Am 10. Oktober 1912 wird der junge Blaise Cendrars zu einer wichtigen Vernissage der Pariser Galerie La Boétie eingeladen. Von 31 Künstlern – in der Hauptsache Kubisten – werden 185 Bilder ausgestellt. Cendrars fällt an diesem Abend insbesondere ein großgewachsener, stämmiger Mann auf, der wie ein Bauer aus der Normandie aussieht: Fernand Léger.
Zwei Tage später besucht er ihn in seinem Atelier. Der Maler findet den sechs Jahre jüngeren Dichter sympathisch und beantwortet bereitwillig seine unzähligen Fragen. Der Grundstein für ihre – wenn auch mit Unterbrechungen – mehr als vierzig Jahre überdauernde Freundschaft, die sich auch in einer künstlerisch fruchtbaren Zusammenarbeit äußern wird, ist hiermit gelegt.
Blaise Cendrars und Fernand Léger
Der engen und mehr als vier Jahrzehnte andauernden Freundschaft zwischen dem Maler Fernand Léger (1881 – 1955) und dem Schriftsteller Blaise Cendrars (1887 – 1961) ist seitens der Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler bisher kaum Beachtung geschenkt worden.
Der am 1. 9. 1887 als Frédéric Louis Sauser in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz geborene Autor Blaise Cendrars führt seit seiner Jugend ein abenteuerreiches Leben, das ihm den Beinamen „Marco Polo des zwanzigsten Jahrhunderts“ einträgt und ihn zum Kosmopoliten macht, der aber ebenso gerne immer wieder in seine Wahlheimat Frankreich zurückkehrt. Für sein schriftstellerisches Werk wird er wenige Tage vor seinem Tod im Jahre 1961 mit dem „Grand Prix littéraire de la Ville Paris“ ausgezeichnet.
Im Jahre 1911 lernt der junge Schriftsteller Cendrars auf Vermittlung seines Freundes Emil Szittya Marc Chagall kennen. Dieser lebt und arbeitet in der Rotonde „La Ruche“ im Künstlerviertel des Montparnasse zusammen mit Künstlerkollegen wie Amedeo Modigliani und Fernand Léger, die zu der Zeit alle noch arm und unbekannt sind. Chagall erinnert sich an seine erste Begegnung mit Cendrars: „Mit seinem Gelächter, mit seiner ganzen überschäumenden Jugend brach er in mein Atelier ein. Da ich schlecht Französisch konnte, sprach er russisch mit mir. Alles an ihm schien zu verschmelzen: seine Augen, seine ganze Gestalt, seine Worte. Er besah meine Bilder nicht: er verschlang sie. Und dann ist eine Liebe daraus geworden, eine brüderliche Freundschaft. Zu jener Zeit, da mit Apollinaire an der Spitze der stolze Kubismus sich aufspielte, war die Freundschaft Cendrars’ für mich eine Ermutigung.“[1] Am 10. Oktober des darauffolgenden Jahres wird Cendrars zu einer wichtigen Vernissage der Pariser Galerie La Boétie eingeladen. Von 31 Künstlern – in der Hauptsache Kubisten – werden 185 Bilder ausgestellt. Cendrars fällt an diesem Abend insbesondere ein großgewachsener, stämmiger Mann auf, der wie ein Bauer aus der Normandie aussieht: Fernand Léger. Zwei Tage später besucht er ihn in seinem Atelier. Der Maler findet den sechs Jahre jüngeren Dichter sympathisch und beantwortet bereitwillig seine unzähligen Fragen. Der Grundstein für ihre - wenn auch mit Unterbrechungen - mehr als vierzig Jahre überdauernde Freundschaft, die sich auch in einer künstlerisch fruchtbaren Zusammenarbeit äußern wird, ist hiermit gelegt. Durch Léger ist es Cendrars ermöglicht, in die Welt der modernen Malerei einzudringen. In den Maltechniken entdeckt er die Regeln der Dichtkunst wieder und kommt zu der Überzeugung, dass weder das eine noch das andere in Zukunft getrennt betrachtet werden kann. Von zentraler Bedeutung für viele Künstler und Schriftsteller der damaligen Avantgarde ist der Begriff der Simultaneität, der auf den Vorstellungen von der Synästhesie und den Korrespondenzen und dem von den Symbolisten im 19. Jahrhundert postulierten Ideal einer nichtmimetischen offenbarenden Kunst basiert. In der Malerei findet der Simultanismus seinen Ausdruck in dem Polyperspektivismus des Kubismus, für die Literatur in der Abwendung von der bis dahin vorherrschenden Linearität der Erzählhaltung und Hinwendung zu einer Komplexität als Ausdruck eines Bewusstseins auf mehreren Ebenen jenseits eines begrenzten Zeit- und Raumverständnisses. Die Autoren des modernen Großstadtromans bedienen sich zur Kenntlichmachung der Simultaneität und Komplexität des Daseins vorzugsweise der Stilmittel der Collage oder der Montage.
Blaise Cendrars „simultanes Buch“ ist das im Jahre 1913 veröffentlichte Prosagedicht “Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France “ (Prosa vom Transsibirienexpress und von der kleinen Jehanne de France). Dieser im Selbstverlag mit einer Stückzahl von 150 herausgegebene Band ist auf einem 2 Meter langen Faltblatt in verschiedenen Farben und Schrifttypen gedruckt und mit Illustrationen von Sonia Delaunay-Terk versehen. Das Leitmotiv dieser kaleidoskopischen Erzählung, die zum stählernen Rhythmus der über die Gleise rollenden Räder die ungeheure Beschleunigung des modernen Lebens und den daraus resultierenden radikalen Umbruch in der optischen Wahrnehmung thematisiert, bildet der Transsibirienexpress, den Cendrars als Junge auf der Pariser Weltausstellung 1900 mit eigenen Augen gesehen hatte.
Blaise Cendrars und Fernand Léger zeichnen sich durch ihre Doppelbegabung aus und haben - wenn auch in kleinerem Rahmen, so doch durchaus vorzeigbar - auf dem künstlerischen Hauptbetätigungsfeld des anderen jeweils ernstzunehmende Versuche unternommen.
Der junge Cendrars entdeckt relativ früh auch im aktiven Sinn die Malerei, wovon zahlreiche Bilder und Zeichnungen von seiner Hand zeugen. Zu Beginn der zwanziger Jahre verabschiedet der Malerdichter sich allerdings - wie er selbst sagt aus Enttäuschung - von den Malern und wendet sich nicht weniger erfolgreich dem Film zu. Seine ablehnende Haltung Gruppen oder Schulen gegenüber zeichnet sich bereits sehr früh ab und lässt sich auf Cendrars Individualismus und den damit einhergehenden Hang zum Abenteuer zurückführen. Léger hebt er in seiner Bewertung aus der Masse der Kubisten heraus: „Schon seit der Zeit vor dem Krieg waren seine Bilder von ganz anderer Wirkung als die der anderen Kubisten. Sie waren geradeheraus, häufig grob, sie zielten nicht aufs Schöne, aufs Arrangement, auf Vollendung, und sie blieben immer im Bereich der visuellen Darstellung.“[2] Die Qualität des Rohen eignet auch Cendrars Schriftstellerei an und ist sein erklärtes Ziel. In seinem zwischen 1917 bis 1929 entstandenen Roman Dan Yack erteilt Cendrars allen Künsten eine Absage, indem er seinen Romanhelden zu der Erkenntnis kommen lässt, dass keine von ihnen taugt - außer die Kunst des Lebens.
Léger seinerseits ist ein Maler, der schreibt. Über einhundert kleinere Texte zu Malerei, Film und Architektur fließen aus seiner Feder. Seine wichtigsten Texte sind in dem von Roger Garaudy im Jahre 1965 in Paris herausgegebenen Sammelband „ Fonctions de la peinture “ (dt. Mensch, Maschine, Malerei, Aufsätze und Schriften zur Kunst, Hg. Robert L. Füglister, Bern 1971) erschienen.
Dass Cendrars auf die Tatsache, dass sein Malerfreund sich ebenfalls als Schriftsteller betätigt bzw. auf seine Texte auch nicht im Geringsten in seinen zahlreichen Veröffentlichungen über Léger eingegangen ist, mutet seltsam an und steht im Mittelpunkt des 1981 erschienenen Aufsatzes von Claude Leroy: „ Sieben Fragmente zum Septett der Légers bei Cendrars “[3]. Er betont die geradezu verblüffende Affinität der Texte von Cendrars und Léger nicht nur auf der semantischen Ebene, sondern insbesondere auch auf der sprachlichen, auf der die Formulierungen teilweise eine so große Ähnlichkeit aufweisen, dass sie fast austauschbar erscheinen. Leroy begründet dies mit dem grundlegend unterschiedlichen Wirklichkeitsverständnis der beiden Künstler. Eine exakte textkritische und vergleichende Untersuchung wäre wünschenswert und sicherlich aufschlussreich.
Die zahlreichen Äußerungen über den Malerfreund Léger in Cendrars Werk lassen sich in verschiedene Gruppen unterteilen. Zum einen sind es die (auto-)biographischen Anmerkungen, in denen Léger als Freund von Blaise Cendrars eine wichtige Rolle spielt. Als zweites ist es der Maler Léger, dessen Kunst der Dichter in seinen Schriften kritisiert, interpretiert und zu vermitteln sucht. Als drittes ist es Léger als Partner an gemeinsamen Projekten und schließlich ist es Léger als literarische Figur in Cendrar autobiographischen Schriften auf (insbesondere L’Homme foudroyé (Der vom Blitz erschlagene Mann). Am bekanntesten sind Cendrars Artikel Le ‚CUBE’ s’effrite und Modernités: Fernand Léger, die am 15. Mai 1919 und am 3. Juli 1919 in der Pariser Zeitschrift La Rose rouge erscheinen und das letzte seiner 19 Poèmes elastiques (Neunzehn elastische Gedichte) (1919): Construction.
Cendrars geht es bei der Darstellung seines Freundes nicht um Kunstkritik, sondern gemäß seiner Überzeugung von der Gleichwertigkeit der Künste um das Aufzeigen der Analogien. Ähnlich ausgewogen wirken die Bücher, die Cendrars und Léger gemeinsam veröffentlicht haben. Cendrars Kriegsbuch J’ai tué (Ich habe getötet) (1918) illustriert Léger mit fünf Zeichnungen und Fin du Monde filmée par l’Ange Notre-Dame (Das Ende der Welt vom Notre-Dame-Engel gefilmt) (1919) gestaltet und illustriert er mit 20 Farb- und 2 Schwarz-Weiß-Kompositionen. Auch in diesem Werk steht die simultane Wahrnehmung wieder im Mittelpunkt. Das Auge, das Cendrars bereits in seinem „ L’ABC du cinéma “ als größeres Wunder als das Facettenauge einer Fliege gepriesen hat, übernimmt auch hier eine leitmotivische Funktion. Während der Zerstörung der Welt bleibt es geschlossen, um sich erst wieder zu öffnen, wenn der Film bis zu der Erneuerung der Welt zurückgespult wird und somit die Abgeschlossenheit des Erzählten in Frage stellt.
Ein weiteres Gemeinschaftsprojekt ist der zwischen 1920 – 22 entstandene Film La Roue (Das Rad) von Abel Gance, an dem Léger als Berater und Cendrars als Assistent beteiligt sind. Protagonist des Films ist eine Lokomotive und das eigentliche Thema die durch die Technisierung der Welt bedingte Beschleunigung der optischen Wahrnehmung. Cendrars und Léger, die beide den I. Weltkrieg am eigenen Leib erfahren haben, sind sich einig darüber, dass der Krieg „Leben in beschleunigtem Tempo“ ist und dass das moderne Leben aufgrund seiner Geschwindigkeit, Härte und Klarheit ebenfalls ein Kriegszustand ist. Die Erfahrung des Krieges einhergehend mit der Beschleunigung der Mechanisierung und Industrialisierung schaffen eine neue Sichtweise, die der Schnelligkeit Rechnung trägt. Der Blick bewegt sich ähnlich wie beim Photographieren oder Filmen blitzartiger und fragmentarischer.
Ebenfalls gemeinsam arbeiten sie an dem Ballett La Création du monde (Die Erschaffung der Welt) nach einer Partitur von Darius Milhaud. Zu Cendrars Libretto bildet seine Sammlung afrikanischer Mythen, die er im Jahre 1921 als „Anthologie nègre“ veröffentlicht hat, die Vorlage. Léger zeichnet verantwortlich für die künstlerische Ausstattung. Das Ballett wird am 25. 10. 1923 in Paris durch das Schwedische Ballett unter der Leitung von Rolf de Maré uraufgeführt und nach zehn weiteren Aufführungen wieder abgesetzt. Die Regieanweisungen zu La Création du monde sind eine Gemeinschaftsproduktion von Léger und Cendrars.
Kurz vor Fernand Légers Tod bereitet Louis Carré die Ausstellung Die Landschaft im Werke Fernand Légers vor und lädt Fernand und Blaise dazu am 27. Oktober 1954 in seine Pariser Galerie ein, um mit ihnen das Vorwort zum Katalog zu besprechen. Diese Unterhaltung zu dritt nehmen sie auf Tonband auf. Das schriftlich übertragene Gespräch wird später zusammen mit den Reproduktionen von Légers typischsten Landschaftsbildern als Buch veröffentlicht, dessen Erscheinen mitzuerleben Fernand Léger nicht mehr vergönnt ist. Gegen Ende der Unterhaltung lassen die beiden Freunde die ersten Jahre ihrer Freundschaft in der Erinnerung wach werden: die Rue de l’Ancienne-Comédie, la Ruche, die „Cinq-Coins“, wo sie sich trafen, die Getränke, die sie bestellten, der Farbenkrieg zwischen Delaunay und Léger u. v. a. m.
Und so wie ihre Erinnerungen am Ende an den Anfang zurückkehren, so lässt sich auch das Band am Ende des Gesprächs wieder an den Anfang zurückspulen ...
Gabriele Eschweiler, Bonn
Juli 2002
[...]
[1] Aus Marc Chagalls Nachruf auf Blaise Cendrars, in: Le Figaro littéraire vom 28. 1. 1961
[2] Blaise Cendrars: Modernités : Fernand Léger, in: La Rose rouge, 10, Paris 3. Juli 1919, S. 155
[3] Vgl. Claude Leroy: Sieben Fragmente zum Septett der Légers bei Cendrars, in: Peter Burri (Hg.): Cendrars entdecken, Basel 1986, S. 49 - 54
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- Gabriele Eschweiler (Autor:in), 2002, Die Freundschaft zwischen dem Dichter Blaise Cendrars und dem Maler Fernand Léger, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/317560