimenten zur Selbsttherapie, die im Wesentlichen von dem Gestaltpsychologen Ralf F. Hefferline entwickelt wurden und durch die, nach F. Perls, Menschen zu einer erhöhten Bewusstheit/Gewahrsein (Awareness) und einer optimalen gegenwärtigen Funktionsweise gelangen sollten.
Die von Fritz unter Mitwirkung von Lore Perls verfasste Konzeption des Buches bestand darin, über Freud hinauszugehen und die Unterdrückung der Libido als Spezialfall der Unterdrückung von Lebensenergie zu sehen. Diese Vorstellung erwuchs aus den Arbeiten des Freud-Schülers Wilhelm Reich. Während Reich, bei dem Fritz Perls in Analyse war, die Lebensenergie für eine Art Strom hielt, der unaufhörlich und unwillkürlich flösse, sah F. Perls jedoch, dass das Leben immer mit der aktiven Umgestaltung und bewussten Umformung zu tun habe. Diese Aktivität der Lebensenergie nannte er „Aggression“. Zudem wollte Fritz Perls die Einsichten einer Gruppe deutscher Gestaltpsychologen einbeziehen, die aufgedeckt hatten wie die Wahrnehmung im Menschen funktioniert.
Fritz Perls und Paul Goodman waren jedoch während der Arbeit an dem Buch zu erbitterten Gegnern geworden, da Goodman die Konzeption und das Geld Fritz Perls’ dazu verwendete, um eine kritische Analyse der Gesellschaft zu schreiben. F. Perls ging schließlich an die Westküste der USA, um dort als Therapeut zu arbeiten, während Lore Perls und Paul Goodman an der Ostküste blieben. „In den 1960er Jahren reagierten Fritz Perls und Paul Goodman ganz verschieden auf das sich ändernde gesellschaftliche Klima: Paul Goodman engagierte sich aktiv in der Protestbewegung, besonders in dem Kampf gegen den Vietnamkrieg und im Aufbau von Alternativen zur staatlichen Schule. Fritz Perls wurde zu einem Guru der ‚human potential’ – Bewegung, in der Menschen versuchten, persönlich mehr aus ihrem Leben zu machen – auch, um zu größerer Kraft zu gelangen, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten. Zwischen beiden Reaktionsweisen war kein Widerspruch, aber auch keine echte Berührung.“ (Doubrawa & Blankertz, 2002, 97)
Fritz Perls lebte und lehrte im Mittelpunkt dieser Bewegung in Esalen/Big Sur an der atemberaubend schönen Westküste Kaliforniens, ca. 200 km südlich von San Francisco. Das „Esalen-Institut“, welches ursprünglich als Zentrum neuer Ideen gegründet wurde und die Integration der westlichen und östlichen Kultur, der alten und der neuen Welt, der Wissenschaft und der spirituellen Tradition, der akademischen Distanz und der kreativen, künstlerischen Unmittelbarkeit sowie der Gedanken- und Gefühlswelt zum Ziel hatte, entwickelte sich jedoch sehr schnell zu einem Begegnungszentrum der psychedelischen Hippie-Kultur. Hier entwickelte F. Perls mit großer Kreativität die Gestalttherapie weiter, indem er mit vielen Gruppen arbeitete und kleine Vorträge hielt. Aus Arbeiten in seinen Workshops, Demonstrationen und Transkripten von Stehgreif-Vorträgen entstanden seine zahlreichen Veröffentlichungen. Esalen als „Gestalt-Ashram“ hatte einen entscheidenden Einfluss auf Fritz Perls, „seine“ Gestalttherapie zwischen 1964 und 1969 sowie auf die nachfolgende Gestaltbewegung überhaupt (vgl. Streckovic in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 145ff.).
Auf diese Weise entstand ein von der charismatischen Ausstrahlung und Wirkung Fritz Perls’ geprägter „Westküsten-Stil“ sowie ein eher politischer und theoretischer „Ostküsten-Stil“, der auf den Arbeiten von L. Perls und Paul Goodman basierte. In den 1970er Jahren trug insbesondere Hilarion Petzold durch zahlreiche Veröffentlichungen und Projekte dazu bei, dass sich die Gestalttherapie auch in Europa stark verbreitete. Er förderte die theoretische und methodische Weiterentwicklung der Gestalttherapie zur integrativen Therapie, die den Menschen nicht nur in der gegenwärtigen Therapiesituation betrachtet, sondern darüber hinaus auch seine Einbettung in seine Lebenszeit und Lebenswelt berücksichtigt (vgl. Dinslage, 1990, 9ff.). In Deutschland ist die Spaltung in der Gestalttherapie noch heute spürbar. Die Ausbildungsinstitute sind inzwischen jedoch bestrebt, die alten und jetzt nicht mehr relevanten Gräben zu überwinden und eine Synthese zu schaffen, welche die Unmittelbarkeit, Offenheit, Kreativität und Praxisorientierung Fritz Perls’ bewahrt als auch der theoretischen Fundierung und dem politischen Bewusstsein von Lore Perls und Paul Goodman Rechnung trägt.
2. Theoretische Wurzeln
Die Gestalttherapie ist aus vielen Quellen erwachsen. Im folgenden Kapitel gebe ich eine Zusammenfassung der meiner Meinung nach wichtigsten psychologischen und philosophischen Wurzeln.
2.1 Psychoanalyse
Fritz Perls war psychoanalytisch ausgebildet, stand der Psychoanalyse trotz seiner Bewunderung für Freud jedoch sehr ambivalent gegenüber. Über Freud schrieb er 1969: „Ich bin dankbar für meine persönliche Entwicklung, die ich dadurch gewinnen konnte, dass ich mich gegen ihn auflehnte.“ Viele seiner Konzepte entwickelte er als Antithese zur Psychoanalyse, wie die phänomenologische Betrachtungsweise im Unterschied zur kausalen, die Gegenwartszentriertheit im Unterschied zur analytischen Ausrichtung auf die Vergangenheit, das Prinzip der Gestaltdynamik (d. h. das Entstehen, Schließen und Integrieren psychischer Gestalten) im Unterschied zum Libidoprinzip, die Assimilation von Emotionen im Unterschied zur Entladung von Emotionen, die Selbstinterpretation im Unterschied zur Fremdinterpretation (vgl. Petzold, 1973, 9ff.).
F. Perls warf der Psychoanalyse vor, psychologische Fakten losgelöst vom Organismus zu betrachten. Sein Verständnis bezog sich auf den Menschen als Organismus mit einer Leib-Geist-Seele-Einheit, dessen Dynamik durch die Aufnahme materieller, emotionaler und geistiger Nahrung gegeben ist. Der Hungerinstinkt, nicht die Libido ist die treibende Kraft für sein Denken und Handeln. Erster dient der Selbsterhaltung, die Libido hingegen der Arterhaltung, wobei Fritz Perls den Libidobegriff im spezifischen Sinne als Sexualtrieb verstand, ohne eine weitere Bedeutung vorzunehmen. Seiner Ansicht nach ist die Aggression der biologisch begründete Ausdruck des Hungerinstinkts und das Ego eine Funktion des Organismus.
Ein gemeinsames Element zwischen Psychoanalyse und Gestalttherapie stellt die Traumarbeit dar: Während Freud die Träume verbal ausdeutete und in den Kontext von Biografie und Erleben einbettete, ging Perls in die Aktion, indem er den Träumer anwies, nochmals in seine Symbole hineinzuschlüpfen. Er sah Träume in ihrer ganzheitlichen und existenziellen Dimension, worin auch das gestalttherapeutische Prinzip von Heilung durch Wachstum zum Ausdruck kommt, gegenüber einem auf Verminderung des Pathologischen zentrierten Begriffs von Heilung in der Psychoanalyse, und geht damit in zentraler Weise über Freud hinaus (vgl. Baulig in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 250f.).
2.2 Feldtheorie
Die von Kurt Lewin begründete Feldtheorie ist eine holistische Art und Weise, menschliche Erfahrung zu betrachten. Sie erkennt die komplexen und wechselseitigen Abhängigkeiten des Menschen von den Systemen an und hebt die Gegenwärtigkeit und Einzigartigkeit des Augenblicks hervor, was eine Prozessorientierung erfordert, die eine Welt des Fließens und des Wandels akzeptiert. Die Feldtheorie ist relativistisch und nicht dichotom1, statt dessen sind Felder miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Darüber hinaus ist jedes Feld organisiert, d. h. es entsteht aus der Konstellation aller Energien oder Einflüsse im Feld in ihrem Zusammenwirken. Für die Gestalttherapie bedeutet dies, vom linearen Denken wegzugehen und damit die vereinfachenden Überzeugungen von Ursache und Wirkung zu unterlaufen. Dadurch wird der besonderen Natur von Situation und Mensch Rechnung getragen (vgl. Parlett in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 280ff.).
2.3 Existenzialismus
Der Existenzialismus, der auf den Dänen Sören Kierkegaard (1813 - 1855), den Deutschen Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) und anderen Vertretern, wie Karl Jaspers, Martin Heidegger und Ludwig Binswanger, zurückgeht, sucht, jenseits von absoluten Werten, festen Normen, Rollen und Fassaden, den „wirklichen Menschen“ in seiner eigentlichen und „nackten“ Existenz. Der Mensch wird von „innen her“, autonom, in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit begriffen. Dabei gewinnt der existenziell gelebte und erfahrene Augenblick zentrale Bedeutung – nicht das, was der Mensch ist, sondern das, wozu er sich jeweils durch die Tat macht, ist sein Wesen. Nach Satre ist der Mensch „zur Freiheit verdammt“, er selbst oder nicht er selbst zu sein und zu werden (vgl. Kriz, 1994, 174).
Im Zentrum der existenzialistisch-humanistischen Therapien, zu denen auch die Gestalttherapie zählt, steht demnach die Vorstellung, dass es der ganze Mensch ist, der sich in einem kontinuierlichen Prozess des Werdens und des Wachsens befindet. Auch wenn Umwelt und Vererbung diesen Veränderungen gewisse Beschränkungen auferlegen, so steht uns immer frei zu wählen, was wir tun oder werden wollen. Durch die Wahl- und Entscheidungsfreiheit gelangen wir einerseits zu Autonomie, Identität und menschlicher Würde, müssen andererseits aber auch Verantwortung für unser Leben übernehmen. Da wir uns nie der gesamten Tragweite unserer Handlungen bewusst sein können, erfahren wir Angst, Schuldgefühle und Verzweiflung wenn wir feststellen, dass wir Möglichkeiten versäumt haben, unser Potential vollständig zu entfalten. Die Psychotherapien, welche die Grundsätze dieser allgemeinen Theorie über die Natur des Menschen anwenden, helfen dem Klienten2, seine eigene Freiheit zu definieren, die eigenen Erfahrungen und den Reichtum des Augenblicks zu schätzen sowie seine Individualität zu pflegen und herauszufinden, wie er sich am besten entfalten und selbst verwirklichen kann.
2.3.1 Phänomenologie
Die Phänomenologie ist als eine vorurteilsfreie Wesensschau zu verstehen, die versucht, das, was erscheint, unbefangen zu beschreiben und Typen zuzuordnen, anstatt es durch theoretische Spekulationen zu erklären. In der Psychotherapie besteht die phänomenologische Haltung darin, dem Gegenüber mit Offenheit zu begegnen und ihn in seiner Eigenart zu belassen. Ihr Anliegen ist das Ansichtigwerden des Klienten von sich selbst her. Dies vollzieht sich durch das Entstehen-Lassen und im Blick-Behalten eines intrapersonalen Feldes. Im Wechselspiel zwischen den unterschiedlich organisierten Verstehensweisen des Therapeuten und des Klienten soll ein freier Raum für Emotionen und die Artikulation des Selbstverständnisses des Klienten in seiner Situation (Existenz) geschaffen werden. Durch die „innere Stellungnahme“, in der sich das Verständnis des Klienten für seine eigene, existenzielle Alltäglichkeit entwickelt, wird die Dimension des Handelns eröffnet (vgl. Kriz et al. in: Stumm & Pritz, 2000, 512ff.).
2.3.2 Die dialogische Beziehung
Die Gestalttherapie ist in einem weiteren Zusammenhang existenziell. Als philosophische Haltung, mit ihrem Vertreter Martin Buber, wird sie „Dialogischer Existenzialismus“, als Beziehungshaltung „Ich-Du-Dialog“, „Begegnung“ oder „existenzielle Begegnung“ genannt. Nach dem Verständnis Martin Bubers kann der Mensch, das „ich“, nur in der Begegnung mit dem „du“ existieren. Aus gestalttherapeutischer Sicht ist diese spezielle Art der Beziehung für eine erfolgreiche therapeutische Arbeit erforderlich: „Ich und du“ ist, als eine besondere, wechselseitige zwischenmenschliche Begegnung, vielleicht die höchst entwickelte Form des Kontaktes. Während man sich in einer „ich-es“ Beziehung auf den anderen in Form eines Objektes bezieht und ihn der Manipulation unterwirft, gibt die „ich-du“ Haltung zu erkennen, dass die andere Person die volle Achtung besitzt und nicht etwa als Mittel irgendeines Zweckes behandelt wird. Die höchste Form des „du“ liegt in der Gegenseitigkeit, in der jeder „du“ sagt. Das „du“ wird somit zur Ergänzung, wodurch es den Menschen befähigt, sich ganz zu erleben (vgl. Yontef in: Doubrawa & Staemmler, Hrsg., 1999, 30).
2.3.3 Schöpferische Indifferenz
Salomo Friedländer stellte die Theorie auf, dass jedes Ereignis in Beziehung zu einem Nullpunkt steht, von dem aus eine Differenzierung in Gegensätze stattfindet. Diese Gegensätze zeigen in ihrem spezifischen Zusammenhang eine große Affinität zueinander. Indem der Mensch wachsam im Zentrum bleibt, kann er eine schöpferische Fähigkeit erwerben, beide Seiten eines Vorkommnisses zu sehen und jede unvollständige Hälfte zu ergänzen. Auf diese Weise lassen sich Spannungen im Leben besser aushalten und kreativ nutzen. Durch die Vermeidung einer einseitigen Anschauung gewinnt der Mensch eine tiefere Einsicht in die Struktur und Funktion des Organismus. Friedländer’s Denkkonzeption der schöpferischen Indifferenz und polaren Differenzierung wird bei F. Perls unterschiedlich ausgedrückt, er verwendet Begriffe wie Mitte, Zentrum, Nullpunkt, Nichts, Leere, Prä-Differenz, Gleichgewicht, Balance, Zentrierung, Gegensätze, Pole, Polarisieren. Die Zentrierung im Jetzt (Þ 3.4.2) ist charakteristisch für die Gestalttherapie, wobei das „Hier und Jetzt“ das Zeitzentrum darstellt, auf das die Pole Vergangenheit und Zukunft als ihre Mitte zu beziehen sind. Das Finden einer Mitte stellt das grundsätzliche Ziel der Therapie dar (vgl. Frambach in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 302)
2.4 Psychodrama
1946 hatte F. Perls in New York Gelegenheit, den rumänischen Mediziner und Philosophen Jakob Levy Moreno und dessen Psychodramainstitut kennen zu lernen. Beide waren vom Theater geprägt, betonten gleichermaßen die Bedeutung des „Hier und Jetzt“ und hatten unabhängig voneinander eine Reihe ähnlicher Konzepte entwickelt. Um die nach Friedländer’s Theorie vorhandenen Unterschiedlichkeiten und Polaritäten aufzudecken und erfahrbar zu machen, verwendete Fritz Perls Behandlungstechniken, die zu einem großen Teil dem Psychodrama entlehnt sind, wie z. B. der innere Dialog mit Hilfe des „leeren Stuhls“ (Þ 3.13.1), widersprüchliche Formen des Körperausdrucks, Identifikation mit gegensätzlichen Anteilen der Persönlichkeit, das Inszenieren gegensätzlicher Rollen und das Rollenspiel, in welchem der Klient die Rollen bestimmter Gefühle übernimmt so wie sie sich im Augenblick somatisch konkretisieren. Dialog nach Petzold (1973, 12):
T: „Was fühlen Sie jetzt im Ihrem Körper?“
K: „Ich fühle einen Kloß im Hals und kann kaum schlucken.“
T: „Gehen Sie in dieses Gefühl hinein! Werden Sie zum Kloß in Ihrem Hals!“
Lassen Sie ihn sprechen!“
K: „Ich bin der Kloß. Ich drücke dir die Kehle zu, dass nichts von dir heraus kann.“
2.5 Zen-Buddhismus
Fritz Perls reiste 1960 nach Japan und verbrachte einige Zeit in den Zen-Klöstern von Kyoto, wo er die Bedeutung der Bewusstheit/des Gewahrseins (Awareness) im Jetzt noch intensiver erleben konnte. Zen übte eine immer stärkere Faszination auf ihn aus, er war begeistert von der Weisheit, den Möglichkeiten und der Freiheit von moralischen Wertungen, die im Zen erfahrbar werden. In seinen Bemühungen ging es F. Perls darum, eine praktikable Methode zu schaffen, welche die Menschen der westlichen Welt in die Lage versetzt, die eigenen Bewusstseinsgrenzen zu überschreiten, um auf diese Weise zu neuen, wertvollen Erfahrungen zu gelangen.
2.6 Gestaltpsychologie
Die Gestaltpsychologie, die bekannt wurde durch die von ihr entwickelten optischen Täuschungen und Kippfiguren, beruht auf der Grundannahme, dass Fakten, Sinneswahrnehmungen, Verhaltensweisen und Phänomene erst durch die Art und Weise ihrer Organisation, nicht schon durch ihre einzelnen Bestandteile definiert werden und ihre eigenständige und besondere Bedeutung erlangen. Als bekannte Vertreter der Gestaltpsychologie gelten M. Wertheimer (1880 - 1943), W. Köhler (1887 - 1967), K. Lewin (1890 - 1947), K. Koffka (1886 - 1941) und W. Metzger (geb. 1899). Sie arbeiteten auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie und bewiesen, dass der Mensch die Gegenstände nicht als unzusammenhängende Bruchstücke wahrnimmt, sondern im Wahrnehmungsprozess zu einem sinnvollen Ganzen organisiert, sofern Interesse vorhanden ist. Fehlt jedoch das Interesse, wird beispielsweise ein mit Menschen gefülltes Zugabteil von dem, der es betritt, nicht mehr sinnvoll organisiert, sondern lediglich als eine Anhäufung unzusammenhängender Objekte wahrgenommen. Aus der gestaltpsychologischen Schule ist eine große Anzahl von Gestaltgesetzen oder -prinzipien entwickelt worden, wovon Fritz Perls einige in seiner Persönlichkeitstheorie und zur Erklärung therapeutischer Prozesse herangezogen hat, wie das Prinzip der „Ganzheitlichkeit“, das Prinzip von „Figur und Grund“ und der „guten Gestalt“ (Þ 3.3).
3. Das Therapiekonzept
3.1 Zum Begriff „Gestalt“
In der Gestaltpsychologie versteht man unter „Gestalt“ etwas Ganzes, eine Einheit und Geschlossenheit, eine Form oder Konfiguration. In der Gestalttherapie wird mit dem Begriff darüber hinaus eine weitere, wenn nicht die wesentliche Qualität von Erfahrung ausgedrückt: das Prozesshafte und Dynamische. Demnach wird im Gestaltansatz „Gestalt“ als „dynamische Einheit“ oder „sich kreativ wandelnde Form“ bezeichnet. Bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hat der österreichische Philosoph Christian von Ehrenfels behauptet, dass nicht nur Wahrnehmungsphänomene, sondern Bewusstheitsphänomene im Allgemeinen als Ganzheiten, als Gestalten, auftreten und dynamisch sind, wie z. B. eine Reihe von Tönen, die im Hörerlebnis zur Gestalt einer Melodie werden (vgl. Gremmler-Fuhr in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 346f.). So ist auch eine zwischenmenschliche Beziehung mehr als nur eine Kette von Begegnungen, ein Roman etwas anderes als nur eine beliebige Aneinanderreihung beschriebener Seiten und das Leben mehr als eine bloße Vielzahl verschiedener Situationen. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, deren Hauptinteresse dem Analysieren, also dem Zerlegen eines Stoffes in seine (kleinsten) Teile gilt. Gestalthaftes, ganzheitliches Denken zeichnet sich durch die Bezogenheit der Teile zueinander aus und führt damit weg vom Quantitativen hin zum Qualitativen.
3.2 Zielsetzung
Die Intention der Gestalttherapie ist, „aus Papiermenschen wirkliche Menschen zu machen. (...) Es ist die Idee, den ganzen Menschen unserer Zeit zum Leben zu erwecken und ihn zu lehren, wie er seine inneren Kräfte nutzen kann, um ein Führer zu sein, ohne ein Rebell zu werden, eine Mitte zu haben und nicht Hals über Kopf zu leben.“ (Perls, 1973, 141) Da das Individuum in unserer heutigen, hedonistischen Gesellschaft eine krankhafte Angst vor Schmerz und Leid hat, versucht es alles, was unangenehm ist, zu vermeiden. Das Resultat ist ein Mangel an Wachstum.
Im Gegensatz zum lösungsorientierten Beratungsgespräch befasst sich die Psychotherapie mit innerpsychischen Störungen. Die Gestalttherapie orientiert sich als humanistisches Psychotherapieverfahren an der Vorstellung vom gesunden Menschen, der sich durch Selbstverantwortlichkeit und Entwicklungsfähigkeit auszeichnet. Sie ermöglicht dem Klienten zu wachsen, indem sie ihn befähigt, sich seiner Bedürfnisse bewusst zu werden. Wachstum ist jedoch ein Prozess, der Zeit braucht. Der Klient lernt, sich auf seine Bewusstheit zu konzentrieren und nimmt dadurch wahr, was ist und nicht, was sein könnte oder gewesen sein sollte. Auf diese Weise beginnt er, sich selbst zu vertrauen. Durch Bewusstheit können entstandene Abspaltungen, die sich in Unstimmigkeiten und Widersprüchen, Brüchen, unabgeschlossenen Situationen, Selbstbehinderungen, unterdrückten Gefühlen usw. zeigen, wieder integriert werden. Erst wenn der Klient anfängt, sich mit seinen Vermeidungen auseinander zu setzen, kann er die „offenen Gestalten“ schließen, die ihn in seiner Entwicklung blockieren, und zu einer ganzen Persönlichkeit heranreifen.
3.3 Gestaltprinzipien und die Bedeutung der Wahrnehmung
Da es von F. Perls keine systematische Auflistung der von ihm angewendeten Gestaltgesetze gibt, und die der Gestalttherapie zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten in der Fachliteratur unterschiedlich erwähnt werden, habe ich mich bei der folgenden Darstellung auf jene Gestaltprinzipien konzentriert, die mir am bedeutendsten erschienen:
3.3.1 Die holistische Doktrin
Entsprechend dem Prinzip der Ganzheitlichkeit wird der menschliche Organismus als eine Körper-Geist-Seele-Einheit aufgefasst, die nach Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung strebt und ihrerseits mit ihrer Umwelt eine Einheit bildet. Da der Mensch immer mit seiner Umwelt interagiert, sie verändert und durch sie verändert wird, muss sein Lebensraum in der gestalttherapeutischen Arbeit mit einbezogen werden. Auch kann eine der drei Ebenen nie unabhängig von den anderen Ebenen betrachtet werden. Klagt ein Klient beispielsweise darüber, dass er in der Arbeit sehr gestresst ist, möchte der Therapeut wissen, wie der Stress körperlich erlebt wird, beispielsweise durch Atembeschwerden oder Herzrasen, und wie der Klient mit seinem Körper umgeht, ob er z. B. Beruhigungsmittel nimmt oder wie sein Ernährungs- oder Bewegungsverhalten aussieht. Bei der Frage nach den seelisch/psychischen Aspekten geht es darum, ob der Klient Aufregung, Ängste, Wut, Ärger oder Verzweiflung usw. verspürt. Lässt er die Gefühle zu oder unterdrückt er sie und bewegen sie ihn, etwas zu verändern? Auch wird sich der Therapeut die Umwelt des Klienten schildern lassen. Wie sehen etwa die Konditionen am Arbeitsplatz aus, gibt es Unterstützung durch Familie oder Freunde? Auf diese Weise wird der Ganzheitlichkeit in der gestalttherapeutischen Arbeit Rechnung getragen.
3.3.2 Figur und Grund
Das Prinzip von „Figur und Grund“ dient in der Gestalttherapie zur Beschreibung von Erfahrungsprozessen. Das wichtigste Instrument ist dabei die Wahrnehmung. Sie ist so angelegt, dass immer nur das jeweils Wichtige als Figur in den Vordergrund rückt, während das Unwichtige in den (Hinter)grund tritt. Figur und Grund können sich, je nach unserer Motivation bzw. unseren Bedürfnissen, abwechseln. Lesen wir beispielsweise ein Buch, fesselt uns dessen spannender Inhalt so sehr, dass alles andere, wie das Schreien der Kinder auf der Straße oder das Zuschlagen einer Autotür, in den Hintergrund rückt und wir die Geräusche nur sehr leise oder gar nicht mehr wahrnehmen. Bekommen wir jedoch Hunger, wird das Buch, das vorher als Figur im Vordergrund stand, den Grund bilden und der gefüllte Kühlschrank die Figur darstellen. In den Prozess von „Figur und Grund“ muss in der Therapie allerdings nur dann eingegriffen werden, wenn er nicht mehr so abläuft, dass der Mensch zufrieden ist. Ist er beispielsweise derart auf das Buch fixiert, dass er vergisst zu essen und es ihm deshalb schlecht geht, muss er lernen, seine Bedürfnisse besser wahrzunehmen. In der therapeutischen Arbeit wird deshalb grundsätzlich mit dem gearbeitet, was im Vordergrund steht, so dass der gesamte Prozess danach strukturiert und geleitet wird. Durch die gestalttherapeutischen Konzepte „Bewusstheit“ (Þ 3.4.1) und das „Jetzt-Prinzip“ (Þ 3.4.2) wird das Individuum befähigt, zu erkennen, was die Figur bildet bzw. woran es gerade arbeiten muss (Abbildung 1: nach Zinker, 1982, 98).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Veranschaulichung des Prinzips von Figur und Grund: Vase oder Gesichter?
3.3.3 Die Tendenz zur Bildung guter Gestalten
Der Mensch neigt dazu, möglichst einfache Figuren, die sich durch Symmetrie und Regelmäßigkeit auszeichnen, wahrzunehmen. „Die Tatsache, dass die Gestalttherapie eine Tendenz zur Bildung guter Gestalten postuliert, bedeutet nicht, dass die Gestalttherapie davon ausgeht, jeder Mensch sei zu jeder Zeit in der Lage, sich entsprechend dieser Tendenz zu verhalten oder zu entwickeln. Wenn die Tendenz zur Bildung guter Gestalten ohne jede Störung abläuft, so ist das optimal. Die Gestalttherapie sieht ihre wesentliche Aufgabe gerade darin, einen derartigen Ablauf zu ermöglichen bzw. darauf aufmerksam zu machen, wenn dieser gestört ist.“ (Rahm, 1986, 166/Abbildung 2: nach Zimbardo & Gerrig, 1999, 133).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Veranschaulichung des Prinzips der guten Gestalt: a Stimulus: „schlechte Gestalt“, b Wahrnehmung: zwei “gute Gestalten”
Unter den Gesetzen zur Bildung guter Gestalten sind meiner Meinung nach besonders wichtig:
3.3.3.1 Die Tendenz zur Geschlossenheit
Ein weiteres Charakteristikum der Wahrnehmung ist die Neigung des Individuums, Gestalten zu vervollständigen. Eine Figur wird als vollständiges, abgegrenztes Bild wahrgenommen. Fehlen notwendige Details, werden sie vom Betrachter ergänzt. So wird beispielsweise eine Linie, die aus einzelnen Punkten besteht, als Kreis gesehen (Abbildung 3: nach Polster, 42, 2003).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Kreislinie aus Punkten
Der Drang nach Vervollständigung empirischer Einheiten ist mehr als nur ein Wahrnehmungsreflex. Er ist auch ein sehr starker persönlicher Reflex, der häufig durch die sozialen Lebensumstände vereitelt wird, welche die Menschen daran hindern, ihren Neigungen und Interessen konsequent nachzugehen. Diese unvollendeten Handlungen, wie die Bezahlung einer Rechnung, die man ewig vor sich herschiebt, ein nicht beigelegter Streit mit einem Arbeitskollegen oder das Sterben eines Freundes, das man noch nicht verkraftet hat, werden in den Hintergrund gedrängt, wo sie ein unbehagliches Gefühl verursachen und das Individuum im allgemeinen von den Aufgaben ablenken, mit denen es gerade beschäftigt ist. Die nicht abgeschlossenen Handlungen können darüber hinaus zu somatischen Störungen führen. Dazu ein Beispiel aus einer therapeutischen Sitzung:
„Peggy erkannte, (...) dass sie nie wieder auf dem Schoß ihres Vaters gesessen hatte, nachdem sie als kleines Kind von ihrer von ihrer Mutter deswegen beschimpft worden war. Sie hatte sich eine distanzierte Haltung angewöhnt und sich (...) sogar einen Ehemann ausgesucht, der keine physische Nähe wollte. Peggy erreichte diese Anpassung auf vielerlei Weise, beispielsweise durch die muskuläre Blockierung ihrer Gefühle der Wärme – eine physiologische Abwehr – und durch die Überzeugung, eine nähere Beziehung könnte nur Ärger verursachen – eine ideologische Methode. Der Drang nach Vollendung jener so früh unterbrochenen Handlung (...) ist jedoch eine Kraft, über die sie immer sehr aufmerksam wachen muss. Die Gestaltpsychologen vertreten die Ansicht, dass Peggy so lange unbefriedigt bleiben wird, bis sie die Gelegenheit (...) erhält, diesem Drang nachzugehen und ihn tatsächlich zur Vollendung kommen zu lassen. Doch dazu ist sie noch nicht bereit, so dass es vorläufig wohl ein zentrales Problem bleiben wird bei ihrer Entwicklung von dem Kind, das durch die Neurosen seiner Eltern eingeschüchtert wurde. Wenn Peggy endlich der Faszination, einem Mann nahe zu kommen, nachgeben kann, wird ihr Bedürfnis deutlich und zwingend, und sie wird zu einer erwachsenen Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse kennt und auch auslebt.“ (Polster, 2003, 42f.)
3.3.3.2 Das Prägnanzprinzip
Das Prägnanzprinzip besagt, dass Reize oder Reizkonfigurationen so wahrgenommen werden, als ob sie nach möglichst einfachen Organisationsprinzipien aufgebaut wären, was bedeutet, dass die Tendenz besteht, unvollkommene, schlechte Gestalten als vollkommene, gute Gestalten wahrzunehmen und nicht-prägnantes Material so zu verändern, dass es prägnant wird.
3.3.3.3 Das Kontinuitätsprinzip
Einzelelemente werden als zusammengehörig angesehen, wenn sie die Fortsetzung der vorangegangenen Reize zu sein scheinen. So werden gute Gestalten, beispielsweise gleichförmige Wellenlinien, als kontinuierlich wahrgenommen und tendieren auch dazu, sich kontinuierlich fortzusetzen.
3.3.3.4 Das Homöostaseprinzip
Unter einem homöostatischen Prozess versteht man einen Prozess der Selbstregulierung, bei dem der Organismus ein (Fließ-) Gleichgewicht herstellt und damit seine Gesundheit unter wechselnden Bedingungen aufrecht erhält. Durch den homöostatischen Prozess kann der Organismus seine zahlreichen Bedürfnisse befriedigen. Da jedes Bedürfnis das Gleichgewicht stört, läuft der Prozess ständig ab. So muss der Organismus z. B. das Wasser im Blut auf einem bestimmten Niveau halten, um gesund zu bleiben. Sinkt der Wassergehalt unter dieses Niveau, sind Schweiß, Speichelfluss und Harnabsonderung verringert, und das Gewebe gibt etwas von seinem Wasser an das Blut ab. Sinkt der Wassergehalt des Blutes allerdings zu tief, ist der Mensch durstig und trinkt, um das nötige Gleichgewicht zu wahren. Wird der Wassergehalt des Blutes zu hoch, wirken diese Aktivitäten umgekehrt. Wenn der Selbstregulierungsprozess allerdings teilweise versagt, und der Organismus zu lange in einem Zustand des Ungleichgewichts bleibt und seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann, wird er krank. Beim vollständigen Versagen des Homöostaseprozesses stirbt der Organismus.
Neben den physiologischen Bedürfnissen gibt es auch eine Vielzahl an sozialen und psychologischen Bedürfnissen. Der physiologische, homöostatische Prozess darf allerdings nicht getrennt vom psychologischen Prozess betrachtet werden, da der eine Elemente des anderen enthält. Entstehen mehrere Bedürfnisse gleichzeitig, stellt der gesunde Organismus eine Hierarchie auf. Er widmet sich zuerst dem lebenswichtigen vorherrschenden Bedürfnis, ehe er sich mit den anderen Bedürfnissen befasst. Das Bedürfnis, das am stärksten auf Befriedigung drängt, bildet demzufolge die Figur, alle weiteren Bedürfnisse treten in den Hintergrund. Damit der Mensch seine Bedürfnisse befriedigen, die Gestalt schließen und sich neuen Tätigkeiten zuwenden kann, muss er in der Lage sein, wahrzunehmen, was er braucht und wissen, wie er sich selbst und seine Umgebung im Sinne seiner Zielsetzung manipulieren kann, da auch die rein physiologischen Bedürfnisse nur in der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt befriedigt werden können (vgl. Perls, 1982, 22ff.).
Die Gestaltprinzipien verdeutlichen, dass die Wahrnehmung, die immer eine enge Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umgebung herstellt, in der Gestalttherapie eine zentrale Rolle spielt. Der Mensch nimmt seine eigene Befindlichkeit und die seiner Umgebung wahr. Die Wahrnehmung ist dabei allerdings nicht wertfrei, sondern immer mit Gefühlen verbunden. So werden viele Gerüche, Farben oder Formen als angenehm oder unangenehm empfunden, sind mit guten und schlechten Erinnerungen verknüpft. In der Gestalttherapie wird darum mit dem eigenen Erleben gearbeitet. Indem der Mensch seine Wahrnehmung schärft, erlebt er sich und seine Umwelt, wodurch eine Veränderung zustande kommt, denn nicht das Verstehen aufgrund von Erklärungen, sondern das Erleben durch Wahrnehmung heilt.
3.4. Zentrale Konzepte der Gestalttherapie
Ich stelle die beiden zentralen Konzepte „Bewusstheit“ und das „Jetzt-Prinzip“ bereits an dieser Stelle dar, weil sie meiner Ansicht nach für das Gesamtverständnis der gestalttherapeutischen Arbeit relevant sind.
3.4.1 Bewusstheit (Awareness)
Unter Bewusstheit versteht man einen Zustand, der sich von anderen Stadien des Bewusstseins, z. B. Wachsein, Dämmer, Traum, Abwesenheit (im Gedanken in der Vergangenheit oder Zukunft verweilen) unterscheidet. „Es handelt sich um einen Zustand aufmerksamer Wachheit gegenüber den Dingen, die im jeweiligen Augenblick hier und jetzt in mir und um mich herum vorgehen. Gegenüber dieser gespannten Wachheit ist das Wachsein, in dem wir gewöhnlich leben, getrübt, gedämpft und in seiner Wahrnehmungskapazität eingeschränkt.“ (Stevens 1972, zit. n. Petzold, 1973, 22) Bewusstheit kann per se schon heilend sein. Sie ist ein Instrument mit dem das Individuum wählen kann. Je größer die Bewusstheit ist, desto mehr Wahlmöglichkeiten hat man. Verfügt man über mehr Wissen, kann man möglicherweise auch eine andere Wahl treffen und somit die Fremdsteuerung durch die Umwelt reduzieren oder sogar verhindern. Zudem ist sie ein totales Erlebnis, in das der Mensch in seiner Ganzheit, d. h. in seinen psycho-physischen Gestalten, einbezogen ist. Das bewusste Erleben des Organismus und der sich in ihm vollziehenden Vorgänge führt zum Erleben der Unausgewogenheiten und zur Auseinandersetzung mit ihnen, wobei diese Auseinandersetzung die Funktion des Organismus selbst in seinem Streben nach Gleichgewicht und Ausgewogenheit ist. Es lassen sich drei Ebenen von Bewusstheit unterscheiden:
3.4.1.1 Interne Awareness
Interne Awareness bedeutet Selbstbewusstheit bzw. Selbstwahrnehmung. In einer Gruppenarbeit wurden die Teilnehmer beispielsweise aufgefordert, dem Therapeuten mitzuteilen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Die meisten antworteten mit Ereignissen aus der Vergangenheit oder Zukunft wie: „Mir ist eingefallen, dass ich morgen einen wichtigen Termin habe.“ oder „Ich habe mich etwas gelangweilt – „Ich frage mich, wie es morgen weiter gehen wird.“ Die Gruppenteilnehmer wurden deshalb gebeten, Sätze zu formulieren, die mit: „Ich erlebe jetzt gerade, dass ...“ oder „Ich fühle jetzt gerade, dass ...“, beginnen. Diese Übung dient der Erfahrung der Selbstwahrnehmung (vgl. Petzold, 1973, 23ff.).
3.4.1.2 Externe Awareness
Unter externer Awareness versteht man die Wahrnehmung des anderen und der Umwelt. Die Teilnehmer wurden weiterhin aufgefordert, mit ihrer Umwelt bewusst Kontakt aufzunehmen. Sie sollten dem Therapeuten mitteilen, wie sie z. B. den Stuhl auf dem sie sitzen empfinden, den Raum, in dem sie sich bewegen, erleben, wie das Bild an der Wand oder die Blume auf der Fensterbank auf sie wirkt. Um die Übung zu intensivieren, sollten die Teilnehmer anschließend versuchen, sich in die Gegenstände hineinzuversetzen und einen Augenblick zum Stuhl, zum Raum oder zur Blume werden. Der Einfluss der Umwelt auf die innere Befindlichkeit ist zentral, weil der Organismus permanent mit ihr in Kontakt steht. Durch die Sensibilisierung der Wahrnehmung für die Umwelt und deren Einflüsse können z. B. Faktoren für Spannungen, schlechte Laune aber auch Wohlbefinden erschlossen werden. Anschließend wurde die Gruppe aufgefordert, Paare zu bilden und einige Minuten über ihre augenblickliche, bewusste Wahrnehmung zu sprechen. Sie sollten dem Therapeuten mitteilen , wie sie sich jetzt gerade fühlen, wie sie ihren Partner im Augenblick erleben, wie sie sitzen, reden, sich bewegen usw. und dabei immer mit Ich und Du sprechen, d. h. zu formulieren, ich erlebe dich so oder so. In dieser Übung kommen drei wichtige Prinzipien der Gestalttherapie zum Tragen.
Das Jetzt-Prinzip
Alles Geschehen ist gegenwärtiges Geschehen. Bewusstheit oder bewusste Wahrnehmungen können nur im Jetzt stattfinden.
Das Wie-Prinzip
Um mit dem Jetzt in Verbindung zu treten, ist es nicht von Bedeutung zu wissen, was man tut oder warum etwas geschieht, sondern wahrzunehmen, wie es geschieht.
Das Ich und Du-Prinzip
Kommunikation von Person zu Person kann sich nur in der Gegenwärtigkeit des Jetzt real vollziehen. Dabei muss ich die Realität meines Gegenüber mit seiner ganzen Gestalt bewusst wahrnehmen und auf sein Du gerichtet sein. Mein Ich muss zu seinem Ich, dem Du, in Beziehung treten, ohne dass Übertragungsmechanismen (Þ 3.14.1) die wirkliche Gestalt des anderen verändern. In der direkten Kommunikation ist die Körpersprache des Gesprächspartners bedeutsamer als Inhalt des Gesagten. Der Therapeut muss auf Mimik, Gestik, Körperhaltung oder den Tonfall seines Gegenüber achten, um zu erfahren, was ihm der Klient wirklich mitteilen will.
3.4.1.3 Mediative Awareness
Meditative Awareness umfasst den Bereich der Vorstellungen und Fantasien sowie der Abwehrmechanismen, z. B. der Projektionen, welche die Vermeidung des Kontaktes mit der Wirklichkeit unterstützen und führt somit zu einer Reduzierung von interner und externer Awareness.
Bewusstheit kann als zentrales Konzept der Gestalttherapie verstanden werden. Alle verwendeten Methoden oder Techniken zielen letztlich darauf ab, dieses Konzept zu verwirklichen und dabei den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit und innerhalb seines situativen Kontextes zu betrachten. Es gibt allgemeine Gestalt-Übungen, wie das „Bewusstheitskontinuum“, die gezielt zum Awareness-Training eingesetzt werden.
3.4.1.4 Das Bewusstheitskontinuum
Bei dieser Übung wird der Klient angeleitet, immer in Kontakt mit seiner augenblicklichen Befindlichkeit zu bleiben, sich also seiner selbst bewusst zu sein, indem er die Wahrnehmung aller Sinne sowie Gefühle und Gedanken aufmerksam beachtet (Dialog vgl. Rahm, 1986, 169):
T: „Sie hören mitten im Satz auf und schlucken. Was geht jetzt gerade in Ihnen
vor?“
T: „Spüren Sie, wie Sie ihre Schultern hochziehen? Halten Sie da ganz fest. Wie
fühlt sich das an?“
K: Schaut auf die Uhr.
T: „Sie sehen zur Uhr. Was bedeutet das jetzt für Sie?“
Der Klient soll spüren, was im Augenblick in ihm vorgeht. Dies ist oft schwierig, da das Individuum dazu neigt, sich in der Vergangenheit oder Zukunft aufzuhalten. Vergangenheits- und Zukunftsorientiertheit gehören in der gestalttherapeutischen Interaktion zu den wesentlichsten Widerstandsphänomenen.
3.4.2 Das Jetzt-Prinzip
Das Jetzt-Prinzip kann nicht unabhängig vom Konzept der Bewusstheit betrachtet werden, da sich Bewusstheit nur im Jetzt manifestieren kann und sich auf reale Fakten, Verhalten und Umwelt stützt. Die Betonung des Jetzt bedeutet aber nicht, dass die Gestalttherapie Vergangenheit und Zukunft negiert. In der therapeutischen Arbeit erscheinen immer wieder offene Gestalten, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben aber in der Gegenwart wirksam sind. „Wenn sich ein Patient zum Beispiel an ein vergangenes Erlebnis erinnert und bei dem Bericht, wie er von seinem Vater geschlagen wurde, eine verkrampfte Haltung annimmt und wenn er diesen Vorfall hauptsächlich als vergangenes Erlebnis behandelt, dann befindet er sich nur zu einem sehr kleinen Teil in der Gegenwart. Würde ihm seine verkrampfte Haltung bewusst, dann wäre sein gegenwärtiges Erlebnis wesentlich intensiver. Wenn er dann auch noch zuließe, dass seine passive Verkrampfung sich in eine lebendige Spannung verwandelte, dann könnte er diese Geschichte möglicherweise mit der Wut berichten, die seiner Spannung innewohnt. Die Spannung (...) überträgt sich in die Gegenwart, indem sie sich entweder verbal oder durch Weinen, Schreien, Schlagen, Schimpfen und andere ausdrucksstarke Handlungen äußert. Was früher zurückgedrängt, in die Vergangenheit eingeschlossen worden war, wird jetzt durch gegenwärtig vorhandene motorische und sensorische Realitäten wiedergeboren. Der Prozess wird durch Erkennung, Verstärkung und Konzentration fortgesetzt, bis die motorische Entladung – die nur in der Gegenwart möglich ist – den Menschen vom Zwang befreit, in der toten Vergangenheit zu leben.“ (Polster, 2003, 21f.) Die Bedeutung von Vergangenheit und Zukunft wird somit in der Gestalttherapie berücksichtigt, allerdings wird bloßes Darüberreden durch Erleben und Erfahren in der Gegenwart ersetzt. Das folgende Beispiel zeigt, wie ein Klient dazu angehalten werden kann, im „Hier und Jetzt“ zu bleiben (Dialog vgl. Rahm, 1986, 170):
K: (spricht über einen Streit, den er vorige Woche mit einer Bekannten hatte).
T: „Stellen Sie sich vor, das sei gerade eben. Sprechen Sie in der Gegenwart
darüber! ... Wo sind Sie gerade?“
K: „In ihrer Küche.“
T: „Beschreiben Sie, wie es da aussieht.“
K: (beschreibt kurz und fährt fort:) „Sie war gerade dabei, Kartoffeln zu schälen.“
T: „Sie schält gerade Kartoffeln.“
K: „Ja, und ich komme mir überflüssig vor.“
3.5 Kontakt und Kontaktgrenze
Kein Mensch kann für sich selbst existieren. Das Individuum ist in jedem Augenblick Teil eines Feldes, das es und seine Umwelt einschließt. Kontakt entsteht an der Grenze des Organismus und seiner Umwelt, zuerst an der Hautoberfläche und den anderen Organen der Sinneswahrnehmung sowie der motorischen Reaktionen, also in dem Moment, wo ich einen anderen Menschen berühre, mit ihm spreche, ihn ansehe oder mich etwas vorbeuge, um ihn besser verstehen zu können usw. An dieser Grenze finden psychische Ereignisse statt. Unsere Gedanken, Emotionen, Handlungen und unser Verhalten sind unsere Art und Weise, die Grenzvorfälle zu erleben und zu verarbeiten. An der Kontaktgrenze, an der ein Austausch zwischen Organismus und Umwelt stattfindet, ereignet sich somit auch Erfahrung. Erfahrung ist die Funktion dieser Grenze, die jedoch nicht trennend zwischen Organismus und Umwelt steht, sondern ihn vielmehr begrenzt, schützt und gleichzeitig die Umwelt berührt. Damit ist die Kontaktgrenze, z. B. die fühlende Haut, nicht nur ein Teil des Organismus, sondern vielmehr das Organ einer besonderen, wechselseitigen Beziehung von Organismus und Umwelt, die sich primär als Wachstum darstellt.
Will der Organismus seine Bedürfnisse befriedigen, muss er das Gewünschte in der Umwelt finden. So wird beispielsweise ein hungriges Baby so lange schreien, bis die Mutter ihm die notwendige Nahrung verabreicht hat. Der Organismus überlebt dadurch, dass er Neues, wie die Nahrung, in das Feld, in dem er lebt, einbezieht, verdaut und anpasst. Nicht Assimilierbares, wie zu heiße Milch, die den Säugling beim Trinken verbrennen würde, weist der Organismus zurück. Es werden Gefahren abgewehrt oder Hindernisse überwunden und ausgewählt, was als assimilierbar erscheint. Kontakt ist demzufolge die aggressive Bewegung hin zu dem, was als anpassbar wahrgenommen wird oder die aggressive Abwehr dessen, was sich als unassimilierbar herausstellt, wobei „Aggression“ in der Gestalttherapie als positiver Begriff für die Fähigkeit steht, die Umwelt an sich selbst anzupassen. Erst die Unterdrückung der Aggressivität führt zu individueller Destruktivität und ungerichteter, ziellos gewordener negativer Aggression. Die Grenzlinie, an der Kontakt geschlossen werden kann, ist somit auch ein „durchlässiger, pulsierender Ort der Energie.“ (Polster, 2003, 109)
3.6 Das Kontaktmodell
Der Prozess des Kontaktes, der den Vorgang der Figur-Hintergrund-Auflösung oder Gestaltbildung beschreibt, kann idealtypisch als Zyklus mit verschieden Phasen verstanden werden. Das Modell3, das in Form einer Gestaltwelle dargestellt wird, veranschaulicht den „gesunden“ Ablauf, der zur Befriedigung eines Bedürfnisses führt.
3.6.1 Vorkontakt
Im Organismus-Umweltfeld nehmen wir Unterschiede wahr, die Bedürfnisse auslösen oder latent vorhandene Bedürfnisse lassen uns Unterschiede bewusst werden. Die Empfindungen und Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Schmerz, Sehnsucht usw. sind zunächst diffus, sie äußern sich in Unruhe, Unwohlsein, unbestimmte Erregung usw., die dazu dient, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bei diesem Vorgang spielen das körperliche Empfinden, wage Fantasien und Gedanken aber auch unartikulierte Gefühle oder unerledigte Situationen aus der Vergangenheit eine wichtige Rolle (Es-Funktion des Selbst4 ). Dieses Stadium wird Vorkontakt genannt, weil ein konkreter Kontakt noch nicht besteht.
3.6.2 Kontaktnehmen
Diese Phase wird in zwei Stadien unterteilt. Im ersten Stadium werden verschiedene Fantasieobjekte, Möglichkeiten oder Suchbilder deutlich, die das entstandene Bedürfnis befriedigen oder mildern können. Dies geschieht auf dem Hintergrund der zunehmenden Sinneserregung. Der Organismus erlebt sich jetzt als vom Umweltfeld differenziert und nimmt Kontakt mit möglichen Objekten in seiner Umwelt auf. Im zweiten Stadium wählt der Organismus aufgrund dieser Vorstellungen eine Möglichkeit aus bzw. verwirft andere Möglichkeiten, um das Bedürfnis zu befriedigen und geht Hindernisse an. Dabei spielt die Aggression, im ursprünglichen Sinn des aktiven Zugehens auf die Umwelt, eine wichtige Rolle. Die gewählte Möglichkeit wird zu einer Figur vor einem Hintergrund. Bei diesen Vorgängen kommt dem absichtlichen Wollen und der Abgrenzung des Organismus gegenüber der Umwelt, der Ich-Funktion des Selbst, eine besondere Bedeutung zu (vgl. Gremmler-Fuhr in: Fuhr et. al., Hrsg., 2001, 361f.).
3.6.3 Kontaktvollzug
Organismus und Umwelt treten in vollen Kontakt miteinander. Die Figur füllt fast die gesamte Bewusstheit des Organismus aus, der Hintergrund verblasst. Zwischen Organismus und Umwelt findet ein intensiver Austausch statt. Die Kontaktgrenze wird durchlässig oder verschwindet für Augenblicke vollständig. In dieser Phase wird die Ich-Funktion des absichtlichen Wollens und der Abgrenzung aufgegeben und weicht der Spontanität und Hingabe des Selbst.
3.6.4 Nachkontakt
Wenn das Bedürfnis erfüllt ist, kehrt Befriedigung ein. Die Kontakterfahrung wird verarbeitet und in das Selbst integriert (Persönlichkeitsfunktion). Die Welle ist damit abgeschlossen und eine Gestalt entstanden. Die Erregung sinkt zurück auf den Nullpunkt, der Organismus ist bereit für die nächste Gestaltwelle (Abbildung: 4 nach Gremmler-Fuhr in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 362).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Phasen des Kontaktzyklus
3.7 Anwendung des Phasenmodells
Bei genaueren Beobachtungen des Kontaktprozesses, z. B. in der Meditation oder in verlangsamten therapeutischen Prozessen, wird jedoch deutlich, dass der Ablauf nicht immer zyklisch verläuft, sondern diskontinuierlich ist. Zwischen den einzelnen Phasen treten Lücken auf, die als Engpass (Impasse) oder Leere erlebt werden können, und von Fritz Perls auch als „fertile void“ (fruchtbare Leere) bezeichnet werden. Es können dadurch automatisch ablaufende Verhaltens- und Einstellungsmuster unterbrochen werden, was bewusste Neuentscheidungen ermöglicht. Das Phasenmodell kommt in verschiedenen Bereichen zur Anwendung (vgl. Gremmler-Fuhr in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 364f.).
3.7.1 Reflexionshilfe
Wenn es in therapeutischen, beraterischen oder pädagogischen Situationen darum geht, Schwierigkeiten oder Konflikte zu verstehen, kann das Kontaktmodell in einer gemeinsamen Reflexion zur Aufklärung und zum Verständnis der erlebten Situation beitragen. Die gerade abgeschlossenen Kontaktprozesse werden noch einmal nachvollzogen, das jeweilige Erleben in jeder Phase bewusst gemacht und auf seine Bedeutung und situative Angemessenheit hin überprüft.
3.7.2 Planungsinstrument für Lehr- und Lernsituationen
Der als natürlich empfundene Phasenablauf kann als Orientierung für die Planung und Gestaltung von Lehr-/Lernsituationen dienen, indem beispielsweise die Möglichkeiten des Vorkontaktes, des Kontaktnehmens oder des Nachkontaktes in einem Gespräch oder einer Gruppe bewusst eingesetzt werden. Ob und wie sich die einzelnen Phasen im Erleben der Beteiligten realisieren, ist jedoch nicht voraussehbar.
3.7.3 Struktur für die Entwicklung von Konzepten
Das Phasenmodell kann weiterhin zur Darstellung eines speziellen therapeutischen Ansatzes, eines Behandlungsansatzes bei bestimmten Krankheitsbildern oder für die gestalttherapeutische Arbeit in bestimmten Kontexten wie Pädagogik, Beratung, Organisationsentwicklung oder körperorientierter Gestalttherapie dienen.
3.8 Kontaktstörungen
Die Widerstände, die das Individuum einsetzt, um die in der Interaktion entstehenden Kontakte und die damit verbundenen Konflikte abzuwehren, werden in der Gestalttherapie auch als Kontaktunterbrechungen oder -störungen bezeichnet, wobei der Begriff Kontaktstörung nicht im psychiatrischen Sinn, als Störung der Persönlichkeit, zu verstehen ist. Es lassen sich vier Formen von Kontaktstörungen feststellen:
3.8.1 Introjektion
Introjektion bezeichnet die unverdaute, unassimilierte Aufnahme von Dingen, die das Individuum als Ganzes schluckt, ohne sie anzupassen oder zu integrieren. Introjekte können unzerkaute Lebensmittel ebenso wie unverstandene, uneinsehbare Verhaltensnormen oder unkritisch übernommene Werte sein. Dieser Vorgang wird Kontaktstörung genannt, weil der Mensch, der etwas introjiziert, das Introjekt so wenig wie möglich berührt. Er schluckt es schnell hinunter, um keinen Kontakt mit ihm zu haben. Was er unzerkaut hinunterschluckt, was er unkritisch annimmt, ist ein Fremdkörper, der sich in ihm ausbreitet. Es ist kein Teil von ihm, sondern immer noch ein Teil der Umwelt, das dem Individuum schwer im Magen liegt, nur mit großer Mühe zu verdauen ist und es schließlich krank macht. Auch die psychische Nahrung muss deshalb, genau wie die physische Nahrung, zerstört, analysiert, vereinnahmt und dann in die Form gegossen werden, die für uns am wertvollsten ist. Je mehr Introjekte sich ein Mensch einverleibt, desto weniger Raum bleibt ihm, sich selbst zu entdecken und seine Persönlichkeit sowie die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, zu entwickeln. Nach Polster (2001, 84f.) besteht die primäre Aufgabe bei der Aufhebung der Introjektion deshalb darin, dem Menschen ein Gefühl für seine Wahlmöglichkeiten zu vermitteln und ihn in die Lage zu versetzen, zwischen „mir“ und „dir“ zu unterscheiden. (Dialog vgl. Rahm, 1986, 173):
K: „Irgendwie habe ich es immer geschluckt, wenn meine Mutter Andeutungen
darüber gemacht hat, dass ich kein gutes Herz hätte und egoistisch sei ...“
T: „Stelle dir doch einmal vor, deine Mutter säße dir jetzt gegenüber ... Spüre nach
wie es ist, wenn sie dasitzt ... Ist dir weiterhin danach, alles zu schlucken oder
kannst du – nur für diesen Moment – einmal auf dich selbst achten, prüfen und
schmecken, was du schlucken willst und was nicht?“
Weiterhin könnte der Therapeut den Klienten auffordern, Sätze zu bilden, die mit den Worten „Ich glaube, dass ...“ beginnen und dann untersuchen, wie viele dieser Sätze seine eigene, aus persönlicher Erfahrung gebildete Überzeugung widerspiegeln und wie viele von anderen Menschen übernommen sind, da jede Erfahrung, die das Gefühl des Individuums für das „ich“ verstärkt, ein wichtiger Schritt hin zur Aufhebung der Introjektion ist.
3.8.2 Projektion
Projektionen sind Gefühle, Wünsche, Einstellungen oder Verhaltensattribute, die eigentlich der eigenen Persönlichkeit angehören, welche die betreffende Person allerdings nicht als die ihren zu erkennen bereit ist oder ablehnt. Sie werden statt dessen externalisiert, d. h. Personen oder Objekten in der Umwelt zugeschrieben und bei diesen als auf sich selbst gerichtet erlebt. In der Gestalttherapie besteht deshalb ein wichtiger Aspekt darin, Projektionen zu assimilieren, d. h. uns zu eigen zu machen, was wir ausgeblendet und außerhalb unseres Selbst gestellt haben (Dialog vgl. Naranjo, 1978, 80f.):
[...]
1 zweigeteilt, gegliedert, unterteilt
2 Um den Lesefluss nicht zu stören, verwende ich in der Regel die männliche Sprachform. Grundsätzlich sind immer beide Geschlechter gemeint.
3 Das Kontaktmodell wurde von der Cleveland School zum „Zyklus des Erlebens“ weiterentwickelt, wobei die einzelnen Phasen ausdifferenziert wurden, je nachdem, welche Aktivitäten des Organismus im Umweltfeld im Vordergrund stehen (vgl. Gremmler-Fuhr in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 362). Aus dem „Zyklus des Erlebens“ entwickelte sich schließlich der „Interaktive Zyklus des Erlebens“ (Þ 4.4).
4 Unter „Selbst“ versteht man in der Gestalttherapie das „System der Kontakte im Feld von Organismus und Umwelt, und diese Kontakte sind das strukturierte Erleben der gegenwärtigen wirklichen Situation. Seine Funktion ist eine aktive schöpferische Vermittlung des Kontaktes zur Um-welt.“ (Müller in: Fuhr et al., Hrsg., 2001, 655) Die Funktion des Selbst enthält die Teilfunktionen „Es-“, „Ich-“ und die „Persönlichkeitsfunktion“.
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