Das vorliegende Fallbeispiel ,,Stephanie", stammt aus Ursel Mielkes Ratgeber ,,Schwierige Kinder besser verstehen", der 1996 veröffentlicht wurde. In diesem Fallbeispiel werden die psychischen Störungen eines achtjährigen Mädchens, das sich Stephanie nennt, geschildert.
Das vorliegende Fallbeispiel ,,Stephanie", stammt aus Ursel Mielkes Ratgeber ,,Schwierige Kinder besser verstehen", der 1996 veröffentlicht wurde. In diesem Fallbeispiel werden sowohl die schwierigen Entwicklungbedingungen wie auch die daraus resultierende psychischen Störungen eines achtjährigen Mädchens, das sich Stephanie nennt, geschildert.
,,Stephanies" Entwicklung lässt sich mithilfe des Theoriemodells von Erik Erikson analysieren. Nach Eriksons Theorie muss jedes Individuum auf jeder Entwicklungsstufe bestimmte Konflikte bewältigen, die sich aus der Spannung von individuellen Bedürfnissen und den Anforderungen der sozialen Umwelt ergeben. Wichtig für Erikson ist, dass das Individuum die Entwicklungsaufgaben einer Stufe erfolgreich bewältigt haben muss, um sich zu nächsthöheren weiterentwickeln zu können. Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um neue Identitätskrisen zu verarbeiten. Insgesamt unterscheidet Erikson acht solcher Stufen. Der Mensch ist nach seiner Theorie als soziales Wesen zunächst nur auf eine primäre Bezugsperson (Mutter) bezogen und erweitert seine Perspektive schrittweise auf immer größere soziale Bereiche hin. In Übereinstimmung mit der Psychoanalyse Freuds ist für Erikson die erste Phase des Lebens (Urvertrauen vs. Urmisstrauen, erstes Lebensjahr) von besonderer Bedeutung. Bei günstigem Verlauf entwickelt das Kind hier ein Urvertrauen, das die Basis einer gesunden Persönlichkeit ist. Vertrauensvolle Kinder können vorhersehen, dass ihre Mutter ihnen Nahrung gibt, wenn sie hungrig sind und sie tröstet, wenn sie Angst oder Schmerzen haben und weinen. Sie können ertragen, wenn die Mutter vorrübergehend aus ihrem Gesichtskreis verschwindet, da sie wissen, dass die Mutter in Kürze zurückkehrt. Gelingt es dem Kind jedoch nicht, solches Urvertrauen aufzubauen, wie es auch bei der jungen ,,Stephanie" in dem vorliegenden Beispiel der Fall ist, gewinnt Misstrauen die Oberhand. Es kann passieren, dass das Kind dann Ängste entwickelt, die sich durch das gesamte Leben ziehen können. Im konkreten Fall von Stephanie sind viele Faktoren zusammengekommen, die in ihr Ängste und Misstrauen, hervorgerufen haben. Zum Ersten ist davon auszugehen, dass Stefanie seit dem Tag ihrer Geburt, keine verlässliche primäre Bezugsperson hatte, da sich ihre Mutter vermutlich nicht häufig genug mit ihr auf der Frühchenstation befunden hat. Stefanie hat es also durch die häufige Abwesenheit der Mutter an mütterlicher Fürsorge gefehlt. Außerdem hat Stefanie auf Grund des Brutkastens, in dem sie liegen musste, einen Mangel an körperlicher Nähe erlitten. Stefanies Urvertrauen konnte gar nicht erst aufgebaut werden, da auch ihre zwei weiteren Lebensjahre durch häufige Krankenhausaufenthalte und die fehlende Unterstützung ihrer Mutter gekennzeichnet waren. (Z.8...,,habe diese ihr Kind ,,wie ein Stück Holz" behandelt. Bei der geringsten Kleinigkeit habe sie Stephanie in der Klinik abgeliefert"). Die Instabilität Stefanies primärer Bezugsperson (Mutter) hat in ihr ein Gefühl von Misstrauen und Unsicherheit verankert. Die hier entstandenen Verlassensängste schwingen in Stefanies weiterer Entwicklung ewig unterschwellig mit. Auch nach Freuds Betrachtungsweise wird die erste Phase ,, orale Phase" des Fallbeispiels nicht optimal umgesetzt. Stefanies Drang an der Brust zu saugen wurde nicht optimal befriedigt, da ihr die Mutter (aus den Umständen zu schließen), nicht die Brust gereicht hat. Die Nähe zwischen Stefanie und ihrer Mutter konnte während der Mahlzeiten also nicht aufgebaut werden. Es ist zu vermuten, dass Stefanie bei ihrer Mutter teilweise sogar hungern musste und nicht oft genug und regelmäßig genug die Flasche bekommen hat. Vermutlich hat bereits eine vergessene Mahlzeit tiefe Ängste in Stefanie hervorgerufen. Da Stefanie im Säuglingsalter noch keine Situationen einschätzen konnte, kann es sogar sein, dass Stefanie bei immer wieder vergessen Mahlzeiten sogar Überlebensängste erlitten hat. In der zweiten Phase (Autonomie vs. Scham und Zweifel, 2 bis 3 Jahre) des Theoriemodells von Erik Erikson, gewinnt das Kind ein Stück an körperlicher Autonomie. Die Entwicklung der kindlichen Autonomie baut auf dem erworbenen Grundvertrauen auf. Die Bedingung für Autonomie wurzelt in einem festen Vertrauen in die Bezugspersonen und in sich selbst, dem Gefühl, nach seinem Willen handeln zu dürfen, ohne dass die grundlegende Geborgenheit in Gefahr gerät. Wenn das Kind in seinen Verhaltensweisen eingeschränkt wird, führt dies beim Kind zu einem Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. So kann eine grundlegende Scham entstehen, wenn das Kind in seiner Autonomie als Individuum nicht anerkannt wird. Hier wird nun deutlich erläutert, dass die zweite Phase nur optimal bewältigt werden kann, wenn es bei der ersten Phase zu einer angemessenen Lösung gekommen ist. Dies ist bei Stefanie jedoch nicht der Fall gewesen. Anstatt, dass Stephanies Mutter nun versucht, die erste Phase mit Stephanie, so gut es geht, behutsam aufzuarbeiten, belastet sie Stephanies Psyche weiterhin schwer. Stephanies Mutter reagiert auf Stephanies Weinen mit Schreien oder körperlicher Strafe. (Z. 16-17.."Wenn Stephanie zu Hause weinte, wurde sie angeschrien oder auch geschlagen"). Diese Gewalterfahrungen haben sich in Stefanies Unterbewusstsein festgesetzt und haben ebenfalls zu ihren emotionalen Beeinträchtigungen und Ängsten beigetragen (Z.30 ...,,ihre Unruhe und Schwatzhaftigkeit"), (Z.39..,,Furcht vor neuen, unbekannten Situationen, vor fremden Menschen, vor Dunkelheit und großen Tieren). Außerdem leidet Stefanie im Verlauf ihrer Kindheit an den immer wieder veränderten Familienkonstellationen. Sie wird ständig zwischen der Tante, der Mutter und der Großmutter herumgereicht, bis sie mit 5. Jahren endlich dauerhaft bei ihrer Tante leben darf. Diese häufigen Veränderungen führen bei Stefanie zu einer Auflösung von selbstverständlicher sozialer Zugehörigkeit, was ihre innere Unsicherheit noch weiter geschürt hat. Hinzu kommt, dass Stefanie vor ihrer Kindergartenzeit noch eine Kita besucht hat, in der sie ebenfalls von verschiedenen Personen versorgt wurde. Diese Tatsache hat in Stefanies seelischer Entwicklung zusätzlich zu einer Schädigung geführt. Stefanie hätte ihre Mutter als verlässlichen und verständnisvollen Partner für ihre Willensausbildung, Autonomieentwicklung und Etablierung ihres „Selbst“, benötigt. Stattdessen hat Stefanie bei jeder Trennung von ihrer Mutter, stets große Trennungsängste durchleben müssen. Vermutlich hat sich Stefanie deswegen, Schritt für Schritt, immer weiter von ihrer Mutter entfremdet. Auch in der zweiten Entwicklungsphase hat Stephanies Mutter, der kleinen Stephanie also kein Gefühl von Schutz und Geborgenheit gegeben. Im nächsten Schritt der Entwicklung (Initiative vs. Schuldgefühl, 4-5 Jahre) möchte das Kind so werden wie der Vater bzw. seine Mutter, die als Identifikationsfiguren für Initiative und veränderndes Handeln stehen. Stefanie lebt ab ihrem 5. Lebensjahr dauerhaft bei ihrer Tante, was dazu führt, dass sich Stefanies erhebliche Rückstände auf sprachlichem, motorischem und sozialem Gebiet verringern. Stefanie entwickelt erst jetzt ein angenehmes Gefühl von Autonomie, da durch die Aufmerksamkeit der Tante, ihr Selbstwertgefühl wächst. Die Vernachlässigung ihrer Mutter hat zuvor dazu geführt, dass sich Stefanie abgelehnt und ungeliebt gefühlt hat. Dies hat unter anderem dazu beigetragen, dass Stefanie kein Vertrauen in ihre eignen Fähigkeiten hatte. Außerdem haben die Kommunikationsprobleme mit ihrer gewalttätigen Mutter vermutlich ihre Leistungsbereitsschaft unterdrückt. Da sich Stefanies Mutter kaum mit ihr beschäftigt hat, konnte Stefanie ihre Handlungen nicht initiieren und nicht genügend von ihr lernen. Die ersten Wörter lernte Stefanie ebenfalls von ihrer Tante. (Z.10 Stephanie sei mit ihr die ersten Schritte gelaufen, habe bei ihr die ersten Wörter gelernt.) Stefanies Umzug in den Haushalt ihrer Tante, hat dafür gesorgt, dass Stefanie endlich eine verlässliche Bezugsperson bekommt. Dem Fallbeispiel ist zu entnehmen, dass Stefanie vor ihrem 5. Lebensjahr einen kleinen Bruder bekommen hat. (Z.15-16...inzwischen war ja auch schon Manuel, der mittlere, geboren.) Es ist zu vermuten, dass sich die ohnehin schon überforderte Mutter, seit Manuels Geburt noch weniger um Stefanie kümmern konnte. Darüber hinaus musste sich die kleine Stefanie jetzt vermutlich nicht nur Sorgen um sich selbst, sondern auch noch um ihren kleinen Bruder, machen. Auf der nächsten Stufe des Theoriemodells (Wersinn vs. Minderwertigkeitsgefühl, 6-12 Jahre) wollen die Kinder zuschauen und mitmachen. Sie wollen, dass man ihnen zeigt, wie sie sich mit etwas beschäftigen und mit anderen zusammen arbeiten können. Das Bedürfnis des Kindes, etwas Nützliches und Gutes zu machen, bezeichnet Erikson als Werksinn bzw. Kompetenz. Jetzt spielt das Gefühl der Kinder, an der Welt der Erwachsenen teilnehmen zu können, eine wichtige Rolle. Demgegenüber steht in dieser Phase die Entwicklung eines Gefühls der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Dieses Gefühl kann immer dann entstehen, wenn dem Kind zu viele Misserfolge widerfahren sind oder es in einer Gruppe ausgeschlossen wird. Stefanie befindet sich mit ihren acht Jahren genau in dieser Phase. Sie ist ein sehr lebhaftes Kind, teilweise aber auch zu unruhig und zu überdreht. Die Gründe hierfür lassen sich ebenfalls in ihrer Vergangenheit finden. So gelingt es Stefanie zum Beispiel mit ihrer lebhaften Art, die Aufmerksamkeit der Mitschüler auf sich zu ziehen. Die Reaktionen ihrer Mitschüler werden von ihr als Selbstbestätigung und Zeichen von Anteilnahme und Interesse gedeutet. Da es ihr in der Vergangenheit nicht gelungen ist, von der Mutter Anerkennung zu bekommen, versucht sie nun unbewusst auf diese Weise ihr fehlendes Selbstwertgefühl zu kompensieren. (Z.28 ,,Bei den Kindern in der Klasse ist sie beliebt, da sie verträglich und immer guter Laune ist."), (Z. 30..,,durch ihre Unruhe und Schwatzhaftigkeit oft den Unterricht störe".)Stefanies Aufmerksamkeitsstörungen (Z. 32 ...,,oft unaufmerksam"), hängen vermutlich mit der mangelnden Zuwendung in ihren ersten Lebensjahren, sowie mit dem mangelnden Körperkontakt in ihrem Babyalter, zusammen. Hinzu kommt die Tatsache, dass ihre frühe Kindheit durch häufige Erkrankungen geprägt war, die ebenso die Aufmerksameitsstörungen hervorgerufen haben können. Auch Stefanies Fingernägelkauen findet ihren Ursprung in ihrer früheren Kindheit. (Z.33-34 ...,,knabbert massiv Nägel, sie reißt sie mitunter sogar herunter, dass es blutet".) Stefanie kaut vermutlich an ihren Fingernägeln um sich unbewusst von ihrer Unsicherheit und von ihrer Angst abzulenken, die sie in den ersten Lebensjahren entwickelt hat. Durch das das Kauen baut Stefanie ihren inneren Druck ab. Sie kaut nicht nur an ihren Nägeln, sondern beißt sich sogar ihre Nagelhaut blutig. Dieses Verhalten zeigt deutlich, dass es sich nicht nur um eine schlechte Angewohnheit handelt, sondern um eine Abwehrhaltung des Unterbewusstsein. Auch Stefanies sozialen Ängste (Z.38-39..,,Furcht vor neuen unbekannten Situationen, vor fremden Menschen..." ), hängen ebenfalls mit ihrer Vergangenheit zusammen, in der sie wenig Zuwendung und Liebe bekommen hat. Da Stephanie keine Sicherheit und Geborgenheit empfunden hat, konnte auch ihr Selbstwertgefühl nicht richtig aufgebaut werden, was zu Angst vor Ablehnung und Zurückweisung, sowie zu Angst vor Kritik geführt hat. Diese Ängste äußern sich nun in der Angst vor fremden Menschen. Die problematische Beziehung, die Stefanie zu ihrer Mutter geführt hat, hat bei Stephanie zu Defekten in der Ich-Entwicklung geführt. Die weiteren vier Phasen des Theoriemodells von Erik Eriksons sind für die vorliegende Fallanalyse nicht von direkter Bedeutung. Man kann aber davon ausgehen, dass Stefanie ohne richtige Behandlung, auch in den nächsten vier Entwicklungsphasen zu keiner angemessenen Lösung finden wird.
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- Jacqueline van Straelen (Author), 2016, Pädagogische Förderung bei Verhaltensauffälligkeiten. Der Fall "Stephanie" aus "Schwierige Kinder besser verstehen" von Ursel Mielke nach der Theorie von Erik H. Erikson, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/317180
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