Im Beitrag wird der Versuch unternommen, das Verhältnis Gerhart Hauptmanns zur Politik vom Kaiserreich bis zu seinen öffentlichen politischen Auftritten im Zusammenhang mit dem im Versailler Vertrag festgelegten Plebiszit über Oberschlesien am 20. März 1921 vor dem Hintergrund der deutschen Kulturtradition darzustellen.
Der Text ist hierzu in sechs Teile untergliedert. Im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen für die Einordnung Hauptmanns in die deutsche Kulturtradition und auch für sein Politikverständnis gelegt. Neben der Darstellung von Aussagen ausgewählter Exponenten des deutschen Geisteslebens hinsichtlich des Verhältnisses von Kultur und Politik, wird der Begriff der Apolitie definiert und mögliche Verbindungen von Kultur und Politik aufgezeigt.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Entwicklung der Beziehung Hauptmanns zur Politik vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Daran anschließend wird der historische Rahmen Hauptmanns Oberschlesienreden, das Plebiszit über Oberschlesien, beleuchtet.
Der vierte Teil des Beitrages beschreibt den Übergang von dem sich aus der Politik heraushaltenden zu einem In-die-Politik-greifenden Dichter, und beinhaltet eine Analyse seiner Oberschlesienreden.
Im fünften Teil werden die in den Reden deutlich werdenden Grundprinzipien Hauptmanns (Einheit und Frieden) herausgearbeitet.
Im abschließenden Teil wird Hauptmanns Politikbegriff in den Zusammenhang mit seinen Reden gestellt. Hierbei wird deutlich, dass Hauptmanns Politikbegriff eng an den für Deutschland typischen Gegensatz Politik – Kultur angelehnt ist. Seine Vorstellung von der Politik, gründet sich nicht auf Macht, Opportunismus und Tagesinteressen, sondern auf Geist und Kultur , also auf den beiden maßgeblichen Begriffe der deutschen Kulturtradition.
Inhaltsverzeichnis
0 Einleitung
I Die deutsche Tradition der Apolitie
II Gerhart Hauptmanns Apolitie
III Historischer Rahmen
IV Hauptmanns Oberschlesienreden
V Die Grundprinzipien Hauptmanns Gedankenwelt
VI Hauptmann Kulturbegriff
VII Hauptmanns Politikbegriff. Die Unterscheidung Realpolitik und Kulturpolitik
VII.I Realpolitik
VII.II Kulturpolitik
VIII Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
0 Einleitung
„Ich habe dem Politiker in mir jeden Tag mit einem Hammer den Schädel einschlagen müssen, um zu leben: es wäre verkauftes Menschentum, wenn ich es in meinem besonderen Falle nicht getan hätte“ (Hauptmann 1962: 992). Gerhart Hauptmanns Verhältnis zur Politik war, wie an dieser Aussage deutlich wird, ein widersprüchliches. Einerseits die Anerkennung der Politik, andererseits auch ihre Ablehnung. Peter Sprengel fasst dieses Verhältnis als ein Wechselspiel zwischen „politischer Verantwortung und Neigung zur Zeitflucht“ (1984: 228) zusammen. Im Hinblick auf die deutsche Kulturtradition ist dies nicht verwunderlich. Hier ist das Verhältnis von Politik und Kultur bekanntermaßen ein problematisches. Umso erstaunlicher ist es, dass sich der Dichter Gerhart Hauptmann nach dem Ersten Weltkrieg zum politischen Tagesgeschehen äußerte. Werden allerdings die realhistorischen und geistesgeschichtlichen Umstände, die dieser politischen Agitation zu Grunde lagen in Betracht gezogen erscheint dies weniger seltsam. Einerseits stand Gerhart Hauptmann als herausragender Vertreter des deutschen Geisteslebens im Blickpunkt der politischen Wahrnehmung. Andererseits zogen die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges eine Politisierung der breiten Massen nach sich, von der auch bisher apolitische Künstler nicht ausgenommen waren. Allerdings blieben in der Weimarer Republik auch die kritischen Haltungen gegenüber der Politik vorhanden, was sich v.a. in den Vorstellungen über die Politik äußerte.
In der vorliegenden Broschüre soll die Entwicklung des Verhältnisses Gerhart Hauptmanns zur Politik und sein Politikbegriff vor dem Hintergrund der deutschen Kulturtradition und im Zusammenhang mit dem im Versailler Vertrag festgelegten Plebiszit über Oberschlesien am 20. März 1921 untersucht werden. Der Text ist hierzu in sieben Teile untergliedert.
Im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen für die Einordnung Hauptmanns in die deutsche Kulturtradition und damit für sein Politikverständnis gelegt. Neben der Darstellung von Aussagen ausgewählter Exponenten des deutschen Geisteslebens hinsichtlich des Verhältnisses von Kultur und Politik, wird der Begriff der Apolitie definiert und mögliche Verbindungen von Kultur und Politik aufgezeigt. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Entwicklung der Beziehung Hauptmanns zur Politik vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Daran anschließend, wird der historische Rahmen Hauptmanns Oberschlesienreden, das Plebiszit über Oberschlesien, beleuchtet. Der vierte Teil des Aufsatzes beschreibt den Übergang von dem sich aus der Politik heraushaltenden Dichter zu einem In-die-Politik-greifenden Dichter, und beinhaltet eine Analyse seiner Oberschlesienreden. Im fünften Teil werden die in den Reden deutlich werdenden Grundprinzipien Hauptmanns politischer Gedankenwelt und im sechsten Teil sein Begriff der Kultur herausgearbeitet. Im abschließenden Teil werden Hauptmanns Politikvorstellungen in den Zusammenhang mit seinen Reden zum Plebiszit in Oberschlesien gestellt.
I Die deutsche Tradition der Apolitie
Im Gegensatz zum englischen Begriff „culture“ trägt der deutsche Begriff „Kultur“ einen ehrerbietigen Beiklang, der die Deutschen veranlasste den mannigfachen Schöpfungen des Geistes und dem Mysterium der Kunst mit „Achtung und Ehrfurcht“ gegenüberzustehen (Stern 1984: 169). Die Verherrlichung der Kultur ging mit dem Glauben an die Möglichkeit einher, „unabhängig von den jeweiligen politischen Bedingungen die künstlerischen und geistigen Anlagen des Individuums zu vervollkommnen“ (ebd.: 172).
Gesprochen wird in diesem Zusammenhang von der epikureischen Rationalisierung (vgl. Neumann 1954: 204). Diese stellte die traditionelle Haltung deutscher Wissenschaftler, Intellektueller und des Bildungsbürgertums zur Politik dar. Der Politik und dem Staat wird hiernach lediglich die Aufgabe zuerkannt, das Ordnungselement zu schaffen, innerhalb dessen sich der Mensch der Vervollkommnung seiner eigenen Person oder der reinen Wissenschaft widmen solle. Staats- und Regierungsform erscheinen hierbei als nebensächlich, da der Mensch eine Realität an sich ist, und zwar „unabhängig von der politischen Ordnung in der er lebt” (vgl. Neumann 1953: 78). Da sich allein die Kultur mit der „Freiheit des einzelnen“ (vgl. Bermbach 2002: 58) verbinden lasse, könne sich das Individuum aus der öffentlichen und unpersönlichen Sphäre der Politik heraushalten (vgl. Mann 1918: 269).[1]
Der Gegensatz von Kultur und Politik wurde erstmals durch die Konstituierung des Ästhetischen in Alexander Baumgartens „Aesthetica“ aus dem Jahre 1750 problematisiert. Diese Schrift impliziert, dass die Gesellschaft auf eine die Vernunft übersteigende Weise gegründet und begriffen werden solle. Politisches Denken und ästhetische Erfahrungen traten zwar in ein Konkurrenzverhältnis. Die Eigenständigkeit des Ästhetischen bedeutet jedoch zunächst keine Frontstellung gegen die Politik. Die „ästhetische Ordnung des Handelns“ war ein in der Gesellschaft verankerter Handlungsbereich und der Politik vorgelagert (Bermbach 2002: 58).
Dies ändert sich mit Schiller, welcher der ästhetischen Erfahrung den Vorrang gegenüber der Politik einräumte. Unter seinen „Xenien“ befinden sich zwei für den Standpunkt der Weimarer Klassik kennzeichnende Stü>Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden./Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“ (Schiller 1796: 320). Ist diese Gegenüberstellung des kulturellen und politischen Deutschland vor dem Hintergrund der Zerstückelung Deutschlands noch als Bestandsaufnahme der damaligen Wirklichkeit aufzufassen, wird im darauf folgenden Xenion schon eine Wertung erkennbar. Das politische Deutschland wird dem gelehrten Deutschland entgegengesetzt, die Bildung als das bestimmende Element der deutschen Kultur und die Kultur als Ersatz für politische Macht aufgefasst: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens, /Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“ (Schiller 1796a: 321 – HdV)[2]. Als Bestätigung dieser Tendenz kann auch sein Fragment gebliebenes Gedicht „Deutsche Größe“ gelten, in welchem zum Ausdruck kommt, dass sich der Deutsche „abgesondert vom Politischen einen eigenen Wert gegründet [hat]. Indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet“. Dem Bereich des Politischen wird der Stempel des Unmoralischen aufgedrückt: „nicht aus dem Schoße der Verderbnis, nicht am feilen Hof der Könige schöpfte sich der Deutsche eine trostlose Philosophie des Eigennutzes, einen traurigen Materialismus“ (Schiller 1800: 431ff. vgl. auch Bermbach 2002 59f.).
Die Politik ist, so lässt sich folgern, vom Reich der Ideen und der Moral getrennt und Geist und Macht sind wesensverschiedene Kräfte. Jakob Burckhardt behauptete folgerichtig, Politik sei der Inbegriff von Macht, Reichtum und Geschäften (vgl. Burckhardt 1872: 159) und was noch schlimmer ist, die Zwangsgewalt des Staates. Kunst hingegen, so fährt er fort, ist „die Welt desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt“ (Burckhardt 1905: 43). Bei Thomas Mann heißt es daran anschließend, dass sich die Politik der Kultur zu fügen habe, denn die Sphäre des Politischen ist eine unpersönliche, in der die nicht rangverleihende Meinung herrscht (vgl. Mann 1918: 269). Aus dieser Kulturtradition erwächst der unpolitische aber kultivierte, dem schmutzigen Geschäft der Politik mit Geringschätzung gegenüberstehende Mensch (vgl. Stern 1984: 173), der Kunst und Kultur von politischen Wertungen und Maßstäben freizuhalten versuchte.[3]
Die deutschen Dichter und Künstler sprachen nicht nur für sich allein. Auf Grund ihres hohen gesellschaftlichen Ansehens konnte die von ihnen vorgetragene Kritik an der Politik auf ein breites Publikum zählen (vgl. Gay 1987: 99). Aussagen nach denen die Politik „eine verlockende Buhlerin“ ist, die „leicht blind und dumm“ macht, waren nicht nur die Meinung einzelner Künstler (Hauptmann zit. Brescius 1977: 58). Sie beeinflussten die Haltung der breiten Masse zur Politik.
Der „unpolitische Zug des deutschen Lebensstils“ (vgl. Stern 1984: 171) wurde indessen auch kritisiert, da in diesem Verhalten Gefahren gesehen wurden. Am Ende des Ersten Weltkrieges skizzierte Friedrich Naumann eine Typologie der „unpolitischen Menschen“. Hierzu zählte er u.a. die „Ästhetischen“ und „Phantastischen“ Diese würden den Kern des Politischen nie erfassen, da jeder der Politik machen wolle, einer gewissen politischen Begabung bedürfe (vgl. Naumann 1918: 421ff.).
Naumann stellte sich zudem die Frage, ob der Staatsbürger moralisch verpflichtet sei, für den Staat mehr als nur das Nötigste zu tun (nämlich Steuern zahlen). Müsse er dies nicht, wären alle Errungenschaften des Liberalismus wertlos:
„Wenn die Mehrzahl der Bürger zu der Auffassung gelangt, dass sie für den Staat nur das Notwendige und Erzwingbare zu tun haben, dann verlieren diejenigen politischen Einrichtungen, die auf staatsbürgerliche Freiwilligkeit aufgebaut sind, ihren Sinn und Zweck, dann ist es nur konsequent, den alten Beamtenstaat wiederherzustellen, in dem Ruhe und Gehorsam die einzig wirklichen Pflichten nicht des Staatsbürgers, sondern des Untertanen waren“ (Naumann 1904: 188).
Insbesondere die Apolitie der Gebildeten beklagte Naumann und bemängelte, dass sich weite Kreise der Professoren „jeder aktiven Teilnahme an der Politik entziehen“. Infolgedessen schwinde deren Vorbildwirkung. „Ist erst einmal die Bildung unpolitisch geworden, dann wird auch die Politik ungebildet“ (ebd. 189). Den von den Professoren beklagten geistigen Zustand des Reichstags, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit von 1873 sei, bestätigte Naumann, begründete dies aber mit dem Unwillen der Professoren, sich politisch zu betätigen Wer keine Opfer für die Politik bringe, habe auch keine Ansprüche zu stellen. Deshalb sei es für sie gut, „wenn sie noch mehr als bisher unter die Herrschaft der Ungebildeten [!] kämen, noch viel mehr, bis sie merkt[en], was Politik ist“ (ebd. 193 – HdV).
Karl Jaspers ging noch einen Schritt weiter und setzte Apolitie mit politischem Versagen gleich, denn das apolitische Individuum schließe sich von der Teilnahme am Gang der Dinge aus. Apolitie ist für Japsers, mit Blick auf die epikureische Rationalisierung das Versagen desjenigen,
„der nicht zu wissen braucht, was er will, da er nichts will als sich verwirklichen in seinem weltlosen Selbstsein, gleichsam wie in einen zeitlosen Raum hinein. Er nimmt das geschichtliche Menschenschicksal in nur passiver Duldung hin, weil er als Sein ein ungeschichtliches Heil der Seele glaubt“ (Jaspers 1932: 83 – HdV).
Arnold Ruge definierte Apolitie zuvor als „ein rein theoretisches und passives Verhalten in der Politik“ (Ruge 1843: 4 – HdV).
Apolitisch ist jener, sich nicht für die Politik interessiert. Naumann, Jaspers und Ruge folgend ist aber auch die private also nichtöffentliche Auseinandersetzung mit der Politik ein Kennzeichen der Apolitie. Dies bedeutete, dass auch ein an sich politisch interessierter Mensch, wenn er sich nicht politisch betätigt, apolitisch ist.
Naumanns Kritik war nicht neu. Die Problematik des apolitischen Intellektuellen durchzog das gesamte 19. Jahrhundert und war aufs engste mit der Frage der Nationsbildung und Demokratisierung Deutschlands verknüpft (vgl. Sellin 1992: 858). Bereits in der Zeit des Vormärzes und der Revolution, einer Zeit, die sich politisch weiterentwickeln will (vgl. Hinrichs 1843: 94), wurde die Apolitie der Gebildeten beklagt.
„Es blutet einem das Herz, dass unsere gelehrtesten und gebildetsten Männer [...] so unpolitisch sind. [...] Unsere Gelehrten [...] sind leider als Kosmopoliten bekannt, die sich für alles eher interessieren als für Politik. Sie wissen Bescheid in der Welt, nur nicht bei sich zu Hause. Sie leben ja in der Gelehrtenrepublik, wie sie sagen, welche sich über die ganze zivilisierte Welt erstreckt“ (ebd.).
Von den Gelehrten sei, da sie sich als die Spitze der Gesellschaft wähnen, politischer Sinn zu erwarten. Unverständlich ist es deshalb, dass sie, obwohl sie keiner politischen Partei angehören wollen, verlangen, als solche anerkannt zu werden. Weil die Gebildeten sich so unpolitisch benähmen, würde sie der gesunde Sinn des Volkes bald verschmähen und die öffentliche Welt sie richten. In Bezug auf Platon und Aristoteles hieß es dann, dass der Staat das erste sei, für den die Gelehrten leben sollen. Die akademische Freiheit müsse sich zur politischen Freiheit entwickeln wollen (vgl. ebd.: 94f.).
Neben der bloßen Kritik an der Apolitie gab es auch Ansätze, die Kunst und Politik zu einer organischen Einheit verbanden: „Der Dichter greift in die Politik“ und die „Literatur sprengt in die Politik“ heißt es bei Ludwig Rubiner (1912). Durch dieses In-die-Politik-Sprengen solle der Dichter seinen Leser sozialisieren. Statt bloßer ästhetischer Selbstzweck zu sein, müsse die Kunst auf den Zuschauer einwirken und sich an der politischen Wirklichkeit orientieren und zwar nicht als Alternative, sondern als Regulativ. Vom Künstler wird „politischer Sinn“ und „politischer Geist“ (Gervinus 1855: 315f.) gefordert, damit sich der Privatmensch dem Staat und somit der Politik zuwendet.
Dieses Umdenken in der Beziehung zwischen Intellektuellen und Politik wird bereits bei Richard Wagner sichtbar, der gewissermaßen die Politisierung der Kultur forderte. Der Künstler müsse sich seiner politischen Berufung stellen, da sich mit allein politischen Mitteln keine durchgreifenden (gesellschaftlichen) Veränderungen vollbringen lassen. Die Kunst des Dichters wird zur Politik! „Keiner kann dichten, ohne zu politisieren [...] Wer sich jetzt noch unter der Politik hinwegstiehlt, belügt sich um sein eigenes Dasein“. Denn in einer „rein politischen Welt nicht Politiker zu sein“, bedeutet so viel „als gar nicht [zu] existieren“ (Wagner 1852:162f. – HdV).
Die für das Kaiserreich typische Geisteshaltung der Deutschen, der Politik mit einer Mischung aus Faszination und Abneigung gegenüberzustehen, war auch mit dem Ende der Monarchie nicht aufgehoben, obwohl die Geburt der Republik doch Möglichkeiten und auch konkrete Notwendigkeiten politischen Handelns nach sich zog (vgl. Gay 1987: 104). Einerseits gaben sich die Deutschen und mit ihr auch die Dichter nun leidenschaftlich der Politik hin. Andererseits blieb die Abneigung gegenüber der Politik und ihren Institutionen bestehen. Verstärkt wurde dies durch die bereits im Kaiserreich vorhandene „merkwürdige Macht“ der Poesie „über die Phantasie der Deutschen“ (ebd.: 95). Die deutschen Dichter und insbesondere die Literaten der Gegenwart erfreuten sich in der Republik eines hohen Ansehen, bestätigten sie doch die Ideen, die in Deutschlands Vergangenheit mächtig gewesen waren und während der Weimarer Jahre mächtig blieben und trugen sie in schöner Form vor (vgl. ebd.: 99). Ein gutes Beispiel hierfür ist Gerhart Hauptmann.
II Gerhart Hauptmanns Apolitie
Hans von Brescius folgend hat sich Gerhart Hauptmann bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges „politisch weder engagiert noch exponiert“ (Brescius 1977: 54). Das politische Geschehen der Epoche vor dem Kriege lag außerhalb seines Blickfelds.
Eine scheinbar andere Einschätzung stammt von Peter Sprengel, der Hauptmanns „Stellung im Kaiserreich kaum als unpolitisch“ bezeichnete, denn seit dem Weber-Prozess galt er „als Exponent der Opposition“. Zugleich verweist Sprengel jedoch auf die Besonderheit und das Paradoxe des politischen Wirkens Hauptmanns in der Vorkriegsära. Diese lag darin, „dass der Autor selbst sich offenbar keiner politischen Absicht bewusst war“ (1984: 222 – HdV).
Diese Bewertung wird auch von Alfred Zappel bestätigt. Bei Hauptmann sei weder politische Zweckdichtung noch revolutionäre Dichtung oder politische Anklagen gegen Bestehendes zu finden (Zappel 1987: 1).
In seinen frühen Dramen durchleuchtete Hauptmann, so Gerhard Hilscher, kritisch die Verelendungs- und Demoralisierungserscheinungen der spätbürgerlichen Gesellschaft und prangerte die Verkommenheit, Trunksucht, doppelte Moral, Ausbeutung und den Verfall der Familienbeziehungen im Kapitalismus an. Aber er konnte ähnlich den meisten spätbürgerlichen Schriftstellern, Zersetzungssymptome nur „darstellen, seinem Unbehagen Ausdruck verleihen, Kritik üben, ohne einen Ausweg aus der Krise zu zeigen“ (1996: 338).
Dem Axiom Rubiners entsprechend, nachdem die Kunst mehr als nur ästhetischer Selbstzweck ist, orientierte sich Hauptmann zwar an der politischen (und auch sozialen) Wirklichkeit und hielt der wilhelminischen Gesellschaft in seinen Werken den Spiegel vor[4]. Dies entsprang jedoch „nicht aus einer primär gesellschaftskritischen Intention, sondern seinem künstlerischen Realismus“ (Brescius 1977: 46). Seine Äußerungen wollte er nicht als politische Meinungsäußerungen verstanden wissen (vgl. Leppmann 1990: 32). Hauptmanns Dichtung war deshalb auch nicht das von Rubiner geforderte Regulativ, sondern bloß Alternative.
Dennoch, das Werk Hauptmanns und seine Person standen unbeschadet aller gegenteiligen Postulate allein durch das Gewicht seiner Persönlichkeit und der Themenwahl in einem politisch-gesellschaftlichen Kontext. Dem Dichter Hauptmann wuchs im Kaiserreich auf diese Weise unfreiwillig eine politische Symbolfunktion zu (vgl. Erdmann 1997: 17). Zwar könne niemand mehr dichten und zugleich apolitisch sein. Bei Hauptmann fehlte aber die bewusste und gewollte Teilnahme an den öffentlichen Dingen.
Als Exponent des unpolitischen Bildungsbürgertums sah Hauptmann in der Öffentlichkeitssphäre indes nur ein notwendiges Übel, welches die Gefahr der Selbstentfremdung von privat-bürgerlichem Sein in sich barg (vgl. Brescius 1977: 41f.). Der epikureischen Rationalisierung folgend, habe sich ein Künstler von den Einflüssen des Staates, der Gesellschaft, und also der Politik freizuhalten. „Ein Künstler darf kein Politiker sein“ (vgl. ebd.: 60). Die Basis des künstlerischen Schöpfertums ist die integrale Persönlichkeit, der ursprünglich-natürliche Mensch. Als unvoreingenommener Betrachter solle der Künstler auf das allgemein Menschliche hinter allen Rollen, Masken und Funktionen zielen. Um seinen universellen Standpunkt zu bewahren, müsse er sich deshalb vom Rollenzwang des öffentlichen Charakters freihalten. Seinem Wesen nach ist der Künstler Privatmensch und „hat neutral zu bleiben“ (zit. Brescius 1977: 55).
Hauptmanns Apolitie wird auch und besonders in der Festspielaffäre von 1913 deutlich[5]. Der Dichter äußerte sich hier betroffen darüber, „dass ein rein empfundenes Kunstwerk durch niederes Parteidenken beschmutzt wurde“ (Sprengel 1984: 223).
[...]
[1] Die hier vorgenommene Gleichsetzung von Politik und Öffentlichkeit gründet sich auf Platon. Das Adjektiv „politisch“ (politikos) bezeichnet bei ihm das Öffentliche, im Unterschied zum Privaten. Der Widerpart des polites ist der idiotes, der in der Idia, das Private, Lokale, Partikuläre verfangen ist (vgl. Maier 1987: 381).
[2] Im ersten Xenion wird darauf verwiesen, dass die Einheit Deutschlands nur in der Identität als Kulturnation bestand: Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Im zweiten Xenion wird die Alternative zwischen der nationalen Identitätssuche der Deutschen als „Deutsche“ und ihrer Selbstdefinition als „Menschen“ angesprochen (Vollrath 1989: 1063).
[3] Die Feststellung solcher Antithesen ist laut Eike Middell für die deutsche Geistesgeschichte kennzeichnend. Verwiesen sei hier des Weiteren auf Max Webers Kapitalismus und protestantische Ethik oder auch auf Naive und Sentimentalische bei Schiller (vgl. Middell 1993: 213).
[4] Insb. in den Werken: „Der Rote Hahn“ (1901), „Rose Bernd“ (1903), „Die Ratten“ (1911).
[5] Am 17. Juni 1913 wurden die Aufführungen des „Festspiels in Deutschen Reimen“ auf Weisung des Kronprinzen vorzeitig abgesetzt.
- Citation du texte
- M.A. Dirk Mathias Dalberg (Auteur), 2004, Der Dichter und die Politik - Gerhart Hauptmanns Politikbegriff vor dem Hintergrund seiner Äußerungen zum oberschlesischen Plebiszit im Jahre 1921, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32661
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