Franz Kafka zeigt in seiner kurzen Erzählung „Poseidon“ den griechischen Meeresgott als überbeschäftigten Verwalter aller Gewässer. Mit seinem Amt unzufrieden, gibt es für Poseidon jedoch keine andere Arbeit als Alternative. Obwohl ihn seine Tätigkeit ärgert, zwingt ihn der eigene Anspruch an die für ihn bestimmte Aufgabe dazu, auf den Untergang der Welt zu warten, um sich dann aus der Eintönigkeit seiner Lage herausbewegen zu können.
Auf der Internetseite der Wikipdia zu „Poseidon“ wird das „kleine Prosastück“ als Darstellung der „Beamtenwelt“ verstanden. Kafkas Text sei als Kritik an der Bürokratie zu sehen. Im Folgenden sollen der Charakter und die Probleme der titelgebenden Figur nachgezeichnet und näher untersucht werden. Unter Berücksichtigung der Faktoren von Raum und Zeit, sowie der näheren Betrachtung der formalen Textmerkmale wird versucht, die Unzulänglichkeit der Wikipedia-Aussagen zu belegen und einen befriedigerenden Deutungsansatz zu entwerfen als es die Internet-Enzyklopädie vermag.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse
Formale Merkmale
Umgang mit Raum und Zeit
Die Figur Poseidon
Die unbefriedigende Deutung der Wikipedia
3. Schluss
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Franz Kafka zeigt in seiner kurzen Erzählung „Poseidon“ den griechischen Meeresgott als überbeschäftigten Verwalter aller Gewässer. Mit seinem Amt unzufrieden, gibt es für Poseidon jedoch keine andere Arbeit als Alternative. Obwohl ihn seine Tätigkeit ärgert, zwingt ihn der eigene Anspruch an die für ihn bestimmte Aufgabe dazu, auf den Untergang der Welt zu warten, um sich dann aus der Eintönigkeit seiner Lage herausbewegen zu können.
Auf der Internetseite der Wikipdia zu „Poseidon“1 wird das „kleine Prosastück“2 als Darstellung der „Beamtenwelt“3 verstanden. Kafkas Text sei als Kritik an der Bürokratie zu sehen. Im Folgenden sollen der Charakter und die Probleme der titelgebenden Figur nachgezeichnet und näher untersucht werden. Unter Berücksichtigung der Faktoren von Raum und Zeit, sowie der näheren Betrachtung der formalen Textmerkmale wird versucht, die Unzulänglichkeit der Wikipedia-Aussagen zu belegen und einen befriedigerenden Deutungsansatz zu entwerfen als es die Internet-Enzyklopädie vermag.
2. Analyse
Formale Merkmale
Es handelt sich bei Kafkas Erzählung hauptsächlich um die Darstellung eines Zustands, nämlich dem der Unzufriedenheit, aus der Sicht der Titelfigur. Poseidon steht im Zentrum des Geschehens. Der Zeitpunkt des Erzählens mutet wegen des durchgehenden Präteritums retrospektiv an. Zusätzlich wird durch den einleitenden Satz (Z.1) eine Eröffnungssituation beschrieben, die eine fortlaufende Handlung inklusive Zustandsveränderungen der Poseidon-Figur erwarten lässt4. Allerdings entpuppt sich die Zeitrelation — auch unterstützt durch das Fehlen wirklicher Ereignisse — als gleichzeitig. Wegen der Illusion von Gegenwärtigkeit der erzählten Handlung darf wohl von einem epischen Präteritum gesprochen werden. Der heterodiegetische Erzähler nennt zu keiner Zeit einen Adressaten und spricht von der Figur des Poseidon in der 3. Pers. Sg.. Da keine Rahmen- und Binnenhandlung vorliegt, handelt es sich um eine ungestufte Erzählebene. Die Erzählperspektive ist in Form einer variablen Fokalisierung angelegt. Das Indefinitpronomen man (z. B. Z. 4), welches im ganzen Erzähltext sieben mal und damit im Verhältnis zur Gesamtwortzahl häufig vorkommt, repräsentiert eine anonyme Masse5, die Aussagen und Beurteilungen über die Welt trifft. Der Erzähler erschafft eine Übersicht, in der er mehr weiß als der Meeresgott. Hier kann man von Nullfokalisierung sprechen. Die Erzählung wirkt wie eine berichtende Zusammenfassung und ist im diegetischen Modus angesiedelt. Diese Wahrnehmung wird unterstützt durch das gänzliche Fehlen von Figurenrede. Einzig im letzten Satz (Z. 24 f.), in welchem Poseidon bezeichnenderweise das Ende der Welt mit der Vorstellung vom Ende seiner persönlichen Unbeweglichkeit gleichsetzt, taucht eine transportierte Rede in indirekter Form auf. In Ausblick auf eine Zustandsveränderung erfährt die Distanz in der Erzählung eine Dynamik. Im wahrsten Sinne des Wortes wird eine Grenzüberschreitung in Form einer „Rundfahrt“ (Z. 26) durch die Meere beschrieben, deren Tatsächlichkeit allerdings durch die konjunktivistische Ausdrucksweise direkt wieder eingegrenzt wird. Unterstützt wird diese Wirkung gleichsam durch das retardierende Modalverb „pflegte“ vor dem Infinitiv. Es wird eine regelmäßige Wiederholung von Poseidons Endzeitvorstellung suggeriert, die deren Erfüllung unwahrscheinlich werden lässt. In Bezug auf die Handlung herrscht nach dem ersten Satz eine Stagnation bis zu eben genanntem Schluss vor6. Die Geschichte besteht aus einer Aneinanderreihung von Gründen, die eine Veränderung seines Alltags unmöglich machen. Geschichte und Diskurs stehen insofern in einem Zusammenhang, als dass die Inflexibilität dessen, was erzählt wird, sich in der statischen Art, wie erzählt wird, widerspiegelt. Hierdurch wird eine Grundstimmung der Unbeweglichkeit unterstrichen, die sich in der Unzufriedenheit Poseidons wiederfindet und die erzählte Welt fundiert.
Umgang mit Raum und Zeit
Bezeichnend ist, dass mit dem Raum Weltmeer ein Bild der Weite vorherrscht, mit welchem zumindest physische Dynamik einhergeht. Durch den Aggregatzustand des Wassers ist die körperliche Masse automatisch in einer Schwebe, die kein wirkliches Innehalten zulässt. Der Gott der Ozeane ist auch durch seine Rolle in Homers Odysse in der menschlichen Vorstellung mit „einem goldenen Wagen“7 ausgestattet, „wobei [...] Delphine um ihn sind“.8. Nicht nur die Tümmler und Pferde vor seinem Gefährt stehen für Schnelligkeit und Energie, in der Mythologie ist Poseidon Erzeuger zahlreicher pferdegestaltiger Kinder9. Die Kraft und Wendigkeit scheint ihm also inne zu wohnen. Doch handelt es sich hierbei eben um einen Mythos, über den Kafkas Meeresgott zürnt (Z.18-20). Das Bild des horizontalen durchs Wasser Gleitens straft Poseidon Lügen, indem er scheinbar punktuell, betont durch den Partikel „hier“ und zeitlich undefiniert, beschrieben durch das „unterdessen“, auf dem Grund des Ozeans festsitzt (Z. 20/21). Prägnant ist hier auch die Formulierung, dass eine Veränderung der Situation des Gottes an eine „Enthebung“ von seinem Amt gebunden sei (Z. 15). Einzig in vertikaler Richtung erfolgt Bewegung, wenn er kurzzeitig zum Olymp aufsteigt (Z. 23/24). Durch die Attribute „flüchtig“ und „eilig“ wirkt dieser Weg jedoch gehetzt und unentspannt. Diese Eile ergibt im Kontext der Zeit, wie ihn der Text entwirft, keinen Sinn. Da Poseidons Arbeit als grenzenlos beschrieben wird (Z. 2), der er „ununterbrochen“ nachgeht, scheint Zeit nicht wirklich eingeteilt und ihr Maß somit nicht relevant zu sein. Zwar ist er seit Beginn der Welt für sein Amt bestimmt (Z. 16), was einen Anfang markiert, der im Zusammenhang mit dem erwähnten Weltende (Z. 25) nur folgerichtig ist, doch wird die Zeit eher als eine uneingeteilte Weite, gleich dem Raum des Meeres, empfunden. Dies bringt eine Ungenauigkeit mit sich, die sich z. B. durch das indifferente „oft“ (Z. 5) beim Bemühen um bessere Arbeit widerspiegelt.
Mit dem Meer assoziiert man Freiheit und Unbegrenztheit. Kafka unterstreicht diese psychische Wirkung, indem er betont, dass der Gott der Meere „alle Gewässer“ (Z. 1) zu verwalten hat und eine Einschränkung aufgrund seines Herrscherstatus’ nicht möglich sei (Z. 8-11). Umso eindrücklicher ist das Gefühl der Festgefahrenheit, welches Kafkas Erzählung transportiert. Allerdings kann gerade Grenzenlosigkeit geistig nicht erfasst werden und eine Stagnation auslösen, während Einschränkungen das Denken stimulieren, da sie den Verstand zu Lösungsansätzen herausfordern und Umwege gehen lassen10. So erklärt sich Poseidons Rastlosigkeit: Es gibt kein erreichbares Ziel, keinen erkennbaren Weg der ihm zur Orientierung dienen könnte. Wie kann er Pausen und Bewegungsfreiheit zulassen, wenn ihm zeitlich und räumlich die Relationen fehlen? Der Leser erfährt diese Verhältnislosigkeit insofern auch, als dass es keine zeitliche Situierung für den Text gibt. Diese ist jedoch auch nicht nötig. Da die Welt der übermenschlichen Gottheiten gesetzte Gegebenheit ist, wird die Zeitlosigkeit in der „Poseidon“ spielt absolut zulänglich11. Durch die Konnotation, die an den Namen Poseidon gekoppelt ist, scheint eine zeitliche Verortung überflüssig, da Götter frei von dieser zu existieren scheinen.
Die Figur Poseidon
Ebenso wie das unbekannte man im Text, ist auch der Leser nicht frei von Klischeevorstellungen über den Meeresgott. Zweifelsohne vertritt Kafka eine anthromorphe Vorstellung von ihm. In Bezug auf Poseidons äußere Erscheinung wird lediglich sein „eherner Brustkorb“ (Z. 13) beschrieben. Die Nachteile eines so unbeugsam festen Torsos verdeutlicht der Autor, indem er Poseidon ausgerechnet bei dem Gedanken an einen Aufenthalt in der sauerstoffreichen Athmosphäre außerhalb des Wassers den Atem stocken lässt (Z. 11-13). Ein Bild körperlicher Beklemmung entsteht. Ferner wird die Hauptfigur als „groß“ bezeichnet (Z. 10), was eher zur Unterstreichung seiner Machtposition denn als optisches Merkmal gilt. Seine Existenz als Potentant wird ausführlich betont. Die einzige Stellung, die ihm zugesprochen werden kann, ist eine beherrschende (Z. 11), und er wird als „Mächtiger“ tituliert (Z. 14). Doch ist auch ein Meereskönig nicht frei von Statuten, wurde er doch dereinst zu dem, was er ist, „bestimmt“ (Z. 16). Wer oder was diese Entscheidung getroffen hat, ob es sich gar um das omnipräsente man handelt, ist nicht erkennbar. Fest steht, dass Poseidon weder all- noch alleinherrschend ist. Der römische Göttervater Jupiter, der in der griechischen Mythologie Zeus, der „Herrscher über Himmel und Erde“12 ist, taucht als einzige weitere Figur im zweiten Drittel des Textes auf. Eine Erklärung für die Vermischung der beiden antiken Religionen könnte darin liegen, dass so die zwei Kosmoi noch weiter von einander entfernt scheinen. Außerdem ist die römische Kultur um Jahrhunderte jünger als die griechische. Jupiter repräsentiert damit Jugendlichkeit, die mit Frische und Dynamik zusammen gebracht wird. Hierin könnte ein Grund für Poseidons Wut auf den Donnergott liegen (Z. 22). Es ist nicht davon auszugehen, dass der „jüngere“ Jupiter „der mächtigste der unsterblichen Götter“13 ist, so wie Zeus es wäre. Das bringt Poseidon in die Position eines Regenten ohne direkten Vorgesetzen. Auch in Bezug auf seine Herrschaft wird ihm kein Haltepunkt als Orientierungshilfe gewährt. Aus dem Figurenhandel leitet sich neben der hauptsächlichen Unzufriedenheit, die Poseidons Charakter auf den ersten Blick als flach erscheinen lässt, Temperament und eine gewisse Aufbrausendheit ab, aus der jedoch wiederum Frust resultiert.
[...]
1 WWW-Dokument, https://de.wikipedia.org/wiki/Poseidon_%28Kafka%29 (Stand 25.10.2015).
2 Ebd..
3 Ebd..
4 Vgl. Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie-Literarische Reflexionen aus Österreich. Wien/Köln/Weimar 2009, S.90.
5 Vgl. Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 93.
6 Ebd., S. 90.
7 Sofia Souli: Griechische Mythologie. Weltentstehung-Die Götter-Die Heroen-Trojanischer Krieg-Die Odyssee. Athen 1995, S. 33.
8 Ebd..
9 Vgl. Rose, Herbert J. Griechische Mythologie. Ein Handbuch. 3. Auflage. München 2012, S. 63.
10 Vgl. Charlotte Chandler: Ich, Fellini. München 1994, S. 121.
11 Vgl. Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 89.
12 Souli: Griechische Mythologie, S. 24.
13 Ebd..
- Citation du texte
- Anne Schramm (Auteur), 2015, "Poseidon" von Franz Kafka. Mehr als eine Bürokritik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320982
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.