[...] Gegenstand dieser Arbeit ist somit einerseits ein Theorietest und andererseits der
Vergleich des Mercosur mit der Montanunion. Die zu testende Theorie ist der
Neofunktionalismus. Die abhängige Variable ist der politische spillover (Politisierung der
Wirtschaftsunion). Die von uns ceteris paribus zu untersuchende unabhängige Variable ist
der Grad der Abhängigkeit von supranationalen Institutionen gegenüber den Regierungen der
einzelnen Mitgliedsstaaten (institutionelle Autorität). Alle anderen möglichen
Einflussfaktoren werden (zunächst) als konstant angenommen.
Zur Vorgehensweise: Im ersten Teil der Arbeit stellen wir die neofunktionalistische
Integrationstheorie vor. Im zweiten Teil erarbeiten wir das zu verwendende Analyseraster für
den Vergleich der beiden Untersuchungsgegenstände und für die Messung unserer
unabhängigen Variable „institutionelle Autorität“. Bei der ersten Fallanalyse geht es darum
die Institutionen des Mercosur und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit miteinander zu vergleichen. Bei der zweiten Fallanalyse
betrachten wir die Rolle der supranationalen Organe bei der Aushandlung der Römischen
Verträge und ziehen den Mercosur als Referenzfall heran, da dort keine supranationalen
Organe vorhanden sind, aber dennoch nach Bestimmungsfaktoren regionaler Integration
gefragt werden soll. Abschließend diskutieren wir die Erklärungskraft des
Neofunktionalismus und fragen nach alternativen Erklärungsangeboten.
Inhaltsverzeichnis
2. Einleitung
3. Die neofunktionalistische Integrationstheorie
3.1 Entstehungszusammenhang und metatheoretische Einordnung
3.2 Akteure
3.3 Explanandum
3.4 Explanans
3.5 Hypothesen
4. Untersuchungsgegenstand und Analyseraster
4.1 Design und Untersuchungsgegenstand
4.2 Analyseraster
5. Fallanalyse I: Ausprägung und Funktion des Institutionengefüges
5.1 Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
a.) Die Organe der Montanunion
b.) Handlungsfokus
c.) Institutionelle Autorität
5.2 Der Mercado Com ú n del Sur
a.) Die Organe des Mercosur
b.) Handlungsfokus
c.) Institutionelle Autorität
5.3 Zwischenfazit
6. Fallanalyse II: Akteure bei der Erweiterung von Integrationsprojekten
6.1 Die Rolle supranationaler Akteure bei den Römischen Verträgen
6.2 Die Zielsetzungen der Regierungen im Mercosur 25
6.3 Zwischenfazit
7. Schlussbetrachtung
8. Literaturverzeichnis
2. Einleitung
Im Zuge der Europäischen Integration seit den 1950er Jahren entwickelte Ernst B. Haas[1] (und andere[2] ) die als Neofunktionalismus bekannt gewordene Theorie regionaler Integration. Trotz heftiger Kritik und der Tatsache, dass Haas in den 1970er Jahren eingestand (Haas 1975), seine Theorie sei für die Erklärung regionaler Integration obsolet, entflammte während der 1990er Jahre erneut die Debatte um die Erklärungskraft des Neofunktionalismus (vgl. Mattli/Burley 1993, Corbey 1995, Wolf 1999, Mattli 1999, u.a.m.). Grund hierfür war das erneute Voranschreiten der Europäischen Gemeinschaften und die Gründung der Europäischen Währungsunion im Rahmen des Maastrichter Vertrags. Vor diesem Hintergrund versucht auch diese Arbeit den Neofunktionalismus handhabbar zu machen und im Rahmen zweier kleiner Fallanalysen anzuwenden. Untersucht werden der Mercosur und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Dabei wird versucht Erklärungsangebote für regionale Integration abzuleiten.[3]
Die „Automatische Politisierung“ von Wirtschaftsunionen ist die abhängige Variable des von Haas und Schmitter entwickelten Neofunktionalismus (vgl. Nye 1970: 797). Kernelement ist das sogenannte Konzept des spillovers. Es besagt, dass bei Integrationsprojekten, unter bestimmten Bedingungen, ein Übergang von Wirtschaftsunionen zu politischen Unionen stattfindet. Haas Überlegung ist folgende: Wenn Staaten in wenigen „technischen“ Bereichen kooperieren, dann entstehen aufgrund dieser Kooperation Probleme in weiteren Bereichen, was dazu führt, dass eine Erhöhung der gemeinsamen Interessen stattfindet und dadurch weitere Bereiche verregelt werden. Die um das Aufkommen des Neofunktionalismus entbrannte Debatte führte dazu, dass Haas und seine Mitstreiter ihr Konzept mehr und mehr verfeinerten und zu operationalisieren versuchten. So erarbeiteten sie ein Set von unabhängigen Variablen, die bei entsprechend starker Ausprägung zu einer automatischen Politisierung der Wirtschaftsunion führten (Haas/Schmitter 1964: 705ff.).
Supranationale Institutionen nehmen in der neofunktionalistischen Integrationstheorie einen zentralen Stellenwert ein und werden als notwendige Voraussetzung für den „Erfolg“ und die „Vertiefung“ eines Integrationsprozesses erachtet. Vor diesem theoretischen Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit das Institutionengefüge zweier Integrationsprojekte und fragt nach dessen Bedeutung bei der Vertiefung der Integration.
Gegenstand dieser Arbeit ist somit einerseits ein Theorietest und andererseits der Vergleich des Mercosur mit der Montanunion. Die zu testende Theorie ist der Neofunktionalismus. Die abhängige Variable ist der politische spillover (Politisierung der Wirtschaftsunion). Die von uns ceteris paribus zu untersuchende unabhängige Variable ist der Grad der Abhängigkeit von supranationalen Institutionen gegenüber den Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten (institutionelle Autorität). Alle anderen möglichen Einflussfaktoren werden (zunächst) als konstant angenommen.
Zur Vorgehensweise: Im ersten Teil der Arbeit stellen wir die neofunktionalistische Integrationstheorie vor. Im zweiten Teil erarbeiten wir das zu verwendende Analyseraster für den Vergleich der beiden Untersuchungsgegenstände und für die Messung unserer unabhängigen Variable „institutionelle Autorität“. Bei der ersten Fallanalyse geht es darum die Institutionen des Mercosur und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit miteinander zu vergleichen. Bei der zweiten Fallanalyse betrachten wir die Rolle der supranationalen Organe bei der Aushandlung der Römischen Verträge und ziehen den Mercosur als Referenzfall heran, da dort keine supranationalen Organe vorhanden sind, aber dennoch nach Bestimmungsfaktoren regionaler Integration gefragt werden soll. Abschließend diskutieren wir die Erklärungskraft des Neofunktionalismus und fragen nach alternativen Erklärungsangeboten.
3. Die neofunktionalistische Integrationstheorie
3.1 Entstehungszusammenhang und metatheoretische Einordnung
Die Grundüberlegung von David Mitrany, dem Begründer des Funktionalismus, ist folgende: Staaten kooperieren dann, wenn aufgrund gestiegener sozialer und ökonomischer Verflechtung praktische Zusammenarbeit mit dem Ziel besserer Problemlösung sinnvoll erscheint (Schirm 1997: 23). Für ihn ist „Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse [der] zentrale normative Maßstab“ (Conzelmann 2003: 144). Zwischenstaatliche Kooperation ist dann erfolgversprechend, d.h. gewaltfrei, „wenn sie sich auf die Regelung technisch- unpolitischer Bereiche beschränk(t)“ (Schirm 1997: 23). Zwischenstaatliche Zusammenarbeit und nicht Koexistenz von Staaten sind der Weg zu einem friedlichem Miteinander (vgl. Mattli 1999: 21). Form follows function.
Im Vergleich zu dem von David Mitrany begründeten Funktionalismus ist der von Haas promovierte Neofunktionalismus stärker empirisch-analytisch und nicht mehr rein normativ orientiert. Für Haas ist das Motiv regionaler Integration nunmehr utilitaristisch:
„ [T]he ‚ good Europeans ’ are not the main creators of the … community; the process of community formation is dominated by nationally constituted groups with specific interests and aims, willing and able to adjust their aspirations by turning to supranational means when this course appears profitable. “ ( Haas 1968: xxxiv)
3.2 Akteure
Die Akteure im Integrationsprozess befinden sich sowohl ober- wie auch unterhalb der nationalstaatlichen Ebene. Das sind somit einerseits Interessengruppen und politische Parteien, andererseits supranationale Institutionen (Haas 1968: xxxiv). Die Rolle der Regierungen ist „ creatively responsive “ (Mattli 1999: 24). Sie sind die eigentlichen Inhaber politischer Macht und können daher die Entscheidungen der anderen Akteure akzeptieren, ihnen ausweichen, sie ignorieren oder auch sabotieren (Haas 1968: xxxiv).
Auch hierin grenzt sich Haas von Mitrany ab, da er „die Einrichtung supranationaler Organisation(en) als entscheidende Voraussetzung weiterer Integrationsschritte“ (Conzelmann 2003: 147f.) erachtet, während nach Mitrany Integrationsprojekte wie die Europäischen Gemeinschaften aufgrund ihres „starre(n) Institutionengerüst(s) [nicht] den wechselnden Erfordernissenn funktionaler Kooperation“ gerecht werden könnten (ebda.).
3.3 Explanandum
Haas führt das Konzept des spillovers ein, um verschiedene Stufen der Integration zu beschreiben (Haas 1968: 291ff.). Die Einteilung des spillover Konzepts wird unterschiedlich vorgenommen. Haas nennt folgende drei Begriffe, um den spillover zu beschreiben: „Funktionaler spillover“, „politischer spillover“ und „Erweiterung der gemeinsamen Interessen“ (vgl. Mattli 1999: 25). Leider grenzt Haas diese Begriffe nicht systematisch voneinander ab. Manche Autoren erhalten diese Dreiteilung aufrecht (z.B. Mattli 1999: 25, Conzelmann 2003: 151ff.), uns erscheint deren Versuch einer systematischen Abgrenzung jedoch auch nicht kohärent. Daher beziehen wir uns im Folgenden auf Stephen George (1991: 21), der zwischen funktionalem und politischen spillover unterscheidet.
Funktionaler spillover: Als Grundannahme gilt die hohe Interdependenz der verschiedenen Sektoren einer modernen, industriell geprägten Volkswirtschaft. Die Zusammenarbeit in einem Bereich schafft eine Situation, in der das ursprüngliche Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn auch gemeinsame Maßnahmen in anderen zunächst weiterhin technischen Sektoren getroffen werden (Haas 1968: 297, vgl. George 1991: 21f.).
Politischer spillover. Um den politischen spillover zu erklären, sollten wir zuerst das Politikverständnis von Haas erläutern: „Politik wird (…) als das Resultat von interessengeleiteten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gesehen“ (Conzelmann 2003: 152). Aufgrund der bereits vorangeschritten Integration erkennen Interessengruppen die potentiellen Vorteile einer Vertiefung der Integration und üben nun auch Druck auf die regionale Ebene aus. Es findet Zusammenarbeit von Interessengruppen und politischen Parteien auf supranationaler Ebene statt (Mattli 1999: 26). Politischer spillover wird daher auch als „Prozess adaptiven Verhaltens“ (ebda.) beschrieben. Gleichzeitig treiben auch die regionalen Institutionen unabhängig von den Nationalstaaten, den Integrationsprozess voran. Im Folgenden der Arbeit betrachten wir den politischen spillover als abhängige Variable.
3.4 Explanans
Haas und Schmitter (1964) entwickelten mehrere unabhängige Variablen, die als Voraussetzung für einen politischen spillover erachtet werden. Diese lassen sich zeitlich in drei Phasen einteilen: (1) Variablen vor der Gründung der Wirtschaftsunion[4]: Hierzu zählen a.) die wirtschaftliche Größe der zukünftigen Mitgliedstaaten, b.) die Transaktionsrate zwischen den Einheiten, c.) der Grad des Pluralismus der Gesellschaften und d.) die Elitenkomplementarität (Haas/Schmitter 1964: 711f.). (2) Variablen zum Entstehungszeitpunkt der Wirtschaftsunion: a.) Zielsetzungen der Regierungen und b.) Macht der Union (Haas/Schmitter 1964: 712ff.). (3) Prozessvariablen[5]: a.) Art und Weise der Entscheidungsfindung, b.) Transaktionsrate (zu diesem Zeitpunkt) und c.) Anpassungsfähigkeit der Regierungen (Haas/Schmitter 1964: 715ff.). Je stärker die Ausprägung dieser Variablen, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer automatischen Politisierung der Wirtschaftsunion (vgl. ebda.). Siehe Schaubild 1.
Grafik 3-1: Unabhängige Variablen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Haas/Schmitter 1964; Eigene Darstellung.
3.5 Hypothesen
Die für uns zentrale Hypothese lautet folgendermaßen: Je höher ceteris paribus die Autorität supranationaler Institutionen, desto wahrscheinlicher ist eine Politisierung der Wirtschaftsunion (spillover). In den Worten Schmitters (1969: 163) geht es um die Verbindlichkeit zu gegenseitiger Entscheidungsfindung. Zum einen hinsichtlich der Kontinuität und zum anderen hinsichtlich der „nature of the policymaking process itself“ (ebda.). Weiter schreibt er:
„The highest level of commitment and that most conducive to spillover would be an agreement to devolve permanently control over a policy area to some autonomous suprantional body. The lowest level would be an agreement to negotiate between instructed national representatives a formula for the fixed distribution of mutual benefits.“ (ebda.).
4. Untersuchungsgegenstand und Analyseraster
4.1 Design und Untersuchungsgegenstand
Wir testen eine Hypothese an zwei Fällen. Das sind der Mercosur im Zeitraum seit 1991 und der europäische Einigungsprozess von 1951 bis 1956/57. Die Untersuchungsgegenstände wurden deshalb gewählt, weil sie sowohl hinsichtlich der unabhängigen Variable „institutionelle Autorität“ als auch hinsichtlich der abhängigen Variable „politischer spillover“ jeweils eine gegensätzliche Ausprägung annehmen (vgl. van Evera 1997: 77). Im Mercosur ist die Institutionalisierung erwartungsgemäß relativ gering, in der EGKS hingegen sehr hoch. Der Abschluss der Römischen Verträge, oder in anderen Worten der Übergang von der Montanunion zu den Europäischen Gemeinschaften, wird dahingehend untersucht, ob die supranationalen Akteure entscheidenden Einfluss auf die Aushandlung der Römischen Verträge ausüben konnten. Die von uns ceteris paribus zu untersuchende unabhängige Variable ist der Grad der Abhängigkeit von supranationalen Institutionen gegenüber den Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten.
4.2 Analyseraster
Im Folgenden wird es darum gehen ein Messinstrument zu Grunde zu legen, um unsere beiden Fälle hinsichtlich der unabhängigen Variable „Institutionelle Unabhängigkeit“ systematisch miteinander vergleichen zu können. Grieco (1997: 165) bezieht sich auf drei Dimensionen, um den „Prozess der Institutionalisierung ökonomischer Beziehungen in verschiedenen Weltregionen“[6] zu vergleichen: (1) locus of institutionalization, (2) scope of activity und (3) level of institutional authority. Diese Dreiteilung spiegelt sich auch in unserer Vorgehensweise wieder: Bevor wir die „institutionelle Autorität“ selbst betrachten, analysieren wir die einzelnen Institutionen hinsichtlich ihren Funktionen und ihrem gegenseitigen Verhältnis. Im zweiten Schritt geht es darum den Handlungsfokus der Institutionen zu untersuchen; wir fragen nach den an die Institutionen übertragenen policies.
Im dritten Schritt untersuchen wir sodann die institutionelle Autorität. Hierfür legen wir zuerst das Principal-Agent-Modell zu Grunde, um die Analyse unserer Fälle modellhaft zu vereinfachen. Danach betrachten wir drei Indikatoren, welche auf die Unabhängigkeit der Organe abzielen.
Principal-Agent-Ansätze befassen sich mit Problemen der Beziehungen zwischen zwei oder mehr Vertragspartnern. Gegenstand sind hauptsächlich „delegationsbedingte Interessenkonflikte von Principal und Agent“ (Schmidt 1995: 774). Der Prinzipal stellt dabei den Auftraggeber dar, während der Agent Auftragnehmer ist. In unserem Fall werden die Institutionen als Agent der Mitgliedstaaten (Prinzipale) betrachtet.
Weiterhin betrachten wir drei Indikatoren, welche die Autonomie des Agenten gegenüber den Prinzipalen erfassen sollen: Das sind staffing rules, structure of control und organizational capacity (Cortell/Peterson 2003: 6ff.)[7].
Der Indikator „personelle Zusammensetzung“[8] fragt nach der personellen Besetzung der Organe. Sind die entsandten Mitarbeiter gegenüber ihren Regierungen weisungsgebunden oder handeln sie autonom? Im ersten Fall erhält unser Indikator die Ausprägung „abhängig“ (seconded), im zweiten Fall die Ausprägung „unabhängig“ (independent). (vgl. Cortell/Peterson 2003: 7).
Bei der Betrachtung des Indikator „Kontrollstruktur“ stehen die Abstimmungsregeln im Zentrum des Interesses. Die Ausprägung des Indikators ist entweder eine „zentralisierte“ oder „dezentralisierte“ Kontrollstruktur. „Dezentralisiert“ steht dabei für ein konsensorientiertes Abstimmungsverfahren während „zentralisiert“ für ein Abstimmungsverfahren nach stark ausgeprägter Mehrheitswahl steht. (vgl. Cortell/Peterson 2003: 8) Der Indikator „Entscheidungsgewalt“[9] hebt auf die Möglichkeiten direkter Kontrolle der Prinzipalen gegenüber dem Agenten ab. Im Vordergrund stehen dabei die Regeln, welche das Verhalten des Agenten bestimmen. Oder andersherum formuliert: Inwiefern kann der Agent unabhängig vom Prinzipalen agieren. Dazu betrachten wir einerseits die Verbindlichkeit der Beschlüsse des Agenten gegenüber dem Prinzipalen und andererseits die Streitschlichtung als Mechanismus, der das Verhalten der Prinzipalen sanktionieren kann. Der Indikator kann zwei Ausprägungen annehmen. Entweder ist der Agent mit „hoher“ Entscheidungsgewalt (discretionary capabilities) ausgestattet und verfügt über relativ viel Spielraum und Durchsetzungsvermögen bei seinen Entscheidungen. Oder er hat „geringe“ Entscheidungsgewalt (contingent capacity) und ist in seiner Mandatsausübung relativ strengen Vorgaben der Prinzipalen unterworfen. (vgl. Cortell/Peterson 2003: 7)
Die Kombination der unterschiedlichen Ausprägungen der untersuchten Indikatoren ergibt eine Matrix, welche insgesamt acht unterschiedliche Stufen institutioneller Autorität wiedergibt (siehe Tabelle 4-1).
Tabelle 4-1: Kombination verschiedener Ausprägungen der Indikatoren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Cortell/Peterson 2003: 12; Abgeänderte Darstellung.
Ein Problem stellt die Hierarchisierung der Zwischenstufen dar. Die Matrix vermag zwar die jeweiligen Kombinationen wiedergeben und dabei auch die Extremfälle genau bestimmen, die Bestimmung der Zwischenstufen ist aber insofern problematisch, als die Einordnung auf der Skala mehr oder weniger willkürlich ausfällt. Es ist schwierig die einzelnen Indikatoren präzise gegeneinander zu gewichten (vgl. Abott et al 2000: 406f.). Dennoch soll die Tabelle der Anschaulichkeit wegen in dieser Arbeit verwendet werden. So können wir unsere beiden Fälle in der Schlussbetrachtung einem bestimmten Typus zuordnen.
5. Fallanalyse I: Ausprägung und Funktion des Institutionengefüges
5.1 Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
a.) Die Organe der Montanunion
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl besteht aus der Hohen Behörde, einem Beratenden Ausschuss für die Hohe Behörde, der Gemeinsamen Versammlung[10], dem Besonderen Ministerrat (im Folgenden „Rat“ genannt) und dem Gerichtshof (Art. 7, EGKSV[11] ). Auf letzteren wird erst in Abschnitt c.) unter der Überschrift Streitschlichtung eingegangen werden. Es werden wiederum nur die mit Entscheidungsbefugnis ausgestatten Organe eingehender untersucht.
Der Hohen Behörde obliegt die Aufgabe, die Ziele des Montanvertrags zu erreichen (Art. 8 EGKSV). Zuvorderstes Ziel ist die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl. D.h. es sollen jegliche Handelshindernisse in diesem Bereich abgebaut werden. Damit soll „zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Hebung der Lebenshaltung“ (Art. 2, Abs.1 EGKSV) beigetragen werden. Die Hohe Behörde ist für die Umsetzung dieser Ziele zuständig.
Die Hauptfunktion des Rates besteht darin, die Tätigkeit der Hohen Behörde und die Wirtschaftspolitiken der einzelnen Mitgliedsländer aufeinander abzustimmen (Art. 26, Abs. 1 EGKSV). Rat und Hohe Behörde sollen sich hierfür gegenseitig unterrichten und beraten (Art. 26, Abs. 2 EGKSV). Zu dem hat der Rat ein Vorschlagsrecht für Maßnahmen, die er zur Erreichung der gemeinsamen Ziele für zweckmäßig erachtet (Art. 26, Abs. 3 EGKSV).
b.) Handlungsfokus
Der Handlungsfokus der Montanunion beschränkt sich ausschließlich auf den Kohle- und Stahlsektor. Wie Grafik 5-2 zeigt, macht dieser Sektor (mining) jedoch gerade einmal drei Prozent des gesamten Nationalprodukts aus. Andererseits ist die Bedeutung der Stahlproduktion insofern nicht zu unterschätzen, als sie eine Großzahl von Vorleistungen für weitere Sektoren erbringt, so z.B. für die Baubranche oder das produzierende Gewerbe. Dennoch haben die an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beteiligten Regierungen nur einen geringen Teil ihrer wirtschaftspolitischen Autonomie auf die europäische Ebene delegiert.
[...]
[1] Haas 1957, 1961, 1964, 1968, 1970
[2] Haas gilt als Hauptvertreter des Neofunktionalismus. Aber auch Philippe Schmitter, Stuart A. Scheingold, Leon N. Lindberg und andere waren rege an der Entwicklung dieses Theoriestrangs beteiligt.
[3] Der Autor ist sich durchaus bewusst, dass er dem Anspruch einer umfassenden Erklärung der beiden Untersuchungsgegenstände, nicht gerecht werden kann. Probleme ergeben sich beispielsweise aus der Quellenlage. Trotz umfangreicher Literatur zum Thema kann niemals eine vom Autor urteilsfreie Betrachtung stattfinden. Andererseits kann es auch nicht Anspruch eines ca. 25-seitigen Papiers sein, umfangreiche Rohdaten auszuwerten und in die Analyse einfließen zu lassen. Dennoch soll im Rahmen des hier Möglichen ein interessantes und durchaus erklärungswürdiges Phänomen in wissenschaftlicher Art und Weise bearbeitet werden.
[4] Diese etwas umständliche Übersetzung des Begriffs „background conditions“ wurde deshalb gewählt, weil es sich nicht um notwendige Bedingungen für die weiteren unabhängigen Variablen handelt, sondern um Variablen, die zeitlich vor den anderen Variablen liegen.
[5] Haas und Schmitter (1964) schlagen für die Betrachtung dieser Variablen einen Zeitraum von ca. 3 Jahren ab der Gründung der Wirtschaftsunion vor. Diese Festlegung scheint jedoch willkürlich getroffen zu sein.
[6] Übersetzung des Autors.
[7] vgl. auch das Konzept von Abbott/Keohane/Moravcsik/Slaughter/Snidal (2000: 401ff.) zu Legalisierung. Die Autoren legen drei Dimensionen zu Grunde, um unterschiedliche Institutionalisierungsgrade zu unterscheiden: Verbindlichkeit (obligation), Präzision (precision) und Delegation (delegation).
[8] Übersetzung des Autors. Übersetzung des Autors.
[9] Die beiden Pole sind hohe institutionelle Autorität bei hoher Entscheidungsgewalt und personeller Unabhängigkeit des Agenten sowie einer zentralisierten Kontrollstruktur. Der Pol niedrige institutionelle Autorität ist durch eine genau gegensätzliche Ausprägung der Indikatoren gekennzeichnet.
[10] Später Europäisches Parlament.
[11] Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl in der Fassung vom 6. Mai 1952, BGBl. 1952, Teil II.
- Quote paper
- Anonymous,, 2004, Ein Vergleich von Mercosur und Montanunion aus neofunktionalistischer Perspektive - Die Rolle von supranationalen Institutionen im Integrationsprozess, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31776
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