Einsam, liebesunfähig und zugleich verwöhnt. Dies sind einige der Vorurteile, die Einzelkindern anhaften. Bereits der Begriff „einzeln“ suggeriert Vorstellungen von Alleinsein und Isolation. Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit dem „Mythos Einzelkind“ und der Frage, warum sich Paare für ein Einzelkind entscheiden, obwohl die vermeintlichen Nachteile dabei zu überwiegen scheinen.
Aus dieser Forschungsfrage entstehen mehrere Unterfragen, die beantwortet werden sollen: Was sind Vorurteile und woher stammt diese Voreingenommenheit gegenüber Einzelkindern? Welche Defizite werden Geschwisterlosen unterstellt? Und welche Differenzen zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern zeigen sich wirklich?
In dieser Arbeit wird ebenfalls die Hypothese von Gordon Allport überprüft, dass ein „Vorurteil […] eine Antipathie [ist], die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. […] Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist.“
Um die Fragen beantworten und die Hypothese verifizieren zu können, wird die vorliegende Arbeit die Methode der Literaturarbeit anwenden und verschiedene Positionen und Studien mehrerer Forscher und Forscherinnen vergleichen und kritisch und vorurteilsfrei analysieren.
Einzelkinder und manchmal auch Einzelkindeltern scheinen in der Opferrolle zu sein, da sie durch das Fehlen von Geschwistern die Erwartungen einer „normal[en]“ Familie nicht erfüllen, und müssen daher boshafte Unterstellungen ertragen. Aus dem Grund, dass sich manche Eltern bewusst für ein einziges Kind entscheiden und bei anderen Eltern die individuelle berufliche oder gesundheitliche Situation eine Rolle spielen, gehen Eltern unterschiedlich mit ihrer persönlichen Familiensituation um und daher kann man nicht von einem „typischen“ Einzelkind sprechen, das von vornherein einsam, verwöhnt, altklug, liebesunfähig, konfliktunfähig, eingebildet, egoistisch, überbehütet und introvertiert ist, sondern man muss berücksichtigen, dass milieuspezifische Faktoren die Entwicklung eines Einzelkindes viel mehr beeinflussen und ein Kind ohne Geschwister somit aus seiner Position sehr wohl auch positive Qualitäten für das spätere Leben mitnehmen kann, da es auch durch Peers ähnliche Erfahrungen machen kann.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ... 4
1. Einleitung ... 6
2. Definition: Einzelkinder ... 10
3. Kinderwunsch und Kinderzahl ... 11
3.1 Gründe für Kinderlosigkeit ... 11
3.2 Gründe für ein Kind ... 12
3.3 Einzelkindeltern als unvollkommene Eltern ... 13
3.4 Vom Paar zur Einkindfamilie ... 15
4. Bindung der Geschwisterlosen an die Eltern und Loslösung vom Elternhaus ... 17
5. Zufriedenheit der Einzelkinder ... 20
6. Was sind Vorurteile, woher stammen diese und welche Faktoren können für den Fortbestand der Vorurteile über Einzelkinder verantwortlich sein? ... 22
7. Welche Vorurteile über Kinder ohne Geschwister existieren? ... 24
7.1 Vorurteile über den Charakter von Einzelkindern ... 24
7.1.1 Introvertiertheit und Geschwisterreihe ... 24
7.1.2 Egoismus und Selbstwert ... 28
7.1.3 Gibt es zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern Differenzen in Bezug auf Störungen und Defizite, die auch noch den späteren
Erziehungsstil der Einzelkinder beeinflussen? ... 31
7.1.4 Sind Einzelkinder einsam? ... 32
7.1.5 Sind Einzelkinder altklug? ... 34
7.1.6 Sind Einzelkinder verwöhnt? ... 37
7.1.7 Zwischen Überbehütung und Selbstständigkeit ... 39
7.2 Vorurteile gegenüber Einzelkindern in Bezug auf Beeinträchtigungen im Kontakt mit anderen ... 41
7.2.1 Unterscheiden sich Einzelkinder und Geschwisterkinder im Sozialverhalten und im Herausbilden einer Geschlechtsidentität? ... 41
7.2.2 Welche unterschiedlichen Auswirkungen haben innerfamiliäre Konflikte auf Einzelkinder im Vergleich mit Geschwisterkindern? ... 43
7.2.3 Der „Familiy Relation Test“ ... 44
7.2.4 Sind Einzelkinder „liebesunfähig“ (Blöchinger)? ... 44
7.2.5 Stimmt es, dass Einzelkinder konfliktunfähig sind? ... 46
7.2.6 Sind Einzelkinder weniger empathisch als Geschwisterkinder? ... 47
7.3 Vorurteile gegenüber Einzelkindern in Bezug auf Defizite und Unterschiede im kognitiven Bereich im Vergleich mit Geschwisterkindern ... 48
7.3.1 Intelligenz und Konfluenzmodell ... 48
7.3.2 Anstrengung und Erfolg ... 50
7.3.3 Welche Unterschiede zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern gibt es in der Sprachentwicklung? ... 51
8. Welche Rolle spielt die Peergroup für Einzelkinder?. ... 53
9. Fazit ... 55
10. Literaturverzeichnis ... 57
Abbildungsverzeichnis ... 61
1. Einleitung
Wenn man die öffentliche Diskussion über kontinuierlich sinkende Geburtenraten und der immer kleiner werdenden Familien mitverfolgt und von immer weniger Geburten pro Frau hört, dann liegt die Implikation nahe, dass es immer mehr Einzelkinder gibt. (Vgl. Geserick 2012, S.5)
Laut den pädagogischen Psychologen Hofer et al. (2002, S. 74) waren im Jahre 1900 im Durchschnitt 5 Kinder pro Frau zu verzeichnen, im Jahre 1950 lediglich noch 2.1 Kinder und 1980 ist die durchschnittliche Kinderzahl schon auf 1.5, und 1994 schließlich auf 1,26 Kinder gesunken. Esch et al. (2005, S.41f.) zufolge ist diese Entwicklung auf die „niedrige Fertilitätsrate, die steigende Lebenserwartung und [das] Mobilitätsverhalten“ (Esch et al. 2005, S.41) zurückzuführen. Zur Reproduktion der Bevölkerung bräuchte man eine Geburtenrate von ungefähr 2,1 Kindern pro Frau. Aufgrund des Geburtenrückganges gab es im Jahre 1972 mehr Todesfälle als Geburten. Nach dem Soziologen, Psychologen und Psychotherapeuten Martin Dornes (2012, S.68) lässt sich der Geburtenrückgang nicht nur durch die steigende Anzahl der Einzelkinder begründen, sondern durch die Abnahme der Paare mit mehr als drei Kindern und der Zunahme an kinderlosen Paaren.
[Abbildungen werden in dieser Leseprobe nicht dargestellt]
Abb.01: Geserick (2012, S.5)
Diese Abbildung 01 von Geserick (2012, S.5) zeigt sehr deutlich, dass zwei Tendenzen für die Abnahme der durchschnittlichen Kinderzahl in Deutschland und Österreich zu erkennen sind, nämlich dass es heute mehr Zweikind-Haushalte und weniger Mehrkind- Haushalte gibt. Die Anzahl der Einzelkinder hat sich über die Jahre hinweg jedoch laut Geserick nicht wirklich verändert.
Nach dem Entwicklungspsychologen und Familenforscher Hartmut Kasten (2007, S.113) beklagte man sich in den westlichen Ländern schon lange über die abnehmende Geburtenzahl. Schärer (1994, S.83) zufolge hat man Vorurteile über Einzelkindeltern, weil diese der gesellschaftlichen „Norm“ von mindestens zwei Kindern nicht nachkommen. Kasten (2007, S.17) ergänzt, dass auch Einzelkinder von negativen stereotypen Vorurteilen betroffen sind, da diese oft als Kinder mit Schwächen und Mängeln betrachtet werden.
Im Gegensatz zu den Daten der Industrienationen war es in China eher umgekehrt der Fall. In China versuchte man die Zahl der Familien mit nur einem Kind zu steigern. Der Grund dafür war die Tatsache, dass sich die chinesische Bevölkerung in den Jahren zwischen 1953 und 1962 verdoppelt hatte. Um alle Einwohner und Einwohnerinnen mit existenziellen Dingen versorgen zu können, wurde 1962 die Geburtenkontrolle verordnet und ab Ende der 70er Jahre auch streng kontrolliert und gegebenenfalls bestraft. (Vgl. Kasten 2007, S.113) Wer sich nicht an die Ein-Kind-Regel gehalten hat, wurde mit niedrigeren Löhnen und überteuerten Schulkosten bestraft und in manchen Fällen wurden Paare sogar unter Druck gesetzt, sodass sie ein Kind abtreiben mussten. Hingegen wurden die Eltern, die sich an die Ein-Kind-Regel gehalten haben, unter anderem durch zusätzliches Geld und bessere Ausbildungschancen fürs einzige Kind belohnt. (Vgl. Rollin 1990, S.29) Diese seit 1979 existierende Ein-Kind-Politik in China wurde im Oktober 2015 aufgehoben, „um die schädlichen Auswirkungen auf die älter werdende Gesellschaft zu beheben und die gezielte Abtreibung […] zu reduzieren.“ (ZEIT ONLINE 2015) Weitere Auswirkungen der Ein-Kind-Politik waren „eine Alterung der Gesellschaft, eine Überbelastung des sozialen Netzes, selektive Schwangerschaftsabbrüche, ein Überschuss an Männern, die keine Frau finden, und ein Rückgang der Arbeitskräfte.“ (ORF 2015) Obwohl die Ein-Kind-Politik schon seit zwei Jahren nicht mehr so streng kontrolliert wurde und Paare, bei denen ein Elternteil keine Geschwister hatte, die Erlaubnis für ein zweites Kind erhalten haben, führte es zu keinem wie erwarteten Geburtenanstieg.
Aus verschiedensten Gründen entscheiden sich immer mehr chinesische Paare dazu, es bei einem Kind zu belassen. (Vgl. Der Standard 2015)
Nicht nur in China, sondern auch bei uns ist es so, dass es viele Familien mit Einzelkindern gibt und diese somit schon lange keiner Minorität mehr angehören. Jedoch stößt der Begriff „Einzelkind“ im Alltag immer wieder auf Skepsis und negative Reaktionen. Der Terminus „einzeln“ suggeriert Vorstellungen von Alleinsein und Isolation. Um diese negativ konnotierte Verknüpfung mit Einsamkeit nicht sofort herzustellen, kann man statt von Einzelkindern auch einfach von „Kindern ohne Geschwister“ bzw. „Geschwisterlosen“ sprechen. (Vgl. Kasten 2007, S.9) Der Themenbereich Einzelkind ist dem Bereich der Geschwisterforschung untergeordnet und wird meist nur am Rande behandelt. Die Vorteile eines Geschwisterkindes werden oft als Nachteil eines Einzelkindes deklariert. (Vgl. Rollin 1990, S.46) Obwohl es sehr viele negative Vorurteile über Einzelkinder gibt, sind nach McGrath (1989, S.11) die Geläufigsten, dass sie angeblich „lonely [and] selfish“ sind.
Wenn all diese Vorurteile zutreffen würden, müssten sowohl die westlichen Industrieländer als auch die Chinesen und Chinesinnen mit dem Eintreffen dieser Vorurteile rechnen und eine zukünftige Bevölkerung von „egoistischen und einsamen“ Menschen erwarten. Die Einzelkindthematik ist definitiv en vogue, daher beschäftigt sich die vorliegende Bachelorarbeit mit gängigen Vorurteilen gegenüber Einzelkindern und vergleicht diese mit Forschungsergebnissen und Standpunkten von Experten und Expertinnen.
Die Forschungsfrage dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem „Mythos Einzelkind“ und der Frage danach, warum sich Paare für ein Einzelkind entscheiden, obwohl die vermeintlichen Nachteile eines einzelnen Kindes überwiegen. Aus dieser Forschungsfrage entstehen mehrere Unterfragen: Was sind Vorurteile und woher stammt diese Voreingenommenheit gegenüber Einzelkindern? Welche Defizite werden Geschwisterlosen unterstellt und welche Differenzen zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern zeigen sich wirklich in Bezug auf ihren Charakter, dem Kontakt mit anderen, der kognitiven und sozialen Entwicklung, der Sprachentwicklung und der elterlichen Erziehung?
Ebenfalls wird folgende Hypothese überprüft: „Ein […] Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. […] Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist.“ (Allport 1971, S.23) Einzelkinder und manchmal auch Einzelkindeltern scheinen in der Opferrolle zu sein, da sie durch das Fehlen von Geschwistern die Erwartungen einer „normal[en]“ Familie nicht erfüllen, und müssen daher boshafte Unterstellungen ertragen. (Vgl. McGrath 1989, S.18) Aus dem Grund, dass sich manche Eltern bewusst für ein einziges Kind entscheiden und bei anderen Eltern die individuelle berufliche oder gesundheitliche Situation eine Rolle spielen, gehen Eltern unterschiedlich mit ihrer persönlichen Familiensituation um und daher kann man nicht von einem „typischen“ Einzelkind sprechen, das von vornherein einsam, verwöhnt, altklug, liebesunfähig, konfliktunfähig, eingebildet, egoistisch, überbehütet und introvertiert ist, sondern man muss berücksichtigen, dass milieuspezifische Faktoren die Entwicklung eines Einzelkindes viel mehr beeinflussen und ein Kind ohne Geschwister somit aus seiner Position sehr wohl auch positive Qualitäten für das spätere Leben mitnehmen kann, da es auch durch Peers ähnliche Erfahrungen machen kann. (Vgl. Kasten 2007, S.109)
Um die Fragen beantworten und die Hypothese verifizieren zu können, wird die vorliegende Arbeit die Methode der Literaturarbeit anwenden und verschiedene Positionen und Studien mehrerer Forscher und Forscherinnen vergleichen und kritisch und vorurteilsfrei analysieren.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Bachelorarbeit jeweils die männliche und weibliche Sprachform angewendet. Es wird an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verwendung dieser beiden Formen nicht weitere Geschlechtsformen ausschließen soll. Ebenfalls ist die Nennung der männlichen vor der weiblichen Schreibform frei von Bedeutung.
2. Definition: Einzelkinder
Diese Forschungsarbeit bedient sich des Terminus des „Einzelkindes“, der in Alltagsdiskursen seine Selbstverständlichkeit erlangt hat, obwohl die Definition weitreichender und diverser ausfällt. Da der Terminus „Einzelkind“ ziemlich diffus ist, erfolgt eine Differenzierung der verschiedenen Arten von geschwisterlosen Kindern. Einerseits gibt es Kinder, die ein ganzes Leben lang ohne Geschwister sind und auch bleiben; andererseits gibt es auch Kinder, die nur einen Teil ihres Lebens als Einzelkind verbringen und nach ein paar Jahren noch ein oder mehrere Geschwister bekommen. Des Weiteren muss man sich auch die Frage stellen, ob Geschwister, die aufgrund der elterlichen Trennung bei unterschiedlichen Elternteilen leben, als Einzelkinder bezeichnet werden dürfen, da es sich bei diesen Kindern in gewisser Weise auch um geschwisterlose Kinder handelt. Ebenfalls zu berücksichtigen sind Stiefgeschwister oder Adoptivgeschwister. Je nach Definition können diese als Geschwister bezeichnet werden, oder auch nicht. Um Klarheit zu schaffen, wurden Einzelkinder genauer definiert. (Vgl. Kasten 2007, S. 24f.)
„‘Einzelkinder‘ wurden bestimmt als Kinder, die eine Zeitdauer von mindestens sechs Jahren in einem- wie auch immer beschaffenen- Haushalt ohne Geschwister aufgewachsen waren.“ (Kasten 2007, S.25)
Folglich ist ein Kind, das bei der Geburt eines Geschwisters in die Schule geht, auch ein Einzelkind. Auch ein Nesthäkchen, das erst dann zur Welt kommt, wenn die älteren Geschwister bereits ausgezogen sind, wird als Einzelkind bezeichnet. (Vgl. Kasten 2007, S.25)
3. Kinderwunsch und Kinderzahl
Hofer et al. (2002, S.74) beschreiben die unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Kind früher und heute. Die Bedeutung eines Kindes hat sich verändert. In Agrargesellschaften wurden Kinder nicht nur gezeugt, um einen emotionalen Nutzen daraus zu ziehen, sondern auch, um als Arbeiter am Feld zu dienen und im Falle eines Todes eines Elternteiles den Platz einzunehmen und damit oft verbunden den Hof weiterzuführen. Durch die Tatsache, dass es heutzutage Versicherungen aller Art (Lebensversicherungen, Unfallversicherungen etc.) gibt, wurde diese wirtschaftliche Zweckdienlichkeit eines Kindes reduziert. Jedoch stellt sich die Frage, welche weiteren Gründe es gibt, weshalb Frauen immer öfter kinderlos bleiben bzw. weshalb Familien kleiner werden.
3.1 Gründe für Kinderlosigkeit
Die Gründe für Kinderlosigkeit können sich sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene finden. Den steigenden Geburtenrückgang begründen Hofer et al. damit, dass sich immer mehr Frauen bewusst dafür entscheiden, ein Leben ohne Kinder zu führen. Ein Grund keine Kinder zu bekommen, kann unter anderem die ungenügende finanzielle Unterstützung des Staates sein. Wenn Frauen beruflich erfolgreich sind bzw. an einer Universität studieren, kann der Kinderwunsch auch oft bewusst ein paar Jahre nach hinten verschoben und in manchen Fällen sogar ganz aufgegeben werden. (Vgl. Hofer et al. 2002, S.75) Man erkennt eine Tendenz, dass eine Frau durchschnittlich weniger Kinder kriegt, wenn sie beruflich erfolgreich ist. Beispielsweise Frauen, die an der Universität arbeiten, haben am wenigsten Kinder, fast 60% der Forscherinnen zwischen 37 und 42 sind kinderlos. (Vgl. Blöchinger 2008, S.84)
Beck-Gernsheim (2006, S.115) verweist auf die Antibabypille, die es Frauen ermöglicht, ihre Kinderlosigkeit solange weiterzuführen, wie sie es möchten. Gleichzeitig hinterfragt sie dieses Warten auf den richtigen Moment für eine Schwangerschaft. Frauen warten auf den bestmöglichen Zeitpunkt, um das erste Kind zu bekommen. Darunter fallen Kriterien wie Beziehung, das Einkommen und die Wohnsituation. Für einige Frauen scheint allerdings nie der richtige Augenblick zu kommen. Außerdem erwähnt Beck-Gernsheim (1988, S.160-164), dass der Entschluss für ein Kind auch deshalb so schwer ist, weil die Entscheidung von heute aufgrund von Beziehungen, Karrierechancen und der Wohnsituation vielleicht morgen schon keine Gültigkeit mehr hat. Sie bezeichnet Einzelkinder daher als „Kopfgeburten“, weil der Entschluss für ein Kind nicht plötzlich entsteht, sondern erst nach umfangreicher Recherche von Ratgeberliteratur und genauem Überdenken der persönlichen Situation. Hofer et al. (2002, S.75f.) beziehen sich auf die Ansicht von Kaufmann, nämlich dass dieses weibliche Streben nach mehr Autonomie nicht als Ablehnung einer Familiengründung betrachtet werden kann, sondern als Tatsache, dass der Sinn des Lebens nicht nur mehr darin besteht, den Fortbestand der Familie zu sichern, sondern auch einen Teil des persönlichen Glücks außerhalb der Familie zu finden. Als dritten Grund weshalb einige Paare kinderlos bleiben, erwähnen Hofer et al. die „Infertilität“, also das Unvermögen, ein Kind zu zeugen.
3.2 Gründe für ein Kind
„Moderne Kinder [werden] nicht mehr für etwas anerkannt […], sondern als etwas.“ (Dornes 2012, S.295)
Eltern in unserer Gesellschaft müssen nicht mehr unbedingt einen ökonomischen Nutzen im Kind sehen, sondern der emotionale überwiegt. Außerdem korreliert der emotionale Nutzen eines Kindes nicht mit der Kinderzahl. Ein Einzelkind kann eine Familie also genauso erfüllen, wie mehrere Kinder es tun würden. Viele Paare stellen sich zwar eine Zukunft mit mehreren Kindern vor, aber aus verschiedenen Gründen belassen es einige bei einem Einzelkind. (Vgl. Hofer et al. 2002, S.76) Die Berufstätigkeit der Frauen ist ein Grund, weshalb viele Mütter kein zweites Kind möchten, weil ein weiteres Kind für eine emanzipierte Frau im Berufsleben bedeuten würde, dass sie noch länger nicht auf die Karriereleiter wiederaufsteigen kann. (Vgl. Kasten 2007, S.18ff.)
Die Feststellung, dass man „nur“ Mutter ist, gehört nach Blöchinger zu den Gründen für ein Kind. Einige Mütter halten zudem den Druck nicht aus. Schlafmangel, zu geringe Wertschätzung als Mutter und verlorene Flexibilität können zusätzlich den Wunsch, es bei einem Kind zu belassen, verstärken. Daneben gibt es auch biologische Ursachen, die ein zweites Kind verhindern, zum Beispiel die „sekundäre Unfruchtbarkeit“ die nach einem ersten Baby kein zweites mehr ermöglicht. Auch für die Beziehung des Paares kann diese Unfruchtbarkeit als große Zerreißprobe angesehen werden. Zu wissen, dass man sich damit abfinden muss, nur ein Kind zu haben, ist vor allem für jene Eltern belastend, die Vorurteile über Einzelkinder haben. Andere Paare hingegen könnten biologisch gesehen ein weiteres Kind bekommen, die finanzielle Lage lässt es jedoch nicht zu. (Vgl. Blöchinger 2008, S.86f.)
Zöllner behauptet, dass das Einzelkind die „Folge wirtschaftlicher und kalkulierender Überlegungen“ (Zöllner 1994, S.22) ist. McGrath (1989, S.38f.) nennt neben dem oft hohen Alter der Mütter beim ersten Kind noch drei weitere Gründe, warum es oft bei einem Einzelkind bleibt. Manche Kinder bleiben wegen eines Todesfalles eines Elternteils Einzelkind, andere weil sich die Eltern scheiden lassen. Daher wachsen auch viele Einzelkinder nur bei einem Elternteil auf. Zuletzt entsteht ein Einzelkind auch deswegen, weil Eltern bewusst nur ein Kind haben möchten, um flexibel zu bleiben und dem Kind einen hohen Lebensstandard zu bieten.
Bei anderen Paaren ist es so, dass die Umstände für ein zweites Kind zwar gegeben wären, aber dass es bei der Geburt des ersten Kindes bereits einige Komplikationen gab, sodass „die Mutter davon traumatisiert ist und auf weitere Kinder verzichtet“ (Blöchinger 2008, S.90), oder die Ärzte von einem zweiten Baby abraten. (Vgl. Blöchinger 2008, S.90) Ein weiterer Grund für ein Kind ist auch das Argument der Kinderbetreuung. Ein Kind kann man laut Zöllner relativ einfach bei Verwandten für einige Zeit unterbringen, bei mehreren Kindern ist das fast nicht mehr zu schaffen. Kurz nach der Geburt erfahren Eltern, wie es ist, Eltern zu sein und wie viel Aufwand ein Kind benötigt. In dieser Zeit ist der Gedanke an ein zweites Kind meist unvorstellbar. Wenn sich dann alles eingependelt hat, stellen sich viele Eltern die Frage, ob sie den gleichen Stress mit einem zweiten Kind noch einmal durchmachen wollen. (Vgl. Zöllner 1994, S.22f.) Als Einzelkind aufzuwachsen sei mittlerweile also kein Phänomen mehr, sondern fast der „Regelfall“. (Vgl. Kasten 2007, S.21) Bereits der Ausdruck „having ‚children‘“ geht davon aus, dass man nur mehrere Kinder haben kann, daher sollte man es eigentlich „ [having] ‚child‘“ nennen. (Vgl. McGrath 1989, S.41)
3.3 Einzelkindeltern als unvollkommene Eltern
"Your first?"
"Yup."
"Another one coming soon?"
"Nope--it might be just this one."
"You'll have more. You'll see."
"At the moment, I'm not planning on it."
"You wouldn't do that to your child. You'll see." (Sandler 2010)
Prinzipiell lassen sich nach der Psychologin und Wissenschaftsjournalistin Brigitte Blöchinger zwei Arten von Eltern unterscheiden: „Eltern, die sich bewusst und selbstbestimmt für ein Kind entscheiden, und Eltern, die durch ‚höhere Gewalt‘ daran gehindert werden, weitere Kinder zu haben.“ (Blöchinger 2008, S.83) Erstere haben sich bewusst entschieden und verspüren daher auch kein schlechtes Gewissen, die konventionelle Norm von zwei Kindern nicht erfüllt zu haben. Die beste Umgebung für ein Einzelkind ist gegeben, wenn Vater und Mutter bewusst eine Einkindfamilie sein möchten. (Vgl. Blöchinger 2008, S.83) Ein Einzelkind ist selten „ein beliebiges Kind, sondern genau das geplante und gewünschte.“ (Zöllner 1994, S.23)
Einzelkindeltern sind häufig einem sozialen Druck ausgesetzt. Unabhängig davon, aus welchen Gründen Paare nur ein Kind haben, erleben viele, dass in den
Köpfen der Bevölkerung die kulturelle und gesellschaftliche Norm, mindestens zwei Kinder zu haben, immer noch aufrecht ist. (Vgl. Kasten 2007, S.20f.)
Schärer (1994, S.83) fügt hinzu, dass das alte „Bibelwort ‚…mehret euch!“ (Schärer 1994, S.83) mit Ablehnung gegenüber Eltern ohne Kind oder
Einzelkindelkindern verbunden war, weil sie ihren Anteil zum „Gruppenwachstum“ nicht geleistet haben. Kasten (2007, S.21) ergänzt, dass wenn jemand diesen
Richtlinien, mindestens zwei Kinder zu haben, nicht folgt, er zwar nicht bestraft wird, jedoch „Befremden, Verwunderung, Besorgnis oder auch […]
Unverständnis, Missbilligung und Geringschätzung“ (Kasten 2007, S.21) spürt. Wie im oben genannten Dialog werden Einzelkindeltern häufig darauf
angesprochen, warum sie nicht noch ein weiteres Kind bekommen. Weil sich manche Eltern eines Einzelkindes unwohl dabei fühlen, ihre Situation immer wieder
rechtzufertigen, kann es dazu führen, dass sie anderen Eltern mit mehreren Kindern aus dem Weg gehen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb die Eltern von
Geschwisterlosen manchmal als „sozial weniger kompetent, mehr auf sich selbst fokussiert, unreif, weniger freundlich“ (Blöchinger 2008, S.31) bezeichnet
werden.
Wenn der Sozialpsychologe Allport von der „Absonderung von Gruppen“ (Allport 1971, S.31) spricht, meint er Menschen, die sich am liebsten mit solchen Leuten vereinen, deren Verhalten und Einstellungen mit den ihrigen nahezu kongruent sind. Wenn man diesen Gedanken auf Einzelkinder übertragen würde, würde das bedeuten, dass sie sich auch lieber mit Eltern treffen, die ebenfalls nur ein Kind haben und somit das dasselbe „Schicksal“ teilen. Bei Eltern von Geschwisterkindern könnte es somit auch vorkommen, dass sie den Erziehungsratschlägen von Freunden und Freundinnen mit mehreren Kindern mehr vertrauen. Als Elternteil will man alles richtig machen, sodass es dem Kind bzw. den Kindern gut geht. (Vgl. Allport 1971, S.31) Allport zufolge entwickelt man „Abschirmungen in erster Linie, um das Geliebte zu schützen.“ (Allport 1971, S.39)
Blöchinger (2008, S.32) erklärt, dass Einkindfamilien in den meisten Fällen mehr Geld zur Verfügung haben, weil oft beide Elternteile arbeiten gehen. Laut dem DJI-Kinderpanel wächst in Deutschland „nur jedes zehnte Einzelkind […] in armen Verhältnissen auf; bei den Geschwisterkindern […] jedes fünfte Kind“ (DJI-Kinderpanel 2005, zit.n. Blöchinger 2008, S.32). Manche Einzelkindeltern haben finanzielle und zeitliche Mittel und gehen mit ihrem Kind öfter ins Kino oder Theater, da diese Form von Kultur förderlich für die Schulleistung des Kindes ist. Neben dem Schulerfolg ist es vielen Einzelkindeltern auch wichtig, dass ihr Kind Verantwortung übernehmen kann und über ausreichend „Selbstvertrauen“ verfügt. (Vgl. Blöchinger 2008, S.33)
Die Psychologin Mancillas (2006, S.268f.) erwähnt, dass viele Einzelkindeltern insgeheim negative Vorurteile über andere Einzelkinder haben, jedoch ihr eigenes Kind als Ausnahme sehen. Es kommt auch vor, dass Eltern nur deswegen beschließen, ein zweites Kind zu bekommen, um den Vorurteilen aus dem Weg zu gehen. Wenn Einzelkinder dieses Gefühl der Eltern spüren, kann das negative Auswirkungen auf ihr Selbstvertrauen zur Folge haben. Durch die Tatsache, dass Eltern von Geschwisterlosen Angst davor haben, dass die vorhergesagte Einsamkeit ihres Kinders eintrifft, übertreiben es viele und werden überfürsorglich.
3.4 Vom Paar zur Einkindfamilie
Es stellt sich die Frage, weshalb Eltern sich entscheiden, ein Kind zu bekommen. „Aus Mutterliebe selbstverständlich, […] [A]ber oft entsteht das Motiv, ein Kind zu gebären, aus dem unerträglichen Gefühl der Leere“ (Beer 1994, zit.n. Artl 2009, S.16). Wenn Paare ein solches Gefühl der Leere in sich tragen, findet sich die Lösung nicht selten in der Idee, ein Kind zur Welt zu bringen. Das Kind, als dritte Komponente des Ganzen, existiert „bereits vor seiner Zeugung in der Phantasie von Mann und Frau, wo es Träger elterlicher Positionen ist.“ (Schon 1995, S.27)
Rille-Pfeiffer et al. (2009, S.35) sind Forscher und Forscherinnen am österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien und berichten von Paaren, die erzählen, dass sie es erst durch die Geburt ihres ersten Kindes geschafft haben, ein „Wir-Gefühl“ zu entwickeln. Sie fühlten sich vorher zwar auch als Paar verbunden, jedoch erst mit dem Kind als Familie. Auch wenn die erste Zeit nach der Geburt des Einzelkindes oft als schön empfunden wird, wird sie von der Forschung als zwiespältig bezeichnet, denn diese Phase stellt ein „kritische[s] Lebensereignis“ dar, weil das Paar erst lernen muss, sich in dieser neuen Situation zurecht zu finden. Diese anfängliche Krise führt in einigen Fällen zur Auflösung der Partnerschaft. Es stellt sich die Frage, ob diese Krise mit dem damit verbundenen Gefühlschaos vielleicht auch deswegen entsteht, weil Liebesgefühle nicht mehr nur auf den Partner oder die Partnerin gerichtet werden, sondern das Einzelkind den größten Teil der elterlichen Liebe zu spüren bekommt. McGrath beschreibt die Einkindfamilie als „circle, a threesome“ (McGrath 1989, S.45), wo das Kind den nahezu gleichen Stellenwert zugesprochen bekommt wie Vater und Mutter. (Vgl. McGrath 1989, S.45)
4. Bindung der Geschwisterlosen an die Eltern und Loslösung vom Elternhaus
Der Psychologe und Psychotherapeut Lothar Schon erklärt, dass sich aus dieser „Dreisamkeit“ bald „zwei neue Zweierbeziehungen“ (Schon 1995, S.107) entwickeln können, indem die Eltern ihre gesamte Liebe auf das Kind projizieren, welches erst lernen muss, damit umzugehen. (Vgl. Schon 1995, S.107)
In der autobiographischen Geschichte „Als ich ein kleiner Junge war“ beschreibt der Schriftsteller Erich Kästner (1957, S.97f.) einen „Konkurrenzkampf“ der Eltern, der jährlich zu Weihnachten stattgefunden hat. Er spricht von einem „Drama mit drei Personen“ (Kästner 1957, S.97), in dessen Zentrum er stand. Bei diesem Fest spürte er den dringenden Wunsch, Geschwister zu haben, um nicht allein die Geschenke und die gesamte elterliche Liebe aufnehmen und auch zurückspiegeln zu müssen. Die Mutter wollte das Geschenk des Vaters für das Kind übertrumpfen und umgekehrt. Wenn Mutter und Vater zwei Kinder gehabt hätten, hätten ihre Wünsche und Ziele aufgeteilt werden können, aber dies war hier nicht der Fall. Der Wunsch von Kästners Mutter war, die „vollkommene Mutter“ zu werden. Und dadurch, dass sie nur ein Kind hatte, orientierte sich ihr ganzes Leben und ihre ganze Kraft nur an diesem einen Kind. Metaphorisch setzte sie alles auf eine Karte, nämlich auf das Kind, und dieses Einzelkind musste daher der „vollkommene Sohn“ werden und für seine Mutter in der Schule etc. glänzen, denn er hätte es sich nicht verzeihen können, wenn seine Mutter das „Spiel“ wegen ihm verloren hätte. (Vgl. Kästner 1957, S.97f.)
Wie man an diesem autobiographischen Fallbeispiel sieht, kann eine starke Bindung von Einzelkindern zu Mutter oder Vater auch negative Auswirkungen haben. Diese Szene stellt jedoch nicht den Alltag einer Einkindfamilie dar und zeigt auch nicht, dass die Mutter ihr Kind immer so sehr an sich bindet, dass es eine höhere Wahrscheinlich für Neurosen entwickelt. Es ist äußerst selten der Fall, dass das Einzelkind oder die Mutter das Gefühl haben, zu einer Einheit zu werden, die ohne den anderen nicht existieren kann. Viele Eltern haben ihren Fokus meist nicht nur auf das Kind gerichtet, sondern sehen die Bindung zum Kind als gleichwertige Komponente neben anderen elterlichen Interessen. Dieser Ausgleich der Eltern ist auch wichtig, denn eine zu starke Bindung erschwert das Loslösen in der Pubertät. Eine zu enge Beziehung ist auch dann nicht gerade förderlich, wenn sich die Eltern scheiden lassen, was bei Einzelkindeltern öfter der Fall ist als bei anderen Eltern. Für ein Einzelkind bedeutet die elterliche Trennung nicht selten, dass eine der „beiden engsten [und oft einzigen] Bezugspersonen“ (Blöchinger 2008, S.71) plötzlich entschwindet. Nicht nur die Scheidung wirkt sich negativ auf Kinder, in erhöhtem Maße auf das Einzelkind, aus, sondern generell elterliche Streitereien. (Vgl. Blöchinger 2008, S.70ff.)
[…]
- Citation du texte
- Valentina Wieser (Auteur), 2016, Mythos Einzelkind? Gängige Vorurteile und ihre Herkunft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/318305
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