„Langsam durch die belebten Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung“ (Hessel 1984: 7).
So beschreibt Franz Hessel seine Flanerie durch Berliner Straßen, die er durch die Menschenmenge genießt. Seit Mitte der achtziger Jahre ist eine Textform wiederentdeckt worden, die den Spaziergang als Medium moderner Großstadterfahrung betrachtet. Es scheint eine Berliner Spezialität zu sein, wie es Sprengel richtig feststellt. Sogar Paris, die Geburtsstätte der Flanerie, hat keine vergleichbare Tradition. Bis heute wird Berlin die Aura der bekannten „Goldenen Zwanziger“ nachgesagt, sodass Literaturhistoriker und Verleger sich den über die damalige bewegte Weltstadt berichtenden Berlin-Flaneuren widmen.
Zu finden war die literarische Flanerie als „kleine Form“ in den Feuilletons der überregionalen Presse. So erfahren die Leser, wie die Berliner ihre Kindheit und Jugend in der jungen Reichshauptstadt verbrachten und empfanden. Außerdem erzählten Nicht-Einheimische von ihren ersten Erfahrungen mit Berlin und verglichen diese Stadt mit ihren Herkunftsorten.
Auch Korrespondenten der Frankfurter und süddeutscher Zeitungen zeigten in ihren Berichten die Begegnung mit der preußischen Metropole.
Viele Berlin-Flaneure werden heute wiederentdeckt, ihre Texte werden gesammelt und publiziert. Erste Doktorarbeiten erschienen ab den achtziger Jahren und setzten sich somit
wissenschaftlich mit der Flanerie als literarischer Form einer Stadterfahrung auseinander.
Nicht zuletzt hat die kleine Form die damaligen Berlin-Romane wie etwa von Hermann oder Döblin beeinflusst.
Wenn wir heute an das Wort ‚flanieren‘ denken, dann verbinden wir damit oft einen gemütlichen Stadtbummel in der Stadt. Schon der französische Literat Louis-Sébastien Mercier thematisierte in seinem Buch „Tableau de Paris“ (1781), einer Sammlung von kurzen Prosastücken, Bräuche, Verhaltensarten, Gegenstände und Örtlichkeiten, die dem freien Autor während seiner täglichen Spaziergänge in Paris aufgefallen waren.
Doch der aus dem Französischen stammende Begriff hatte früher eine weitere Bedeutung inne, und zwar die des Flanierens als Lebenseinstellung. Dazu gehört der passionierte Autor Franz Hessel, der als Liebhaber der Metropolen Berlin und Paris gilt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Literarische Flânerie im 19. Jahrhundert
2.1 Was ist ein Flaneur?
2.2 Das Feuilleton: Inhalt und Form der Flaneurtexte
2.3 Vorbild: Charles Baudelaire
3 Berliner Flaneure bis 1933
3.1 Benjamins Einbahnstraße und Passagen-Werk
3.2 Kracauers melancholische Flanerie
3.3 Walsers experimentelles Flanieren
3.4 Das Ende der literarischen Flanerie nach 1933
4 Flaneure ab 1980 in Deutschland
4.1 Tendenzen des urbanen Müßiggangs
4.2 Urbane Müßiggänger in Berlin
5 Die Wahrnehmung der Flaneure in Berlin und Frankfurt
5.1 Reales Flanieren: Tiergarten
5.2 Reales Flanieren: Am Stadtrand
5.3 Voyeuristisches Flanieren: Der Verdächtige
5.4 Voyeuristisches Flanieren: Von meinem Arbeitszimmer aus
5.5 Flanieren als Kindheitserinnerung: Die Paläste der Tiere
5.6 Flanieren als Kindheitserinnerung: Ein Trost während meines Schulwegs
5.7 Gedankliches Flanieren ohne einen Ich-Erzähler: Der Pendler hat inzwischen eine Geliebte
6 Die Wahrnehmung des Flaneurs am Beispiel von Franz Hessels Spazieren in Berlin und Wilhelm Genazinos Tarzan am Main
6.1 Reales Flanieren: Der Vergleich
6.2 Voyeuristisches Flanieren: Der Vergleich
6.3 Flanieren als Kindheitserinnerung: Der Vergleich
7 Zusammenfassung
8 Literaturverzeichnis,
1 Einleitung
„Langsam durch die belebten Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung“ (Hessel 1984: 7).
So beschreibt Franz Hessel seine Flanerie durch Berliner Straßen, die er durch die Menschenmenge genießt. Seit Mitte der achtziger Jahre ist eine Textform wiederentdeckt worden, die den Spaziergang als Medium moderner Großstadterfahrung betrachtet. Es scheint eine Berliner Spezialität zu sein, wie es Sprengel richtig feststellt. Sogar Paris, die Geburtsstätte der Flanerie, hat keine vergleichbare Tradition. Bis heute wird Berlin die Aura der bekannten „Goldenen Zwanziger“ nachgesagt, sodass Literaturhistoriker und Verleger sich den über die damalige bewegte Weltstadt berichtenden Berlin-Flaneuren widmen (Sprengel 1998: 7).
Zu finden war die literarische Flanerie als „kleine Form“ in den Feuilletons der überregionalen Presse. So erfahren die Leser, wie die Berliner ihre Kindheit und Jugend in der jungen Reichshauptstadt verbrachten und empfanden. Außerdem erzählten Nicht-Einheimische von ihren ersten Erfahrungen mit Berlin und verglichen diese Stadt mit ihren Herkunftsorten. Auch Korrespondenten der Frankfurter und süddeutscher Zeitungen zeigten in ihren Berichten die Begegnung mit der preußischen Metropole (ebd.).
Viele Berlin-Flaneure werden heute wiederentdeckt, ihre Texte werden gesammelt und publiziert. Erste Doktorarbeiten erschienen ab den achtziger Jahren und setzten sich somit wissenschaftlich mit der Flanerie als literarischer Form einer Stadterfahrung auseinander. Nicht zuletzt hat die kleine Form die damaligen Berlin-Romane wie etwa von Hermann oder Döblin beeinflusst (ebd.).
Wenn wir heute an das Wort ,flanieren‘ denken, dann verbinden wir damit oft einen gemütlichen Stadtbummel in der Stadt. Schon der französische Literat Louis-Sébastien Mercier thematisierte in seinem Buch „Tableau de Paris“ (1781), einer Sammlung von kurzen Prosastücken, Bräuche, Verhaltensarten, Gegenstände und Örtlichkeiten, die dem freien Autor während seiner täglichen Spaziergänge in Paris aufgefallen waren (Köhn 1989: 17).
Doch der aus dem Französischen stammende Begriff hatte früher eine weitere Bedeutung inne, und zwar die des Flanierens als Lebenseinstellung. Dazu gehört der passionierte Autor Franz Hessel, der als Liebhaber der Metropolen Berlin und Paris gilt. Lange Zeit war er vergessen, doch seit den achtziger Jahren wird er in der Literatur beachtet. Es sind seitdem einige Arbeiten erschienen, die seine Bücher aus seinen drei Werkphasen thematisieren. Ich habe ihn ausgewählt, weil er zu den wichtigsten Berlin-Flaneuren des 20. Jahrhunderts gehört und dennoch in der Gegenwart wenig bekannt ist.
Der zweite von mir ausgewählte Autor von Flaneurtexten ist der in der Gegenwart bekannte Wilhelm Genazino, dessen Figuren einen flanierenden Blick aufweisen. Im Gegensatz zu Hessel gehört die Großstadt Frankfurt am Main zum Zentrum seines urbanen Müßiggangs. Zu Frankfurt gibt es wenige Flaneurtexte, da sich die Flaneure meistens in den klassischen europäischen Hauptstädten wie Paris oder Berlin befinden. Deshalb ist es auch interessant, sich die Sichtweise des urbanen Müßiggängers aus dieser Stadt anzuschauen. Ich habe Genazino außerdem ausgewählt, weil zwischen seinem Tarzan am Main und Hessels Spazieren in Berlin 84 Jahre liegen und somit sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Flanerie zu erwarten sind.
Die Fragestellungen meiner Masterarbeit lauten: Was sehen die Flaneure während ihrer Müßiggänge? Und wie wird dies beschrieben? Welche Wahrnehmungsobjekte stehen im Mittelpunkt der urbanen Müßiggänger? Welche Situationen werden von ihnen bewusst aufgesucht? Welche sprachlichen Mittel wenden die Erzähler an? Welchen Zweck verfolgen die Flaneure? Was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der ausgesuchten Flaneure beim Anblick der Großstadt? Und vor allem, wie hat sich die Wahrnehmung des Flaneurs im Laufe der Jahrzehnte verändert?
Das Ziel meiner Masterarbeit ist es, die Wahrnehmung des Flaneurs anhand der zwei Werke Spazieren in Berlin und Tarzan am Main zu vergleichen. Dabei beschränke ich mich aufgrund des begrenzten Umfangs aufjeweils drei zu vergleichende Episoden des Flaneurbuchs und eine Episode, die einzeln untersucht wird. Vier verschiedene Varianten des Fla- nierens werden genauer unter die Lupe genommen.
Mit dieser Arbeit möchte ich einen Vergleich zwischen zwei unterschiedlichen Flaneuren anstellen, den es in der Literatur noch nicht gibt. Die Arbeit besteht aus einem Theorieteil zum Thema Flanerie und einer Untersuchung der Wahrnehmung der Flaneure anhand ausgewählter Episoden. Bei der Untersuchung der Texte gehe ich so vor, dass ich den Theorieteil in die Untersuchung einbaue, die Untersuchung damit untermauere und daraus neue Erkenntnisse gewinne. Die Blicke der urbanen Müßiggänger werden den Text entlang genauer angeschaut. Ich bediene mich der Erzähltheorie, indem ich mich auf das „Was“ und „Wie“ der Handlung im Text konzentriere.
Als Erstes werde ich mich mit dem Begriff des Flaneurs auseinandersetzen, wobei eine Charakterisierung des urbanen Müßiggängers versucht wird. Des Weiteren werde ich in kompakter Form die geschichtliche Entwicklung des Flaneurs darstellen. Daraufhin betrachte ich den Inhalt und die Form der Flaneurtexte, die früher als Feuilleton in Zeitungen zu finden waren. Dann widme ich mich Charles Baudelaire, der für die meisten Flaneure als Vorbild gilt. Er war ein wichtiger Autor der literarischen Flanerie im 19. Jahrhundert.
Im dritten Kapitel geht es um Berliner Flaneure bis 1933. Dazu gehören Walter Benjamin mit seiner Einbahnstraße und dem Passagen-Werk, Siegfried Kracauers melancholische Flanerie und Robert Walsers experimentelles Flanieren. Am Schluss dieses Kapitels werden in kurzer Form das Ende der literarischen Flanerie nach 1933 und dessen Gründe genannt. Das vierte Kapitel handelt von Flaneuren ab 1980 in Deutschland, wobei die Tendenzen des urbanen Müßiggangs und die Flaneure in Berlin anhand von kurzen Zusammenfassungen der Flaneurtexte anschaulich gemacht werden.
Im fünften Hauptkapitel stelle ich die Wahrnehmung von Hessel und Genazino anhand einzelner Episoden aus deren Flaneurwerken vor. Davor stelle ich in kompakter Form die für beide Flaneure typischen Blicke vor. Zunächst sehe ich mir das reale Flanieren an, bei dem tatsächlich beim Gehen der urbane Müßiggänger seine Eindrücke und Gedanken festhält. Hessels Episode heißt Tiergarten, Genazinos Am Stadtrand. Die nächste Art zu flanieren stellt das voyeuristische Flanieren dar, wobei das Schauen in die Fenster eine wichtige Rolle spielt. Die beiden Texte dieser Flanierart sind Der Verdächtige und Von meinem Arbeitszimmer aus. Die dritte Version des Flanierens ist das Flanieren als Kindheitserinnerung, wobei die eigene Kindheit im Vordergrund steht. Die Episoden heißen Die Paläste der Tiere und Ein Trost während meines Schulwegs. Die letzte zu untersuchende Art zu flanieren ist das gedankliche Flanieren ohne einen Ich-Erzähler, der Text heißt Der Pendler hat inzwischen eine Geliebte. Sie ist eine Ausnahme unter den Flaneurtexten, da weder ein Ich-Erzähler vorhanden ist noch ein Flanieren auf der Straße stattfindet.
Im sechsten Kapitel vergleiche ich die drei Flanierarten und die Wahrnehmung der urbanen Müßiggänger hinsichtlich besonderer Merkmale, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, um herauszufinden, inwiefern sich die Blicke der zu vergleichenden Flaneure unterscheiden und ob sich die Flaneurtexte im Laufe der Jahrzehnte stark verändert haben oder nicht. Dabei schaue ich auf die Wahrnehmungsobjekte, die Sprache, die Melancholie und Entfremdungsgefühle und stelle die Unterschiede kurz zusammen.
Das letzte Kapitel beinhaltet die wichtigsten Erkenntnisse, Ergebnisse und eine kurze Zusammenfassung der typischen Wahrnehmungen von Hessel und Genazino sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der untersuchten Texte.
2 Literarische Flânerie im 19. Jahrhundert
2.1 Was ist ein Flaneur?
Unter dem Begriff ,Flaneur‘ (französisch: umherstreifen) versteht man einen umherschlendernden Müßiggänger (Zentner 2007: 226). Der typische Flaneur ist männlich und Einheimischer der Großstadt. Früher schickte es sich nicht für Frauen, allein in der Großstadt herumzulaufen, wenn sie nicht für Prostituierte gehalten werden wollten. Normalerweise geht er keiner Arbeit nach, nur den Beruf des Literaten akzeptiert er. Dieser urbane Müßiggänger strebt in die Großstadt, in der er sich zu Hause fühlt. Leonhard Fuest betont, der Flaneur sei wie seine Kulisse, die Großstadt, dazu auserkoren, eine unruhige sowie beunruhigende Qualität anzunehmen. Seine Wege bestehen aus einem Labyrinth und machen ihn somit unberechenbar und beinah zu einem Kriminellen. Man unterscheidet Müßiggänger, die sich in verschiedenen Gesellschaftsklassen befinden: Bereits im 18. Jahrhundert flanierten Aristokraten durch Paris und präsentierten den Passanten absichtlich ihren Reichtum an Zeit und Geld. In der gleichen Zeit wurden Vagabunden festgenommen und zur Ar- beitgezwungen(Fuest2008: 101).
Die historisch früheste Figur in der literarischen Tradition des urbanen Spaziergängers stellt der observateur dar. Dieser Beobachter sieht Paris als eine Stadt, in der die aristokratischen Bürger in Luxus und Verschwendung leben, das Bürgertum sich durch Genusssucht und Ausschweifung auszeichnet und die unteren Klassen zu Alkoholmissbrauch und Verbrechen verführt werden. Außerdem beobachtet der observateur, dass die bäuerliche Bevölkerung vermehrt in die Metropole übersiedelt, da die Stadt wegen der städtischen Formen des Handelns und des Gewerbes mehr Vorteile und Gewinn bringt als die Landarbeit. Die Physiokraten vertreten hingegen den Standpunkt, die Metropole schwäche die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums sowie die agrarische Produktion, da durch Landflucht der bäuerlichen Bevölkerung Arbeitskräfte fehlten. Deshalb sehen sie die Großstadt als die
Hauptursache für die Verschärfung der allgemeinen sozialen Misere an. Der urbane Müßiggänger äußert Kritik, indem er die Großstadt als eine Gefahr für den moralischen und tugendhaften Menschen darstellt. Auch Mercier ist der Meinung, die Stadt sei „ein Parasit am Körper der Gesellschaft“ (Köhn 1989: 23-24).
Im 19. Jahrhundert traten in Paris die ersten dichtenden Flaneure wie z. B. Baudelaire auf. Sie verstanden sich als großstädtische und künstlerische Elite, die die Straße als einen zu lesenden Text ansah (Wellmann 1991: 142). Zu unterscheiden ist der Flaneur von dem badaud, welcher die äußere Verhaltensweise des urbanen Müßiggängers übernimmt. Dieser verhält sich distanzlos gegenüber seiner Umwelt, ist neugierig auf ein Spektakel auf der Straße, ist also ein lauernder Gaffer. In der Menge verliert er seine Identität. Angelika Wellmann unterstreicht, dass erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Flaneur zu einer positiv konnotierten Gestalt wurde (ebd.: 135). Der Flaneur hingegen ist geistesgegenwärtig und nachdenklich. Sein Fokus liegt auf Schaufenstern, Warenauslagen, Plakaten, Schildern und Gestalten in der Menge (Köhn 1989: 60-61). Er steht der Menge beobachtend und distanziert gegenüber. Außerdem ist er sich seiner Individualität in der Menge bewusst und bewahrt diese. Des Weiteren ist er in der Lage, in der indifferenten Menge noch das Besondere zu erkennen. Er versucht ein realitätsnahes Bild zu produzieren (Wellmann 1991: 141).
Darüber hinaus unterscheidet man den Flaneur vom Spaziergänger. Der Letztere geht einen gebahnten Weg, auf dem ihn nichts hindert außer den anderen Spaziergängern. Seine Spaziergänge finden im Garten, Park, in der Allee oder als Rundgang statt. Der Flaneur hingegen hat mit mehr Hindernissen wie Gedränge der Masse, Baustellen, Straßenarbeiten und Straßenverkehr zu rechnen. Somit muss der Müßiggänger oft ausweichen und neue Wege gehen. Fußgängerzonen und Passagen wirken dem entgegen, zäunen aber gleichzeitig die Gehbewegung ein und erzeugen die Atmosphäre eines Einkaufsbummels (Neumeyer 1995: 12-13).
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich vermehrt auch in Deutschland literarische Flanerie. Meist verfügt der Flaneur über genügend finanzielle Mittel, um seinem Müßiggang in Gelassenheit nachzugehen. Doch es gibt auch Flaneure, die mit wenig Vermögen literarische Texte über die Metropole verfassen. Besonders in prekären Lebenslagen wird der urbane Müßiggänger zu einem kritischen Andersdenkenden seiner Zeit, der sich der Arbeit in der bürgerlich-produktiven Welt verweigert und somit Provokationen auslöst (ebd.).
Obwohl seit 1848 Flaneure in Deutschland Feuilletons über Berlin verfassten, ist der Flaneur als Figur im Straßenleben ungewöhnlich. Die Menschen sind gegenüber dieser Figur misstrauisch, da sie dahinter einen Kriminellen oder einen Sexualtäter vermuten. Durch die immense Beschleunigung des Rhythmus der Zeit ist die Gegenwart zu schnellem Altern verurteilt. Mit dem Verschwinden der Gegenwart sind die in ihr noch vorhandenen Spuren der Geschichte von Auslöschung bedroht. Die Aufgabe des Flaneurs ist es, die noch vorhandenen Spuren der Geschichte, welche vom Auslöschen bedroht sind, zu sichern (Köhn 1989: 179).
Für den Flaneur werden unwichtige und unscheinbare Vorgänge des Alltagslebens besonders. In allen Flaneurtexten ist eine Umkehrung von Bedeutendem und Unbedeutendem ersichtlich (Frank 1998: 38). Die scheinbar kaum wahrnehmbaren oder alltäglichen Dinge werden als bedeutungsvoll erachtet. Wohingegen die kulturell wichtigen oder in der Gesellschaft anerkannten Gegebenheiten für nicht erwähnenswert oder für überbewertet gehalten werden. So erkennt Hessel den neuen Typus der „neuen Berlinerin“ durch Beobachtung ih- rerRituale (Köhn 1989: 180).
Darüber hinaus weist er melancholische Züge auf, was nicht verwunderlich scheint, wenn man bedenkt, dass sich die literarische Flanerie als eine Reaktion auf die Veränderung der Lebensumstände in der Großstadt verstehen lässt. In der Moderne, besonders im 20. Jahrhundert, verändert sich die Metropole durch die Vermassung der Städte und die Beschleunigung in allen gesellschaftlichen Bereichen (ebd.). Seelische Zustände wie Isolation, Wahnsinn, Melancholie und Nervosität prägen die literarischen Werke der Flaneure. Der langsame Gang des urbanen Müßiggängers setzte schon sehr früh ein und ist als Gegenreaktion auf die Schnelligkeit des Lebens zu interpretieren. Damit wollte er ein Zeichen setzen. Wie Fuest betont, war sich der melancholische Müßiggänger dessen bewusst, dass er zu einer aussterbenden Spezies gehört (Fuest 2008: 101).
Im Laufe der Zeit hat sich die Figur des Flaneurs gewandelt, sodass Wilhelm Genazino von einem Streuner spricht. Sein Flaneur geht in der Frankfurter Innenstadt spazieren, ohnejedoch einen direkten Anschluss zu finden (Fansa 2008: 7-10). In seiner fünften Poetik-Vorlesung, die im Wintersemester 2005/06 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand, stellte Genazino klar, dass die Figur des Flaneurs in der zerstückelten Stadt abgedankt habe und durch einen moderneren Typus ersetzt worden sei. Laut Genazino kann diese Figur noch ungemütlichen Situationen einen Reiz abgewinnen und dabei erfolgreich sein. Der Autor betont, dass der Streuner eine displaced person darstelle, die keinen Platz im Leben finde und von Ausweglosigkeit betroffen sei. Die beschädigte Identität des Streuners spiegelt die beschädigte Gestalt der Metropole wider (Neumann 2011: 150).
Neumann unterstreicht, dass Genazinos Figuren noch immer alle flaneurtypischen Attribute wie zielloses Umhergehen, Benutzung des Stadtraums als Erinnerungsraum und den Journalismus aufweisen. Auch in Genazinos Texten wird das Geschehen wahrgenommen und reflektiert. Und die Figur des Flaneurs dient auch bei Genazino als Funktionsform, um eine spezifische Wahrnehmungsperspektive und flanierendes Denken literarisch zu verarbeiten. Doch die Großstadt, in welcher sich der Flaneur früher erheblich von der Menschenmenge abhob, hat sich verändert (ebd.: 153). Denn in der Zeit des Wirtschaftswunders wurden die Metropolen überstürzt aufgebaut, die Städte wurden durch Vororte und Siedlungsstätten im Zuge des strukturellen und wirtschaftlichen Wandels seit den 1970er Jahren entdichtet, sodass, wie Neumann richtig feststellt, der Referenz- und Reflexionsraum verloren gegangen ist. Die Vielschichtigkeit der Städte ist nicht mehr vorhanden, da die neutrale Architektur das Erinnern an die Geschichte unmöglich macht. Neumann betont, dass die heutige Metropole unübersichtlich und kulissenhaft erscheint. Deshalb nennt Genazino, der sich auf einen Architekten bezieht, den Stadtraum der Großstadt einen Junk- Space. Die Zeiten, als der Flaneur durch die mondänen und marmorgetäfelten Passagen spazierte, sind nur noch eine verblasste Erinnerung. Heutzutage zeigt sich die Unübersichtlichkeit der Großstadt in Großmärkten, Shopping-Malls, Fußgängerzonen, Flughäfen und Erlebnisparks (ebd.: 154).
Im 19. Jahrhundert nahm die Haussmannisierung der Pariser Innenstadt dem Flaneur seine Umwelt. Wohingegen heute die auf einkaufende Passanten ausgerichtete Infrastruktur die Existenz des urbanen Müßiggängers bedroht und ihn zu einem heimatlosen Streuner macht (ebd.: 155). Dem Streuner gefällt die Fremdheit der rasanten und neuen Welt. Er möchte wissen, was sich in all der Unübersichtlichkeit als Metropole darstellt (ebd.: 156). Neumann stellt fest, dass wegen aufdringlicher Werbung und Waren der Flaneur seine Privatsphäre und die Distanz zur Menschenmenge verliert. Die Penetranz der Waren macht den Flaneur zum Streuner und ist der Grund für die Fluchtförmigkeit seines Umherstreifens. In Umgebungen ohne Diskretion kann es Flaneure deshalb nicht geben. Die Gelassenheit des Flaneurs geht in ein manisches Verhalten über. So kann man festhalten, dass die
Krise der Stadt zu einer Krise des Flaneurs geworden ist (ebd.: 156-157).
In dem Roman Ein Regenschirm für diesen Tag von Wilhelm Genazino ist der Protagonist als Schuhtester unterwegs, was ihn, wie Heiko Neumann sagt, eher zu einem Vagabunden oder Herumtreiber als zu einem Flaneur macht. Der Erzähler lebt in einer prekären finanziellen Lage, er trägt nur oberflächliche Charakterzüge eines Flaneurs wie Ziellosigkeit, spezielle Wahrnehmung und den Verkauf seiner Schreibkompetenz (ebd.: 158). Den Roman prägen die Motive der städtischen Armut, die sich in Obdachlosigkeit und der Verwahrlosung Frankfurts, der finanziellen Not des Erzählers und der Angst vor einem endgültigen sozialen Abstieg zeigen (ebd.: 159).
In seinem weiteren Roman Liebesblödigkeit von 2005 erfährt der Leser, dass der Ich-Erzähler Menschenansammlungen meidet und sie nicht lange ertragen kann. Er bevorzugt es, mit einer seiner beiden Geliebten Ausflüge in die Natur zu unternehmen, anstatt allein in Frankfurt zu flanieren. Er verspürt wenig Lust, in der Fußgängerzone zu spazieren, und er hat keine gelassene Haltung gegenüber der Menschenmenge. Er zieht außerdem komfortable Gemütlichkeit dem Straßenrausch vor (ebd.: 163). Dadurch erkennt der Leser, dass der Ich-Erzähler kein typischer Flaneur sein kann.
2.2Das Feuilleton: Inhalt und Form der Flaneurtexte
Der Begriff des Feuilletons (fr.: ,Blatt eines Druckbogens4 ) hat mehrere Bedeutungen. Zunächst bezeichnet Feuilleton den Kulturteil einer Zeitung, welcher zuerst in der Pariser Presse des frühen 19. Jahrhunderts erschienen ist. Seit 1870 wurde in Wien auch von der „kleinen Form“ gesprochen, wenn von Feuilletons die Rede war (Köhn 1989: 9). Das Feuilleton wurde auf dem unteren Teil der Seite platziert und mit einem Strich abgetrennt. Dies sollte vor allem das Sammeln sowie den Unterschied zu den anderen Beiträgen deutlich machen (Porombka 2009: 268). Seit 1813 sind die nicht-politischen Artikel und Notizen verschiedenster Art auch in deutschen Zeitungen nachgewiesen. Das Feuilleton beinhaltet Besprechungen zu Theateraufführungen, Kinofilmen, Büchern usw. Heutzutage ist die Bezeichnung meist in überregionalen Blättern gebräuchlich. Darüber hinaus ist unter ,Feuilleton‘ eine publizistisch-literarische Textsorte sowie eine Schreibweise, welche an spruchsvoll, unterhaltsam sowie stilistisch ausgefeilt ernsthafte Themen behandelt, zu verstehen (Drews 1997: 582; Porombka2009: 264).
Das deutsche Feuilleton weist unterschiedliche Typen auf, die von kulturhistorischen, literarisch-kritischen und philosophischen bis hin zu musikalischen Herangehensweisen reichen. Eine Variante des Feuilletons ist beispielsweise die Berliner Lokalplauderei von Adolf Glaßbrenner oder die „kauzig-dekadente Skizze Peter Altenbergs“. Selbstreflexion ist in diesem Fall zu beobachten. Mit der Zeit ist die Rubrik „Feuilleton“ zerfallen, da laut Jörg Drews sich die „Feuilletonisten kaum noch als Hüter einer Kultur der deutschen Sprache verstehen“ (Püschel 1997: 583). Diese kleine Prosaform bezeichnet man als eine hybride Kunstform, die vielfältig ist. Feste Gattungsmerkmale können dabei nicht genannt werden, da ihre Form jeweils durch den Gegenstand, dessen Behandlung und die verfolgte Zielsetzung bestimmt wird. Allgemein kann man sagen, dass diese Prosaform im Kulturteil der Zeitung auftritt. Das kleine Prosastück ist prägnant, witzig, anmutig und anschaulich. Außerdem zeichnet sich ein feuilletonistischer Text durch eine besondere Wahrnehmung und Betrachtung aus. Dazu gehört die subjektive und persönliche Form in Darstellung, Sprache und Meinung. Der unterhaltende Text will mithilfe alltäglicher Geschehnisse auf das Wesentliche und Allgemeingültige aufmerksam machen. Des Weiteren gibt es noch das kritisch-politische Feuilleton, das sich publizistisch-literarischer Mittel bedient, um die Leser zu beeinflussen (ebd.: 584-585).
Das Feuilleton beschränkt sich nicht nur auf die Zeitung, dennoch hängt seine Entstehung eng mit der Geschichte der Zeitung zusammen. Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts arbeiteten als Zeitungsredakteure und schrieben für die Zeitung feuilletonartige Texte. Entstanden ist das deutschsprachige Feuilleton im Jahre 1848, in dem ebenfalls als Konsequenz der revolutionären Geschehnisse das politische Wiener Feuilleton entsteht. Die Blütezeit der kleinen Form, welche hohes Ansehen hatte, war in Wien vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert (ebd.: 585).
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden immer differenziertere feuilletonistische Reflexionsformen, die als Reaktion auf die sich verändernde Kultur verstanden werden können. Bevorzugt werden boomende Großstädte, die sich durch Unübersichtlichkeit und Schnelligkeit des Alltags auszeichnen, beschrieben. Aus der Sicht eines Flaneurs oder Spaziergängers werden Details des Alltags betrachtet, analysiert sowie pointiert (Porombka 2009: 268). Spaziergänge, Erlebnisse, ungewöhnliche Begegnungen, Plaudereien usw. stehen im Mittelpunkt der kurzen Prosastücke (Köhn 1989: 9-10). Die kleine Form eignet sich gut, um einzelne urbane Müßiggänge in kompakter Form darzustellen und jedes Mal neue Aspekte der Großstadt wahrzunehmen und zu erläutern. Aus diesem Grund hängt das Flanieren mit dem Feuilleton eng zusammen.
In dieser Zeit können sich Autoren, die sowohljournalistisch als auch literarisch begabt sind, etablieren. Mithilfe dieser Kombination entwickeln die Autoren ein ästhetisches Programm und versuchen mit der Veröffentlichung von Zeitungstexten ihren Lebensunterhalt zu sichern (Porombka 2009: 268).
Das Wiener Feuilleton beeinflusste sowohl den deutschsprachigen Raum, besonders Berlin, als auch andere Länder der K-.u.-k.-Monarchie. Andererseits lebten und arbeiteten Wiener Feuilletonisten zeitweise oder längere Zeit in Berlin und wurden von der Stadt geprägt. In der Zeit des Nationalsozialismus erhielten viele Feuilletonisten Berufsverbot. Es durften nur gleichgeschaltete und unpolitische feuilletonistische Texte veröffentlicht werden, die sich auf belanglose Plaudereien beschränkten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das Feuilleton an Bedeutung. Nichtsdestotrotz findet man es in überregionalen Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen, wo es sich medienspezifisch weiterentwickelt hat (ebd.: 586).
Das Feuilleton oder die literarische Reportage, wie sie der Flaneur Joseph Roth nannte, wird aufgrund aktueller Geschehnisse und Entwicklungen geschrieben und eignet sich für die schnelle Lektüre in der Zeitung. Inhaltlich und stilistisch geht das Feuilleton meistens über das Alltägliche und das einmalig Besondere hinaus, sodass der Text dauerhafte Gültigkeit und Tiefsinnigkeit aufweist. Die literarische Reportage kann als Form der Kurzprosa, die zwar in der Zeitung erscheint, aber idealerweise eine dauerhafte Bedeutung aufweist, gelten. Sie zeichnet sich durch eine bewusste Ästhetik, eine literarische Sprache und eine dokumentarisch-berichtende Darstellungsform aus.
Köhn betont, dass die Struktur der Darstellung schwierig zu bestimmen sei (Köhn 1989: 10). Trotz einer bis heute nicht eindeutigen Definition orientieren sich feuilletonistisch Schreibende an den folgenden rhetorischen Parametern:
1. Die Erzählung wird dramatisiert, indem sie in kurzer Form verfasst wird.
2. Der Text wird aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben, der scheinbar mit dem
Autor identisch ist.
3. Der Autor bringt komplexe und komplizierte Themen dem Leser näher, indem er sie allgemeinverständlich macht und auf den Punkt bringt.
4. Der Autor erfindet die Rahmenhandlung oder einige Passagen der Erzählung.
5. Die Erzählung wird ironisiert, indem sie mehrdeutige Sprechweisen aufweist und nicht darauf bedacht ist, den Leser klar zu informieren.
6. Der Autor greift spielerisch die erwähnten Ereignisse und Sachverhalte aus anderen Zeitungsteilen oder Medien auf.
7. Die Sprache in der Erzählung wird poetisiert, d. h., der Autor spielt mit den sprachlichen Mitteln, sodass sich der Text deutlich von rein informativen und objektiven Berichten abgrenzt (Porombka 2009: 266).
Feuilletonistische Texte müssen nicht alle genannten Parameter erfüllen, sondern der Autor spielt vielmehr mit den Gattungsmerkmalen innerhalb einer Feuilleton-Ausgabe (ebd.: 267). Das Feuilleton geriet in der Zeit der Jahrhundertwende in Verruf. Die Kritiker warfen dieser Textform Seichtheit, Belanglosigkeit und nutzlose Ästhetik vor, was nicht ganz unbegründet war (Leerhoff 1998: 83). Da es aufgrund der großen Konkurrenz zwischen den Zeitungen vor allem um Verkäuflichkeit ging, stand die Qualität des Textes oft an zweiter Stelle (Köhn 1989: 47).
2.3 Vorbild: Charles Baudelaire
Baudelaire war ein Vorbild für die deutschen Flaneure. Um die verschiedenen Arten des urbanen Müßiggangs verstehen zu können, ist es notwendig, sich, wenn auch in aller Kürze, die Dichtung Charles Baudelaires anzuschauen. Mithilfe seiner Poesie sind die zentralen Flanerien in der deutschen Literatur nachvollziehbar. Baudelaire hat die Flaneurtexte deutscher Autoren wie Benjamin, Hessel und Kracauer stark geprägt. Dennoch sind die Erben Baudelaires in ihren Ausführungen nicht so radikal wie ihr Vorgänger. Die deutschen Flaneure sind während ihrer Stadterkundungen nüchterner, objektiver sowie gewissenhafter (Fuest 2008: 103).
Leonhard Fuest betont, dass „Baudelaires monströse Subjektivität sich die Realien seiner Umgebung einzig einzuverleiben scheint, um weiter zu wachsen - ins Unabsehbare, Ungeheure“ (ebd.). Baudelaire verstand es gut, sich selbst als flanierender Müßiggänger, Dandy und Melancholiker zu inszenieren. Doch er konnte den ausschweifenden Lebensstil nicht vollständig leben, da er einer Arbeit nachgehen musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen (ebd.). Der Dichter verfügte nicht über genügend finanzielle Mittel, um sich vollkommen der Aufgabe des Dandys, sich selbst als lebendes Kunstwerk zu inszenieren, zu widmen. Daraus ergibt sich eine widersprüchliche Definition des Dandytums. Auf der einen Seite stellt der Müßiggang den wichtigsten Indikator für das wahre Dandytum dar. Auf der anderen Seite spielt die Arbeit eine wichtige Rolle für das Überleben. Baudelaires Tagebuchaufzeichnungen sind voller Widersprüche. Seine Aussagen schwanken zwischen der Arbeitsethik des Schriftstellers und dem Gebot des Müßiggangs, zwischen Aufrufen zu Disziplin und Hygiene und solchen zu Rausch und Ausschweifungen (ebd.: 104).
Baudelaire nahm die Tableau-Tradition von Mercier wieder auf, wobei er sie in einen neuen Kontext setzte. Die Prosaform des Tableau de Paris wird in seinem Tableaux Parisiens, einem Abschnitt seines Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen), Baudelaires Hauptwerk, auf die Lyrik übertragen (Keidel 2006: 7). Die feuilletonistische Kleinform wird durch die poetische Transformation reduziert. Anders als die Autoren, die die Themen der Großstadt satirisch behandelten, verarbeitet Baudelaire erstmals die urbanen Phänomene lyrisch in ernsthafter Weise (ebd.: 18). Der französische Schriftsteller konzentriert sich auf das Unbekannte, auf Randphänomene und Randfiguren der Pariser Gesellschaft. Angelehnt an Edgar Allan Poes Erzählung The Man of the Crowd, untersucht er das Element der Anonymität der großstädtischen Erscheinungen. Die Hauptfiguren in seinen Gedichten sind Bettler, Greise, Blinde, Prostituierte sowie Strafarbeiter. Diese bewegen sich in heruntergekommenen Stadtteilen von Paris, welche die Zerfallserscheinungen des alten Paris deutlich machen.
Darüber hinaus versucht der Autor das Bleibende aus dem Vergänglichen zu extrahieren. Im Gegensatz zu früheren Flaneurtexten wollen Baudelaires Gedichte weder eine soziale Charakterisierung vornehmen noch den Leser moralisch belehren (ebd.: 18). In seinen Arbeiten beruft sich Baudelaire auf den englischen Autor Thomas de Quincey, für den die soziale Sensibilität zu den grundlegenden Eigenschaften des Flaneurs gehört (Köhn 1989: 72).
Die Figuren stehen in einem Wechselverhältnis zu dem Ich-Erzähler des Flaneurs, welcher seine eigene Befindlichkeit in ihnen spiegelt. Außerdem basiert seine Ästhetik der Moderne auf den für ihn schockierenden Erlebnissen sowie der Konfrontation mit dem Elend. Matthias Keidel betont, das Subjekt der Gedichte verliere sich ganz in der Wahrnehmung und werde von ihr aufgesogen, gewinne dennoch durch „aktive und subjektive gesteuerte Reflexion des Geschehenen die eigene Identität gesteigert zurück“ (Keidel 2006: 18).
In Baudelaires Gedichten spielt die Lebenswirklichkeit der betrachteten Gestalten eine untergeordnete Rolle. Er kreiert eine Traumwelt, die ihm die Flucht aus der Wirklichkeit erlaubt (Köhn 1989: 61). Vielmehr steht der kreative Schaffensakt im Mittelpunkt (Keidel 2006: 18). In den Gedichten Tableaux Parisiens ist die Subjektivität des Flaneurs ausgeprägt, der von den Erfahrungen in der Großstadt berichtet. Das lyrische Subjekt hat sich in den Flaneur verwandelt. Die spezifische Wahrnehmung ruft beim flanierenden Ich bestimmte Stimmungen, Wünsche und Ängste hervor. Es herrscht eine radikale Subjektivie- rung der Perspektive vor, sodass sich für das lyrische Ich die Bedeutung der Dinge verändert (Köhn 1989: 62). Die Art, wie der lauernde Flaneur auf das Unerwartete und Plötzliche reagiert, spiegelt die Schreibbewegung des Textes. Die ästhetische Wirkung der Einzelheiten seiner Gedichte geht weniger von den poetischen Eigenarten aus als vielmehr von dem unerwarteten Verhältnis, in dem sich die einzelnen Elemente befinden (Köhn 1989: 72). Laut Baudelaire müssen sich die Flaneure in dem kleinen (Bewegungs-)Frei- raum prostituieren, den die gesellschaftlichen Mächte dem Einzelnen noch zugestehen, um überhaupt existieren zu können. Diese Käuflichkeit verwandelt er in eine Poetik des flanierenden Dichters (Wellmann 1991: 142).
Baudelaires Wahrnehmung ist so offen wie die eines Kindes. Wie auch der Protagonist in The Man of the Crowd erfasst der Autor alles mit gleicher Genauigkeit, aber ohne die Menschen in gesellschaftliche Stereotype einzuordnen. Diese Fähigkeit des ersten Blicks zählt zu einer typischen Flaneurperspektive, welche Franz Hessel und Walter Benjamin von Baudelaire übernahmen. Aber auch andere Autoren ließen die großstädtischen Eindrücke als Erstes ungefiltert auf sich wirken (ebd.: 19).
Darüber hinaus leitet die lyrische Form den Text nicht ein und lädt den Leser nicht ein, dem Flaneur auf seinem Spaziergang zu folgen, wie es in Feuilletons üblich war. Während des Lesens teilt der Leser die Entfremdungserfahrung des Flaneurs. Das Fremdheitsgeiuhl, das Baudelaire verspürt, kann man als eine Reaktion auf den radikalen Wandel des Stadtbildes verstehen. Dieser Wandel brachte das gesteigerte Bewusstsein für das Verschwinden von bekannten und gewohnten Ansichten mit sich. Haussmann, der Stadtbaupräfekt Napoleons III., gestaltete in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Paris umfassend um. So machte die Altstadt den groß angelegten Boulevards Platz. Einerseits diente das enorme Bauprojekt der Repräsentation, andererseits verfolgte man sozialpolitische Ziele wie eine allgemeine Säuberung der Straßen von Bettlern, Gauklern und Prostituierten sowie eine Ghettoisierung der Arbeiter und Armen (ebd.: 19). Die Trottoirs sorgten für eine bequeme und sichere Nutzung der Straßen, sodass die Passagen ihre Bedeutung verloren. Das Flüchtige betont Baudelaire stets in seinen Schriften. Der schnelle Wandel von Architektur ver- anlasste ihn dazu, über das Aktuelle und Gegenwärtige zu schreiben. Die ständige Veränderung, das schnelle Altern und Verschwinden, das er in kurzen Augenblicken festhält, wird in seinen Schriften oft thematisiert (ebd.: 20).
Des Weiteren konstruiert der Flaneur in den Gedichten eine imaginierte subjektive Vertrautheit während der Begegnung. In dem Gedicht A une passante sieht der Flaneur eine vorübergehende Frau, was ihn blitzartig trifft und ihm ein neues Leben aufzeigt, doch der Glanz verfliegt schnell und es entsteht eine melancholische Stimmung. Die dauerhafte Erfahrung des Verlusts (Wandel des Stadtbildes, das Verschwinden prägnanter Figuren aus dem Straßenleben oder das abrupte Ende einer Begegnung) erzeugt bei ihm Melancholie. Der schöpferische Schreibprozess wird durch die Verlusterfahrung ausgelöst und ist für die Melancholie der Texte verantwortlich. Das Wechselspiel von Inspiration und Trauer zeichnet bis heute die Flaneurtexte aus. Zwar sind auch heute Texte mit einer lockeren Beobachtungsart des Feuilletons vorhanden, doch die Kombination aus Verlusterfahrung und Schreibinspiration ist aus dem Berlin der Weimarer Republik und den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken (ebd.: 20).
Auch in Baudelaires Aufsatz Le Peintre de la vie moderne, der von der theoretischen Verallgemeinerung der aus der Arbeit an den Tableaux Parisiens gewonnenen Erfahrungen der Großstadtdarstellung handelt, geht es um die Vergänglichkeit. Am Beispiel der Zeichnungen des Malers Constantin Guys entfaltet er seine Konzeption einer Kunst der Moderne, die er als „théorie rationnelle et historique du beau“ bezeichnet. Der französische Schriftsteller ist der Meinung, dass das Schöne nicht in einem zur überzeitlichen Norm gewordenen Kunstwerk vertreten ist, das sich für immer von anderen ästhetisch abhebt. Anhand von Modezeichnungen erklärt er, dass in verschiedenen Zeitepochen unterschiedliche Formen der Kleidung als schön empfunden wurden und in ihrer Gegenwart neu geschaffen wurden, doch jede Mode nach einer bestimmten Zeit der Vergangenheit angehört. Somit gehört zu seiner Modernität die radikale Verzeitlichung des Schönen (Köhn 1989: 63).
Außerdem produzierte Baudelaire auch die kleine Prosaform. In Le Spleen de Paris erzählt, beschreibt und kommentiert er seine anekdotenhaften Texte. Einzelne bizarre Figuren aus den Randbezirken thematisiert er in seinen Texten. Keidel unterstreicht, dass die Figuren ihre besondere Qualität erst als Gestalten in der Menge erhalten. Die Menschenmenge ist essenziell für den Flaneur, damit seine Fantasie und der Rausch der ästhetischen Erfahrung ausgelöst werden. Somit dienen die Menschen auf der Straße Baudelaires Flaneur als Inspiration für die Welt seiner eigenen Fantasie (ebd.: 21).
3 Berliner Flaneure bis 1933
3.1 Benjamins Einbahnstraße und Passagen-Werk
Walter Benjamin debütierte als Schriftsteller mit seiner Sammlung von kurzen Prosastücken unter dem Titel Einbahnstraße (Köhn 1989: 195). Hessel gehörte zu seinen Freunden, diente Benjamin als Mentor und führte ihn in die Geheimnisse der beiden Metropolen Paris und Berlin ein (ebd.: 196). Die Titel der kurzen Prosastücke beziehen sich auf Schilder, Plakate, Reklamewände, Hausfassaden, Schaufenster und Ausstellungsvitrinen in der Großstadt (ebd.: 201). Seine kurzen Texte sind als Produkt zu verstehen, wobei die Inschriften der Schilder in die figürlichen Reden der Texte übersetzt werden (ebd.: 205). Diese Prosastücke sind anders als andere Feuilletons keine Straßentexte, sondern eine Textstraße, welche aus dem in Metaphern verwandelten Sprachmaterial der Straße besteht (ebd.: 206). Es gibt keine Figur des Flaneurs in seinen Texten, sondern ein flanierendes Denken. Der schnelle Rhythmus einer Denkbewegung, der von der Inschrift eines Schildes ausgeht, wird dokumentiert (ebd.: 207).
Wie Keidel betont, ist bei Benjamin der Flaneur eine Identifikationsfigur für das eigene literarische Schaffen, welche den Texten ihre Struktur gibt, ohne dabei selbst zu erscheinen. Benjamin versuchte eine umfassende Theorie des Flaneurs zu verfassen, die ihm aber aufgrund verschiedener Konzeptionen nicht gelungen ist. Auch wenn Benjamin mit seinem umfassenden Bild des Flaneurs gescheitert ist, hat er dennoch den Flaneur in Deutschland salonfähig gemacht. Zu diesem zählen der Flaneur als Identifikationsfigur des eigenen Schaffens, der Flaneur Baudelaires (als Funktionsform der eigenen Ich-Konstitution) und Hessels (der Flaneur als Ästhetiker des Marginalen). Diese sind auf inhaltlicher Ebene nicht miteinander vereinbar (Keidel 2006: 41).
In dem Text Vereidigter Bücherrevisor, welcher den Titel eines Hausschildes trägt, geht es um Reflexionen zur Entwicklungsgeschichte der Schrift. Inspiriert durch ein typisches Schild in einer Großstadt, gibt der Autor dem Leser einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Schrift innerhalb der Jahrhunderte. Man erfährt, dass sich die Schrift von der Vertikalen in die Horizontale verlagert hat (ebd.: 43), um dann im Zeitalter des Films und der Reklame wieder in die ursprüngliche vertikale Form zu wechseln. Das Medium der Schrift wird aus historischer und philosophischer Sicht näher beleuchtet. Benjamins Vorgehensweise beginnt mit einer Gegenwartsbeobachtung, um sich dann kurz einer historischen Entwicklungsgeschichte zu widmen, die mit einer Prognose endet. Alle Zeitebenen sind in seiner kleinen Prosaform verdichtet. Dieses Denkverfahren richtet sich nach keinen strengen Regeln, sondern man kann sagen, dass es flaniert. In der Einbahnstraße nimmt der Leser die Rolle des Flaneurs ein, der auf der Textstraße flaniert und die sich schnell verändernden Gedankenschritte und -sprünge verfolgt (ebd.: 44-45).
Benjamins umfassendes geschichtsphilosophisches Passagen-Werk, das vorwiegend in Paris entstand, handelt von der Großstadt Paris, dem dortigen Leben, der Architektur und dem Flaneur. Das 19. Jahrhundert steht im Mittelpunkt, da es die Geburtsstunde des literarischen Flaneurs darstellt. Das Passagen-Werk gilt als sehr kompliziert, da seine Gedanken und die Sprache nicht immer nachvollziehbar sind. 1820 entstanden aus praktischen Gründen die Passagen in Paris, also überdachte Durchgänge für Passanten mit Einkaufsmöglichkeiten. Diese ermöglichten das Flanieren und Entdecken von außergewöhnlichen Dingen (Andre 2011: 1). Benjamin beschreibt in seinem Passagen-Werk die Situation in der französischen Metropole. Im Paris des 19. Jahrhunderts war es nicht überall möglich, in der Stadt herumzuschlendern, da das Stadtbild des französischen Stadtplaners von Paris Georges-Eugène Haussmann dies nicht erlaubte. Vor allem die Bürgersteige waren meist zu schmal und boten wenig Schutz vor den Fuhrwerken. Deshalb sind die Passagen eine wichtige Voraussetzung für die Bedeutung und Entwicklung der Flanerie. Die Passagen, glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben, waren eine neuere Erfindung des industriellen Luxus. Zu beiden Seiten dieser Gänge erhielten sie von oben Licht. Diese neuen Konstruktionen waren eine Welt für sich und beinhalteten die elegantesten Warenläden. Die Passagen waren eine Kombination aus Straße und Interieur und sind mit den heutigen Einkaufspassagen und Shopping-Malls zu vergleichen (Benjamin 1938: 129).
In dieser Welt fühlt sich der Flaneur zu Hause, denn hier halten sich die Spaziergänger und Raucher sowie Menschen, die ihr Metier betreiben, auf. Diese Atmosphäre verhilft dem urbanen Müßiggänger zu seinen kleinen literarischen Eindrücken. Die alltäglichen Dinge wie die glänzenden emaillierten Firmenschilder, welche für ihn besser als Wandschmuck sind, werden die Grundlage für seine Texte. Zeitungskioske werden zu Bibliotheken und die „Caféterrassen“ zu Erkern, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht (ebd.).
Mit dem Aufkommen der öffentlichen Verkehrsmittel änderte sich die Lebenssituation für die Großstädter. Denn nun waren die Menschen in Omnibussen, den Eisenbahnen und in Tramways den Blicken anderer Mitfahrender für Minuten oder Stunden ausgesetzt, ohne dass jemand ein Gespräch aufnehmen musste. Deshalb ist die Aktivität des Auges bei den Großstädtern besonders ausgeprägt gegenüber dem Gehör. Im neuen Zustand fühlten sich die Menschen unbehaglich, denn die Menschenmassen waren ihnen unbekannt und somit für sie potenziell gefährlich. Walter Benjamin betont, dass in der Großstadt die Masse als Asyl für die Asozialen dient, um vor ihren Verfolgern zu schützen. Die Menschenmassen in Metropolen eignen sich außerdem gut für eine Detektivgeschichte. Auch der Flaneur kann mit einem Detektiv verwechselt werden, da er als Beobachter und durch seinen langsamen Gang auffällt. Diese Verwechslung findet der Flaneur amüsant, denn sie legitimiert seinen Müßiggang(ebd.: 130).
3.2 Kracauers melancholische Flânerie
Wie Neumeyer in seiner Dissertation zu Recht klarstellt, zeichnet sich Kracauers Flânerie durch eine melancholische Wahrnehmung des urbanen Müßiggängers aus. In seinen Spaziergängen taucht der Flaneur in die Metropole ein und stellt seine Subjektivität hinter das, was er auf der Straße wahrnimmt (Neumeyer 1999: 332-333). Seine Beschreibungen der Stadt bedienen sich des expressionistischen Topos der Großstadtstraße als „Sinnbild des Untergangs“ (Köhn 1989: 231). Es besteht dennoch Hoffnung auf Erlösung (ebd.: 232). Oberflächenphänomene des Großstadtalltags gehören zu seinen Beobachtungen (ebd.: 242).
Kracauers zentraler Befund ist, dass die Krise in der Metropole allgegenwärtig ist und die Großstadt somit eine Krisenlandschaft darstellt. Der Flaneur macht in seinen Texten deutlich, dass eine politische Veränderung notwendig ist, um diese Krise zu beseitigen. Dies erreicht der urbane Müßiggänger, indem er gesellschaftliches Elend darstellt. Der Flaneur selbst ist in der bestehenden Krisenlandschaft ständig ein Wartender (ebd.: 243). Des Weiteren nimmt Kracauers Flaneur eine analytische Perspektive ein und beobachtet z. B. die Leere der Seitenstraßen, das flüchtige Kommen und Gehen neuer Betriebe sowie die Selbstverblendung der Geschäftsleute. So erstellt der Erzähler Georg in dem gleichnamigen Roman Georg eine Gegenwartsanalyse der gesellschaftlichen Gewichtungen in Berlin (ebd.: 334). Darüber hinaus steht der Flaneur immer wieder vor neuen Abgründen. In Straße ohne Erinnerung wird die Atmosphäre des Abschieds deutlich, als es um den Abriss eines Hauses geht (ebd.: 336).
Im Gegensatz zu Hessel, der den Modernisierungsprozess und die Veränderung der Stadt als einen Verlust von Heimat sieht, empfindet Kracauer diesen Verlust nicht, weil er seine Kindheit nicht in Berlin verbracht hat. Der Verlust von Geschichte und Tradition löst in ihm hingegen eine Leere bezüglich Zeit und Raum aus. Dieses Zwischen von Nicht-Mehr und Noch-Nicht der Modernisierung tritt andauernd auf. Es geht Kracauer auch nicht wie Hessel darum, die Vergangenheit der Metropole einzuholen, um Tradition zu stiften, Kontinuität herzustellen und so die Abgründe im Zeit-Raum der Großstadt zu schließen (ebd.: 337-338).
In Kracauers Schriften flanieren die Arbeitslosen, die vom wirtschaftlichen Produktionsprozess ausgegrenzt sind. Die Menschen können sich wenig leisten, deshalb flanieren sie und betrachten die Kinoplakate und haben eine Möglichkeit, sich zu zerstreuen und für kurze Zeit ihre finanzielle Notlage zu vergessen. Kracauer sieht den Veränderungsprozess Berlins kritisch, denn wirtschaftliches Profitstreben herrscht in der Metropole und alles, was nicht rentabel ist, wird abgelehnt. Anders als Hessel, der die Armut Berlins beschönigt, sieht der melancholische Blick Kracauers in der Flanerie einen „erzwungenen Müßiggang“, der nicht daher rührt, dass niemand eilt, weil man keinen Nutzen für die Großstadt darstellt. Köhn stellt fest, dass seine Flanerie darin besteht, den politischen und sozialen Bereich Berlins wahrzunehmen und diesen für den Leser analytisch aufzuschließen.
Wenn persönliche Erfahrungen des Ich-Erzählers erwähnt werden, dann nur, um als Beispiel für seine Analyse zu dienen. Er möchte über die ökonomischen Bedingungen der Gegenwart aufklären sowie die Verklärung der ideologischen Zurechtmachung der Wirklichkeit, wie beispielsweise die Bezeichnung der Flanerie als „Schatz der Armen“ durch Hessel sowie die Verschönerung des Kurfürstendamms, revidieren (ebd.: 339-340).
Kracauers Flaneur bezieht sich in seiner Funktion auf den Modernisierungsprozess. Er inspiziert dessen soziale, politische sowie historische Konsequenzen. Dieser kann die dauerhafte Erfahrung der modernen Lebenswelt, welche die Leere von Zeit und Raum einschließt, nicht überwinden. Denn um das Wahrgenommene analysieren zu können, muss sich der urbane Müßiggänger immer wieder in den Abgrund begeben und sich darauf fokussieren. Er ist bestrebt, die Moderne in ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang aufzuklären (ebd.: 341).
3.3 Walsers experimentelles Flanieren
Wie Köhn betont, zeigen sich schon in Robert Walsers frühen kleinen Prosastücken wie im Text Guten Tag, Riesin die für den Schriftsteller typischen spezifischen Elemente seiner Flanerie. Der Ich-Erzähler betrachtet die Straße als Bühne, auf der er am frühen Morgen unterschiedliche Gestalten flüchtig beobachtet. Abgesehen von der Straße nimmt der Flaneur einen Beobachtungsposten ein, der keine Aufmerksamkeit auf ihn lenkt. So beobachtet er, teilweise stundenlang, unauffällig in Stehbierhallen, Theaterfoyers, Parks, Markthal- lenund Vergnügungsetablissements(Köhn 1989: 137).
Die Flüchtigkeit des Gehens und Sehens bestimmt bei Walser die Textstruktur. Der Flaneur nimmt kurz eine Erscheinung wahr und geht daraufhin zur nächsten. Harald Neumeyer bezeichnet sein „Vorüber“ als Charakteristikum großstädtischen Erlebens (Neumeyer 1999: 197). In Guten Tag, Riesin passt der urbane Müßiggänger seine Gehbewegung der Menschenmenge an, wodurch er nur flüchtige Momente festhalten kann. Dadurch nimmt er die Rolle eines Passanten ein, für den die anderen schnell vorübergehende Menschen sind. Auch für die anderen ist der Müßiggänger ein schnell Vorübergehender (ebd.: 202).
Die Texte Walsers zeichnen sich durch eine heterogene Struktur aus, die Leseranreden, das Spielen mit der Sprache, subjektive Bekenntnisse sowie reflexive Abschnitte beinhalten kann. Seine kleine Form unterscheidet sich von den bisherigen kunstbestimmten Ausprägungen. Dazu gehört das Abschweifen, das Experimentieren mit der Sprache und die freie Beziehung von Darstellungselementen. In seinem Werk Berlin und die Künstler dient ihm das Gesehene dazu, der eigenen Fantasie freien Lauf zu lassen. In diesem Punkt lehnen sich Walsers Texte an Baudelaires Vorgehensweise an, aus dem Beobachteten eine Geschichte zu fantasieren. Dabei liegt sein Fokus auf den Menschen und nicht auf der Architektur oder anderen leblosen Dingen (ebd.: 138-139).
Darüber hinaus zeigen Walsers Texte gesellschaftskritisches Bewusstsein. Als Beispiel nennt Köhn das kleine Prosastück Berlin W, in dem der Flaneur sich nicht vom Glanz der Schaufenster und Kaufhäuser blenden lässt, sondern das soziale Elend in den Vorstädten und Hinterhöfen herausstellt. Außerdem stellt Köhn fest, dass in Walsers Texten erst in der Nacht das bürgerliche Publikum die Großstadtstraße als Ort der unterdrückten Wünsche nutzt(ebd.: 140-141).
Im Jahr 1913 kehrt Walser in seine Heimat Biel zurück und flaniert in der Kleinstadt, wobei das Flanieren in der Kleinstadt eher eine Ausnahme für die urbanen Müßiggänger darstellt. Doch Walser imaginiert, er befände sich in einer Metropole. Anders als in Berlin ist das Überraschende des Unbekannten nicht vorhanden, sondern der Flaneur sieht sich dem Überraschenden des Vertrauten gegenüber. Wie auch in der Metropole reizt es den Flaneur an der Kleinstadt, wenn die Straße zum Schauplatz des Unbekannten oder zum Ort einer spontanen Kommunikation mit Fremden wird (ebd.: 142-143).
In seiner Heimatstadt Biel ruft ein Tannenwald in ihm höchste Glücksgefühle hervor, die jedoch kurze Zeit später zu einer Todessehnsucht werden.
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