Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine Literaturrecherche. Die These dieser Arbeit ist, dass die Auswirkungen einer elterlichen Alkoholabhängigkeit eine Wiederholung der Suchterkrankung in der nächsten Generation wahrscheinlich machen, sofern sie nicht durch Interventionen von außen positiv beeinflusst werden. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: „Welche Maßnahmen der Prävention und Intervention durch die Kinder- und Jugendhilfe sind notwendig, um zu verhindern, dass die Kinder von heute die Süchtigen von morgen werden?“ Oder: „Welche Unterstützung benötigen Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) und was muss sozialpädagogische Arbeit leisten, damit diese Kinder sich gesund entwickeln können?“ Der Schwerpunkt liegt in dieser Arbeit auf der Auseinandersetzung mit verschiedenen Arten der pädagogischen Arbeit in Kindergruppen für Kinder aus suchtbelasteten Familien im Alter von 8 bis 12 Jahren. Diese Gruppen können im Rahmen von Suchtberatungs-, Erziehungsberatungs-, Kinder- und Jugendberatungsstellen oder in freien Praxisgemeinschaften stattfinden.
Inhalt
1 Einleitung
2 Grundlegende Begriffsbestimmungen
2.1 Definition von Alkoholabhängigkeit
2.2 Definition von Co-Abhängigkeit
2.3 Alkoholismus als Familienkrankheit
3 Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile)
3.1 Merkmale einer Alkoholikerfamilie
3.1.1 Mangelnde Interaktion
3.1.2 Unberechenbarkeit im elterlichen Verhalten
3.1.3 Erziehungsverhalten
3.1.4 Atmosphäre
3.1.5 Familienregeln: „Rede nicht, traue nicht, fühle nicht!“
3.1.6 Wenn der Vater suchtkrank ist
3.1.7 Wenn die Mutter suchtkrank ist
3.2 Rollenverhalten und Rollenkonflikte der Kinder
3.2.1 Der Held/das verantwortungsbewusste Kind
3.2.2 Das ausagierende Kind oder der Sündenbock
3.2.3 Das stille Kind
3.2.4 Der Clown/das Maskottchen
3.2.5 Der Friedensstifter
3.3 Folgen für das Gefühlsleben und Verhalten mit betroffener Kinder
3.3.1 Verletzung der Ich-Grenze
3.3.2 Enttäuschte Hoffnungen
3.3.3 Das Gefühl Verantwortung übernehmen zu müssen
3.3.4 Der Drang, alles unter Kontrolle zu halten
3.3.5 Partei ergreifen
3.3.6 Sexuelle Gewalt gegen Kinder
3.3.7 Misshandlung und Vernachlässigung
3.4 Mögliche längerfristige Folgen in Entwicklungsstörungen der Kinder
3.4.1 Alkoholembryopathie
3.4.2 Intelligenz und sprachliche Fähigkeiten
3.4.3 Verhaltensstörungen
Aufmerksamkeitsstörungen mit Hyperaktivität
Störungen des Sozialverhaltens
Psychosomatische Störungen
Angststörungen und Depressionen
3.5 Eigene Suchtentwicklung
3.5.1 Kindbezogene Risikofaktoren:
3.5.2 Umgebungsbezogene Risikofaktoren:
3.5.3 Kindbezogene Schutzfaktoren
3.5.4 Umgebungsbezogene Schutzfaktoren
3.6 Resilienzentwicklung
3.6.1 Das Challenge-Modell
3.6.2 Faktoren, die die Widerstandskraft von Kindern fördern
3.7 Folgen des Aufwachsens in der Alkoholikerfamilie für das Leben der erwachsenen Kinder
3.7.1 Sich wertlos fühlen
3.7.2 Die Angst davor verlassen zu werden
3.7.3 Festhalten an Beziehungen, fast um jeden Preis
3.7.4 Co-Abhängigkeit
3.7.5 Angst vor Nähe
3.7.6 Das Bedürfnis nach Distanz
3.7.7 Die Schwierigkeit, bei sich anzukommen
3.7.8 Die Fortführung der Rollen im Erwachsenenalter
3.7.9 Persönlichkeits- und Rollenkonzepte für Erwachsene Kinder von Alkoholikern
3.7.10 Partnerwahl erwachsener Kinder aus alkoholbelasteten Familien
3.7.11 Die Erziehung eigener Kinder
3.7.12 Positive Entwicklungsmöglichkeiten
4 Aufgaben einer sozialpädagogischen Prävention und Intervention
4.1 Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe
4.1.1 Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile)
4.1.2 Kindeswohlgefährdung in einer Alkoholikerfamilie
4.1.3 Aufgaben der sozialpädagogischen Familienhilfe
4.2 Präventionsarbeit mit Kindern suchtkranker Eltern
4.2.1 Begriffserklärung – Prävention
4.2.2 Mögliche Präventionsmaßnahmen der Hilfsorganisationen
5 Kindergruppenarbeit als Beispiel sozialpädagogischer Prävention und Intervention
5.1 Ziele und Aufgaben der Präventionsarbeit mit Kindern alkoholabhängiger Eltern(teile)
5.2 Ausbildung von Multiplikatoren und GruppenleiterInnen
5.3 Gruppenangebote in Rheinland-Pfalz
5.3.1 Kindergruppe Kiwi – wenn die Welt mal Kopf steht, Kind/Sucht/Familie
5.3.2 Kindergruppe „Quasselsuse“ für Kinder aus suchtbelasteten Familien
5.3.3 Gruppe für Jugendliche aus suchtbelasteten Familien der Stadt Trier
5.3.4 Kindergruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien Neustadt/Weinstrasse
5.4 Das Projekt Trampolin
5.5 Lernfeld Kindergruppe
5.6 Aspekte der pädagogischen Gruppenarbeit mit Kindern alkoholabhängiger Eltern(teile)
5.7 Wirkungsweise des Kinderpsychodramas
5.8 Rollenverhalten und Auflösung des Rollenverhaltens
5.9 Elternarbeit
5.9.1 Kooperation mit den Eltern zum Wohle der Kinder
5.9.2 Elternarbeit bzw. Arbeit mit den Bezugspersonen
5.9.3 Probleme der Elternarbeit
5.9.4 Pädagogisch-therapeutische Grundannahmen für die Arbeit mit den Bezugspersonen
5.10 Warum spezielle Kindergruppenangebote sinnvoll sind Stigmatisierung
6 Mögliche Weiterentwicklung der Hilfsangebote
6.1 Empfehlungen für die künftige Struktur von Hilfs- und Versorgungsangeboten für Kinder alkoholabhängiger Elternteile
6.2 Finanzierung
6.3 Konzeptionelle und methodische Weiterentwicklung der Hilfen für Kinder alkoholabhängiger Eltern
6.4 10 Eckpunkte zur Verbesserung der Situation der Kinder abhängiger Eltern
6.5 Relevanz von Bezugsperson
6.6 Was können Lehrer und Lehrerinnen tun?
6.7 Systematik der Hilfsangebote
7 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In unserer Gesellschaft steht der Genuss von Alkohol, als legale und leicht zugängliche Substanz, hoch im Kurs. Kaum eine Feier findet statt, ohne dass Alkohol angeboten wird und kein anderes Suchtmittel ist so in unsere Gesellschaft integriert wie der Alkohol. „Man muss nur damit umgehen können“. Dass viele das irgendwann nicht mehr können, ist bekannt, denn aus dem Genuss kann eine Sucht entstehen. Alkoholbezogene Störungen haben in Deutschland eine hohe gesundheitspolitische Relevanz: Etwa 3,4 Mio. Menschen (6% der Bevölkerung von 18-69 Jahren) weisen eine alkoholbezogene Diagnose „schädlicher Gebrauch“ oder „Abhängigkeitssyndrom“ (DSM-5: „Suchtstörung“) auf, etwa 8,4 Mio. (17,8%) betreiben einen riskanten Alkoholkonsum (Klein, 2011, o.S.). Durchschnittlich werden pro Kopf der Bevölkerung jährlich 10 Liter reinen Alkohols konsumiert. Jedes Jahr sterben in Deutschland 74.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. Die volkswirtschaftlichen Kosten belaufen sich auf 26,7 Milliarden Euro, davon sind allein 7,4 Milliarden direkte Kosten für das Gesundheitssystem (Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 2015, S.15).
Jahrzehnte lang wurde eine Alkoholabhängigkeit als Problem betrachtet, von dem lediglich die süchtige Person selbst betroffen ist. Und so standen vor allem die Abhängigen selbst im Fokus der Bemühungen der Suchthilfe. Seit Ende der 90er Jahre wurden auch die PartnerInnen und ihre Situation in die Arbeit der Suchtberatungsstellen mit einbezogen. Viele alkoholabhängige Menschen leben aber (wie andere auch) in Familien und haben Kinder. Der heutige Kenntnisstand zeigt, dass eine Alkoholabhängigkeit eines Familienmitgliedes immer die ganze Familie mit beeinflusst. Dabei leiden diejenigen am meisten unter einer Abhängigkeit, die selbst gar keinen Alkohol trinken, nämlich die Kinder. Jedes sechste Kind in einer Schulklasse lebt mit einem alkoholabhängigen Elternteil zusammen (Arenz-Greiving, 2007, S.5). Eine überzufällig große Zahl der heute Alkoholabhängigen haben Eltern, die ihrerseits schon alkoholabhängig waren.
In dieser Arbeit geht es um die Betrachtung der schwierigen Situation der Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile), deren Betroffenheit auch heute noch zu wenig beachtet wird. Weder in der Psychiatrie und in der Suchthilfe, noch in der Kinder- und Jugendhilfe wird die Situation der Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) ausreichend wahrgenommen und in praktische Hilfeleistungen umgesetzt. Dies ist umso erstaunlicher, als dass sich die Forschung in den letzten 20 Jahren umfassend mit dem Thema befasst hat. Trotzdem sind die praktischen Hilfeleistungen für diese Kinder äußerst begrenzt.
Dabei handelt es sich nicht um eine kleine Randgruppe der Gesellschaft. In Deutschland leben ca. 2,64 Millionen Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren mit mindestens einem Elternteil mit der Diagnose „Alkoholmissbrauch“ oder „Alkoholabhängigkeit“ zusammen (Klein, Ferrari, Kürschner, 2003, S.18). Aktuelleren Schätzungen des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA) (2008) zufolge sind in der Bundesrepublik Deutschland sogar 5 bis 6 Millionen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren von einer elterlichen Alkoholabhängigkeit betroffen (Klein, Moesgen, Bröning, Thomasius, 2013, S.12). Kinder von Alkoholikern sind als die größte Risikogruppe für die Entwicklung von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit anzusehen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass diese im Vergleich zu Kindern nicht suchtkranker Eltern ein bis zu sechsfach erhöhtes Risiko haben, selber abhängig zu werden oder Alkohol zu missbrauchen. Belegt ist auch, dass für Kinder in suchtbelasteten Familien das Risiko, an anderen psychischen Störungen (insbesondere Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen) zu erkranken, deutlich erhöht ist (Klein, 2008, S.2).
1984 machte ich im Rahmen des Grundstudiums in Pädagogik ein Praktikum bei der Drogenselbsthilfegruppe Synanon auf einem vom Land Hessen gestifteten Hofgut in der Nähe von Marburg. Das Leben in dieser nüchtern zusammen lebenden Gemeinschaft hat mich tiefgreifend beeindruckt. Synanon nimmt, als eine der wenigen Einrichtungen, auch süchtige Mütter und ihre Kinder auf. Die Kinder profitieren davon, dass ihre Eltern nun ohne Drogen und Alkohol leben und sich, mit Hilfe der Gemeinschaft, ihrer Suchtüberwindung widmen. Schon damals beschäftigte mich die Frage, was diejenigen Kinder in dieser Gesellschaft tun, die nicht das Glück haben, dass ihre Eltern jetzt ohne Drogen leben. Das Thema hat mich (als Tochter eines alkoholabhängigen Vaters) schon immer interessiert. Damals wusste ich noch nicht, dass mich im Laufe meines Lebens immer wieder süchtige Menschen begleiten würden. So habe ich nach meiner Scheidung als ich schon vier Kinder hatte, 8 Jahre lang, trotz besseren Wissens – wohl aufgrund meiner co-abhängigen Struktur – mit einem alkoholabhängigen Mann zusammen gelebt. Das ist der Grund, weshalb mich das Thema besonders interessiert.
Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine Literaturrecherche. Die These dieser Arbeit ist, dass die Auswirkungen einer elterlichen Alkoholabhängigkeit eine Wiederholung der Suchterkrankung in der nächsten Generation wahrscheinlich machen, sofern sie nicht durch Interventionen von außen positiv beeinflusst werden. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: „Welche Maßnahmen der Prävention und Intervention durch die Kinder- und Jugendhilfe sind notwendig, um zu verhindern, dass die Kinder von heute die Süchtigen von morgen werden?“ Oder: „Welche Unterstützung benötigen Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) und was muss sozialpädagogische Arbeit leisten, damit diese Kinder sich gesund entwickeln können?“ Der Schwerpunkt liegt in dieser Arbeit auf der Auseinandersetzung mit verschiedenen Arten der pädagogischen Arbeit in Kindergruppen für Kinder aus suchtbelasteten Familien im Alter von 8 bis 12 Jahren. Diese Gruppen können im Rahmen von Suchtberatungs-, Erziehungsberatungs-, Kinder- und Jugendberatungsstellen oder in freien Praxisgemeinschaften stattfinden. In den Kindergruppen befinden sich Kinder von Alkoholikern und anderen Suchtkranken, da die Auswirkungen für die Kinder ähnlich sind. Auch werden in dieser Arbeit die Begriffe alkoholabhängig und süchtig/suchtkrank teilweise synonym verwendet.
Im zweiten Kapitel der Arbeit werden die Begriffe Alkoholabhängigkeit und Co-Abhängigkeit erläutert und es wird erklärt, dass sich eine Abhängigkeit immer auf alle Mitglieder des Familiensystems auswirkt.
Kapitel drei beschreibt die Situation der Kinder in einer alkoholbelasteten Familie. Es wird das Rollenverhalten der Kinder beschrieben und die Folgen für das Gefühlsleben der Kinder. Anschließend werden direkte und indirekte Folgen einer elterlichen Alkoholabhängigkeit, die sich in Entwicklungsstörungen der Kinder äußern können, dargestellt. Dann werden Faktoren erläutert, die eine Widerstandskraft der Kinder fördern können. Zum Abschluss werden die Folgen für das Erwachsenenleben, die sich aus den internalisierten Gefühlen und Verhaltensweisen ergeben können, beschrieben, auch um zu zeigen, wie weitreichend die Eindrücke aus der Kindheit sich im Erwachsenenleben auswirken können.
In Kapitel vier werden die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und in Bezug auf Kinder alkoholabhängiger Eltern benannt. Es wird erläutert, was unter einer Kindeswohlgefährdung zu verstehen ist und was die Aufgaben der sozialpädagogischen Familienhilfe sind. Daran schließen sich 3 Begriffserklärungen von Prävention und verschiedene Formen von Präventionsmaßnahmen für Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) an.
In Kapitel fünf liegt der Schwerpunkt auf der Beschreibung der präventiven Arbeit in „Kindergruppen für Kinder suchtbelasteter Eltern“ im Alter von 8-12 Jahren. Ausführlich wird die Arbeit in Kindergruppen und die Arbeit mit den Eltern beschrieben.
In Kapitel sechs werden notwendige Maßnahmen der Weiterentwicklung der Hilfsangebote der Kinder- und Jugendhilfe für Kinder aus alkoholbelasteten Familien erörtert.
2 Grundlegende Begriffsbestimmungen
In diesem Kapitel werden die Begriffe Alkoholabhängigkeit und Co-Abhängigkeit erläutert, weil sich das Leben der Kinder in der Familie zwischen diesen beiden Polen bewegt. Abhängige und Co-Abhängige passen zusammen wie der Schlüssel zum Schloss. Anschließend wird die Bedeutung einer elterlichen Abhängigkeit für die Familie als Ganzes beschrieben.
2.1 Definition von Alkoholabhängigkeit
Um Alkoholabhängigkeit und –missbrauch zuverlässig feststellen und unterscheiden zu können, wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Kriterien zur Diagnose festgelegt. Diese Kriterien sind in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) oder im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-IV) festgelegt worden.
Gemäß ICD-10 handelt es sich bei krankhaftem Alkoholgebrauch um eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Dabei wird zwischen psychischer und körperlicher Abhängigkeit unterschieden. Typische Merkmale einer psychischen Abhängigkeit sind: ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Bei einer körperlichen Abhängigkeit kommt es zu einer Toleranzentwicklung, welche eine regelmäßige Dosiserhöhung zur Aufrechterhaltung der gewohnten Wirkung bewirkt. Und es kommt zu Entzugserscheinungen bei Absetzen des Alkohols. Der Übergang zwischen Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit ist fließend. Eine Abhängigkeit entwickelt sich über einen längeren Zeitraum.
Diagnosekriterien für Alkoholabhängigkeit laut ICD-10
Für die Diagnose der Alkoholabhängigkeit (F10.2) wird in der Regel ein Katalog von 8 Kriterien (IFT98) oder 6 Kriterien (WHO97) herangezogen. Bei Erfüllung von mindestens 3 Kriterien in den letzten 12 Monaten kann eine Alkoholabhängigkeit vorausgesetzt werden.
1. „Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren
2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Alkoholkonsums Alkoholkonsum mit dem Ziel der Linderung von Entzugssymptomen und der Wiederherstellung der entsprechenden positiven Erfahrung
3. Ein körperliches Entzugssyndrom
4. Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrige Dosen hervorgerufene Wirkung zu erreichen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich, die bei Konsumenten ohne Toleranzentwicklung zu schweren Beeinträchtigungen oder gar zum Tode führen würden
5. Ein eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol, wie z.B. die Tendenz, Alkohol an Werktagen wie an Wochenenden zu trinken, und die Regeln eines gesellschaftlich üblichen Trinkverhaltens außer Acht zu lassen
6. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen und Interessen
7. Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen“
(www.alkoholismus-hilfe.de 2015, o.S.)
2.2 Definition von Co-Abhängigkeit
Der Begriff Co-Abhängigkeit wurde ursprünglich in den 1970er Jahren in den USA von den Angehörigen suchtmittelabhängiger Menschen geprägt und leitet sich ab aus dem amerikanischen >co-dependency<. Er beinhaltet die Auswirkungen der Sucht auf das Verhalten der Angehörigen, die diese an sich selbst erlebten. Auch die ersten Veröffentlichungen in der Fachliteratur stammen von erwachsenen Kindern alkoholabhängiger Eltern, die aufgrund ihrer Erfahrungen in die professionelle Suchthilfe gingen. (Zobel, 2008, S.69)
In fast jeder sozialen Beziehung, in der ein Partner eine Abhängigkeit entwickelt, kommt es zu einer Co-Abhängigkeit der nahestehenden Personen. In Familien ist davon hauptsächlich der Partner betroffen. Aber auch die Kinder entwickeln co-abhängige Verhaltensmuster. Menschen, die mit einer suchtkranken Person zusammen leben, werden oft selbst in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt, gekränkt und in vielen Fällen auch selbst krank. Andererseits unterstützen sie das süchtige Verhalten unbewusst über einen relativ langen Zeitraum und tragen so zu dessen Aufrechterhaltung bei. Dieses Phänomen bezeichnet man als Co-Abhängigkeit. Und Menschen, die mit Kindern alkoholabhängiger Eltern(teile) arbeiten wollen, sollten diese Zusammenhänge sehr genau kennen und berücksichtigen, wenn sie den Betroffenen helfen wollen (Arenz-Greiving, 2007, S.12).
Nach Rennert existieren 3 typische Phasen der Co-Abhängigkeit:
Beschützer- und Erklärungsphase:
In dieser Phase, meist am Anfang der Sucht eines Betroffenen, versucht der Co-Abhängige den Alkoholabhängigen zu schützen indem er Erklärungen und Entschuldigungen für dessen auffälliges Verhalten äußert. Er erfindet Ausreden, bagatellisiert die Probleme oder lügt sogar für den Süchtigen. Der Co-Abhängige beginnt die komplette Verantwortung für den Süchtigen zu übernehmen. Es kann sogar soweit kommen, dass er dem Süchtigen alle Aufgaben und Pflichten abnimmt (Hausarbeit, Termine, Ämter etc.). Zu Anfang tut der Co-Abhängige dies noch unbewusst und glaubt dem Alkoholabhängigen mit seinem Handeln einen kleinen Gefallen zu tun. Meist wird die Tatsache der Sucht zu diesem Zeitpunkt noch von allen Beteiligten geleugnet und verdrängt. Durch die Co-Abhängigkeit nimmt man dem Süchtigen zunächst alle Probleme und Sorgen ab. Dem Alkoholabhängigen scheint es durch dieses Verhalten des Co-Abhängigen sehr gut zu gehen, er fühlt sich verstanden und umsorgt. Dadurch fördert der Co-Abhängige allerdings unbewusst die sich immer mehr manifestierende Problematik und die Sucht des Alkoholabhängigen (Rennert, 2012, S.88).
Kontrollphase:
Die zweite Phase hängt eng mit dem Verhalten des Co-Abhängigen in der ersten Phase zusammen.
Der Co-Abhängige übernimmt mehr und mehr die Aufgaben und Pflichten des Abhängigen. Er fängt an, Termine für den Süchtigen auszumachen oder zu verschieben, seinen Tagesablauf zu planen oder sogar seine Finanzen zu organisieren. Dabei wird es immer schwieriger die Familiensituation nach außen hin zu verbergen. Dadurch wird dem Co-Abhängigen zunehmend die Suchtproblematik bewusst und er versucht noch stärker die Situation wieder zu bereinigen und das familiäre Leben wieder unter Kontrolle zu bringen. Dieser Zustand ist für den Co-Abhängigen sehr anstrengend und belastend. Der Co-Abhängige versucht über dieses Kontrollverhalten die Familie zusammen zu halten. Der Süchtige hingegen wird durch ein solches Kontrollverhalten gegebenenfalls in seinem Alkoholkonsum eingeschränkt (Alkoholverstecke werden enttarnt, Geld für Alkohol wird vom Partner zurückgehalten etc.), was ihm stark missfallen kann. Beeinflusst von seinem Verlangen nach Alkohol wird er dadurch zunehmend auffälliger und häufig auch aggressiver (Rennert, 2012, S.89).
Anklage- und Handlungsphase:
Die dritte Phase tritt ein, wenn sich die familiäre Situation immer weiter zu spitzt. Der Co-Abhängige ist überlastet und kann mit der Situation nicht länger umgehen. Anschuldigungen nehmen zu und die Sucht kann vor dem sozialen Umfeld kaum noch verborgen werden, da auch der Süchtige selbst nahezu unerträglich wird und sich seine Stimmungsschwankungen häufen. An diesem Punkt platzt dem Co-Abhängigen sprichwörtlich „der Kragen“, das vorher umsorgende Verhalten kippt ins Gegenteil. Der Alkoholabhängige wird nun für alle Schwierigkeiten verantwortlich gemacht. Durch die Vorwürfe kommt es häufig zu Streitereien, da der Süchtige diesen plötzlichen Sinneswandel des Co-Abhängigen nicht verstehen kann (Rennert, 2012, S.89).
Im Zentrum des Co-Abhängigkeitssyndroms stehen das Eingenommensein von dem Süchtigen und das stetige und übermäßige Verlangen ihm helfen zu wollen. Die eigene Person würde im Zusammenleben mit einem Abhängigen nach und nach aufgegeben werden. Eigene Interessen würden vernachlässigt und Beziehungen aufgegeben werden. Alles Denken, Fühlen und Handeln drehe sich zwanghaft um den Partner, seine Sucht, die Kontrolle der Sucht und die Bemühungen ihm zu helfen (Flassbeck, 2010, S.50). So können im Grunde positive Eigenschaften, Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen einer Person in einer Beziehung zu einem Suchtkranken unbeabsichtigt eine ungünstige Wirkung entfalten (Flassbeck, 2010, S.34).
Andere unterstützen, nicht bloßstellen usw. sind soziale Verhaltensweisen, die in der Regel völlig in Ordnung sind. Wird diese Art des Verdeckens, Beschützens und Verharmlosens jedoch bei Suchtproblemen angewendet, handelt es sich um „falsch verstandene“ Hilfe (Arenz-Greiving, 2007, S.12).
Häufig verlieren Co-Abhängige im Laufe der Beziehung zu einem Alkoholkranken die Verbindung zu ihren eigenen Gefühlen und Wünschen, und sie nehmen sich selbst und ihre eigene Entwicklung nicht wichtig (Kolitzus, 2014, S.18).
Nach Klein (2006, S.79) beschreibt Co-Abhängigkeit einen dysfunktionalen Beziehungsstil zu anderen Menschen. Die betroffenen Personen würden Verantwortung für das Leben, die Gefühle und die Probleme von anderen Menschen übernehmen und gleichzeitig ein geringes Selbstwertgefühl zeigen. Sie hätten Probleme, ihre eigenen Bedürfnisse durchzusetzen und würden ihr Gefühl von Identität in erster Linie von anderen Menschen abhängig machen. Zudem würden Personen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und Angst vor emotionalen Beziehungen zur Wahl eines Partners neigen, für den man sich einerseits aufopfern, den man aber auch kontrollieren und auf Distanz halten könne. Die (unbewusste) Wahl eines Partners mit Abhängigkeitsproblemen würde demnach der eigenen Disposition der Betroffenen entsprechen, zumal die Problematik aus der Herkunftsfamilie vertraut sei und entsprechende Kompetenzen im Umgang mit dem Alkoholproblem erworben wurden (Klein 2006, S.79).
Tatsächlich haben 60% der mit Alkoholkranken verheirateten Frauen einen suchtkranken Elternteil (http://www.suchtprozesse.de/angehörige.htm).
Der Co-Abhängige möchte dem Süchtigen helfen, er will ihn schützen und die negativen Folgen seiner Sucht abfangen. Häufig wird jedoch der Verlauf der Abhängigkeit gerade durch dieses Verhalten vorangetrieben und ungewollt unterstützt. Denn, durch die verschiedensten Hilfs- und Rettungsaktionen werden die Angehörigen nicht nur mitbelastet, sondern ermöglichen, dass der suchtkranke Mensch die natürlichen Konsequenzen seines Handels nicht zu spüren bekommt (Zobel, 2008, S.71). „Vor diesem Hintergrund hat der Abhängige keinen Grund, sein zunehmend unverantwortliches Verhalten zu ändern“ (Zobel, 2008, S.7l).
2.3 Alkoholismus als Familienkrankheit
Alkoholismus wird heutzutage als krankhafter Abhängigkeitszustand verstanden. Das Wesen der Sucht ist eine seelische und - oft auch - eine körperliche Abhängigkeit. Der alkoholkranke Mensch leidet unter dem Zwang, das Suchtmittel Alkohol in steigender Dosis zu konsumieren. Dies erfolgt unter Einbeziehung des sozialen Bezugsfeldes, wie z.B. der Familie.
Aus systemtheoretischer Sicht befindet sich jedes Individuum in einem System, welches als Ganzes verstanden wird. Und Änderungen innerhalb des Systems beeinflussen alle Mitglieder (Vgl. Schuhmann, 1999, S.6).
Arenz-Greiving veranschaulicht die familientherapeutische Sichtweise anhand eines Mobiles:
„Alle Teile des Mobiles sind miteinander verbunden, sie bilden in der Gesamtheit ein System, das immerzu nach einem Gleichgewicht strebt. Die Belastung und Bewegung des einzelnen Teiles bringt zwangsläufig auch die anderen in Bewegung. Auch in der Familie bewegen sich alle Mitglieder – zwar in unterschiedlichem Ausmaß und individueller Art und Weise -, wenn sich an einer Stelle des Mobiles etwas verändert – sei es durch eine innere Belastung oder durch Anstöße und Einflüsse von außen. Damit wird von allen – unbewusst – ein neues Gleichgewicht hergestellt“ (Arenz-Greiving, 2006, S.14).
Arenz-Greiving beschreibt, dass sich alle Beteiligten unter einer Dauerbelastung befänden, wenn eine Familie von einer Alkoholproblematik betroffen sei. Es gäbe permanente, beständige Krisen, die bewältigt werden müssten. Jedes einzelne Familienmitglied würde versuchen, sich auf jeweils eigene Art und Weise an die krisenhafte Entwicklung in der Familie anzupassen, um im Chaos der - oft unvorhersehbaren – Ereignisse zu überleben. Auch die Kinder würden versuchen, sich dem familiären Dauerstress anzupassen und würden dabei - unbewusst - bestimmte Rollen übernehmen (Arenz-Greiving, 2006, S.14).
So passen sich die Familienmitglieder an die Abhängigkeit des alkoholkranken Elternteils an, indem sie ihr Verhalten innerhalb der Familie, außerhalb der Familie und bezüglich der Krankheitsentwicklung dementsprechend umgestalten.
Bis die Familie, und vor allem der Betroffene selbst, die Krankheit anerkennt, vergeht oft viel Zeit. Es wird sich nicht eingestanden, wie sehr das Familienleben unter der Alkoholabhängigkeit leidet. Geheimhaltungsstrategien werden entwickelt und charakterisieren das familiäre Zusammenleben. Das Einbeziehen einer dritten Person erscheint undenkbar.
3 Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile)
In diesem Kapitel werden die Interaktionen in der Familie und die damit verbundenen Einflüsse auf die Psyche und das Gefühlsleben der Kinder beschrieben. Und es werden typische Anpassungsleistungen (Rollen) der Kinder dargestellt. Im Anschluss werden mögliche Entwicklungsstörungen von Kindern aus alkoholbelasteten Familien betrachtet und Resilienzfaktoren, die eine gesunde Entwicklung fördern können, erläutert. Zum Abschluss des Kapitels werden häufige Folgen für das Erwachsenenleben der Kinder aus alkoholbelasteten Familien detailliert beschrieben, auch um zu zeigen, wie die Gefühle und die internalisierten Regeln der Kindheit eine spätere Abhängigkeit begünstigen können.
3.1 Merkmale einer Alkoholikerfamilie
Um einer Stigmatisierung entgegen zu wirken, möchte ich zunächst betonen, dass es „die Alkoholikerfamilie“ schlechthin nicht gibt. Jede Familie ist anders. Deshalb ist ein individueller Blickwinkel auf die persönliche Lebens- und Suchtgeschichte der einzelnen Familienmitglieder notwendig und ein empathisches Verstehen der Menschen gefragt. Entwicklungsverläufe und Kompensationsmöglichkeiten können sehr unterschiedlich sein. Dennoch gibt es - durch die Mitwirkung des Alkohols - bestimmte, immer wiederkehrende Charakteristika in Alkoholikerfamilien, und zwar unabhängig von sozialer Schicht, Bildungsstand oder wirtschaftlicher Lage der Mitglieder. Diese Merkmale sollen im Folgenden beschrieben werden.
3.1.1 Mangelnde Interaktion
Ein großes Problem für Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) besteht darin, dass die Sucht als „Familiengeheimnis“ behandelt wird und nicht darüber gesprochen werden darf. Häufig ist die Krankheit sogar innerhalb der Familie ein Tabuthema.
So sei zwar der Alkohol das beherrschende Element in der Familie, und die Stimmung und die häusliche Atmosphäre in der Familie würden in erster Linie davon bestimmt werden, ob der Abhängige getrunken habe oder nicht. Das Alkoholproblem wäre also nahezu permanent gegenwärtig, dürfe aber nicht als solches benannt werden. Jedes Familienmitglied wisse oder vermute zwar, dass Vater oder Mutter ein Alkoholproblem habe, aber es würde niemals offen darüber geredet werden. Der hohe Alkoholkonsum des Abhängigen würde entschuldigt und ungünstigen Umständen zugeschrieben werden (Zobel, 2008, S.44).
So können die Kinder weder innerhalb noch außerhalb der Familie über ihre Gefühle sprechen, denn die Loyalität gegenüber ihren Eltern und auch Schamgefühle halten sie davon ab, sich Außenstehenden zu öffnen.
Aus Angst es könnte etwas über das „Familienproblem“ herauskommen, vermeiden sie Situationen, in denen ihr Geheimnis enthüllt werden könnte. Das heißt, sie vertuschen in der Schule die häusliche Situation und vermeiden es, jemand mit nach Hause zu bringen. Dies kann zur sozialen Isolation führen. Und Freundschaften können nur schwer oder gar nicht aufgebaut werden. Durch die seltenen Kontakte mit Gleichaltrigen sei das Erlernen sozialer Kompetenzen oft nicht möglich und ein wichtiger Sozialisationsfaktor für die Kindesentwicklung nicht gegeben. Häufig käme es vor, dass betroffene Kinder auffälliges und unangemessenes Verhalten zeigen würden, was wiederum zu weiterer sozialer Ausgrenzung führen könne (Arenz-Greiving, 2006, S.7).
Oft gibt es in Alkoholikerfamilien bestimmte unausgesprochene Regeln, die den Familienalltag bestimmen (Wegscheider 1988, in Zobel 2006, S.23)
- Das Wichtigste im Familienleben ist der Alkohol.
- Der Alkohol ist nicht die Ursache von Problemen.
- Der abhängige Elternteil ist nicht für seine Abhängigkeit verantwortlich.
- Der Status quo muss unbedingt erhalten bleiben, koste es, was es wolle.
- Jeder in der Familie ist ein ‚enabler‘ (Zuhelfer).
- Niemand darf darüber reden, was >wirklich< los ist.
- Niemand darf sagen, wie er sich wirklich fühlt.
Häufig ist die Kommunikation in der Familie auch in anderen Kommunikationsbereichen weit stärker gestört, als in Nicht-Alkoholikerfamilien. Dies führt zur Unterdrückung der Gefühle, schürt Ängste und lässt die durch die Alkoholsucht hervorgerufene Familiensituation unverändert bestehen. Statt normaler Gespräche sind Unehrlichkeit, Lügen, doppeldeutige Aussagen, Beschimpfungen und Drohungen an der Tagesordnung. Eine derartige Kommunikation führt unweigerlich zu großem Unbehagen. Nicht feste Regeln bestimmen die Kommunikation, sondern die Macht des Stärkeren. Worte verlieren dadurch ihren Wert und ihre Bedeutung, so dass Kinder sich nur noch auf Tatsachen verlassen und dem gesprochenen Wort misstrauen.
„Kinder stehen inmitten dieser Kommunikationslosigkeit, ohne die Situation ändern zu können. Ihre Unsicherheit, wie der betrunkene Vater oder die nervöse Mutter reagieren, hält sie zurück, aus eigener Motivation Gespräche zu beginnen. Besonders die Wechselhaftigkeit und Launen des Alkoholikers verhindern jeden verbalen Kontakt. Die Folge davon ist, dass die Kinder innerhalb der Familie keinen Ansprechpartner für ihre Probleme und Sorgen haben“ (Bertling, 1993, S.56).
3.1.2 Unberechenbarkeit im elterlichen Verhalten
Klein, der in unterschiedlichen Studien im klinischen Kontext die Situation von Kindern aus Alkoholikerfamilien untersucht hat, spricht davon, dass zu den von den Kindern und Jugendlichen am häufigsten genannten Erfahrungen die Unberechenbarkeit im elterlichen Verhalten gehört.
Dies beziehe sich verstärkt auf den Alkohol trinkenden, aber auch auf den jeweils anderen – meist als co-abhängig bezeichneten - Elternteil.
Versprechungen, Vorsätze und Ankündigungen würden oft nicht eingehalten werden, und es herrsche ein inkonsistentes Belohnungs- und Bestrafungsverhalten vor.
Generell würden sehr viele Ambivalenzerfahrungen und Loyalitätskonflikte berichtet werden. Das bedeutet, z.B. manchmal übermäßig verwöhnt und manchmal übermäßig bestraft zu werden; den alkoholabhängigen Elternteil extrem zu verachten und zu hassen, ihn aber auch sehr zu mögen und zu umsorgen, oder zu glauben, den alkoholabhängigen Elternteil auch im Erwachsenenalter noch kontrollieren zu müssen.
Kinder in Alkoholikerfamilien würden glauben, dass z.B. Gefühlskontrolle, Rigidität, Schweigen, Verleugnung und Isolation geeignete Problembewältigungsverhaltensweisen seien.
Es herrschten auch oft extreme Belastungssituationen für die Kinder vor. Diese sind zusammenfassend dadurch gekennzeichnet, dass
1. „sie mehr Streit, konflikthafte Auseinandersetzungen und Disharmonie zwischen den Eltern erleben, als andere Kinder;
2. sie extremeren Stimmungsschwankungen und Unberechenbarkeiten im Elternverhalten ausgesetzt sind;
3. sie häufiger in Loyalitätskonflikte zwischen den Elternteilen gebracht werden;
4. Verlässlichkeiten und Klarheiten im familiären Ablauf weniger gegeben sind sowie Versprechen eher gebrochen werden;
5. sie häufiger Opfer von Misshandlungen (physisch, psychisch, sexuell) und Vernachlässigung werden“
(Klein, 2008, S.5)
Die Kinder werden durch dieses unberechenbare Auftreten extrem verunsichert. Und oft suchen sie in ihrem eigenen Verhalten den Grund für die Überreaktion des Abhängigen. Sie versuchen dann oft sich den widersprüchlichen Erwartungen des Abhängigen anzupassen, und verleugnen dabei ihre eigenen Gefühle (Zobel, 2008, S.43).
Alkoholabhängige Eltern leugnen – oft jahrelang – ihr Suchtproblem. Konflikte werden vermieden oder verharmlost, die Ursachen der Probleme nach außen geschoben. Die Kinder lernen, ihr Verhalten auf die aktuelle Situation abzustimmen und ihre Gefühle beiseite zu schieben (Arenz-Greiving, 2006a, S.6).
Zwischenfazit:
Ein zentrales Problem dieser Kinder ist die permanente Überforderung, denn sie dürfen ihre kindgemäßen Bedürfnisse meist nicht leben:
Das bedeutet, sie entwickeln oft sehr früh in ihrem Leben ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem suchtkranken Elternteil. Sie erleben extreme körperliche Zustände mit, wie Rausch oder Entzug. Es besteht die Erwartung, dass sie sich still einfügen und niemanden in der Familie zusätzlich belasten. Dadurch müssen sie sich oft allein mit dem Alltag und den Anforderungen der Umwelt, wie z.B. Schule, zurechtfinden. Sie müssen Streit, Auseinandersetzungen und extreme Stimmungsumschwünge aushalten. Häufig sind sie Mittel in der Auseinandersetzung zwischen den Eltern und werden gezwungen, Partei zu ergreifen, wodurch sie in erhebliche Loyalitätskonflikte geraten. Und sie dienen als Objekt von Verwöhnung und Aggression. Sie erleben, dass Versprechen ihnen gegenüber in extremer Weise nicht eingehalten werden. Nicht wenige dieser Kinder erfahren sexuelle Belästigungen und Misshandlungen. Und die inkonsequente Erziehung, d.h. ein Wechselbad zwischen Härte und Verwöhnung, vermittelt den Kindern die Grunderfahrung, dass sie sich auf ihre Eltern – und auf Erwachsene im Allgemeinen – nicht verlassen können (Arenz-Greiving, 2006a, S.7).
3.1.3 Erziehungsverhalten
Das Erziehungsverhalten von Eltern hat immer Auswirkungen auf das Verhalten und die Entwicklung der Kinder. Sehr häufig sei das Erziehungsverhalten in alkoholbelasteten Familien unbeständig. Mal würde ein bestimmtes Verhalten der Kinder bestraft, ein anderes Mal würde dasselbe Verhalten gar nicht beachtet oder sogar gelobt werden. Fehler im Verhalten der Kinder würden seitens der Eltern nicht selten durch fast explosionsartige Wutausbrüche zu beseitigen versucht werden. Auch körperliche Misshandlungen seien dann nicht mehr auszuschließen. Der Statusverlust des Alkoholikers würde diesen dazu veranlassen, ihn durch ein gesteigertes autoritäres Verhalten wettzumachen. Versprechungen würden gemacht werden, aber oft nicht eingehalten werden. Und Einstellungen, Meinungen und Äußerungen der Eltern würden von diesen plötzlich umgeworfen werden. Sie würden diese dann bestreiten oder würden das Gegenteil behaupten. Dieses Erziehungsverhalten verursacht bei den Kindern Angst, eine große Unsicherheit in ihren Wahrnehmungen und Gefühlen und erzeugt Desorientierung, denn sie finden nicht die notwendige Führung. Außerdem bewirkt diese Wechselhaftigkeit des Erziehungsverhaltens eine instabile und unzuverlässige Beziehung zwischen den Eltern und Kindern. Im emotionalen Bereich würde zumindest das erzieherische Verhalten des Alkoholikers zur „Geringschätzung“ und zu „emotionaler Kälte“ tendieren. Diese Erziehungseinflüsse beinhalten für das Kind eine minimale Autonomie bei primär negativen Gefühlsvorgängen, die durch Frustration der emotionalen Grundbedürfnisse Liebe, Bestätigung, Anerkennung und Orientierung ausgelöst werden (Bertling, 1993, S.58).
3.1.4 Atmosphäre
Die Atmosphäre in einer Alkoholikerfamilie ist häufig gespannt. Die Kinder finden sich nur schwer zurecht.
Die Spannungen zwischen den beiden Elternteilen bewirken bei den Kindern eine gestörte emotionale Beziehung zu den Eltern, da sie in ihren Gefühlen zu den einzelnen Elternteilen ständig hin und her gerissen werden. Die Kinder würden ihr Verhalten auf die momentane Situation und Stimmung abstimmen und unterlägen dabei den oft enormen Stimmungsschwankungen der Eltern. Und sie würden dabei auch unter ihren eigenen, mit der Situation verbundenen, Stimmungsschwankungen leiden.
Die Erfahrung, echte Zuneigung zu erfahren und das Gefühl, geliebt zu werden, würden häufig fehlen. Die Kinder fühlten sich somit nicht in einer familiären Atmosphäre, in der sie Unterstützung bekämen, sondern müssten oft zusehen, wie sie alleine mit sich und ihren Problemen fertig werden würden (Bertling, 1993, S.57).
Zerrissen zwischen den Eltern
Häufige elterliche Streitigkeiten und eheliche Spannungen bringen die Kinder in Loyalitätskonflikte. Sie fühlen sich zerrissen zwischen den Eltern und können zu keinem von beiden Teilen eine wirkliche, emotionale Bindung herstellen. Nicht selten kommt es zu Trennungen der Eltern. Solche Trennungs- und Verlusterfahrungen werden von den Kindern wiederum sehr unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Die Kinder fühlen sich jedoch beiden Elternteilen verpflichtet, aber die Aufträge der Eltern laufen zum Teil gegeneinander (Arenz-Greiving, 2006, S.8).
Wechselbäder der Gefühle
Das Suchtverhalten von Vater und Mutter bedeutet für die Kinder oft eine extreme Berg- und Talfahrt der Gefühle. Da sich ein Großteil des Familienlebens um das Suchtmittel und den Süchtigen dreht, ist die Befindlichkeit der Familienmitglieder eng mit dem Konsumverhalten des Süchtigen verbunden. Hoffnung bei Abstinenzversuchen und Enttäuschung sowie zunehmender Ärger nach Rückfällen wechseln miteinander ab. Kinder erleben sich selbst weitgehend als ohnmächtig in diesem Kreislauf, was sie jedoch nicht daran hindert, sich selbst Schuld bzw. Verantwortung für das Trinkverhalten von Vater oder Mutter zuzuschreiben. Kinder, die die Erfahrung des emotionalen Auf und Ab über lange Zeit gemacht haben, zeigen zunehmend weniger Gefühle – und erscheinen lieber „cool“. Und sie ziehen sich in ihre eigene Innenwelt bzw. Traumwelt zurück. Angst, Traurigkeit, Wut, Scham und Schuld sind typische Stimmungen dieser Kinder (Arenz-Greiving, 2006, S.8).
Das einzig Zuverlässige ist die Unzuverlässigkeit
„Der Alltag in der Suchtfamilie ist geprägt von Unsicherheit und Unberechenbarkeit. Dies erleben Kinder noch stärker als die erwachsenen Angehörigen. Sie erfahren wie unberechenbar der abhängige Elternteil in seiner Stimmung und seinem Verhalten ist. Sie erleben, wie unbeständig positive Entwicklungen wie Trinkpausen oder harmonische Phasen zwischen den Eltern sind. So erfahren Kinder eine große Ungewissheit und befinden sich in einer ängstlich angespannten Erwartungshaltung, was der nächste Tag wohl bringt. Sie lernen die Lektion, dass man Worten und Versprechen nicht vertrauen kann. Verlässlichkeit und Beständigkeit, die notwendig sind, um eigene Stabilität zu entwickeln, sind nicht in hinreichendem Maße vorhanden“ (Arenz-Greiving, 2006, S.9).
3.1.5 Familienregeln: „Rede nicht, traue nicht, fühle nicht!“
Da die Alkoholabhängigkeit noch immer eine stigmatisierte Krankheit ist, haben die Kinder alkoholkranker Eltern zahlreiche Geheimnisse zu hüten. Und es ist nicht unbedingt im Interesse der betreffenden Familien, dass diese Geheimnisse gelüftet werden.
„Typisch für die Suchtfamilie ist das massive Verleugnen des Suchtproblems und der zugrunde liegenden Beziehungsprobleme. Konflikte werden vermieden. Verleugnen, verharmlosen und die Probleme nach außen schieben sind verbreitete Methoden des Umgangs mit Problemen “ (Arenz-Greiving, 2006, S.9).
So würden auch Kinder suchtkranker Eltern Regeln für ihr Leben lernen, allerdings seien dies Regeln, die nicht förderlich für eine gesunde Entwicklung sind. Den Kindern würde täglich vermittelt werden, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihren Wünschen und Bedürfnissen nicht gefragt sind. Würden sie ihre eigenen Bedürfnisse äußern und versuchen durchzusetzen, würde das familiäre System noch chaotischer und noch komplizierter werden. So müsse das Kind seine Bedürfnisse zurückstellen und dafür auch noch Verständnis zeigen. Die Kinder seien gehalten, ihr Verhalten nach diesen Regeln auszurichten. Und sie würden diese Regeln früh und so intensiv lernen, dass dies langfristige Folgen habe. Diese Regeln würden durch Blicke, Gesten und Reaktionen vermittelt werden, seien unausgesprochen und hielten das Familiensystem geschlossen (Arenz-Greiving, 2006, S.12).
Diese Regeln hat schon Claudia Black (1988) durch die Auswertung zahlreicher Interviews mit erwachsenen Kindern von Alkoholikern beschrieben. Sie werden in der neueren Literatur immer wieder erwähnt.
„Rede nicht!“
Weder innerhalb noch außerhalb der Familie darf über Probleme gesprochen werden. Am besten, man nimmt sie nicht wahr. Zum Teil werden Schwierigkeiten zugegeben, aber die Ursache dafür wird auf andere projiziert. Der Alkoholmissbrauch wird verleugnet und geheim gehalten und der abhängige Elternteil für sein Verhalten verteidigt. Die Erfahrung, nicht darüber reden zu dürfen, vermittelt den Kindern das Gefühl, dass es keine Hilfe und keinen Ausweg gibt.
„Fühle nicht!“
Das erleichtere das Leben, vermeide Schmerzen und bürde den Eltern nicht noch das eigene Leid auf. Dahinter stehe aber auch die Ansicht, dass man Gefühlen nur bedingt trauen sollte. Durch das Leugnen der Gefühle würde der Zugang zum emotionalen Erleben verlernt werden, wodurch auch angenehme Gefühle nicht mehr wahrzunehmen seien. Für die Kinder bedeutet das, sie müssen schnell erwachsen werden, viel Verantwortung übernehmen, viel helfen und kaum Anforderungen an die Eltern stellen.
„Traue nicht!“
Durch die Botschaft der Familie, dass alles normal sei, und der gegenteiligen Wahrnehmung der Kinder, lernen sie, ihren eigenen Wahrnehmungen nicht zu trauen und auch anderen zu misstrauen.
So würden Suchterkrankungen Abhängige und Angehörige zu Lügnern machen. Alkoholiker würden lügen, um ihr Trinken zu vertuschen. Die Partner/innen würden lügen, damit der Betroffene nicht seinen Arbeitsplatz und/oder seinen guten Ruf verlieren würde. Die Kinder würden lügen, um sich selbst zu schützen. Wenn in einer Familie Lügen normal geworden sind, dann kann man sich auf nichts und niemanden mehr verlassen. Daraus lernen die Kinder: Ich bin der einzige Mensch, dem ich trauen kann. Jedes Kind hat Gefühle. In einer Atmosphäre, in der Gefühle zu haben, verboten ist, müssen Gefühle versteckt werden, aus Scham oder aus Angst, sich bloßzustellen. In Suchtfamilien scheint es „kein Gefühl für Gefühle“ zu geben. Aus den Familienregeln entstehen persönliche Lektionen, die verinnerlicht werden und auf denen sich das eigene Verhalten aufbaut (Arenz-Greiving, 2006, S.13).
3.1.6 Wenn der Vater suchtkrank ist…
Mayer berichtet aus seinen Erfahrungen aus seiner alltäglichen kindertherapeutischen und heilpädagogischen Arbeit mit entwicklungs- und persönlichkeitsauffälligen Kindern, Jugendlichen und deren Familien, und aus seiner langjährigen Arbeit mit Kindergruppen mit Kindern von alkoholabhängigen Eltern(teilen), einige signifikante Unterschiede zwischen väterlicher und mütterlicher Abhängigkeit.
Die Alkoholkrankheit des Vaters würde meistens durch auffälliges Sozial- und Arbeitsverhalten nach außen hin bekannt werden. Häufig sei eine Solidarität der Restfamilie gegen den Vater festzustellen, die weitere Familie sowie das soziale Umfeld sei informiert und würde zusammen halten. Manchmal käme es zu Polarisierungen, in denen sich, schon vorab bestehende, Unterschiede (z.B. zwischen Eltern des Mannes und der Ehefrau) weiter verstärken würden, und zu Konfrontationen und Abwertungen bzw. Schuldzuweisungen führen würden. Diese Art der Öffentlichkeit der Suchterkrankung würde bewirken, dass darüber gesprochen werden würde, allerdings nicht in einer Weise der Wertschätzung und Achtung, sondern in einer Art und Weise der Aburteilung und Herabsetzung. (Mayer, 2010, S.20f)
Das würde bedeuten:
„Die Kinder werden eingeweiht oder gewarnt, sie werden aufgefordert sich zurückzunehmen und anzupassen, um Konflikte zu vermeiden, sie werden um Unterstützung und Mitarbeit gebeten, sie werden als Schutz eingesetzt, sie erleben offen oder verdeckt die Enttäuschung und Wut der Mutter.“ (Mayer, 2010, S.21)
Für die Familie sei mit der väterlichen Alkoholabhängigkeit die Sorge um wirtschaftliche Bedrohung wegen Verlust des Arbeitsplatzes, Führerscheinverlust oder körperlicher Erkrankung verbunden. Dies würde kompensatorisch zu einem hohen Engagement der Mutter führen. Und ihre Belastung würde in dem Maße steigen, wie sie versuchen würde, die Bedrohung zu kompensieren:
„Die Kinder werden vom Vater ferngehalten, es wird erklärt, vermittelt, geschlichtet, verteidigt, die Mutter versteckt oder entdeckt das Suchtmittel, die Mutter kämpft für die Beziehung oder setzt sich mit dem Gedanken einer Trennung auseinander, die Mutter führt den Haushalt und versorgt die Kinder, um eine weitere „Veröffentlichung“ der Suchtproblematik zu verhindern oder das Schuldgefühl zu verringern.“ (Mayer, 2010, S.21)
So wäre das Weltbild der Kinder vom Engagement der Mutter und vom Ausfall des Vaters geprägt. Sie würden erleben, dass die „gute“ Mutter sich als Einzelkämpferin für die Familie einsetzen und überfordern würde, während der „böse“ Vater hilflos, schwach, ungerecht und wechselhaft die Familie zerstören würde. Bei den Kindern sei selten ein offener Loyalitätskonflikt zwischen dem „gesunden“ und dem „kranken“ Elternteil zu erleben: sie würden zur Mutter halten. Der Vater würde gemieden, abgewertet und ignoriert werden, sodass oft eine symbiotisch geprägte Allein-Erziehenden-Familie entstehen würde. Der Rückzug des Vaters würde diese Dynamik unterstützen. Aus analytischer Sicht würde unter der Oberfläche eine massive Ambivalenz bestehen, die aus der ödipalen Situation erklärbar wäre. Jungen würden sich nach einer Identifikationsfigur in ihrem Vater sehnen. Sie würden jedoch, aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen und durch die Abweisungen der Mutter, daran gehindert werden, sich einen solchen kranken Mann als Vorbild und Orientierung zu nehmen.
Mädchen würden sich eine Annäherung an den Vater wünschen, d.h. eine zärtliche Beachtung durch ihn, um ihre Attraktivität zu erleben und mit der Ausprägung ihrer Geschlechtsrolle zu experimentieren. Doch auch sie würden, durch ihre eigenen Beobachtungen und die Abweisungen der Mutter, daran gehindert werden, sich einen solchen kranken Mann als Objekt ihrer Sehnsucht und Liebe zu wählen. Diese Abspaltung der Sehnsucht nach Nähe und Liebe könne später zu Problemen in der Geschlechtsrollenübernahme und zu Beziehungsschwierigkeiten führen (Mayer, 2010, S.21f).
3.1.7 Wenn die Mutter suchtkrank ist…
Besonders gravierend wirke es sich aus, wenn es bei den Kindern zu körperlichen Schädigungen im Sinne einer Alkoholembryopathie gekommen ist. Innerhalb der Familie würde es in so einem Fall zu eindeutigen Schuldzuweisungen kommen und zu einer klaren Benennung der Mutter als „böse“ und verantwortungslos bis hin zum Absprechen der Erziehungsfähigkeit.
Aber auch wenn die Kinder körperlich gesund geboren worden wären und sich das Alkoholproblem erst nach der Geburt der Kinder entwickelt hätte, sei das Erleben der Mutter in erster Linie von Schuldgefühlen geprägt. Dieses Schulderleben erwachse vorrangig aus dem Gefühl, das gesellschaftlich gültige Ideal der aufopfernden, kindzentrierten, allzeit bereiten Mutter nicht erreicht zu haben. Die Mutter selbst hätte doch dem Kind alles geben wollen. Es hätte es besser haben sollen. Vieles habe sie doch nur für das Kind getan… und jetzt habe sie wieder versagt. Möglicherweise sei das Kind und die Übernahme der Mutterrolle das einzig sinngebende Thema im Leben dieser Frau gewesen. Eine Mutter, die sich so erleben würde, würde alles investieren, um den vermeintlichen Schaden wieder gut zu machen. Vielleicht würde sich das Kind auf die verwöhnenden Angebote einlassen und würde auf neue Sicherheit und Stabilität hoffen. Doch würde es vergessen sich zu bedanken, sei die Mutter tief enttäuscht und würde versuchen die Sehn-Sucht durch Alkohol zu mildern. Die Kinder würden merken, dass etwas nicht stimmt. Und der Vater würde versuchen, die Mutter zu aktivieren und an ihre Fürsorglichkeit zu appellieren.
Für die Familie würde sich ein innerer Druck ergeben, der daraus entstehen würde, dass die Rolle der Mutter, soweit es geht, stabilisiert werden müsse. Beim Kind würde sich eine anpassende Haltung ergeben. Die Krise würde verdeckt und verschwiegen werden, um die bestehenden Schuldgefühle und Selbstvorwürfe nicht noch zusätzlich zu schüren. Kinder würden versuchen zu stützen und zu entlasten. Sie seien zugewandte Partner, die in die Sorgen der Mutter partnerschaftlich eingewiesen seien. Die Väter hätten ebenfalls Angst vor dem Verlust und würden seltener eine Trennung als Lösung des Problems in Erwägung ziehen. So würden andere Personen aus der Familie aktiviert werden, um die Ausfälle der Mutter in der Alltagsorganisation auszugleichen.
Da der Trinkort einer Mutter meist das Zuhause sei – und nicht die Gastwirtschaft wie beim Vater – würde den Kindern häufig eine Funktion des Aufpassens und Verhinderns zukommen. So würden bei jedem weiteren Trinken der Mutter Gefühle des Versagens und der Hilflosigkeit bei den Kindern verstärkt werden. Dieses würde bei den Kindern zu Störungen im emotional-affektiven Bereich im Sinne von Ängsten oder Depressionen führen.
Wenn die alltägliche Versorgung der Kinder nicht mehr gesichert wäre, käme für die Kinder häufig die Überlegung einer Fremdplatzierung in einer Tagespflegestelle oder Tagesgruppe, oder sogar in einer Dauerpflegestelle in Betracht. So könne eine mütterliche Alkoholabhängigkeit viel gravierendere Folgen für die Persönlichkeits- und Sozialentwicklung der Kinder haben als beim Vater. Denn das Herausgerissenwerden aus familiären Beziehungen sei weit häufiger möglich (Mayer, 2010, S.22f).
3.2 Rollenverhalten und Rollenkonflikte der Kinder
Damit die Kinder im Familiensystem überleben können, übernehmen sie bestimmte Rollen und Aufgaben. Dadurch haben sie einen gewissen Schutz und gewinnen ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit – und sei es negative. Die Kinder erfüllen mit diesen Überlebensstrategien in hohem Maße auch die unbewussten Bedürfnisse ihrer Familie und stabilisieren damit das süchtige System. Die am meisten verbreitete Beschreibung der Dynamik in Suchtfamilien in Form eines Rollenmodells stammt von Sharon Wegscheider (1988), einer Schülerin der Familientherapeutin Virginia Satir (Mayer, 2010, S.27). Sie hat, ebenso wie Claudia Black (1988), das Anpassungsstreben der Kinder in Suchtfamilien analysiert und in das folgende Rollenmodell überführt. In der aktuelleren Literatur findet es Erwähnung durch verschiedene Autoren wie (Zobel, 2006; Klein, 2005; Arenz-Greiving, 2006 und Mayer, 2010).
3.2.1 Der Held/das verantwortungsbewusste Kind
Die Rolle des Helden übernimmt meist das älteste Kind oder ein Einzelkind. Ein Kind in dieser Rolle übernimmt häufig die Verantwortung für andere. Der Held ist gut darin, Dinge zu organisieren und Konflikte zu lösen. Der Familienheld ist sozial kompetent, ist pflichtbewusst, kann sich gut ausdrücken und ist äußerst zuverlässig. Er hat gelernt, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann und ist es gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Er arbeitet hart, um Anerkennung zu erhalten. Nicht selten werden solche Kinder zu „Ersatzpartnern“ für den trinkenden Elternteil (Zobel 2006, S.27).Der Held schützt sich vor Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit durch aktives Handeln. Er braucht den Erfolg, um sich wertvoll und angenommen zu fühlen. Durch seine Erfolge wird die Familie nach außen hin aufgewertet und bekommt Anerkennung (Zobel, 2006, S.27).Helden sind oft beliebte Anführer, Meinungsführer, Trainer etc. , die nicht nur von den jeweiligen Gruppenmitgliedern, sondern auch von Eltern und Lehrern für ihr Verantwortungsbewusstsein, ihr Organisationstalent und ihre Fürsorglichkeit geschätzt werden (Arenz-Greiving, 2006, S.16).
Rollenkonflikte des Helden:
Die gefühlsmäßige „Unterernährung“ der Helden bleibt unsichtbar. Sie seien stark von Lob und Anerkennung abhängig und würden davon träumen, ihre Familie zu retten und glauben, dass das möglich sei, wenn sie sich nur genug anstrengen würden. Und obwohl sie sich so sehr bemühen würden, gelänge es nicht, das Leid aus der Welt zu schaffen. Dadurch entwickle sich in ihnen das Gefühl, unzulänglich und schuldig zu sein. Sie würden unter dem Gefühl leiden alles „supergut“ machen zu müssen, und würden Ängste und Schuldgefühle entwickeln, wenn sie ihre selbstgesetzten Standards nicht erfüllen würden. Obwohl sie von außen Anerkennung für ihre Leistungen bekämen, könnten sie sich nur oberflächlich darüber freuen und blieben meist einsam und hätten Schwierigkeiten mit persönlichen, engen Beziehungen. Und es fiele ihnen schwer, sich zu entspannen, Spaß zu haben und dem Leben Leichtigkeit abzugewinnen (Arenz-Greiving, 2006, S.16).
3.2.2 Das ausagierende Kind oder der Sündenbock
Das ausagierende Kind verinnerlicht das Chaos in der Familie und lebt es durch auffälliges und unangemessenes Verhalten aus. Es neigt zu Rebellion und Auflehnung.
Es ist nicht zu übersehen und bekommt durch sein betont oppositionelles Verhalten in erster Linie negative Aufmerksamkeit. Nach außen hin zeigt sich das ausagierende Kind oft garstig und abschreckend. Und es bringt sich immer wieder in gefährliche Situationen: Schlägereien, Anschluss an Gruppen, die randalieren, gewalttätig werden oder anderweitig kriminell handeln. Nicht selten kommt das ausagierende Kind mit dem Gesetz in Konflikt und nimmt früh Alkohol oder andere Drogen zu sich ( Arenz-Greiving, 2006, S.17).
Rollenkonflikte des ausagierenden Kindes:
Tatsächlich gelingt es dem ausagierenden Kind, von der suchtbedingten Problemlage im Elternhaus abzulenken. Und, indem es sich als „Übeltäter“ anbieten würde, würde es damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Gleichgewichts innerhalb des Familiensystems leisten. Es übernähme die Aufgabe, die Familie zu entlasten und vom Suchtproblem abzulenken.
Hinter der abweisenden, aggressiven und feindseligen Fassade dieser Kinder würden sich jedoch vor allem Schmerz, Einsamkeit und das Gefühl, zurückgewiesen zu werden, verbergen. Und fatalerweise würden diese Kinder sich durch ihr Verhalten auch immer wieder die Bestätigung ihrer Befürchtungen holen, da man ein Kind, das sich so verhält, ja nicht lieb haben könne (Arenz-Greiving, 2006, S.17). Zobel schreibt dazu, dass diese Kinder auch unter Kindern häufig ausgegrenzt werden würden und dazu neigen würden, sich anderen ausagierenden Kindern anzuschließen, um Anerkennung und Bestätigung zu bekommen. Auch in der Kita verhielten sie sich rebellisch und lehnten sich gegen die Erzieherinnen auf. Und oft würden sie auch für Missetaten verantwortlich gemacht werden, die sie gar nicht begangen hätten (Zobel, 2005, S.6).
3.2.3 Das stille Kind
Das stille Kind stellt keinerlei Anforderungen an die Eltern, bleibt unauffällig und zieht weder positive noch negative Aufmerksamkeit auf sich. Es lebt zurückgezogen, ist genügsam und gilt als „pflegeleicht“.
Ein Kind in dieser Rolle versucht, Konflikte zu vermeiden, akzeptiert die Situation und passt sich ihr an. Es versucht nicht etwas zu verändern oder erträglicher zu machen, und entwickelt auch nicht das Bedürfnis, die Verantwortung zu übernehmen. Das stille Kind findet seine Identität in einzelgängerischen Aktivitäten wie Lesen, Tagträumen, Sich-zurückziehen oder Computer spielen (Arenz-Greiving, 2006, S.18).
Rollenkonflikte des stillen Kindes:
Das Grundgefühl des stillen Kindes sei von Minderwertigkeit, Verlassenheit, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit geprägt. Da seine Familie im Grunde nichts von ihm erwarten würde, empfände es sich selbst auch als unbedeutend und habe keinen Anreiz seine Potentiale zu entfalten. Diese Kinder würden kaum soziale Fähigkeiten entwickeln und hätten besondere Probleme, Beziehungen einzugehen. So würden sie dazu neigen, ihre innere Leere mit essen zu füllen oder durch Krankheiten auf sich aufmerksam zu machen. Häufig würden sie Essstörungen entwickeln (Arenz-Greiving, 2006, S.18).
3.2.4 Der Clown/das Maskottchen
Der Clown ist meist das jüngste Kind in der Familie, das durch Spaß und Aufgeschlossenheit auffällt. Es ist komisch, lustig und unterhaltsam, und bringt durch seine lustigen Geschichten die Familie zum Lachen. Es sorgt für Ablenkung von der unterschwellig depressiven Grundstimmung in der Familie und löst damit Spannungen auf. Von den älteren Geschwistern wird es meist beschützt, weil es ja so klein und süß ist, und es wird ihm nicht alles erzählt, was vorgeht. Es vermittelt den Eindruck, ein fröhliches und humorvolles Kind zu sein, und ist deshalb beliebt. Andererseits wirkt es auch unreif, ängstlich und wenig belastbar und sein Verhalten kann hyperaktive Züge annehmen (Zobel, 2005, S.7 und Arenz-Greiving 2006, S.19).
Rollenkonflikte des Clowns:
Das Kind in der Rolle des Clowns versucht unbewusst, der Familie das Gefühl zu vermitteln, dass alles halb so schlimm ist. Durch den inneren Zwang, diese Aufgabe zu erfüllen, wirke seine Heiterkeit häufig aufgesetzt.
Das jüngste Kind sei in eine Situation hineingeboren worden, die es nicht verstehen könne, und es würde sich oft allein und hilflos fühlen. Es würde die Spannungen und die Atmosphäre von unterdrücktem Zorn, oder auch Angst und Sorge, sehr intensiv wahrnehmen, sie aber nicht einordnen können. Diese Kinder würden hinter ihrer Fassade das Grundgefühl der Angst entwickeln. Sie würden wahrnehmen, dass irgendetwas in der Familie nicht stimme, wüssten jedoch nicht, was es sein könnte, da sie ja von ihren Geschwistern die Botschaft erhielten, dass alles in Ordnung sei. Kinder in dieser Rolle würden so lernen, dass Ängste auf keinen Fall ausgedrückt werden dürften. Neben dem Grundgefühl der Angst, würden diese Kinder, wie ihre Geschwister, Gefühle von Unzulänglichkeit, Bedeutungslosigkeit, Schuld und Einsamkeit begleiten. Und sie würden diese möglicherweise noch intensiver wahrnehmen, da sie jünger seien. Da sie in ihrem sozialen Repertoire außer dem Spaßmachen keine weiteren Fähigkeiten entwickelt hätten, würden sie von niemandem ganz ernst genommen werden. Und so hätten sie es schwer, Freunde zu finden.
Ein Kind in der Rolle des Clowns entwickle oft schwere seelische Störungen, denn es könne emotional nicht erwachsen werden.
Die einzigen Strategien, die es gelernt habe, seien Ablenkung und Vermeidung. Und so habe es nicht gelernt, mit Belastungen aktiv umzugehen. Und ebenso wenig habe es gelernt, seine Gefühle auszudrücken und die Gefühle der anderen zu akzeptieren (Arenz-Greiving , 2006, S.19). In diesem Zusammenhang berichtet Zobel aus den Erfahrungen in der Kita, dass diese Kinder am Anfang häufig viel positive Aufmerksamkeit bekämen, weil sie lustig und witzig seien. Später schlage dieses Gefühl meist um, da diese Kinder oft unangemessen reagieren würden, und von der Gruppe dann als nervend, störend und zappelig empfunden werden würden. Nicht selten bekämen sie schon in jungen Jahren Beruhigungsmittel (Zobel, 2005, S.8).
Die ursprünglich von Wegscheider (1988) entwickelten Rollenmodelle spielen heutzutage in der praktischen Arbeit mit Kindern suchtkranker Eltern in Suchtberatungsstellen eine Rolle und werden in der Fachliteratur immer wieder erwähnt. Es handelt sich dabei um Typisierungen, die nicht zwangsläufig mit einer Person assoziiert werden müssen. So können von den Kindern auch mehrere Rollen gleichzeitig ausgefüllt werden, oder in größeren Familien können mehrere Kinder identische Rollen besetzen (Mayer, 2010, S.29).Mayer weist kritisch darauf hin, dass eine große Gefahr eines solchen Rollenbeschreibungssystems darin bestehe, in eine Pathologie-Orientierung zu verfallen. Das, was Kinder zeigten, seien zunächst typische Interaktionsfolgen und Antworten auf die erlebten Beziehungsgestaltungen in der Familie (Mayer, 2010, S.29).
Meiner Meinung nach kann eine hohe Sensibilisierung und ein Verständnis für die Hintergründe des Verhaltens der Kinder aus der Beschäftigung mit diesem Rollenmodell resultieren.
Eine weitere Rolle für ein Kind ist die, von Claudia Black (1988) beschriebene, Rolle des Friedensstifters.
3.2.5 Der Friedensstifter
Der Friedensstifter ist ein besonders sensibles Kind, das von den alltäglichen Ereignissen gefühlsmäßig stärker betroffen zu sein scheint. Die Gefühle dieses Kindes kann man leichter verletzen als die der anderen. Trotzdem möchte es die anderen gerne trösten. Der Friedensstifter ist bestrebt, durch sein Verhalten die Anspannung und den Kummer der anderen zu verringern. Er versucht von klein auf, die Traurigkeit und die Ängste, den Zorn und die Probleme seiner Geschwister und seiner Eltern zu vertreiben. Dieses Kind entwickelt großes Geschick darin, zuzuhören und Einfühlungsvermögen zu zeigen, und es ist wegen dieser Eigenschaften beliebt. Der Friedensstifter widerspricht selten, und ist immer der erste, der sich entschuldigt, wenn er glaubt, dass eine Entschuldigung notwendig ist, besonders, wenn er jemand damit schützen kann. Er scheint in jeder Hinsicht ein warmherziges, umsichtiges und unproblematisches Kind zu sein. Auch in der Schule zeigt er das gleiche Verhalten wie zu Hause und ist dafür beliebt (Black, 1988, S.37).
Rollenkonflikte des Friedenstifters:
Black schreibt dazu, dass die Rolle des Friedenstifters dem Kind Sicherheit gäbe. Würde es riskieren, selbst einmal im Mittelpunkt zu stehen, müsste es sich mit seiner eigenen Realität auseinandersetzen, und es würde darunter leiden. Deshalb würde es die Aufmerksamkeit von sich ablenken und sich auf andere konzentrieren (Black, 1988, S.37).
Welche Rolle ein Kind als Bewältigungsstrategie wählt, hängt zum Teil von seinem Geschlecht, Alter und dem Reifegrad seines Ichs, sowie von seinem intellektuellen Stand ab. Die Übernahme der Rollen beinhaltet auch positive Erfahrungen und die Kinder entwickeln auch viele Fähigkeiten, sofern das beschriebene Verhalten Beachtung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen findet. Es führt jedoch zu ungesunden Extremen, wenn dieses Rollenverhalten die einzige Reaktionsmöglichkeit bleibt (Arenz-Greiving, 2003, S.34).
3.3 Folgen für das Gefühlsleben und Verhalten mit betroffener Kinder
An dieser Stelle soll dargestellt werden, wie sich das Gefühlsleben der Kinder weiter entwickeln kann und wie sich dies in der Psyche der Kinder manifestiert. Diese in der Kindheit angelegten Gefühle und Denkweisen prägen auch das Leben der Kinder im Erwachsenenleben – wie noch zu zeigen sein wird - in entscheidender Weise.
3.3.1 Verletzung der Ich-Grenze
Schläge, Gewaltakte und besonders sexueller Missbrauch greifen tief in die Psyche eines Jungen oder Mädchens ein, und zerstören seine Fähigkeit zu vertrauen absolut. Es gibt jedoch auch andere Arten von Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen, die das Vertrauen des Kindes untergraben können. So sind es nicht erst der körperliche Schmerz und die physische Ablehnung, die signalisieren, dass das Kind als Person vollständig missachtet wird. Würde, z.B. ein Vater, im betrunkenen Zustand, verbal seine Tochter anderen Männern als Sexobjekt anbieten, etwa mit der Aussage, <willst du sie mal ausprobieren?>, dann würde das Mädchen, ohne angerührt worden zu sein, zutiefst in seiner Persönlichkeit verletzt werden (Lambrou, 2014, S.65). Dabei missachtet der Täter das Recht eines Kindes auf den eigenen Körper, auf Selbstbestimmung über sich und die eigenen Gefühle, sowie auf ein Nein gegenüber den Wünschen anderer. Die Verletzung des Grenzpunktes, an dem die eine Person aufhört und die andere anfängt, zerstückele die Fähigkeit eines Kindes oder Jugendlichen zu vertrauen. Bei Verletzungen dieser Ich-Grenze würden die Kinder nach “bewährten“ Mustern reagieren. Sie würden so tun, als wenn sie nichts bemerken würden, als wenn alles normal sei. Denn sie würden sich mitschuldig an diesen scheußlichen Sachen fühlen. Und so würden sie die Bilder verdrängen, die sich im Grunde ganz klar eingeprägt hätten. Es reiche nun nicht mehr aus, einfach nur auf der Hut zu sein. Sie könnten nicht mehr vertrauen (Lambrou, 2014, S.66).
Eine andere Form, der Grenzverletzung ist es, wenn Eltern die Generationsgrenze ignorieren und Kinder oder Jugendliche mit Beziehungsproblemen ihrer Eltern behelligt werden. Es ist anzunehmen, dass diese Form der Missachtung von Grenzen in Suchtfamilien ungewollt sehr häufig stattfindet, da, aufgrund der Isolation und der Interaktionsschwierigkeiten in der Partnerschaft, oft kein erwachsener Gesprächspartner zur Verfügung steht. Jedoch wird diese Überbelastung der Kinder den Eltern in den wenigsten Fällen bewusst sein.
Häufig finden Gespräche zwischen einem Elternteil, dem es gerade schlecht geht, und einem Jugendlichen statt. Lambrou schreibt dazu, dass ein Jugendlicher auch noch mit 17 Jahren zu jung für diese belastenden Gespräche sei. Denn dabei würden die Rollen zwischen Kind und Elternteil vertauscht werden. Manche Jugendliche würden das eventuell als Aufwertung empfinden und würden sich dadurch ernst genommen fühlen, es würde ihnen jedoch ein wichtiger Teil ihrer Unbeschwertheit genommen werden. Denn sie müssten als erwachsene Partner reagieren, seien aber nicht erwachsen. Und sie müssten teilweise Verständnis für Probleme aufbringen, die Ekelgefühle in ihnen hervorrufen würden. Das Kind oder den Jugendlichen als emotionalen Ersatz für den trinkenden Partner zu benutzen, führe zu einer massiven Verletzung der Ich-Grenze, die sich mit jeder Wiederholung zum emotionalem Missbrauch steigern würde. (Lambrou, 2014, S.66f).
Lambrou zitiert in ihrem Buch „Familienkrankheit Alkoholismus“ zahlreiche Interviews, aus denen sowohl die Meinung der Jugendlichen, als auch die Sichtweise der Elternteile hervorgeht. Dabei zeigte sich, dass die Jugendlichen sich zwar anerkannt, aber auch deutlich überfordert fühlten, wenn sie als Ratgeber ihrer Eltern dienen sollten. Und dass sie viele Dinge gar nicht wissen wollten. Die Eltern, meist die Mütter, berichteten in einigen Fällen stolz davon, wie gut sie mit ihrer Tochter reden könnten, d.h. sie waren sich der Grenzüberschreitung gar nicht bewusst. Sie wollten wohl auch nicht wahrhaben, wie sehr sie ihre Kinder bedrängten. So würden die Eltern(teile), unter dem Vorwand, partnerschaftlich zu sein und Hilfe zu benötigen, in die Intimsphäre ihrer Kinder eindringen. Und sie würden ihre Kinder dadurch psychisch stressen und verletzen. Kinder und Jugendliche hätten das Recht, als Sohn oder als Tochter behandelt zu werden. Eltern sollten ihnen zuhören, sie in ihren Bedürfnissen ernst nehmen und Zeit für sie haben. Minderjährige dürften auf keinen Fall Gesprächspartner für ihre Eltern sein, wenn es sich um deren Ehe-, Sex-, Finanz- oder Berufsprobleme handele (Lambrou, 2014, S.69).
3.3.2 Enttäuschte Hoffnungen
Kinder alkoholabhängiger Eltern hoffen inständig, dass der geliebte Elternteil endlich aufhört zu trinken. Viel Unvorhergesehenes passiert in der Familie. Da könnte doch auch plötzlich mit dem Trinken Schluss sein. Und schließlich höre der Vater oder die Mutter ja auch ab und zu für einige Wochen mit dem Trinken auf und die Kinder würden erleben, dass der Elternteil auch ohne Alkohol leben kann. Dann wachse bei den Kindern die Hoffnung, dass jetzt die schlimme Alkoholzeit vorbei sei. Und obwohl die Kinder immer wieder erleben würden, wie Vater oder Mutter rückfällig würde, würde doch jedes Mal neue Hoffnung aufkeimen, wenn es Zeiten gäbe, in denen der Alkohol keine Rolle spiele. Kinder und Jugendliche könnten nicht wissen, dass Sucht nicht einfach mit Willensstärke zu bekämpfen sei. (Lambrou, 2014, S.70).
Lambrou gibt zu bedenken:
„Niemand hat ihnen erklärt, dass ein Alkoholiker, eine Süchtige an dem Punkt angekommen sein müssen, wo er oder sie aufhört, die Sucht unter Kontrolle bringen zu wollen. Die süchtige Person muss an ihrem persönlichen Tiefpunkt angelangt sein, da, wo sie zugibt, dass sie am Ende ist und eine einzige Erkenntnis nur noch zählt: Das Trinken zerstört mich völlig. Alles andere bleibt dahinter zurück. Auch die Familie, die Kinder oder die eigenen Eltern. Nichts darf die süchtige Person interessieren, außer sich selbst zu retten. Dies nennen die Alkoholiker die Kapitulation. Alkoholiker brauchen die Erfahrungen und das Vertrauen der trockenen Alkoholiker. Nur die Menschen, die heute trocken leben, können nachempfinden, wie schwer es ist, trocken zu bleiben, sie kennen auch die Gefahr, rückfällig zu werden“ (Lambrou, 2014, S.71).
Doch woher sollten Kinder oder Jugendliche das wissen? Sie würden an die Macht ihrer Zuneigung glauben und einfach immer weiter hoffen, dass der Elternteil ihnen zu Liebe in einen Entzug gehen würde. Kinder von alkoholabhängigen Eltern würden den letzten Rest ihres Vertrauens, das sie über die Kinderjahre gerettet haben, dem Alkoholiker schenken, wenn er versuchen würde, mit dem Trinken aufzuhören. Wenn dies immer wieder scheitern würde, würden sie abhärten und resignieren, um sich vor weiterem Hoffen zu schützen (Lambrou, 2014, S.72).
3.3.3 Das Gefühl Verantwortung übernehmen zu müssen
Kinder von Alkoholkranken haben häufig lernen müssen, nicht alles zu sagen, sich an vieles nicht zu erinnern und sich niemandem anzuvertrauen. Auch haben sie erfahren, dass sie auf ihre Eltern besser mit erhöhter Wachsamkeit reagieren. Als Folge dieser Erfahrungen und zum Schutz vor weiteren Verletzungen würden viele der Kinder sich entscheiden, aktiv zu werden. So würden besonders die Älteren und die Einzelkinder mehr Verantwortung übernehmen, als sie verkraften könnten. Um ihr Leben etwas überschaubarer zu gestalten, würden sie vieles in die Hand nehmen, was Aufgabe der Eltern wäre. So fühlten sie sich oft nicht nur für kleinere Geschwister, sondern auch für Vater oder Mutter verantwortlich (Lambrou, 2014, S.73).
Die Erwachsenen würden den Kindern nicht den Schutz, die Fürsorge und die Sicherheit geben, die sie bräuchten. Und sie blieben von diesen Erwachsenen abhängig, auch wenn sie sich nun aktiv bemühten, wenigstens einiges selbst in die Hand zu nehmen. Sie würden die Unvorhersehbarkeit in ihrem Leben reduzieren und würden sich dadurch etwas weniger ausgeliefert fühlen. Selbst zu handeln, statt zu vertrauen, gäbe einem Kind oder Jugendlichen, die Illusion, das Chaos in der Familie zu mildern. So erfüllten sie häufig die Bedürfnisse der Erwachsenen, um deren unberechenbare Ausbrüche zu verhindern (Lambrou, 2014, S.74).
3.3.4 Der Drang, alles unter Kontrolle zu halten
Wenn Jugendliche sich wie Erwachsene verhalten müssten und selbst wenig Fürsorge bekämen, dann würden sie früh und zu schnell erwachsen werden. Sie hätten wichtige Jahre ihrer Entwicklung übersprungen. Durch ihren unsicheren Alltag sei die Unsicherheit zu einer Konstante in ihrem Leben geworden. Und sie müssten sich nun selber geben, was die Erwachsenen nicht geben konnten, nämlich Schutz. So würden sie sich oft auf radikale Weise schützen. Sie ließen sich von niemandem mehr helfen, vertrauten keinem mehr und würden alles mit sich allein abmachen. So würden sie ständig versuchen, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten, was nur dadurch problematisch sei, dass viele Kinder von Alkoholikern dieses Überlebensmuster als einzige sichere Variante im Umgang mit anderen Menschen erlernt hätten.
So blieben sie wachsam und kontrolliert und hätten keine Zeit für Ungeplantes und Spielerisches. Die Kontrolle aufzugeben, würde für sie bedeuten, sich anderen auszuliefern, was sie als gefährlich empfinden würden. Ganz automatisch würden sie es vermeiden, jemandem wirklich zu vertrauen. Die eigene Sicherheit scheine davon abzuhängen, die Fäden in der Hand zu behalten. Deshalb würden sie sich nicht mehr anderen ausliefern und ließen niemanden hinter ihre Fassade schauen (Lambrou, 2014, S.79f).
3.3.5 Partei ergreifen
In einer Suchtfamilie würde einander misstraut werden und es würde zwischen den Partnern ein Beziehungskampf bestehen. Jeder der beiden erwachsenen Personen brauche Verbündete, die durch ihre Zuneigung beweisen würden, dass entweder der Vater oder die Mutter im Recht sei. Und was immer ein Kind auch tun würde, es sei nicht geeignet beide Eltern zufriedenzustellen. So würden sie sich für einen entscheiden und hoffen, dass Vater oder Mutter auch ihnen Zuwendung schenken würde und eine Kommunikation zwischen ihnen bestehen bliebe. Würde dieser Elternteil jedoch vielfach die Ich-Grenze des Kindes überschreiten, würde das Kind sich von diesem abwenden und sich dem schwächer erscheinenden Elternteil zuwenden. Der Beziehungskampf würde dabei stets aufrecht erhalten bleiben. Und solange die Eltern sich nicht bemühen würden, an ihrer Genesung zu arbeiten, würden beide nicht die Kraft aufbringen, für ihre Kinder wirklich da zu sein und deren Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Häufig würde sich ein Kind dann von beiden im Stich gelassen fühlen (Lambrou, 2014, S.103).
3.3.6 Sexuelle Gewalt gegen Kinder
„Wenn jemand in der Familie einem Kind gegenüber ein einziges Mal gewalttätig wird und/oder ein Mädchen (seltener einen Jungen) sexuell missbraucht, so ist das Vertrauen des Kindes zerstört“ (Lambrou, 2014, S.57).
Sexuelle Gewalt käme vor allem in Familien vor. Die Täter seien fast immer Männer und kämen aus dem engen und erweiterten Familienkreis. Sexuelle Übergriffe seien keine zufälligen Begebenheiten, sondern seien immer geplant. Sie passierten nicht aus Versehen, sondern seien Handlungen, die der Täter sich überlegt habe und die er bewusst ausführen würde (Lambrou, 2014, S.57). Suchtprobleme und die Anwendung von sexueller Gewalt stünden in einem engen Zusammenhang. Dies würde sich daran zeigen, dass Täter bei sexuell motivierten Straftaten häufig alkoholisiert seien (Abracen et al., 2000; Eher et al., 2001) und häufig selbst aus einer suchtbelasteten Familie stammen würden (Hummel, 1999 in Zobel, 2006, S.47).
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- Quote paper
- Antje Klimpel (Author), 2016, Auswirkungen elterlicher Alkoholabhängigkeit auf die Kinder und Aufgaben der Prävention und Intervention durch die Kinder- und Jugendhilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321632
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