Die ästhetische Erfahrung ist eine Wahrnehmung besonderer Art. Die Möglichkeit visuelle Reize über eine simple Objekterkennung hinaus als ästhetisch wahrzunehmen, ist eine der menschlichen Spezies inhärente Fähigkeit. Das Modell der ästhetischen Erfahrung bietet auf kognitiv-affektiver Ebene eine theoretische Grundlage. Das Modell stellt das Verständnis eines Kunstwerks, neben emotionalen Komponenten, als wesentlichen Teil der ästhetischen Erfahrung heraus. Persönliche Erlebnisse und Erlerntes modulieren die ästhetische Erfahrung und deren neuronale Grundlagen. Die neuronalen Korrelationen der ästhetischen Erfahrung versucht die Neuroästhetik zu identifizieren. Neurowissenschaftliche Studien mit bildgebenden und neurophysiologischen Verfahren deuten auf die prominente Position des linken dorsolateralen Präfrontalkortex (lDLPFC) innerhalb der ästhetischen Erfahrung hin. Bisherige Studien untersuchten das Kunstverständnis als essentielle Komponente der ästhetischen Erfahrung mit Hilfe von abgebildeten Zusatzinformationen in Form von Bildtiteln oder kontextueller Information. Ziel der vorliegenden Studie ist es jedoch, den Zusammenhang zwischen dem lDLPFC und dem Verständnis gegenständlicher Kunst aus einer ästhetischen Perspektive, zu belegen. Eine artifizielle Aktivierung des lDLPFCs sollte das Verständnis steigern. Diese artifizielle Aktivierung des lDLPFCs wurde über eine anodale transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) erreicht. Das Verständnis von gegenständlichen Kunstwerken wurde durch die Stimulation des lDLPFCs nicht beeinflusst. Allerdings konnte, in Übereinstimmung mit dem Modell der ästhetischen Erfahrung, die emotionale Valenz eines Kunstwerks als wichtig für die ästhetische Erfahrung herausgestellt werden. Die Ergebnisse weisen auf die Multimodalität der ästhetischen Erfahrung und deren komplexen neuronalen Grundlagen hin.
According to the model of aesthetic appreciation, which explains the process of the aesthetic experience based on a cognitive-affective level, the understanding of an art-work is essential. Personal experiences and acquired knowledge modulate the aesthetic experience and their neural correlates. Neuroaesthetics attempts to identify the neural correlations of aesthetic experience. The left dorsolateral prefrontal cortex (lDLPFC) is strongly associated with the process of aesthetic appreciation. [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Fundierung
2.1 Ursprünge der empirischen Ästhetik
2.2 Das Modell der ästhetischen Erfahrung
2.2.1 Die Perzeptuelle Analyse
2.2.2 Implizite Gedächtnisintegration
2.2.3_Explizite_Klassifikation
2.2.4 Kognitive Bewältigung
2.2.5 Evaluation
3 Neuroästhetik
3.1 Neuronale Korrelate ästhetischer Wahrnehmung
4 Forschungsfrage und Hypothese
4.1 Gegenständliche Bilder
4.2 Valenzkategorien
4.3 Positive and Negative Affect Schedule (PANAS)
4.4 Kunstinteresse Fragebogen (KiF)
4.5 Die Emotional Contagion Scale (ECS)
4.6 Hypothesen
5 Methoden
5.1 Vorstudie I
5.2 Vorstudie II
5.2.1 Stichprobe
5.2.2 Ablauf
5.2.3 Ergebnisse
5.3 Hauptstudie
5.3.1 Stichprobe
5.3.2 Stimuli
5.3.3 Studiendesign
5.3.4 Der Positive and Negative Affect Schedule (PANAS)
5.3.5 Kunstinteresse Fragebogen (KiF)
5.3.6 Die Emotional Contagion Scale (ECS)
6 Ergebnisse
6.1 Ergebnisse der Verständnisbewertung
6.1.1 Der zeitliche Abstand zwischen den Testungen und das Verständnis
6.1.2 Das Bilderset (AB vs. BA) und das Verständnis
6.1.3 Die Reaktionszeit bei der Verständnisbewertung
6.2 Ergebnisse der Farbigkeitsbewertung
6.2.1 Der zeitliche Abstand zwischen den Testungen und die Farbigkeitsbewertung
6.2.2 Das Bilderset (AB vs. BA) und die Farbigkeit
6.2.3 Die Reaktionszeit bei der Farbigkeitsbewertung
6.3 Fragebogenergebnisse
6.3.1 PANAS
6.3.2 PANAS und das Verständnis
6.3.3 KiF
6.3.4 KiF und das Verständnis
6.3.5 ECS
6.3.6 ECS und das Verständnis
6.4 Fragebogen und die Farbigkeit
6.4.1 PANAS
6.4.2 PANAS und die Farbigkeit
6.4.4 KiF und die Farbigkeit
6.4.5 ECS
6.4.6 ECS und die Farbigkeit
7 Diskussion
7.1 Ergebnisse der tDC-Stimulation
7.2 Ergebnisse der Verständnisbewertung gegenständlicher Bilder
7.3 Ergebnisse der Valenzkategorien
7.4 Ergebnisse der Fragebögen
7.5 Reaktionszeit bei der Verständnisbewertung
7.6 Einschränkungen und Ausblicke
Literaturverzeichnis
Anhang
A. Abbildungsverzeichnis
B. Tabellenverzeichnis
C. Stimuli
D. Instruktionen
Danksagung
Besonderer Dank gilt meiner Familie, für ihr stetiges Verständnis und ihre fortwährende Unterstützung.
Zusammenfassung
Die ästhetische Erfahrung ist eine Wahrnehmung besonderer Art. Die Möglichkeit visuelle Reize über eine simple Objekterkennung hinaus als ästhetisch wahrzunehmen, ist eine der menschlichen Spezies inhärente Fähigkeit. Das Modell der ästhetischen Erfahrung bietet auf kognitiv-affektiver Ebene eine theoretische Grundlage. Das Modell stellt das Verständnis eines Kunstwerks, neben emotionalen Komponenten, als wesentlichen Teil der ästhetischen Erfahrung heraus. Persönliche Erlebnisse und Erlerntes modulieren die ästhetische Erfahrung und deren neuronale Grundlagen. Die neuronalen Korrelationen der ästhetischen Erfahrung versucht die Neuroästhetik zu identifizieren. Neurowissenschaftliche Studien mit bildgebenden und neurophysiologischen Verfahren deuten auf die prominente Position des linken dorsolateralen Präfrontalkortex (lDLPFC) innerhalb der ästhetischen Erfahrung hin. Bisherige Studien untersuchten das Kunstverständnis als essentielle Komponente der ästhetischen Erfahrung mit Hilfe von abgebildeten Zusatzinformationen in Form von Bildtiteln oder kontextueller Information. Ziel der vorliegenden Studie ist es jedoch, den Zusammenhang zwischen dem lDLPFC und dem Verständnis gegenständlicher Kunst aus einer ästhetischen Perspektive, zu belegen. Eine artifizielle Aktivierung des lDLPFCs sollte das Verständnis steigern. Diese artifizielle Aktivierung des lDLPFCs wurde über eine anodale transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) erreicht. Das Verständnis von gegenständlichen Kunstwerken wurde durch die Stimulation des lDLPFCs nicht beeinflusst. Allerdings konnte, in Übereinstimmung mit dem Modell der ästhetischen Erfahrung, die emotionale Valenz eines Kunstwerks als wichtig für die ästhetische Erfahrung herausgestellt werden. Die Ergebnisse weisen auf die Multimodalität der ästhetischen Erfahrung und deren komplexen neuronalen Grundlagen hin.
Abstract
According to the model of aesthetic appreciation, which explains the process of the aesthetic experience based on a cognitive-affective level, the understanding of an art-work is essential. Personal experiences and acquired knowledge modulate the aesthetic experience and their neural correlates. Neuroaesthetics attempts to identify the neural correlations of aesthetic experience. The left dorsolateral prefrontal cortex (lDLPFC) is strongly associated with the process of aesthetic appreciation. Extant studies in neuroscience that applied neuroimaging and neurophysiological methods have stressed the prominent position of this brain area, for causing aesthetic appreciation. The aim of the present study is to test whether lDLPFC activation mediates the understanding of representational art-works and thereby leads to stronger aesthetic experience. It is hypothesized that an increase in left DLPFC activation achieved by anodal transcranial direct current stimulation (tDCS) affects understanding. However, results showed that the understanding of representational art-works was not affected by anodal lDLPFC stimulation. Nevertheless, the emotional valence of an art object was in accordance with the model of aesthetic experience, which proved to be important for the aesthetic experience. Our results also point to the multimodality of aesthetic experience and their complex neural basis.
1 Einleitung
Die ästhetische Wahrnehmung ist eine der menschlichen Spezies inhärente Fähigkeit (Leder, Gerger, Dressler, & Schabmann, 2012). Die Möglichkeit bestimmte Attribute eines Objekts wie die Form, die Farbe oder die Komposition der Elemente als ästhetisch wahrzunehmen und zu verstehen, unterscheidet sich von der trivialen Objekterkennung (Cela-Conde et al., 2004). Cinzia und Vittorio (2009) definieren ein ästhetisches Erlebnis als wahrgenommenes Wohlgefühl. Nicht nur auf physiologischer, sondern auch auf neuronaler Ebene unterscheidet sich die ästhetische Wahrnehmung von der Objekterkennung als solche (Nadal, Munar, Capó, Rosselló, & Cela-Conde, 2008). Als Teil der alltäglichen Wahrnehmung ist sie nicht ausschließlich auf die Rezeption von Kunstwerken reduziert. Ein Kunstwerk zu sehen löst nicht zwingend eine ästhetische Erfahrung aus (Lengger, Fischmeister, Leder, & Bauer, 2007). Die der ästhetischen Erfahrung zugrundeliegenden Prozesse werden von Leder, Belke, Oeberst und Augustin (2004) in ihrem Modell zusammengefasst. Das Modell (Leder et al., 2004) beschreibt die ästhetische Erfahrung auf kognitiv-affektiver Ebene als einen über fünf hierarchische Stufen verlaufenden Prozess, beginnend bei der perzeptuellen Analyse über die implizite Klassifikation, gefolgt von der explizite Klassifikation und der kognitiven Bewältigung. Am Ende erfolgt die Evaluation der vorherigen Stufen. Das Modell differenziert zwischen der ästhetischen Emotion und dem ästhetischen Urteil als Ergebnis des Verarbeitungsprozesses (Leder et al., 2004). Es stellt die Emotionen, die Erregbarkeit und das Verständnis einer Person als Determinanten der ästhetischen Erfahrung heraus, weiterhin moduliert sowohl die Expertise als auch der Kontext die ästhetische Erfahrung. Das ästhetische Urteil, als Resultat erfolgreicher Evaluation der kognitiven Bewältigung, bildet die Hauptvariable der vorliegenden Studie und findet im Kunstverständnis ihre Operationalisierung.
Persönliche Erfahrung und Erlerntes modulieren die ästhetische Erfahrung und deren neuronale Grundlagen (Cattaneo et al., 2013). Die Erforschung der neuronalen Korrelate ästhetischer Erfahrungen obliegt der 1999 begründeten Disziplin der Neuroästhetik (Zeki, 1999). Aktuelle Forschungsergebnisse gehen von einem über beide Hemisphären verteilten neuronalen Netzwerk, anstelle eines einzigen ästhetischen Areals aus (Nadal & Pearce, 2011). Als grundlegende Bereiche dieses Netzwerks sind präfrontale, parietale und temporal kortikale Regionen anzuführen (Nadal, 2013; Nadal & Pearce, 2011). Allerdings weisen zahlreiche neurowissenschaftliche Studien auf die prominente Funktion des linken dorsolateralen Präfrontalkortex (lDLPFC), insbesondere bei als schön befundenen Objekten innerhalb der ästhetischen Wahrnehmung, hin (Cattaneo et al., 2013, 2014; Cela-Conde et al., 2004; Cupchik, Vartanian, Crawley, & Mikulis, 2009; Kawabata & Zeki, 2004; Nadal et al., 2008). Die Ergebnisse der angeführten Studien basieren größtenteils auf neurophysiologischen und bildgebenden Verfahren. Diese korrelativen Methoden erlauben ausschließlich interpretative Schlussfolgerungen, wohingegen eine gezielte Stimulation via einer transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) oder einer transkraniellen Magnetstimulation (TMS) kausale Rückschlüsse auf die Funktionen des stimulierten Areals erlaubt (Cattaneo et al., 2013, 2014; Cattaneo, Pisoni, & Papagno, 2011).
Ziel der vorliegenden Studie ist es, in Anlehnung an die von Cattaneo et al. (2013) durchgeführte tDCS-Studie, welche die aktivierenden Auswirkungen einer anodalen tDCS des lDLPFCs mit einer 3%igen Steigerung des ästhetischen Urteils belegten (Cattaneo et al., 2013), die neuronalen Korrelationen der ästhetischen Erfahrung, operationalisiert als Verständnis, anhand gezielter Stimulation des interessierenden Areals zu identifizieren.
Das Verstehen eines Kunstobjekts trägt maßgeblich zur ästhetischen Erfahrung bei (Leder, Carbon, & Ripsas, 2006) und kann diese darüber hinaus steigern (Russell, 2003; Swami, 2013). Eine aktuelle Studie von Swami (2013) belegt ein gesteigertes ästhetisches Erleben in Folge eines besseren Verständnisses der präsentierten Kunstwerke und unterstreicht die Importanz des Kunstverständnisses für die ästhetische Erfahrung. Mittels der tDCS versuchen wir kausale Rückschlüsse auf die Funktion des lDLPFCs hinsichtlich des Verständnisses, des Gefallens und der emotionalen Valenz von gegenständlichen Kunstwerken zu ziehen. Die beiden Variablen Gefallen und Valenz werden in zwei weiteren Diplomarbeiten bearbeitet (siehe dazu die Diplomarbeiten von Azza & Stark, in Vorbereitung). Um einen unspezifischen Aktivierungseffekt auszuschließen, diente das Farbigkeitsurteil als Kontrollvariable.
Zwei Vorstudien bilden die Basis dieser Arbeit. Die Absicht der Vorstudien war es, zwei Bildersets (A & B) für deren Verwendung in der Hauptstudie zu generieren. Die Bildersets sollten sich hinsichtlich der Variablen Gefallen, Farbigkeit und Erregungsniveau nicht unterscheiden. Zudem wurden sie in drei Valenzkategorien (positiv, negativ, neutral) unterteilt.
Im Rahmen der Hauptstudie erfuhr jeder Proband[1] zwei Stimulationen, eine Real- und eine Scheinstimulation, über zwei Termine hinweg. Das Studiendesign entsprach dem Doppelblind Standard, weder die Testleiter noch die Probanden waren über die Art der Stimulation informiert. Zu beiden Terminen bearbeiteten die Probanden die Fragestellung zwei Mal. Ein Mal vor und ein Mal nach der tDCS. Zusätzlich erfolgte die Vorgabe von Fragebögen. Der aktuelle Gemütszustand zum Zeitpunkt der Erhebung ist Leder et al. (2004) zufolge von Bedeutung für die ästhetische Erfahrung und wurde mit der Positive and Negative Affect Schedule (PANAS; Krohne & Kohlmann, 1996) erfasst. Weiterhin wird die ästhetische Erfahrung mit wachsender Expertise zunehmend differenzierter (Leder et al., 2004), weshalb der Kunstinteresse Fragebogen (KiF) vorgegeben wurde. Außerdem wurde mit der Emotional Contagion Scale (ECS; Doherty, 1997) die Fähigkeit zur emotionalen Ansteckung der Probanden erhoben.
Die vorliegende Arbeit beginnt bei einer Skizzierung der Ursprünge empirischer Ästhetikforschung, mit dem Ziel die Entwicklung dieser Disziplin und ihre Erweiterung in Form der Neuroästhetik zu verdeutlichen. Darauf folgt eine detaillierte Ausführung des Modells der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004) und dessen Bedeutung für die aktuelle Studie. Nach einem Überblick über die Disziplin der Neuroästhetik werden die neuronalen Korrelate der ästhetischen Erfahrung anhand von Studien ausgeführt. Anschließend werden die Hypothesen formuliert und deren Implementierung dargestellt. Auf die Ergebnisse der Erhebung folgt abschließend die Diskussion der Resultate der gegenwärtigen Forschungsarbeit.
2 Theoretische Fundierung
2.1 Ursprünge der empirischen Ästhetik
Die Geschichte der psychologischen Ästhetik beginnt mit Gustav Theodor Fechner. Er war es, der die ersten Experimente zur ästhetischen Wahrnehmung durchführte und die empirische Wende initiierte. Bereits 1860 beschäftige er sich mit den ästhetischen Dimensionen des goldenen Schnitts (Koch, 2008). Mit seiner Publikation die Vorschule der Ästhetik (1876) begründete Fechner die experimentelle Ästhetik und prägt die Wissenschaft bis heute mit seinem empirischen Ansatz. Dabei postulierte Fechner ein Umdenken, weg von der deduktiven und hin zur induktiven Ästhetik, also eine vom einzelnen Phänomen auf das Allgemeine schließende Argumentation (Koch, 2008).
Etabliert wurde die Psychologie als eigenständige Wissenschaft jedoch erst 1897 durch Wilhelm Wundt, dem Initiator der ersten Einrichtung für experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig. Wundt versteht die ästhetische Wahrnehmung im Rahmen seiner Bewusstseinspsychologie als die Gesamtheit der Reizwirkungen (Koch, 2008). Ein knappes Jahrhundert später sorgt Berlyne mit seinen new experimental aesthetics für einen weiteren Paradigmenwechsel innerhalb der empirischen Ästhetik (Martindale, Moore, & Borkum, 1990). Er formuliert die kollativen Stimuluseigenschaften, worunter das Resultat eines internen Vergleichs der rezipierten Reizeigenschaften mit jenen der individuellen Erinnerung zu verstehen ist. Der Rezipient eruiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Umwelt und erinnerten Gedächtnisinhalten. Die Intensität der kollativen Stimuluseigenschaften steigt je mehr der betrachtete Reiz von den Erfahrungen in der Vergangenheit differiert (Dechêne, 2007). Berlyne stellt folgende kollative Stimuluseigenschaften heraus: Komplexität, Neuheit, Ambiguität, Unbekanntheit und Divergenz, welche sich im Modell der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004) wiederfinden. Im 21. Jahrhundert differenzieren Leder und Nadal (2014) zwischen der Psychologie der Kunst und der psychologischen Ästhetik. Dabei versucht die Psychologie der Kunst die der Kunstwahrnehmung zugrundeliegenden Prozesse zu beschreiben, worunter das Erfassen der Symbolik und der Komposition sowie das Einordnen eines Kunstwerks in einen historischen Zusammenhang fällt. Dem gegenüber versucht die psychologische Ästhetik, die psychologischen Vorgänge zu erfassen, welche dem Menschen das Wahrnehmen einer Vielzahl von Objekten als schön, hässlich oder erhaben etc., also als ästhetisch ermöglichen. Die Schnittmenge beider Bereiche findet sich im Modell der ästhetischen Wahrnehmung (Leder et al., 2004) wieder, welches die an der ästhetischen Wahrnehmung von Kunstwerken beteiligten psychologischen Prozesse abzubilden versucht.
Die vorliegende Arbeit ist sowohl in den Bereich der psychologischen Ästhetik als auch der Neuroästhetik einzuordnen. Auf der theoretischen Basis des Modells der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004) in Kombination mit neurowissenschaftlichen Belegen über die neuronalen Korrelate der ästhetischen Erfahrung wird das Verständnis eines Kunstwerks und der mögliche Zusammenhang mit dem linken dorsolateralen Präfrontalkortex untersucht. Im Folgenden wird das Modell (Leder et al., 2004) sowie die Implikation für die Forschungsfrage erläutert.
2.2 Das Modell der ästhetischen Erfahrung
Das Modell der ästhetischen Erfahrung bildet die mit ästhetischer Erfahrung assoziierten affektiven und kognitiven Prozesse ab. Das Modell ist hierarchisch aufgebaut, es beginnt bei der perzeptuellen Analyse und endet in der ästhetischen Emotion, ferner im ästhetischen Urteil. Zudem werden Regressionen und Feedbackschleifen, zur Reduktion von kognitiver Ambiguität zu Gunsten von Verständnis und affektiver Bewältigung des Kunstwerks berücksichtigt. Gemäß dem Modell (Leder et al., 2004) entsteht die ästhetische Erfahrung in fünf hierarchischen Stufen mit jeweils unterschiedlichen kognitiven Verarbeitungsprozessen: Perzeptuelle Analyse, implizite Klassifikation, explizite Klassifikation, kognitiver Bewältigung und Evaluation. Als Resultat der Verarbeitungsprozesse wird zwischen der so genannten ästhetischen Emotion und dem ästhetischen Urteil differenziert (siehe Abbildung 1). Die ästhetische Emotion spiegelt dabei das Gefühlserleben in Folge der Betrachtung eines Kunstobjekts wieder, wohingegen das ästhetische Urteil eine Aussage über die Präferenz des rezipierten Objekts erlaubt, entweder ein Kunstwerk gefällt oder es gefällt nicht.
Kunstwahrnehmung ist weitgehend idiosynkratisch und liegt im Auge des Betrachters. Leder et al. (2012) belegen in ihrer SEM- analytischen Modellprüfung des Modells der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004), dass Kunst und deren Wahrnehmung ein äußerst subjektiver Teil der menschlichen Kultur ist. Bis zu 40% der Varianz ästhetischer Erfahrungen bei der Betrachtung von Kunstwerken werden der subjektiven Einschätzung des Rezipienten, also dessen Geschmack und Vorliebe sowie weiteren individuellen Komponenten wie dem aktuellen Gemütszustand etc., zugeschrieben.
Am Anfang einer ästhetischen Erfahrung steht also der Rezipient. Die visuelle Wahrnehmung eines Objekts oder eines Kunstwerks bedarf einer Vorklassifikation. Insbesondere bei abstrakter Kunst, welche per se keinen erkennbaren Inhalt abbildet, ist diese wichtig, um das Objekt als Kunstwerk zu erkennen (Belke & Leder, 2006). Diese Vorklassifikation wird durch den Kontext der Kunstrezeption maßgeblich beeinflusst. Brieber, Nadal, Leder und Rosenberg (2014) untersuchten Kontexteffekte bezüglich deren Auswirkung auf die Kunstwahrnehmung. Ihre Ergebnisse zeigen, dass Kunstwerke im musealen Kontext besser gefielen, als interessanter einstuft wurden und die Kunstwerke auch länger betrachtet wurden, als in der Laborbedingung. Der Kontext ist von Bedeutung für die ästhetische Erfahrung. Abbildung 1 illustriert das Modell der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004). Anschließend an die obige Darstellung der Rahmenbedingungen des Modells werden im Folgenden, beginnend bei der perzeptuellen Analyse, die fünf Stufen sowie deren Variablen erläutert.
2.2.1 Die Perzeptuelle Analyse
Ist ein Kunstwerk nun als solches klassifiziert, beginnt die Kunstwahrnehmung mit der ersten Stufe, der perzeptuellen Analyse. Dabei bilden essentielle Komponenten der visuellen Rezeption wie die Komplexität, der Kontrast, die Farbe, die Symmetrie und die Anordnung der Objekte, die Betrachtungsgrundlage (Chatterjee, 2010). Eine durchschnittliche bis überdurchschnittliche Ausprägung dieser Komponenten wird mehrheitlich bevorzugt (Belke & Leder, 2006). Entsprechend Berlynes Theorie der optimalen Aktivierung ist selbige in Folge einer leichten Abweichung (durchschnittliche bis überdurchschnittliche Ausprägung) eines Reizes von der Norm zu finden. Berlyne belegte dies 1970 anhand abstrakter Muster, solche mit durchschnittlicher Komplexität wurden bevorzugt. Tinio und Leder bestätigen in ihrer Studie 2009 Komplexität und Symmetrie als starke Prädiktoren ästhetischer Urteile. Was gefällt ist klar und gut erkennbar. Stark kontrastierte Abbildungen werden positiver eingeschätzt und schneller wahrgenommen. Reber, Schwarz und Winkielman (2004) wiesen dies anhand abstrakter Muster nach. Dabei führte ein erhöhter Figur-Grund-Kontrast, also ein klarer zu erkennendes Muster, zu einer positiveren Einschätzung des wahrgenommenen Musters. Weiterhin führen sowohl Gerger und Kollegen (2011), Höfel und Jacobsen (2007) als auch Tinio und Leder (2009) die Symmetrieeigenschaften eines Objekts als wesentlichen Prädiktor für ästhetische Urteile an. Symmetrische Muster sind nach Shepherd und Bar (2011) einfacher zu verarbeiten. Symmetrie vereinfacht zudem die visuelle Gruppierung. Visuelle Anordnung kann als basales Prinzip visueller Wahrnehmung betrachtet werden (Ramachandran & Hirstein, 1999). Das Prinzip der Figur-Grund-Abgrenzung und die Gruppierung nach Ähnlichkeit können zu einer direkten ästhetischen Erfahrung in Folge augenblicklicher affektiver Reaktionen, bereits im Vorfeld der kompletten Reizidentifikation, führen (Ramachandran & Hirstein, 1999). Ist das Kunstwerk nun perzeptuell analysiert, werden die Resultate der Wahrnehmungsanalyse in Bezug zur persönlichen Vorerfahrung des Rezipienten gesetzt. Dies geschieht auf der Stufe der impliziten Gedächtnisintegration (Leder et al., 2004).
2.2.2 Implizite Gedächtnisintegration
Ästhetisches Erleben beruht unter anderem auf impliziten Gedächtnisprozessen. Als implizite Gedächtnisintegration ist die zweite Stufe des Modells der ästhetischen Erfahrung deshalb zu bezeichnen, weil der Prozess der Gedächtnisintegration nicht zwingend bewusst erfolgt (Leder et al., 2004). Persönliche Vorerfahrungen mit Kunst werden hier bereits integriert. Eigenschaften wie die Vertrautheit (Tinio & Leder, 2009), die Prototypikalität sowie das Peak-Shift Phänomen des Wahrgenommenen beeinflussen die ästhetische Präferenz auf dieser Stufe (Belke & Leder, 2006). Vertrautheit scheint nach Tinio und Leder (2009), verglichen mit Symmetrie und Komplexität an erster Stelle zu stehen. Probanden, welche im Vorfeld mit einfach-komplexen Stimuli vertraut gemacht wurden, bevorzugten diese gegenüber den durchschnittlich-komplexen Stimuli bei einem Vergleich beider Komplexitätskategorien und umgekehrt (Tinio & Leder, 2009). Anschließend erfolgt die explizite Klassifikation der Information, welche im Anschluss erläutert wird.
2.2.3_Explizite_Klassifikation
Die explizite Klassifikation meint die willkürliche Auseinandersetzung mit dem Kunstobjekt (Belke & Leder, 2006). Dabei sind Inhalt und Stil des Kunstwerks von Bedeutung. Die subjektive Bedeutung von Stil und Inhalt wird von der Expertise des Rezipienten moderiert. In Folge des bei abstrakter Kunst ohnehin schwer zu definierenden Abbildungsinhalts liegt der Schwerpunkt der Perzeption insbesondere bei Experten auf den stilistischen Merkmalen. Die gelungene Zuordnung von Stil und Inhalt entspricht einem erfolgreichen Problemlösen (Belke & Leder, 2006). Weiterhin wird die ästhetische Erfahrung durch das persönliche Interesse und den subjektiven Geschmack beeinflusst. Die beiden letzteren Punkte treffen wesentlich auf Laien zu (Leder et al., 2004). Entsprechend den Annahmen des Modells führt eine erfolgreiche Verarbeitung, also das erfolgreiche Erkennen des Stils und des Inhalts eines Kunstwerks, zu einem angenehmen Gefühl, ferner zur Selbstbelohnung. Die Resultate dieser Stufe werden einer nachfolgenden Reflexion unterzogen. Dies geschieht auf der Stufe der kognitiven Bewältigung (Belke & Leder, 2006).
2.2.4 Kognitive Bewältigung
Die vierte Stufe des Modells, die der kognitiven Bewältigung des Kunstwerks, ist über eine Schleife mit der vorherigen Stufe der expliziten Klassifikation verbunden. Diese Schleife ermöglicht eine wiederholte Überarbeitung der Information auf der untergeordneten Stufe. Mit anderen Worten ist die kognitive Bewältigung nicht erfolgreich, also die Ambiguität zu hoch, kann die ästhetische Information auf der Stufe der expliziten Gedächtnisintegration erneut überarbeitet werden (Leder et al., 2004). Die Suche nach semantischem Inhalt und Verständnis prägen die vierte Stufe des Modells (Leder et al., 2004). Der Rezipient versucht das Gesehene willkürlich zu interpretieren und eine Verbindung mit seinem bisherigen Wissen herzustellen. Dieser intentionale top-down geleitete Wahrnehmungsprozess ist, so nehmen Leder et. al. (2004) an, bei Laien und Experten unterschiedlich. Deshalb enthält das Modell zwei Formen der Interpretation. Eine kunstbezogene Art der Interpretation wird den Experten in Folge ihres fachspezifischen Wissens zugeschrieben. Wohingegen eine selbstbezogene Interpretation vermehrt auf Laien zutrifft. Die beiden Stufen Kognitive Bewältigung und Evaluation sind eng miteinander verknüpft, da sie eine ständige Rückmeldung über den Status des ästhetischen Erlebens ermöglichen (Leder et al., 2004). Es erfolgt eine ständige Evaluation der kognitiven Bewältigung hinsichtlich eines erfolgreichen Verstehens des Kunstwerks. Die fortlaufende Erfolgsevaluation moderiert den ästhetischen Prozess mit dem Ziel, die erlebte Ambiguität auf ein für den Rezipienten akzeptables Niveau, im Sinne des Affekt Infusion Modells (Forgas, 1995), zu reduzieren (Belke & Leder, 2006). Das Verstehen eines Kunstwerks führt zu einer Aktivierung der Belohnungszentren im Gehirn (Ramachandran & Hirstein, 1999) und kann neben affektiven Reaktionen als ein wesentlicher Teil der ästhetischen Erfahrung betrachtet werden (Leder et al., 2006). Mit zunehmendem Verständnis steigt auch die ästhetische Erfahrung (Swami, 2013). Die Integration von kognitiven und affektiven Prozessen der ästhetischen Erfahrung erfolgt während der fünften Stufe der Evaluation.
2.2.5 Evaluation
Als Besonderheit der letzten Stufe des Modells kann die Integration des kumulierten affektiven Status betrachtet werden. Auf jeder Stufe (1 bis 5) wird ein von der darauf folgenden Stufe unabhängiger affektiver Status (positiv oder negativ) gebildet. Beide Komponenten, die kognitiven und die affektiven Reaktionen, werden auf der Stufe der Evaluation gemeinsam bewertet und münden in zwei, meist gleichsam ausgeprägten Resultaten (Belke & Leder, 2006) – dem ästhetischen Urteil und der ästhetischen Emotion (Leder et al., 2004; Leder & Nadal, 2014). Die Evaluation der kognitiven Bewältigung bildet das ästhetische Urteil, während die ästhetische Emotion das Ergebnis der über die einzelnen Stufen kumulierten, affektiven Reaktionen ist. Die beiden ästhetischen Resultate sind in ihrer Ausprägung meistens ähnlich, allerdings ist im Falle einer positiven ästhetischen Emotion auch ein negatives ästhetisches Urteil möglich. Diese Differenz tritt hauptsächlich bei Kunstexperten (Belke & Leder, 2006) in Folge der durch die Expertise veränderten Kunstwahrnehmung auf (Hekkert & van Wieringen, 1996). Gemäß Leder, Gerger, Brieber und Schwarz (2014) unterscheiden sich Experten von Laien hinsichtlich ihrer ästhetischen Verarbeitungsprozesse. Experten beachten bereits während der perzeptuellen Analyse deutlicher objektive und strukturelle Eigenschaften eines Kunstwerks (Winston & Cupchik, 1992), während Laien Kunst vornehmlich emotional und selbstreferenziert betrachten. So ist einem Kunstexperten die Dissoziation zwischen einer positiv ausgeprägten ästhetischen Emotion und einem negativen ästhetischen Urteil nicht fremd, da er in der Lage ist, trotz einem negativ ausgeprägten ästhetischen Urteil, den Prozess der erfolgreichen kognitiven Bewältigung als affektiv positiv zu realisieren (Leder et al., 2004). Das Modell der ästhetischen Wahrnehmung schafft eine Grundlage für die empirische Forschung und die Theorieentwicklung (Leder & Nadal, 2014).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Das Modell der ästhetischen Erfahrung. Abbildung adaptiert aus (Leder & Nadal, 2014).
Das Modell bildet auf kognitiv-affektiver Ebene die theoretische Grundlage der vorliegenden Studie. Die zentrale Variable ist das Verständnis eines Kunstwerks. Das Verstehen eines Kunstwerks ist als essentiell zu betrachten (Leder et al., 2006) und basiert auf den inhaltsgebundenen Repräsentationen während der expliziten Klassifikationsphase (siehe Abbildung 1) (Leder et al., 2004). Das eigentliche Verständnis entsteht während der Stufen der kognitiven Bewältigung und der Evaluation, welche über eine Schleife verbunden sind (Leder et al., 2006). Neben der Phase der expliziten Klassifikation ist das ästhetische Urteil als Resultat der kognitiven Bewältigung, ferner dem Verständnis, von Bedeutung. Entsprechend dem Modell der ästhetischen Erfahrung beginnt das ästhetische Erleben mit der perzeptuellen Analyse als bottom-up Prozess, der Bildkonstruktion, gefolgt von top-down Prozessen der kognitiven Verarbeitung (implizite Gedächtnisintegration, explizite Klassifikation und kognitive Bewältigung), ständig begleitet von affektiven Reaktionen (Leder et al., 2004). Die komplexe Interaktion zwischen kognitiven und affektiven Prozessen ergibt schlussendlich die ästhetische Erfahrung (Nadal & Pearce, 2011). Eine direkte Übertragung des Modells auf assoziierte neuronale Korrelationen, gestaltet sich auf Grund der noch vagen Zuordnung neuronaler Aktivitäten zu kognitiven Prozessen schwierig (Nadal et al., 2008). Die Identifikation biologischer Grundlagen ästhetischer Erfahrungen obliegt der Neuroästhetik, einem jungen, disziplinübergreifenden Forschungsfeld (Cinzia & Vittorio, 2009).
3 Neuroästhetik
Die Neuroästhetik versucht eine Verbindung zwischen Biologie und Ästhetik durch die Integration von Wissen aus verschiedenen Disziplinen herzustellen (Keller, 2013). Sie ist ein junges und aufstrebendes Forschungsfeld mit dem Schwerpunkt auf den biologischen Grundlagen ästhetischen Erlebens und Schaffens von Objekten. Genauer befasst sich die Neuroästhetik mit den neuronalen Grundlagen kognitiver und affektiver Prozesse während der Rezeption von Kunstwerken, aber auch nicht künstlerischen Objekten (Nadal & Pearce, 2011). Die ästhetische Wahrnehmung ist ein Teil unseres alltäglichen Lebens und kann als subjektives Urteil in Folge der Betrachtung von Kunstwerken oder Landschaften, aber auch von Gesichtern gesehen werden (Cattaneo et al., 2013). Auf kognitiver Ebene ist von einer differenzierten Wahrnehmung zwischen Kunstwerken und Alltagsgegenständen auszugehen (Höfel & Jacobsen, 2007). Dieser Überlegung folgt die neuroästhetische Forschung und versucht speziell Gehirnareale ästhetischer Wahrnehmung zu identifizieren (Brown, Gao, Tisdelle, Eickhoff, & Liotti, 2011). Die Ursprünge der Neuroästhetik finden sich in den Disziplinen der Psychologie, der philosophischen Ästhetik, der Evolutionsbiologie und der Neurowissenschaften. Bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts näherten sich die verschiedenen Disziplinen einander an, um die ästhetische Erfahrung zu untersuchen (Nadal & Pearce, 2011). Der Neologismus Neuroästhetik als Kombination aus Neurologie und Ästhetik wurde 1999 erstmals von Zeki manifestiert (vgl. Silvia, 2009). Die Kombination der verschiedenen Disziplinen zeichnet sich bis heute in einer heterogenen Forschungslandschaft ab. Jede der Disziplinen verfolgt ihre eigenen Fragen und Interessen. Ein empirischer Konsens über die zentralen Fragen und Forschungsansätze steht innerhalb der Neuroästhetik noch zur Diskussion (Nadal & Pearce, 2011). Zum aktuellen Zeitpunkt steht die Disziplin der Neuroästhetik allerdings an einem historischen Wendepunkt, bereit dazu die einstige Randposition hinter sich zu lassen (Chatterjee & Vartanian, 2014). Mit der Entwicklung nicht invasiver, neurophysiologischer Verfahren wie der Elektroenzephalografie (EEG) und bildgebender Verfahren, wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) und der Magnetenzephalographie (MEG), hauptsächlich im Bereich der Neurowissenschaften, war es erstmals möglich das ästhetische Erleben am lebendigen und gesunden Gehirn unter kontrollierten Bedingungen zu studieren (Cinzia & Vittorio, 2009; Nadal, 2013). Im Vorfeld dieser Entwicklung stand die Untersuchung am verletzen Gehirn oder post mortem (Nadal & Pearce, 2011). Als gängige Operationalisierung des ästhetischen Erlebens ist vor allem die Bewertung eines meist visuellen Reizes als schön oder hässlich mittels einer Ratingskala anzuführen (Cinzia & Vittorio, 2009). Die Validität dieser Strategie basiert allerdings auf der Vermutung, dass die ästhetische Erfahrung folgerichtig zerlegt und quantifiziert werden kann (Nadal & Pearce, 2011). Die externe Validität wird auf Grund der mehrheitlich unter kontrollierten Laborbedingungen durchgeführten Experimente von Nadal und Pearce (2011) in Frage gestellt und kritisch diskutiert.
Aktuelle Forschungsergebnisse weisen deutlich auf ein über beide Hemisphären verteiltes neuronales Netzwerk, anstelle eines einzigen ästhetischen Areals, hin (Nadal & Pearce, 2011). Die neuronale Aktivierung von ästhetischer und nicht ästhetischer Wahrnehmung unterscheiden sich (Höfel & Jacobsen, 2007). Als wesentliche Komponenten dieses ästhetischen Netzwerks stellen Nadal und Pearce (2011) in ihrer Rezension über die Copenhagen Neuroaesthetics Conference drei Gehirnregionen heraus. Alle drei Regionen scheinen gleichermaßen bei der ästhetischen Wahrnehmung von Bildender Kunst, Musik und Tanz aktiviert zu sein, beginnend bei einer Aktivitätssteigerung der nieder-kortikalen sensorischen Verarbeitung, über subkortikale Regionen bis hin zu top-down regulierten Prozessen höherer Ordnung (Nadal & Pearce, 2011). Als top-down gesteuerte Prozesse sind die Aufmerksamkeitssteuerung, das Abrufen von Erinnerungen und Erfahrungen sowie die Bewertung des betrachtenden Objekts zu nennen. Diese Prozesse sind mit den präfrontalen, parietalen und temporalen kortikalen Regionen assoziiert (Nadal, 2013; Nadal & Pearce, 2011). Weiterhin ist eine verstärkte Aktivität der Belohnungszentren einschließlich des anterioren-cingulären, orbito-frontalen und ventro-medialen Kortex sowie der präfrontalen und subkortikalen Regionen wie dem Nucleus caudatus, der Substantia nigra und dem Nucleus accumbens zu verzeichnen. Sowohl der Amygdala, dem Thalamus als auch dem Hippocampus werden regulierende Funktionen zugewiesen (siehe Abbildung 2) (Nadal, 2013; Nadal & Pearce, 2011). Die an der ästhetischen Erfahrung beteiligten Gehirnareale scheinen ihren Ursprung in den Hirnarealen für die Auswahl von Lebensmitteln und Geschlechtspartnern zu haben. Es ist anzunehmen, dass diese Areale im Laufe der Evolution für die ästhetische Erfahrung adaptiert wurden (Brown et al., 2011). Obwohl ästhetische Objekte keinerlei dem Überleben dienliche Funktionen, verglichen mit Nahrung oder Geschlechtspartnern einnehmen, sind sie für Menschen von großem Wert (Vessel, Starr, & Rubin, 2012). Brown und Kollegen (2011) weisen an dieser Stelle auf die soziale Komponente von Kunst, im Sinne einer dem Überleben dienlichen Funktion, hin.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Hirnregionen, welche bei der ästhetischen Erfahrung von Kunst beteiligt sind. Prozesse der Evaluation, der Aufmerksamkeitssteuerung sowie Gedächtnisprozesse sind mit diesen Regionen assoziiert. Abbildung adaptiert aus (Nadal, 2013).
Was unterscheidet also die kognitiven Prozesse ästhetischer Präferenz von denen anderer visueller Reize? Die ästhetische Wahrnehmung scheint auf neuronaler Basis über die Grenzen simpler Objekterkennung hinauszugehen (Nadal et al., 2008). Leder und Nadal (2014) sehen den Schlüssel zum Verständnis der neurologischen Grundlagen ästhetischer Erfahrungen im Verständnis der Interaktionsdynamik zwischen allen involvierten Regionen des Netzwerks (Leder & Nadal, 2014; Nadal et al., 2008; Nadal & Pearce, 2011)
3.1 Neuronale Korrelate ästhetischer Wahrnehmung
Neuroästhetische Forschung mit bildgebenden Verfahren verfolgt das Ziel, die mehrheitlich mit der Entscheidung über Schönheit und Gefallen als operationalisiertes ästhetisches Urteil assoziierten neuronale Aktivitäten zu identifizieren. Der Präfrontalkortex scheint als Produkt der menschlichen Evolution (Leisman, Macahdo, Melillo, & Mualem, 2012), neben dem parietalen Kortex (Cattaneo et al., 2014) und dem primären visuellen Kortex, für die ästhetische Wahrnehmung sowie für objektspezifische Eigenschaften wie Form und Farbe verantwortlich zu sein (Cela-Conde et al., 2004). Noch vor zehn Jahren, in den Anfängen der Forschung mit bildgebenden und neurophysiologischen Verfahren (Leder & Nadal, 2014), konstatierten Cela-Conde et al. (2004) den geringen Wissensstand über die Beziehung zwischen dem Präfrontalkortex und der ästhetischen Wahrnehmung. Ziel ihrer MEG- Studie war es, Gehirnareale, welche während der Wahrnehmung ästhetischer Objekte aktiv sind, zu identifizieren. Sie forderten acht Probanden auf den Finger zu heben, sobald sie einen der präsentierten Bildreize als schön empfanden. Eine deutliche Aktivierung des linken dorsolateralen Präfrontalkortex konnte zwischen 400 und 900 ms nach der Reizpräsentation bei als „schön“ befundenen Reizen festgestellt werden (Cela-Conde et al., 2004). Die Ergebnisse einer weiteren MEG Studie zeigen ebenfalls eine Aktivitätssteigerung zwischen 300 und 400 ms nach der Reizpräsentation bei schönen Bildern (Munar, et al., 2012). Visuelle Schlüsselreize wie Farbe, Symmetrie und Komposition werden ebenso wie die dazugehörigen Kontextinformationen bereits nach 200 bis 300 ms registriert. Besondere Aktivität konnte dabei in den parietalen Regionen verzeichnet werden (Noguchi & Murota, 2013). Die ästhetische Wahrnehmung ist ein Prozess, welcher zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehrere kognitive Operationen, in verschiedenen Hirnregionen, nach sich zieht (Nadal et al., 2008). Jacobsen und Höfel (2003) schlagen ein zwei Stufen Modell der zeitlichen Abfolge ästhetischer Verarbeitung vor. Während der ersten Phase beginnend ab 300 ms nach der Reizpräsentation wird der erste Eindruck gebildet (Jacobsen & Höfel, 2003). Ab einer Betrachtungsdauer von 600 ms ist von einer tieferen ästhetischen Verarbeitung des visuellen Reizes auszugehen (Jacobsen & Höfel, 2003). Die kortikalen Aktivitäten zwischen 300 und 900 ms entsprechen sowohl der ersten als auch der zweiten Phase der zeitlichen Abfolge der ästhetischen Wahrnehmung. Wobei der linke Präfrontalkortex bei schönen Reizen verglichen mit hässlichen Reizen eine signifikant höhere Aktivität aufwies (Cela-Conde et al., 2004). Der lDLPFC kann demnach Teil eines neuronalen Netzwerks sein, welches in enger Beziehung zur bewussten, ästhetischen Wahrnehmung steht und maßgeblich in die Generierung ästhetischer Urteile involviert ist (Cela-Conde et al., 2004; Chatterjee, 2010).
Kawabata und Zeki (2004) untersuchten ebenso die neuronalen Korrelate der Schönheit. Dabei wurde im Genaueren untersucht, inwiefern es Hirnareale gibt, die aktiv sind, wenn Personen ein Gemälde als schön wahrnehmen und ob es Gehirnareale gibt, welche spezifisch aktiv sind, wenn Bilder als hässlich wahrgenommen werden (Kawabata & Zeki, 2004). Mit Hilfe des fMRTs lokalisierten sie neuronale Aktivitäten während ihre Probanden die Kunstwerke, unabhängig von der künstlerischen Kategorie (Portrait, Landschaft, Stillleben), als schön oder hässlich bewerteten. Dabei entspricht die Bewertung eines Reizes einem Entscheidungsprozess (Nadal et al., 2008). Die Bewertung erfolgte über drei innerhalb des Scanners installierte Knöpfe entsprechend den Bewertungskriterien (schön, neutral und hässlich). Die Probanden bewerteten die Bilder zwei Mal, ein Mal im Vorfeld und zum zweiten Mal während des fMRT- Scans. Die Beurteilung eines Gemäldes als schön über alle Kategorien hinweg, korreliert mit spezifischen Hirnregionen, vor allem dem orbito-frontal Kortex (BA 11) (Chatterjee, 2010; Vartanian & Goel, 2004). Die Ergebnisse zeigen zudem eine unterschiedlich starke Aktivierung des Motorkortex zwischen den Bewertungen schön und hässlich. Die Aktivierung bei der Bildbewertung als hässlich war ausgeprägter (Kawabata & Zeki, 2004). Die Frage nach der neuronalen Grundlage des Schönen können Kawabata und Zeki (2004) nicht erschöpfend beantworten, sie vermuten jedoch eine mögliche Antwort in den Belohnungszentren des Gehirns. Es ist von einer unterschiedlich starken Belohnung von schönen und hässlichen Wahrnehmungen im Sinne der emotionalen Valenz auszugehen (Kawabata & Zeki, 2004).
Die ästhetische Präferenz von Malerei und deren neuronalen Entsprechungen untersuchten auch Vartanian und Goel (2004) in einer weiteren fMRT- Studie. Ihren Probanden wurden 20 gegenständliche und 20 abstrakte Gemälde in unterschiedlichen Ausprägungen (original vs. modifizierte Bilder) präsentiert. In den modifizierten Bildern wurde mittels Photoshop ein abgebildetes Objekt an einer anderen Stelle auf der Bildfläche positioniert. Ziel dieser Manipulation war es, mögliche Auswirkungen der veränderten Bildkomposition auf die ästhetische Präferenz zu überprüfen. Die Probanden sollten die Bilder hinsichtlich ihrer ästhetischen Präferenz bewerten (Vartanian & Goel, 2004). Die Ergebnisse zeigen eine reduzierte Aktivierung des rechten Nucleus caudatus bei geringer Präferenz. Während bei bevorzugten Bildern eine gesteigerte Aktivierung der bilateralen okzipitalen Windungen des linken cingulären Sulcus sowie der bilateralen spindelförmigen Windungen und des Kleinhirns festzustellen waren (Vartanian & Goel, 2004). Weiterhin wurde eine gesteigerte Aktivität in den Hinterhauptpolen, dem Precuneus und des posterioeren temporalen Gyrus in Zusammenhang mit gegenständlichen Bildern festgestellt. Vartanian und Goel (2004) sehen in den heterogenen Aktivierungsmustern der oben angeführten Regionen, ebenso wie Kawabata und Zeki (2004), einen Hinweis auf eine belohnungsbasierte Reizbewertung, welche über die jeweilige emotionale Valenz der präsentierten Bilder variiert (Vartanian & Goel, 2004). Die Studien deuten darauf hin, dass affektive Prozesse eine wichtige Position bei der Bewertung visueller Kunst hinsichtlich ihrer ästhetischen Präferenz einnehmen. Allerdings ergibt erst die Integration affektiver und kognitiver Prozesse ein ästhetisches Urteil (Nadal et al., 2008). Diese Ergebnisse decken sich mit den Annahmen des Modells der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004; Leder & Nadal, 2014), entsprechend der komplexen Interaktion zwischen den kumulierenden, emotionalen Affekten während der fünf Stufen und den kognitiven Prozessen der Bildverarbeitung (Leder & Nadal, 2014). Den Ergebnissen von Cela-Conde et al. (2004) sowie Kawabata und Zeki (2004) folgend, ist der (prä- und) orbitofrontale Kortex bei der ästhetischen Wahrnehmung von Bedeutung.
Lengger et al. (2007) untersuchten mögliche Auswirkungen stilistischer Informationen während der Bildpräsentation auf die Verarbeitung und das ästhetische Urteil bei abstrakter und gegenständlicher Kunst. Sie erhoben die neuronalen Korrelate der ästhetischen Erfahrung mittels langsamer kortikaler Potenziale (SCP) (Lengger et al., 2007). Den Probanden wurden gegenständliche und abstrakte Bilder unter zwei Bedingungen (mit oder ohne Stilinformation) präsentiert. Ihre Aufgabe war es, die Bilder hinsichtlich des Bildverständnises und der ästhetischen Qualität zu bewerten. Eine gesteigerte Aktivität konnte sowohl im linken Frontallappen als auch in den bilateralen Schläfenlappen für gegenständliche Kunst nachgewiesen werden (siehe Abbildung 2) (Lengger et al., 2007). Weiterhin wurde gegenständliche Kunst als interessanter bewertet und besser verstanden als abstrakte Kunst. Das Verständnis wurde in Kombination mit der stilistischen Information gesteigert, führte aber gleichzeitig zu einem Rückgang der kortikalen Aktivierung in der linken Hemisphäre (Leder et al., 2006; Lengger et al., 2007). Ohne die Information nahm die Aktivität in den linken Frontal- und Parietallappen zu. Lengger und Kollegen (2007) führen dies auf eine erschwerte Verarbeitung zurück, in deren Folge die Probanden auf sinnvolle Konzepte in ihrem Gedächtnis zurückzugreifen versuchen, um das Bild zu verstehen.
Die ästhetische Erfahrung wurde in den oben angeführten Studien (Cela-Conde et al., 2004; Kawabata & Zeki, 2004; Lengger et al., 2007; Vartanian & Goel, 2004) mehrheitlich als Entscheidungsaufgabe operationalisiert.
Cupchik et al. (2009) versuchten die ästhetische Wahrnehmung per se via eines fMRT- Scanners zu erfassen. Sie forderten ihre Probanden auf, die präsentierten Bilder zum einen aus einer ästhetischen und zum anderen aus einer pragmatischen Perspektive zu betrachten. Die Bildwahrnehmung erfolgte ohne eine Bewertung der Bildreize (Cupchik et al., 2009). Cupchik et al. (2009) erwarteten eine Aktivitätssteigerung im Präfrontalkortex (PFC) während der ästhetischen Betrachtungsbedingung. Die Ergebnisse des fMRI- Scans weisen auf eine Aktivierung des linken lateralen PFC während der ästhetischen Bedingung hin. Dennoch geht aus dem Experiment nicht eindeutig hervor, dass dieser Unterschied der Ästhetik zuzuordnen ist. Das Experiment zeigt, dass ein Objekt unter verschiedenen Bedingungen zu unterschiedlichen neuronalen Aktivierungen führen kann (Chatterjee, 2010). Cupchik et al. (2009) ordnen den Präfrontalkortex einem ästhetischen Netzwerk zu.
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[1] Die hier und im Folgenden gewählte männliche Form schließt die weibliche mit ein und soll nicht diskriminierender Natur sein, sondern den Lesefluss in den Augen des Verfassers begünstigen.
- Arbeit zitieren
- Sebastian Jonas Ruppert (Autor:in), 2016, tDCS. Das Verständnis und die Kunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315117
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