Mary Cassatt ist, falls überhaupt bekannt, als die Malerin des Mutter-Kind-Sujets in die Kunstgeschichte eingegangen. Diese Perzeption ihrer Kunst, ihres Oeuvres ist durch den idyllisch anmutenden Malstil sowie der dargestellten privaten Szenen leicht nachvollziehbar. Bereits zu Lebzeiten galten ihre Bildnisse als anmutig wie realitätsgetreu. Im Kontext des Feminismus wurde diese Sichtweise einer starken Malerin mit ausgeprägtem Eigencharakter manifestiert, nachweisbare inhaltliche wie visuelle Adaptionen des klassischen, sakralen Maria-mit-Jesus Sujets waren unerwünscht und folglich ignoriert worden, hätte doch der Ausnahmecharakter dadurch gefährdet werden können.
Dass die Adaption sowie visuelle Umformulierung sakraler Sujets durch Cassatt vorgenommen wurde, dennoch die malerische Reputation dadurch anstatt geschmälert vielmehr untermauert wird, beweist die vorliegende Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1.0 Einleitung
2.0 Cassatts Perzeption in den Medien von damals bis heute
3.0 Der Feministische Blick
3.1 Cassatt nach Pollock
3.2 Mary Cassatts Mutter-Kind-Darstellungen nach Pollock
3.3 „the ages of women“ - Cassatt als Malerin des weiblichen Lebenszyklus
3.4 Nacktheit - Sinnlichkeit - Erotik
3.5 Maria mit dem Jesuskind
3.6 Cassatts künstlerische Mittel nach Pollock
4.0 Visuelle Vorbilder Cassatts
5.0 Madonna mit Kind in der Malerei
5.1 Theotokos - Gottesgebärerin
5.2 Hodegetria
5.3 Maria Lactans
5.4. Eleusa
5.5 Pelagonitissa - Maria mit spielendem Kind
5.6 Mariendarstellungen nach dem 13.Jh. bis heute
5.7 Resümee europäisch-sakraler Mutter-Kind-Darstellungen
6.0 Cassatts Mutter-Kind-Bildnisse im direkten Vergleich sakraler Kunstwerke: Cassatts Theotokosinterpretation
6.1 Cassatts Hodegetria-Interpretation
6.2 Cassatts Maria Lactans-Adaption
6.3 Cassatts Eleusa-Adaption
6.4 Pelagonitissa und Cassatts mögliche Adaption
7.0 Sozial-historische Realitäten
7.1 Ariès Deutungsweise der Kindheit
7.2 Wirtschaftliche Realitäten Europas
7.3 Resümee
8.0 Cassatt postum
8.1 Georg Schrimpf: Mittagsrast
8.2 Vaclav Bostik: Die Jungfrau und das Jesuskind
8.3 Milton Avery: Maternity
8.4 Thomas Bayrle: Madonna Mercedes
8.5 Alfredo Bikondoa: Dei Genitrix
8.6 Cassatt und die zeitgenössische Kunst
9.0 Zusammenfassung
10.0 Short Summary: German/English
11.0 Literaturverzeichnis
12.0 Abbildungsverzeichnis
1.0 Einleitung
Mary Cassatt: Der Name steht für eine Künstlerin, deren Kunstwerke in den Museen dieser Welt dem Publikum sowohl dauerhaft zugänglich als auch durch Sonderausstellungen im Zusammenhang mit der Epoche des Impressionismus regelmäßig zur Anschauung repräsentiert werden und dennoch sind weder der Name noch das Oeuvre sonderlich bekannt. Selbst dem Laien fällt in Bezug auf das Stichwort “Impressionismus“ ad hoc eine kleine Liste namhafter Maler ein: Renoir, Manet, Monet oder Degas, aber Cassatt? Wer soll das sein?
Sowohl zu Lebzeiten als auch lange nach ihrem Tod wurde dem Oeuvre Cassatts gegenüber relativ wenig Beachtung geschenkt. Im Kontext des entstehenden sowie sich ausbreitenden Feminismus geriet schließlich das Werk der Malerin in den ersten, ernst zu nehmenden Fokus der Aufmerksamkeit.
Die vorliegende Arbeit widmet sich ausführlich dem Oeuvre der Malerin. Ein besonderer Schwerpunkt der Untersuchung ruht hierbei auf den Mutter-Kind- Darstellungen. Dieses Sujet gilt seit der gesellschaftlich-kulturellen Bewegung des Feminismus als das Kernthema ihrer Arbeit.
Es stellt sich die Frage: Warum sollte eine Arbeit über das vermeintlich Offensichtliche - Cassatt ist schließlich die Malerin der Mutter-Kind-Bildnisse - geschrieben werden? Die Antwort auf diese Frage fällt so einfach wie präzise aus: Die Deklarierung eines Werkes erklärt nicht das Werk, ersetzt keine ikonographische Interpretation, sondern verhindert diese ggf. aufgrund des bereits vorzeitig gefällten Urteils. Es gilt den Blick zu schärfen, das Werk im Kontext seiner Entstehung zu lesen. Der Titel dieser Arbeit lautet mit Bedacht Cassatt: Im Zwielicht der Kunst.
Das Zwielicht beschreibt nicht nur einen Zustand schwieriger Lichtverhältnisse, welche das Sehen erschweren, sondern gleichermaßen einen der Dämmerung. Metaphorisch betrachtet befindet Cassatts Oeuvre sich an diesem Ort des Zwielichts. Das Können der Malerin steht in einer unausgewogenen Relation zu ihrer Anerkennung. Um diesen Aspekt aufzuzeigen, wurde die vorliegende Arbeit geschrieben.
Zunächst wird ein Schlaglicht auf die Perzeption von Cassatts Schaffen in den Medien, deren Ausmaß und Inhalt, geworfen. Gefolgt wird dieses Schlaglicht durch eine detaillierte Erörterung der feministischen Perspektive zu Cassatts Kunst, insbesondere zu den Mutter-Kind-Darstellungen. Gefolgt wird diese kritische Auseinandersetzung durch Vorstellung malerischer Vorbilder Cassatts. Diese Vorbilder sind relevant, weil Sie den Ursprung von Cassatts Mutter-Kind- Sujet - sowohl thematisch wie künstlerisch - aufzeigen.
Die Vorstellung einzelner, malerischer Vorbilder bzw. der von ihnen behandelten Motive, führt die weitere Recherche unabdingbar auf das sakrale Gebiet der Kunstmalerei, präzise das Thema der Maria mit dem Jesuskind. Es werden einzelne, für die Untersuchung relevante Marientypen prägnant vorgestellt, um alsdann in den direkten Vergleich zu Cassatts Mutter-Kind- Darstellungen gesetzt zu werden. Warum wird dieser Aufwand betrieben? Weil es gilt, Cassatts Mutter-Kind-Darstellungen aus dem Zwielicht der vermeintlich realen, alltäglichen Mutter-Kind-Idylle in das Licht der Reflexion, ergo erweiterte Interpretation wie Wahrnehmung zu rücken. Cassatts Bildnisse mögen bei oberflächlicher Betrachtung als idyllische Alltagsmomente abgetan werden, doch die zu Recht subtil versteckten Intentionen der Malerin erschließen sich dem gewissenhaften Beobachter durchaus peu à peu.
Anschließend wird der Fokus auf die sozial-historischen Realitäten zu Cassatts Lebzeiten gelegt. Viel zu regelmäßig wird bis in die heutige Zeit hinein der Malerin Realitätsnähe attestiert. Der Blick auf die Realitäten des Alltags dient zur Korrektur dieser bereitwillig vorgenommenen Ansicht. Beendet wird diese Untersuchung mit dem Blick auf Mutter-Kind-Darstellungen nach Cassatts Ableben bis in die Jetztzeit hinein. Diese Ausführung rundet die These, dass Cassatt mehr als nur reale Mutter-Kind-Szenen darzustellen beliebte, ab und unterstützt die vorangegangene These in wesentlichen Elementen.
2.0 Cassatts Perzeption in den Medien von damals bis heute
Um den gegenwärtigen kunsthistorisch als auch kulturellen Umgang mit Cassatts Malerei zu verstehen, ist ein Blick in die Wahrnehmung ihrer Malerei durch Zeitgenossen jener bis heutiger Zeit notwendig, weil aufschlussreich. Mit welchem Blick, welcher Beurteilung, welcher Kritik wurde ihre Malerei im Allgemeinen betrachtet?
Noch zu Cassatts Lebzeiten schrieb man über ihre Darstellungen. Das Art Journal schrieb 1876 n. Chr. im Zusammenhang über die Ausstellung in der Akademie der Künste von Philadelphia aus selbigem Jahr:
Two or three paintings by Miss Mary Cassatt are powerful, replete with thoughtful individuality. This lady’s works are known to the New York public, and are so peculiar that it is difficult to define them. (…) We should like to see more of this lady’s pictures, but we imagine that, as they have so distinct a character, she cannot paint many of them.1
Zwei oder drei Bilder der Malerin sind als kraftvoll, angefüllt mit überlegter Individualität beschrieben. Ihre Arbeit sei eigentümlich, sodass es schwierig ist, sie zu kategorisieren. Man würde zwar gerne wesentlich mehr von dieser Art Malerei, von dieser Künstlerin sehen, dennoch sei es schwierig sich vorzustellen, dass dies möglich sei. Zumal ihre Malerei so charakteristisch ist, dass Cassatt unmöglich mehr davon malen könne. Aus diesem Zitat geht eine Wertschätzung von Cassatts Malerei als auch ihrer Persönlichkeit hervor. Selten ist zu jenen Zeiten der Wunsch nach mehr Malerei von einem Künstler zu lesen, schon gar nicht von einer Frau.
Es gilt formal in Bezug auf dieses Zitat zu berücksichtigen, dass Cassatt ihre erste künstlerische Ausbildung an der Academy of Fine Arts in Philadelphia genoss. So lobend und positiv diese Resonanz auf die wenigen ausgestellten Bilder auch ausfällt, muss diese dennoch unter dem soeben hervorgehobenen Hinweis betrachtet werden. Eine ehemalige Schülerin als künstlerisch unbegabt zu deklarieren, dürfte den wenigsten künstlerischen Akademien im Sinn liegen und so erstaunt es weniger als es sollte, dass die Kunstakademie eine ihrer besten Repräsentantinnen zu Lebzeiten lobt, selbst wenn dieses Lob zugegebener Maßen schwacher hätte ausfallen können. Das Scribner ’ s Monthly schreibt 1888 n.Chr. über Cassatt: „There is an intelligent directness in her touch, and her entire attitude (…).“2 Die Zeitschrift Modern Art schreibt wenige Jahre später, 1895 n.Chr.: „In all sincerity one must declare that, with the exception of Whistler, Miss Cassatt is perhaps the only artist America possesses who exercises a talent, high, personal and distinguished.”3
Erneut sind dies zwei zu Lebzeiten Cassatts entstandene Zitate, die durch Lob und direkte Benennung ihrer Stärken auffallen. Demzufolge habe Cassatt eine intelligente Direktheit in Pinselführung und ihrer allgemeinen Art. Im darauf folgenden Zitat heißt es sogar, Cassatt sei - mit Ausnahme von Whistler - die einzige Künstlerin, die ein hohes Maß an hervorragendem Talent besitze.
Beiden Zitaten liegen wiederholt Achtung und Respekt zugrunde. War das Zitat des Art Journal s von 1876 n.Chr. lokal patriotisch eingefärbt, kann diese Behauptung in Bezug auf die letzten beiden Zitate nicht angewendet werden. Auch acht Jahre nach der ersten Lobpreisung Cassatts, ist das Scribner ’ s Monthly Magazine von der Kunst und dem Können der Künstlerin überzeugt. 1896 n.Chr. schreibt es:
Miss Cassatt’s works, oils, pastels, and dry points, seemed to have so much a style of their own as to at once attract attention - even among those more conventional or more timid who preferred milder methods of painting pictures.4
Das Lob ob des Könnens der Künstlerin scheint kaum zu bändigen. Hieß es zuvor, mehr als zwei, drei gelungene Bilder könne man wohl kaum erwarten ob der Exklusivität, ist nun von mehr als nur von Bildern die Rede. Cassatts künstlerisches Schaffen ist wesentlich expandiert. Von Ölbildern über Pastellzeichungen bis hin zur Druckgraphik verleiht Sie ihrer Kunst Ausdruck. Mehr noch: Ihre Arbeit hat so viel Stil, dass es von jedem Kunstliebhaber Aufmerksamkeit und Achtung erlangt, egal ob dieser Liebhaber nun zu den eher konventionellen oder schüchternen gehöre. Damit ist gesagt, Cassatts Malerei ist universell akzeptabel qua Qualität und Originalität.
Gleichfalls positive Resonanz erfährt Cassatt in der Öffentlichkeit durch die Publikationen des Art and Progress von 1910 n.Chr.: „Her compositions are good, her drawing free and ample, and her color pure.(…) As an etcher as well as an painter she has attained distinction.“5 Das Bulletin of the Cleveland Museum of Art aus dem Jahr 1920 n.Chr. schreibt:
There is perhaps no artist who has sensed so beautifully the feeling of the mother for the child, the spirit of intimate companionship and elemental understanding. A painter of lesser skill might have let such a subject become sentimental, but there is no sentimentality in her brushwork. (…) Mary Cassatt … found her strength lay in representations of childhood and motherhood. In this she has made her important contribution to the cause of modern art. In her chosen field few artists haven even approached her.6
Das Zitat von 1910 n.Chr. ist relativ zurückhaltend bezüglich detaillierten Lobes. Dennoch ist unverkennbar geäußert, dass Cassatts Malerei in Gestaltung wie Ausführung gut, im Zeichnen frei und reichlich, in der Farbe rein sei.
Das Cleveland Museum ist zehn Jahre später, 1920 n.Chr., bezüglich Ehrung spezifischer. Diesem zufolge hat kein anderer Künstler wie Cassatt das Thema der Mutter-Kind-Darstellung so sensibel, gleichzeitig so unkitschig dargestellt. Cassatt hat diesem Zitat folgend ihr künstlerisches Sujet in repetitiver Widergabe von MutterKind-Darstellungen gefunden und so ihren Beitrag zur Moderne geleistet. In diesem Bereich haben die wenigsten Künstler annähernd das geleistet, wie Sie.
In beiden Zitaten liegt der Schwerpunkt auf dem malerischen Können, der Anerkennung dessen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die zitierten Quellen ausnahmslos vor Cassatts Tod entstanden und - damals wie heute - es in Kunstkreisen die Ausnahme darstellt lebende Künstler zu lobpreisen (es sei denn zur Steigerung des Marktwertes), ist Cassatts Status als anerkannte, renommierte Malerin durchaus beeindruckend.
Doch wie fällt Cassatts Kritik nach ihrem Tod 1926 n.Chr. aus? Haben sich Sichtweise, Umgang und Wahrnehmung geändert? Wird Cassatt stetig ausnahmslos gelobt ob ihres Könnens oder schalten sich kritische Stimmen ein, die Cassatts Kunstfertigkeit in Frage stellen, und wenn ja, mit welcher Begründung? Einer der ersten Nachrufe stammt aus der amerikanischen Zeitschrift The Arts von 1927 n.Chr., einem Jahr nach Cassatts Tod in Frankreich.
Art does not descend full-fledged from the sky. It is a growth and requires a favorable soil. Miss Cassatt’s talent had the attachment to the soil that it needed. It had the training of the great European museums in its formative years, and it had contact with the best French painters of the day. (…) Her clear and candid vision of truth, her sure taste, her training, and the strength of her character have combined to produce an art that places her unquestionably in the front rank of American painters.7
Hier ist die Rede von einem ehrlichen, aufrichtigen Blick für die Wahrheit. Hinzu kommt die Kombination aus Training, Ausdauer und Charakterstärke, die Cassatt ohne Frage zu einer der Künstlerinnen Amerikas gemacht haben.
In diesem posthumen Zitat ist zum wiederholten Male die Kunstfertigkeit Cassatts Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein weiterer, beinahe unbeachteter Punkt, ist dieser Kritik angefügt: Cassatt wird in diesem Artikel eindeutig als amerikanische Künstlerin deklariert, eine Eigenschaft, die ihr zu Lebzeiten selten zugeschrieben wurde, vornehmlich durch amerikanische Publikationen.
Das mag in dem Umstand begründet sein, dass Cassatt dieses zugeschriebene Attribut zu Lebzeiten, eine der größten amerikanischen Malerinnen zu sein, schlichtweg hätte bestreiten, im schlimmsten Fall sogar ablehnen können. Schließlich lebte sie seit 1874 n.Chr. bis zu ihrem Tod im Jahr 1926 n.Chr. in Frankreich. Posthum kann ihr dieses Attribut der malenden Amerikanerin, die sich im europäischen Ausland lediglich die Kunstfertigkeit zu eigen machte, welche ihr das eigene Heimatland aufgrund fehlender Historie und Kunst gar nicht hat zur Verfügung stellen können, risikofrei zugeschrieben werden. Diesen Punkt gilt es bei nachfolgenden Erforschungen in Erinnerung zu behalten. Nach 1927 n.Chr. erschienen keine weiteren, nennenswerten Kritiken, weder in Zeitschriften noch in publizierten Büchern Cassatt und ihre Malerei verschwanden nach dem Abklang des Impressionismus in Frankreich, zu deren Stilrichtung sie formal gezählt wird, gänzlich von der Kunstfläche. Neue, nachfolgende Kunstrichtungen, nicht zuletzt der erste Weltkrieg, beherrschten das allgemeine Interesse der Bevölkerung.
Erst 1944 n.Chr., gegen Ende des zweiten Weltkrieges, erscheint eine Cassatt gewidmete Buchpublikation. Dort heißt es u.a.: „Strength, not sweetness, truth, not romance were her objectives from the outset.”8 Stärke, nicht Freundlichkeit, Wahrheit, nicht Romantik sind Cassatts Zielsetzungen. Auffallend häufig ist von Cassatts Wahrheit die Sprache, wie auch in diesem Zitat. Ihre Kunst ist folglich weiterhin als anspruchsvoll geschätzt. Weiter heiß es:
Her choice of theme… the mother and child motive…may seem at variance with her attitude towards art. But these mothers which she represents are no starry - eyed Madonnas gazing worshipfully at their children, but healthy young women taking delight in the charms of the young lives entrusted to them. (…) When one realizes that the majority of these children are scarcely more than infants, it is remarkable how much characterization she has given them.9
Eine neue Komponente ist hinzugekommen. Zum malerischen Können ist das malerische Sujet in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten. Es handelt sich hierbei um ein einziges Sujet, welches Cassatt bis auf den heutigen Tag unumwunden zugeschrieben wird: die Mutter-Kind-Darstellung.
Das Zitat enthält weitere, relevante Anmerkungen. Demzufolge steht Cassatts Auffassung von Malerei im ersten Moment im Widerspruch zu einem tradierten Thema wie der Mutter-Kind-Darstellung. Doch Cassatt hat aus diesem Sujet etwas gänzlich Neues, Anderes geschaffen. Ihre Mütter sind keine starr blickenden Madonnafiguren, die ihre Kinder anbetungsvoll betrachten, sondern gesunde junge Frauen, die Freude aus dem ihnen anvertrauten Leben generieren.
Zu guter Letzt ist im Artikel angemerkt, dass es bemerkenswert anmute, wie viel Persönlichkeit Cassatt diesen Kindern hat angedeihen lassen, berücksichtigt der Betrachter das tatsächliche Alter der kaum über den Neugeborenen Status herüber reichenden Babies. Was ist diesem Zitat kunsthistorisch zu entnehmen?
Cassatt ist in diesem und ausnahmslos allen folgenden der Kunstgeschichte bis in die heutige Zeit hinein, auf die Rolle der Malerin von Mutter-Kind-Darstellungen fixiert. Dass hierbei eine massive Blickbeschränkung auf das Oeuvre Cassatts vorgenommen werden muss, um diese These annähernd aufrecht zu erhalten, ist an anderer Stelle Thema der Untersuchung. Nichtsdestotrotz haftet seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts dieses kunsthistorische Stigma Cassatts Malerei an.10
Breuning begrenzt in ihrem Artikel Cassatts Oeuvre auf die Mutter-Kind- Darstellung, um im gleichen Moment anzumerken, dass es sich hierbei nicht etwa um das klassische Mutter-Kind-Bild der christlich fundierten Ikonographie handelt, sondern um die pure Abbildung der Realität. Cassatts Malerei ist dadurch frappierend doppelt beschnitten in seiner Bedeutung, sowohl kunsthistorisch - ikonographisch, als auch philosophisch.
Ob diese formale Einschränkung gerechtfertigt ist, ohne wissenschaftlich belegt zu sein, bedarf der Klärung und wird an späterer Stelle detailliert erörtert. Breuning fügt in ihrer Publikation eine inhaltlich vergleichsweise annähernde Meinung über Cassatt und deren primär amerikanische Zugehörigkeit hinzu, wie bereits Forbes 1927 n.Chr. in seinem Artikel. Sie schreibt:
The friends who visited her in those last years have given ample testimony to her unrelenting passion for art. They all record her conviction that American artists no longer needed to seek Paris for instruction nor the opportunity to study the great masters; such an era was closed with the improved methods of teaching in American schools and the opening of great public collections. America, she felt, should now be the training ground for American artists.11
Hier teilt Breuning mit, es gäbe genügend Freunde, welche Sie besucht hätten und denen Cassatt allen bestätigt habe, es sei für amerikanische Künstler heutzutage unnötig nach Paris zu kommen, um die großen Meister vor Ort zu studieren. Diese Zeit sei aufgrund amerikanischer Lehremethoden endgültig vorbei, als auch durch die Eröffnung großer öffentlich zugänglicher Sammlungen gänzlich überflüssig. Diese Ideensammlung kulminiert in der angeblichen Meinung Cassatts, Amerika sei nun der richtige Übungsplatz für amerikanische Künstler. Breuning nennt an dieser Stelle keinen einzigen dieser vermeintlichen Freunde namentlich, denen Cassatt dieses Gedankengut angetragen haben soll. Zudem stellt sich die Frage, weshalb Cassatt über andere Maler, deren beste Art Kunst zu erlernen urteilen sollte, wo Sie selber doch nicht nur in Paris sondern ganz Europa unterwegs war, um Malerei zu studieren, zu erlernen. Fraglich auch, ob irgendein amerikanischer Künstler sich von der Idee Europas Länder zu bereisen abhalten lassen würde, weil eine amerikanische Künstlerin, die den Schritt nach Paris wagte, das in ihrem letzten Lebensabschnitt so betrachtete. Es existieren de facto keine schriftlichen Belege über die von Cassatt vermeintlich gemachten Äußerungen. Damit wird lediglich das Bild der im Ausland lebenden Amerikanerin geprägt. Der Besitzanspruch Amerikas auf seine amerikanische Künstlerin ist evident.
An dieser Stelle lohnt sich der kurz zuvor genannte Hinweis auf die Bedeutung Cassatts, Amerikanerin gewesen zu sein, insbesondere darauf zu achten, wie diese Tatsache nach ihrem Tod aktiv verwendet wird. Zu bemerken bleibt, dass Breuning ihre Aussage wesentlich zugespitzter formuliert hat, als Forbes das noch 1927 n.Chr. tat.
Ein kurzer Rückblick auf bisher zitierte Aussagen lässt den klaren Eindruck gewinnen, Cassatt wurde zu Lebzeiten und darüber hinaus für Kunst und Fertigkeit geschätzt. Ab 1913 n.Chr. und danach wurde Sie zunehmend als die Mutter-Kind- Darstellerin in der Kunst proklamiert. Des Weiteren, insbesondere nach ihrem Tod, wurde Cassatt als die malende Amerikanerin wahrgenommen, die aus purer Notwendigkeit das französische Exil suchte. Cassatt, als Amerikanerin, steht es nicht zu aus anderen Beweggründen als künstlerischem Progress auszuwandern und im Exil zu verbleiben.
Nach Breunings Buchveröffentlichung 1944 n.Chr. ereignet sich in den darauf folgenden Jahren wenig in Bezug aus Cassatts Wahrnehmung in Kunst und Malerei. Sowohl der Zweite Weltkrieg als auch die künstlerischen Ausbrüche der beginnenden 60er Jahre ließen dafür wenig Spielraum. In der zweiten Hälfte der 1960er bis Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhundert spitzten sich die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu, die Protest- und Emanzipationsbewegung erreichten ihren Höhepunkt, Kunst wurde neu erlebt, neu betrachtet. Es fand eine weitgehende Politisierung der verschiedenen Lebensbereiche statt, ergo der Kunst. Ihre gesellschaftliche Relevanz war mehr denn je gefragt.12
Im Zuge der 60er Jahre, primär durch die Frauenbewegung, wurde Cassatts Malerei erneut beachtet, geachtet, resultativ neu bewertet. Die zuvor zitierte gesellschaftliche Relevanz der Kunst spiegelt sich bereits in einer Beschreibung von 1966 n.Chr. über Cassatts Sujet wieder.
When she painted children, they were not idealized in the least. If they were a little ugly, they appear in the painting as a little ugly. As with her old models, she adapted them to the structure and pattern of her work. But the children kept their identity and there were never two alike.13
Wurde Cassatt zuvor als die typische Malerin des Mutter-Kind-Sujets deklariert, erfährt diese Sichtweise einen Deutungszuwachs. Ergänzend ist Sie die differenziert sehende, malende Künstlerin von Kinderpersönlichkeiten. Demnach idealisiert Cassatt die gemalten Kinder nicht, wie bis dato in der Kunst üblich, sondern imitierte diese, wie sie in Wirklichkeit sind.14 Diese Sichtweise ist primär durch den politischen Wandel der westlichen Welt der 60er Jahre bedingt, wie auch additiv durch die Individualpsychologie, begründet durch Alfred Adler u.a. zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Mensch gilt zunehmend als Individuum, weniger als unwesentlicher, unbedeutender Teil einer großen, undefinierten, ergo amorphen Masse.15 Eine durch diesen Wandel stattfindende Auswirkung betrifft den gesellschaftlich-sozialen Blick auf das Kind. Interessanter Weise ist im obigen Zitat eine formale Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern vorgenommen worden. Demzufolge hat Cassatt die Erwachsenen den Bildern angepasst, die Kinder jedoch so belassen, wie sie sind, unverändert in ihrer Persönlichkeit festgehalten. Hierbei handelt es sich um eine generalisierte Deutung, die in Bezug auf Cassatts Bilder keineswegs generalisierbar ist.
Auf diverse Gemälde mag diese Interpretation zutreffen. Auf Cassatts Oeuvre ist diese Perspektive keinesfalls automatisch applizierbar, was zu einem späteren Zeitpunkt Gegenstand der Untersuchung sein wird.
Eine weitere, relevante Äußerung findet sich in der selbigen Publikation von 1966 n.Chr. Dort heißt es: „Mary Cassatt used what she knew, and the limited area of her subjects mattered less to her because she attached paramount importance to line, structure, pattern and color.”16 So unscheinbar dieser Satz anmutet, so bedeutungsvoll ist er in seiner Aussage bei detaillierter Betrachtung. Was steht geschrieben? Zunächst ist erwähnt, Cassatt habe ein begrenztes Gebiet zur malerischen Verfügung gehabt, welches Sie jedoch nicht sonderlich störte, da ihr Hauptaugenmerk auf anderen Dingen ruhte, die in ihrer Gewichtung über dem zu malenden Sujet standen, wie etwa Linieführung, Farbgestaltung, Design. Was macht diese Aussage herausragend im Vergleich zu den vorherigen? Es ist Tatsache, dass Cassatt mit absoluter Selbstverständlichkeit als weibliche Malerin klassifiziert und - hier handelt es sich um das Novum - ihr aufgrund dieser Weiblichkeit eine bestimmte soziale Stellung, ein beschränkter sozialer Raum, zugeschrieben wird. Diese Tatsache ist zum Zeitpunkt seiner schriftlichen Äußerung im Jahr 1966 n.Chr. so unzweifelhaft, dass darauf in keinster Weise erläuternd eingegangen wird. Dem Leser gilt das Wissen um diesen Umstand als Grundkenntnis. Dieser Fakt per se ist durch eine weitere Erkenntnis zu ergänzen. Cassatt ist nicht länger die Malerin unter den Impressionisten ihrer Zeit, sondern die Frau, die malte! Dies ist eine Umkehrung der Werte! Aus der Künstlerin, die biologisch bedingt Frau ist, wird die Frau gemacht, die neben ihrem Frau sein auch malte!
Diese Umkehrung mag auf den ersten Blick irrelevant erscheinen. Doch das ist sie keineswegs, denn sie impliziert gleichsam eine Deutungsverschiebung bezüglich Cassatts Kunst. Ergo fällt die Antwort auf die Frage „Warum malte Cassatt primär Mutter-Kind-Darstellungen?“ nicht wissenschaftlich, sondern biologisch aus, was wiederum zur Folge hat, dass ganze Bildserien biologisch fundiert in ihrer Interpretation auf den Betrachter und Leser kommen, nicht wissenschaftlich. „Was ist an dieser Praxis auszusetzen?“ mag zu Recht gefragt werden. Jedwede Bildinterpretation, deren Deutung ausschließlich auf dem biologischen Geschlecht des Künstlers basier, suggeriert die Idee, es käme bei der Lesefähigkeit auf das Geschlecht des Künstlers an. Ohne dieses ist ein Kunstwerk nicht zu deuten, oder aber fehlerhaft und ungenügend. Doch damit nicht genug: Ist das Kunstwerk auf Basis des Künstlergeschlechts “gedeutet“, werden alsbald Rückschlüsse auf die persönliche Befindlichkeit des Künstlers angestellt, welche alsdann den eigentlichen Grund für das Schauen durch die Geschlechterschablone enttarnt. Nicht das Kunstwerk steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es ist das Geschlecht des Künstlers und das, was über die jeweilige psychische Beschaffenheit an Spekulationen generiert werden kann. Das Kunstwerk mutiert in diesem Kontext zum Deckmantel einer Forschung, deren Sinn und Ziel in der Benutzung desselbigen liegt, um vermeintlich verborgene psychologische Beweggründe und Abgründe des Künstlers aufzutun.
Interessanter Weise ist durch obiges Zitat eine weitere, konträr anmutende Feststellung bezüglich Cassatts Malweise geäußert. Dort heißt es, Cassatt seien Komposition, Farbgestaltung und Linienführung von wesentlicherer Bedeutung, als das zu malende Sujet! Der Mutter-Kind-Malerin per se ist unverhofft ein neuer Bildschwerpunkt zugeschrieben worden. Es darf an dieser Stelle die Frage gestattet sein, warum Cassatt die Landschaftsmalerei der Portraitmalerei gegenüber nicht präferierte? In dieser hätte Sie wesentlich fundierter in Farbgestaltung, Linienführung und Komposition brillieren können, mindestens, wenn nicht mehr, Anregung und Ausdrucksmöglichkeit gefunden, als in der Widergabe eines so alten Sujets der Kunst, wie es die Mutter-Kind-Darstellung seit spätestens dem Mittelalter in Europa darstellt.
Allgemein ist bereits an dieser Stelle festzustellen, dass die Genderfrage, also die Frage nach dem Geschlecht des Künstlers und dessen geschaffener Kunst, im kunsthistorischen Kreis aufkommt, wenn auch noch undifferenziert und unreflektiert. So kulminiert diese Publikation von 1966 n.Chr. in der scheinbar sachlichen Aussage: „She [Cassatt] felt also that her acceptance as an artist was circumscribed by her being a woman. There is no evidence of bitterness about these facts. They were merely, for her, facets of the total situation.”17 Entsprechend dieser Aussage habe Cassatt zu Lebzeiten bereits begriffen, dass ihre künstlerische Anerkennung unabdingbar an ihr Frau sein geknüpft ist. Dies sei ihr bewusst gewesen, mehr noch, Sie habe es akzeptiert wie es ist: als ein Umstand ihrer Zeit. Diese Aussage schreibt Cassatt eine persönliche Einstellung zu, die nicht belegbar, stattdessen freilich widerlegbar ist. Dazu genügt bereits die 1912 n. Chr. veröffentliche Biographie Cassatts, in welcher Segard die Malerin persönlich befragt. Aus diesen Befragungen und Gesprächen geht zweifelsfrei hervor, dass Cassatt sich weniger als malende Frau, als vielmehr arbeitende Malerin gesehen hat, d.h. als ein Mensch, dem die Kunst, das Malen die wichtigste Lebensaufgabe war.
Es zeigt sich an diesem Punkt der Untersuchung, welche Attribute als Cassatt typisch gelten. Pointiert sind das die folgenden: Amerikanerin im französischen Exil, malende Frau, beschränktes Sujet aufgrund sozialer und gesellschaftlicher Umstände / Einschränkungen, Mutter-Kind-Darstellerin. Diese Attribute zeigen in nachfolgenden Untersuchungen ihre evidenten Spuren in Interpretation und Wahrnehmung. Daher gilt es auch diese in geeignetem Moment im Hinterkopf zu behalten.
Einen zusätzlichen Einblick in die Perzeption Cassatts Malerei bietet der Ausstellungskatalog anlässlich malender Künstlerinnen aus dem Jahr 1976 n.Chr. Dort heißt es:
She [Cassatt] began to achieve a more monumental effect by relying less on “spontaneity” and “contemporaneity” and more on fine drawing and a simple, stable composition. The search for more timeless image led her to devote more and more time to the mother and child theme, applying her modern vision to a traditional subject.18
Da es sich um einen Ausstellungskatalog handelt, sind primär separate Werke in ihrer speziellen Komposition Fokus der Erörterung. Eine detaillierte, fundiert tiefgreifende Analyse ist an dieser Stelle berechtigter Weise nicht zu erwarten. Dennoch ist dem obigen Zitat zu entnehmen, dass Cassatt sich angeblich ganz zielbewusst dem speziellen Thema der Mutter-Kind-Darstellung widmete und dies nicht tat, wie aus der einem Jahr zuvor publizierter Schrift zu entnehmen ist, weil Sie ein eingeschränktes Gesellschafts- und Sozialleben als Frau hatte, sondern weil der Malerin das Thema zeitlos erschien.
Ferner sieht Cassatt dieses traditionelle Sujet unter einem neuen, zeitgenössischen Blickpunkt, gar einer „Vision“. Was genau unter dieser Vision zu verstehen ist, wie Cassatt dies auszudrücken suchte, ist an dieser Stelle leider unbeantwortet geblieben. Der direkte Vergleich dieser beinahe zeitgleich entstandenen Aussagen zeigt, dass es insbesondere in Bezug auf Cassatts Motivik - hier speziell deren zugrunde liegenden Beweggründe - Spekulationen gibt. Im Kunstbereich sind Spekulationen prinzipiell in Bezug auf Künstler, deren Kunst keine Seltenheit. Sie sind sogar wünschenswert, bilden sie doch mitunter eine oftmals ausreichend genügende Grundlage für wissenschaftliche Fragestellungen und ernsthafte Untersuchungen.
Ein im gleichen Jahr, 1976 n.Chr., veröffentlichter Aufsatz im Art Journal spricht das Thema Cassatt und Frauenbilder zum ersten Mal direkt an, widmet ihm eine separate Erörterung.19 Dort ist u.a. zu lesen:
Cassatt’s art offers a new vision of the unconsidered facts of everyday bourgeois life, because she defined her world through women. In fact, after her student days, her subjects were nearly exclusively female. Cassatt’s was a women- centered art because she conceived of women as complete within themselves.
(…) Out of this stance she created inspiring and realistic new images of women, and also gave traditional image-types, particularly the mother and child, a new dimension. Even a preliminary survey of Cassatt’s art reveals the scope of her perceptions. Cassatt’s new images include representations of women as independent public people; women pursuing interests which are not directed toward the needs of others; and women who enjoy the company of other women.20
Dieses Zitat weist diverse Charakteristika auf, welche regelmäßig im Kontext mit Cassatts Malerei Erwähnung finden. Was ist diesem Zitat zu entnehmen? Zunächst ist auffallend, wie vorsätzlich Cassatts biologisch bedingte Natur des Frauseins in den Mittelpunkt gerückt ist. Unter dem Aspekt des Frauseins fällt der Blick auf ihre Malerei. Die Idee von Cassatt als Malerin, die auch Frau ist, kehrt sich um. Cassatt ist nun die Frau, die ihr Dasein durch ihr Frausein definiert, die ihre Malerei durch ihr Frausein wahrnimmt und prägt. Nur so ist die Aussage, Cassatt definiere ihre Welt durch die der Frauen, möglich. Des Weiteren ist der Wandel im Blick evident durch die Aussage, Cassatt gebe primär Tatsachen des alltäglichen bürgerlichen Lebens wider.
Offenbar bestand der Alltag aus Frauen, die anderen Frauen beim Kinder betreuen zuschauten oder assistieren. Man bedenke an dieser Stelle, dass die Aussage zehn Jahre zuvor lautete, Cassatt habe ein eingeschränktes Blickfeld, welches Sie still hinnahm, akzeptierte und wiedergab.21
Dieser Aufsatz von 1976 n.Chr. beschränkt sich nicht darauf, Cassatts Weiblichkeit in den Mittelpunkt ihres Daseins zu stellen. Es findet eine Erweiterung durch die Postulierung statt, Cassatts Malerei sei deshalb durch weibliche Thematik geprägt, weil Sie das weibliche Geschlecht per se als „complete within themselves“, als in sich vollständig ansah. Dadurch gibt die Malerin sowohl dem klassischen Thema der Mutter-Kind-Darstellung als auch dem Abbild der Frau eine neue Bedeutung. Frauen stellt Sie als unabhängige, öffentliche Personen da, die nicht existieren, um sich den Bedürfnissen anderer zu widmen, sondern sich um sich selbst zu kümmern und die Gesellschaft anderer Frauen zu genießen. Diese Ideen- und damit Sichterweiterung wandelt erneut das Bild der sozial eingeschränkten und damit Sujet beschränkten Malerin um, in das einer Malerin, die die Zeichen der Zeit nicht nur sieht, sondern vorwegnimmt: Cassatt malt Frauen um ihrer Selbst willen, als eigenständige Wesen, die sich ganz sich selbst widmen, oder den Freundschaften zu anderen Frauen nachgehen.
Anhand dieser divergierenden Blickwinkel ist der Wandel des Blickes auf Cassatts Malerei einwandfrei nachvollzieh- und aufzeigbar. Ein weiteres, letztes Beispiel soll als abschließendes Indiz für diesen Wandel dienen. In Bezug auf die Kinderdarstellungen hieß es 1966 n.Chr., Cassatt gäbe dem Kind eine bis dato unbekannte Eigenständigkeit, gar Identität und zeichne die Frauen eher abstrakt.22 Erneut, zehn Jahre später sind es die Frauen, die Cassatt als Persönlichkeiten, Individuen anerkennt und wiedergibt. Faktisch ist es irrelevant, ob Cassatt in den Kindern und/oder den Frauen eigenständige Persönlichkeiten gesehen hat oder nicht. Ihre Bilder dienen vielmehr als Spiegel für jeweilige gesellschaftliche Entwicklungen, die mit dem Blick der jeweiligen Zeit auf Cassatts Person und ihre Malerei projiziert werden. Ergo zeigt sich der Wandel der Zeit auch im Wandel des Blickes auf Cassatts Kunst. Doch dies ist nicht aktueller Gegenstand der Untersuchung. Stattdessen gilt es zunächst, die Stimmen der Zeit einzufangen und wiederzugeben, wie z.B. die aus dem Jahr 1981 n.Chr.. Da heißt es in dem Artikel: „Cassatt’s treatment of the mother-child theme is seldom sentimental. Rather, the relationship is interpreted frankly, and, in her best work, with a vigorous psychological penetration.”23 Diesem Textauszug zufolge ist Cassatts künstlerische Behandlung des Mutter-Kind-Themas niemals sentimental ausgefallen. Stattdessen hat Sie diese Beziehung ehrlich wiederzugeben gesucht, in ihren besten Arbeiten mit leidenschaftlichem psychologischem Scharfsinn geschafft einzufangen und darzustellen.
Welche Bilder en detail zu den besten Arbeiten Cassatts zählen, bleibt im Artikel ungeklärt. Dennoch ist eine neue Komponente in Hinblick auf die Untersuchung zu Tage getreten: Cassatts Bildern ist neben der Abbildung alltäglicher Ereignisse, individueller Wiedergabe zwischen wahlweise Erwachsenen und Kindern eine psychologische Relevanz, ein psychologischer Blick zugesprochen. Cassatt versucht gemäß diesem Zitat, Beziehungen seelisch zu ergründen, insbesondere die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Sie malt unkitschig, realitätsnah, „offen“. Attribute, die in Bezug auf das Mutter-Kind-Sujet innerhalb der Kunst bis dato eine Exzeption darstellten. Bereits zehn Jahre später, 1991.Chr., erscheint ein Artikel in einer amerikanischen Heftreihe, in der die bildlich dargestellte Beziehung zwischen Mutter und Kind als das eigentliche Sujet ausgemacht wird.
Relationships between women and children have been depicted by many artists, and Cassatt was aware of such images in the history of art. Cassatt’s aim was to depict the bond between real women and the children they cared for, rather than a sentimental, idealized image of motherhood.24
Viele Künstler haben demnach dem Mutter-Kind-Sujet künstlerischen Ausdruck gegeben und Cassatt ist dieser kunsthistorische Umstand bewusst gewesen. Sie versuchte als Künstlerin die besondere Beziehung zwischen „real women“ und den zu betreuenden Kindern wiederzugeben, anstatt eine idealisierte, verkitschte Version von Mutterschaft. Zum ersten Mal ist Cassatt eine bewusste Wahrnehmung der eigenen Kunst im kunsthistorischen Kontext zugeschrieben. Cassatt weiß, welch ein tradiertes
Thema sie malerisch behandelt, welche Bedeutung es zuvor Inne hatte, sowohl kunsthistorisch als auch sozial, welche Bedeutungsverschiebung Sie durch ihre Art der Darstellung schafft, zu schaffen suchte. Cassatt malte dieses Sujet nicht aufgrund der ihm zugrunde liegenden Historie und der damit einhergehenden Idealisierung der Frau als Mutter, sondern um die Beziehung zwischen Frauen und ihren Kinder aufzuzeigen.
Ferner von Interesse aus obigem Zitat ist die intendiert gewählte Begrifflichkeit „real women“, als deren Kontext zur Idee der Mutterschaft per se. Dies ist an anderer Stelle der Arbeit Gegenstand genauerer Beleuchtung, da es im Kontext der Genderfrage, ergo des Genderblickes auf Cassatts Kunst, von erheblicher Relevanz ist.
Die Aufmerksamkeit darf im Moment noch auf dem derzeitigen Artikel liegen, weil dieser weitere, aufschlussreiche Aussagen enthält, wie etwa die Folgende:
Cassatt’s paintings, pastels and etchings reveal the realities of modern life as experienced by women of her class. Her art reveals an understanding of the physical, mental and emotional intimacy shared between women, and by women and the children they cared for. Male artists such as Degas, also portrayed women and occasionally women with children. The distant vantage point from which these subjects were portrayed and the formality of family groupings, reveal the distance of these male artists from domestic life.25
Dieser Aussage sind primär zwei relevante Anschauungen zu entnehmen: Erstens enthüllt Cassatts Malerei, insbesondere die Mutter-Kind-Darstellung, das Verständnis der Malerin für die tiefe körperliche, geistige als auch emotionale Bindung zwischen den Müttern und Kindern, als auch zwischen Frauen unter sich. Folglich ist eine zunehmende Gewichtung in der Lesart auszumachen, die ihren Fokus auf das Wahrnehmen und Widergeben zwischenmenschlicher Beziehungen legt. Zweitens ist hervorzuheben, dass Cassatts Malerei in den Kontext zu anderen, vor allem männlichen Malern und deren Widergabe familiärer, zwischenmenschlicher Beziehungen, gesetzt ist. Dem Betrachterblick der Zeit genügt es nicht, die biologische Relevanz der Malerin für ihre Malerei hervorzuheben. Cassatt ist bewusst in den Kontext zu männlichen Künstlern gesetzt, um alsdann ihren wesentlich tieferen Einblick in soziale Bindungen zu betonen.
Es bleibt zu fragen, ob und inwieweit der Geschlechtervergleich Malerin vs. Maler etwas über eigentliches künstlerisches Vermögen aussagt, über die Qualität der Wahrnehmung zwischenmenschlicher Beziehungen und inwieweit einem Maler seine Zugehörigkeit zum biologisch bedingten, männlichen Geschlecht - und damit einem angeblich distanzierteren Blick - als einschränkend angelastet werden kann. Der Mann als anders - gleichberechtigt Blickender - scheint zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellbar, trotz oder gerade aufgrund des anderen Schauens.
Zusammenfassend hält der Artikel von 1991 n.Chr. fest: „The way that she portrayed these relationships was more honest and less sentimental than many earlier images based on the same theme.“26 Cassatt malt zwischenmenschliche Beziehungen demnach ehrlicher, weniger rührselig, als vorherige Künstler.
Bis dato ist zu konstatieren, dass die bereits zuvor herausgearbeitete Tendenz von der Persönlichkeit wiedergebenden Malerin zur zwischenmenschliche Beziehungen Widergebenden durch die Jahrzehnte innerhalb der Kunstwissenschaft an Gewichtung gewonnen hat. Aus der Tendenz, das Geschlecht der Malerin in die Betrachtung als auch Deutung ihrer Kunst mit einzubeziehen ist eine ausgeprägte, stark vertretene Sichtweise geworden. Eine Interpretation Cassatts Malerei, insbesondere der Mutter- Kind-Darstellungen, scheint ohne den Bezug zum femininen Geschlecht impossibel. Besteht dieser feministisch geprägte Kunstblick bis in die Gegenwart und wenn ja, wie? Ist dieser Blick in sich gewandelt, verschärft oder reduziert worden?
Nach dem Jahr 1991 n.Chr. wurde es in der Kunstwelt einige Jahre still um Cassatt. Ausgleichend erschienen in den Jahren 1998 n.Chr. und 1999 n.Chr. synchron diverse Publikationen, die primär dem Thema Mary Cassatt und der modernen Frau gewidmet sind. Hat sich in diesen wenigen Jahren der Betrachterblick gewandelt?
Aufschluss gibt eine 1998 n.Chr. erschiene Publikation, in welcher es über Cassatts Malerei heißt: „More than any other artist in the modern era, she reflected the world of women with genuine respect, presenting their daily experiences in the home, with their friends, and with their children as rich, rewarding, and worthwhile. “27
Mehr als jeder andere Künstler hat Cassatt ihre Zeit, die Welt der Frauen darin, gesehen. Mit echtem Respekt hat Sie den Alltag der Frauen zu Hause, mit Freunden und Kindern als reich, lohnend und belohnend darzustellen gewusst. Welch ein posthumes Lob für eine Künstlerin, deren Ruf bis auf den heutigen Tag gerne mit der plakativen Feststellung, dabei handele es sich um die Mutter-Kind-Darstellerin, abgetan wird.
Cassatts reflektierender Blick auf die eigene Zeit, ihr Können diesen gezielt einzufangen, auszudrücken, stehen im Vordergrund dieses Widerhalls. Ihr klarer Blick auf das Sie umgebende Umfeld ist nicht Quelle einer selbstverständlichen Einschränkung aufgrund gesellschaftlich oktroyierten Rollenverhaltens, wie es noch ca. dreißig Jahre zuvor, 1966 n.Chr., postuliert wurde.28 Vielmehr ist Cassatts Umwelt nun Quelle enormen, künstlerischen Reichtums, den Sie zu wertschätzen wusste! Auch diesbezüglich hat eine Perzeptionserweiterung stattgefunden, die sich positiv auf Cassatts Malerei, deren Wertschätzung, auswirkt. Des Weiteren ist im gleichen Artikel zu lesen:
Family groups that feature a father are rare in Cassatt’s art. This might be attributed to the absence of male models of a particular age among her circle and to the fact that her sister-in-law visited more often and for longer periods than their husbands, whose time to travel was often curtailed by the demands of their profession.29
Anhand dieses Zitates ist eine kunsthistorische Besonderheit augenscheinlich. Welche ist das? Diesem Auszug ist zu entnehmen, Cassatt habe wenige männliche, vor allem wenige väterliche Figuren gemalt, weil ihr die familiären Objekte fehlten. Diese waren schlichtweg nicht präsent, weil Sie - wie es das Bild des Mannes zu Cassatts Lebzeiten mit sich brachte - entweder reisten oder schlicht und ergreifend tagsüber arbeiteten. Im Alltag des Familienlebens kamen Männer nur morgens oder abends vor. So suggeriert es dem Leser dieser geschriebene Ausschnitt. Interessant ist gleichfalls der Rekurs auf Cassatts weibliches Umfeld. Cassatt hat demnach vielfältig und primär Frauen gemalt, weil die Schwägerin oft zu Besuch war.
Die Besonderheit liegt darin, dass mit einer kaum nachvollziehbaren Selbstver- ständlichkeit, innerhalb kunsthistorischer Kreise, Cassatts Malerei als Gegenstand realen Lebens angesehen wird und, viel bezeichnender: ihre Malerei ohne den Rückgriff auf ihr Privatleben nicht mehr gedeutet wird. Bei kaum einer anderen Künstlerin (mit Ausnahme von Frida Kahlo u.a.) scheint die künstlerische Interpretation an den privaten Hintergrund dermaßen geknüpft. Es sind bezeichnender Weise primär Malerinnen, deren Kunst scheinbar ohne Anreicherung privater Details nicht deutbar scheint.
Sicherlich ist es relevant und wissenschaftlich unbestreitbar, sowohl gesellschaftliche als auch soziale Umstände in gewissem Maße in Untersuchungen, ergo Deutungen, zu inkludieren. Fragwürdig ist eine ausschließliche Deutung jedoch dann, wenn diese ausnahmslos auf Vermutungen des Privatlebens des jeweiligen Künstlers basieren. Der Blick für die eigentliche Malerei, für das eigentlich Dargestellte, geht verloren und damit die Relevanz eines Kunstwerkes für die eigene Zeit. Denn nur durch den aktuellen Blick auf ein Kunstwerk ist eine Spiegelung der eigenen Zeit, im Entstehen und Gesehen werden, möglich, ist ein Verstehen der eigenen Epoche wahrscheinlich und denkbar. Demzufolge ist der Genderblick auch 1998 n.Chr. bezüglich Wahrnehmung, Deutung und Interpretation unerlässlich, in seiner Anwendung konstant stark und vehement.
In einer weiteren Publikation aus demselben Jahr, 1998 n.Chr. ist ein Vergleich zwischen Cassatts und Renoirs Darstellungen angestellt. Im speziellen ist die Darstellung von Theaterszenen verglichen worden. Diesbezüglich steht geschrieben:
Like Renoir, Cassatt included opera glasses, lights, and shimmering fabrics; but unlike Renoir, whose focus was the radiant beauty of his model, Cassatt emphasized the relationship of the figure to the architecture and lighting of the space around her. The gaze of Renoir’s female theater-goer is direct, even brazen. Cassatt’s women are not just objects to be looked at; rather they are absorbed in looking at the spectacle before them.30
Dieser direkte Vergleich zweier Maler mit gleichem Sujet - der Theaterloge - ist insofern aufschlussreich, als dass das Geschlecht beider Künstler eine erhebliche Rolle in der Deutung der Malerei einnimmt. An dieser Stelle gilt es, nicht die Aussage per se zu beurteilen, als vielmehr den Fokus auf das biologische Geschlecht und deren Relevanz für die Bilddeutung hervorzuheben.
Dem Zitat ist zu entnehmen, dass formale künstlerische Kriterien übereinstimmen. Renoir und Cassatt malen Operngläser, legen Wert auf die Darstellung von Licht und schimmernder Kleidung. Doch Renoirs Fokus’ liegt, dem Zitat zufolge, auf der Schönheit des wiedergegebenen Models, während Cassatt sich auf die Beziehung zwischen Model und Umgebung konzentriert. Cassatts Frauen sind nicht nur angeschaute Objekte, sondern Subjekte, die ihre Umgebung bewusst anschauen und aufsaugen. Hingegen sind Renoirs Frauen nicht selber schauend. Sie sind da, um angeschaut zu werden. Sie schauen mit direktem, beinahe unverschämten Blick, wie es heißt. Renoirs Frauen wollen gesehen werden. Cassatts Frauen wollen sehen.
Der Blickwinkel auf Cassatts Malerei ist insofern erweitert worden, als dass Sie in den direkten Vergleich zeitgenössischer Maler gestellt wird. Mittelpunkt dieses Vergleichs liegt in der Betonung unterschiedlicher Sicht- und Darstellungsweisen der Künstler, begründet durch ihr Geschlecht und damit sozialen Stellung. Diese Tendenz des Vergleichs auf Grundlage biologischer Gegebenheit setzt sich in den Folgejahren intensivierend fort. Bereits ein Jahr später, 1999 n.Chr. ist zu lesen:
…Cassatt never deals with misery, poverty and anguish as conditions of the maternal relationship. She does not represent the tragedy of the proletarian mother who cannot care for or succor her young as does Kollwitz with characteristic expressive power (…). Cassatt’s is the mother of cozy, well- provided upper-middle-class bedroom or parlor, in which her curving body can provide shelter and sustenance, not the mother of the back alley or the urban slum.31
Nun ist Cassatt in den Vergleich Malerin vs. Malerin gesetzt. Ihre Darstellungen von Müttern und Kindern gelten in diesem Zitat als gemütlich. Cassatts Mütter können in einer sicheren Umgebung, wie dem Schlaf- oder Wohnzimmer, dem zu umsorgenden Kind Schutz und Nahrung bieten. Pointiert heißt es ferner in Bezug auf die soziale Stellung der Frau als Mutter, dass Cassatt diese niemals in Armut, Unglück oder Wut zeige. Zustände, die für bürgerliche Mütter wie Kollwitz Sie etwa malte, die tägliche Realität darstellten.
Aus diesem Zitat sind erneut zwei relevante Aussagen zu ziehen. Zum einen ist Cassatt durch dieses Zitat in die Position der sozial unkritischen Malerin gerückt. Zum anderen blendet Sie diverse Realitäten der Mutterschaft aus. Es werden zwei sich ausschließende Bilder der Mutterschaft vorgestellt: die Liebende, alles umsorgende, Sicherheit spendende Mutter, gegenüber der in Armut lebenden, Kinder vernachlässigenden, gar misshandelnden Mutter.
Anzumerken gilt, dass keine dieser Darstellungen oder Sichtweisen als die einzig Wahre propagiert wird. Bemerkenswert ist gleichfalls der sich stetig verändernde Blick des Betrachters. Galt Cassatt zu Lebzeiten und bis in unsere heutige Zeit hinein als Darstellerin realistischer, zeitgenössischer Mutter-Kind-Beziehungen, zeigt die sozial kritische Sichtweise eine durchaus vorhandene, visuelle und inhaltliche Beschränkung Cassatts Malerei auf. Doch diese Kritik tritt kaum in den Fokus der Allgemeinheit.
Eine ganz andere Sichtweise auf Cassatts Malerei bietet der folgende Auszug aus dem Jahr 2001 n.Chr. Dort heißt es:
Mary Cassatt painted many images of the mother-daughter relationship, tracing the psychic space the maternal body outlines, inhabits and creates as the matrix of the infant and, as importantly, the later, adult subject. Never natural, always social, the relations of mothering and childhood are represented by Mary Cassatt as a semiotic system, the site of a social but also mutually constructing psychic exchange. Cassatt’s fascination with the semiosis of mother/child interaction has so often been misread because there is no public discourse on the daughter’s relation to the mother comparable with the pervasiveness of the father/son rivalry, or the son’s fascination with the abjected or idealized mother which has colonized our Western social imaginary under the law of the patrimony and filled our art galleries with a one-sided story.32
Diesem Zitat liegen multiple Bedeutungen inne. Direkt im ersten Satz ist auffallend bewusst von der Wiedergabe Mutter-Töchter-Darstellungen die Rede anstatt von Mutter-Kind-Darstellungen. Des Weiteren ist von einem „psychic space“ die Rede, also einem seelischen Raum, der von dem weiblichen Körper umrissen wird. Im weiblichen Körper wiederum befindet sich die Gebärmutter, welche das Baby, dann späteren Erwachsenen, hervorbringt. Der weibliche Körper ist nach Außen hin Raum gebend, abgrenzend in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Nach Innen ist der weibliche Körper Ort der Geburt. Infolgedessen bringt der weibliche Körper einen anderen Körper vom Innen ins Außen. Die Außenkörper bilden dann untereinander einen seelischen Raum, dessen Interesse Cassatts volle Aufmerksamkeit galt.
Ebenso geht es Cassatt obigem Zitat zufolge primär um Realisation und Wiedergabe des speziellen Raumes zwischen Mutter und Tochter, Mutter und Kind. Besonderer Fokus liegt auf der Mutter-Tochter-Beziehung, weniger auf der allgemeinen Mutter- Kind-Verbindung. Erstgenannte steht außerhalb des Blickfeldes westlicher Kultur. Die Mutter-Tochter-Bindung ist im Verhältnis zur Vater-Sohn-Beziehung oder Mutter- Sohn-Beziehung unterrepräsentiert. Stattdessen steht das Mutter-Sohn- oder Vater- Sohn-Verhältnis überproportional stark im Fokus westlicher Sehgewohnheit, ist ergo überrepräsentiert. In diesem Zusammenhang der Überrepräsentation erfährt vor allem das Bild der Mutter den Filter westlicher Kultur, dient es entweder der Idealisierung oder Herabsetzung in den Augen des Sohnes. Folgerichtig ist diese einseitige Betrachtungsweise an jedem Ort der Kunst, u.a. der Kunstgalerie, widergespiegelt. Es ist ein Ort, an dem der Blick der zeitgenössischen Gesellschaft aufgezeigt, kund getan, gespiegelt wird.
Diesem Zitat sind wesentliche Punkte für nachfolgende Untersuchungen zu entnehmen. Zum einen ist erstmalig bewusst eine Differenzierung zwischen dem Mutter-Kind-Verhältnis im Allgemeinen, dem Mutter-Tochter-Verhältnis im Besonderen vorgenommen worden. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand für den Betrachterblick kein Anlass, darin eine Unterscheidung vorzunehmen. Die Gründe, die zu dieser Sichtweise führten sind u.a. der Feminismus, mit ausgeprägtem Blick für die Frau, deren Funktion, Stellung und Repräsentation, hier insbesondere innerhalb der Kunst und Gesellschaft, als auch das Voranschreiten der psychologischen Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen und deren zunehmend verfeinerten Reflextions- möglichkeiten. Aus einem weiteren Artikel, im gleichen Jahr erschienen - 2001 n.Chr. - wie der vorherige, geht folgendes über Cassatt, ihre weiblichen Malergenossinnen (z.B. Berthe Morisot) und deren Kunst hervor: „Rarely, for example, did these artists paint the adult male, and when they did, their models were usually members of their own family (…).”33
Grundlage dieser Aussage bildet erneut das biologische Geschlecht von Künstlerinnen. Auf Basis der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist festgehalten, dass es für Malerinnen grundsätzlich unüblich gewesen ist, Männer zu malen. Eine Ausnahme stellten lediglich enge männliche Familienangehörige wie etwa Väter, Brüder oder Enkel dar.
Diese Aussage und damit verbundene Sichtweise ist ausnahmslos in der Bewegung des Feminismus begründet. Erst durch diesen feministischen Blick ist die Bilddeutung auf Basis biologischer Zugehörigkeit des Künstlers in das Interesse allgemeiner Aufmerksamkeit gerückt worden. Zu Lebzeiten Cassatts gab es keine öffentlichen Stimmen, die einen Zusammenhang zwischen Cassatts biologischem Geschlecht und fehlenden männlichen Modellen angestellt haben. Cassatt war zu Lebzeiten eine Frau die malen konnte, die Talent, Ausdauer und Ehrgeiz besaß, all dies verband, um ihren Bildern den nötigen Ausdruck zu geben. Kritisches Hinterfragen, warum Cassatt kaum oder gar keine Männer malte, warum es hauptsächlich Mütter mit Kindern waren usw. kamen anfänglich und ernsthaft erst im Laufe des Feminismus auf, damit an die Oberfläche der Aufmerksamkeit und in das Zentrum kunsthistorischer Deutungen.
Weiter heißt es in diesem Artikel:
Although intimate depictions of mothers and children have long been a staple of art and artists in the Western tradition, the subject of fathers and children, and in particular fathers and daughters, is rare outside the realm of the formal family portrait.34
Erneut ist in diesem Absatz auf die zu malenden Modelle und deren Beziehungen untereinander eingegangen. Gilt das Mutter-Kind-Sujet als tradiertes Element westlicher Kunst, ist die bildliche Darstellung von Vater-Kind-Beziehungen, im Besonderen Vater-Töchter-Beziehungen, als äußerst selten anzusehen und als überwiegend bis ausschließlich innerhalb familiärer Kontexte (Familienportraits) wiedergegeben.
Allen drei vorangegangen Zitaten des Jahres 2001 n.Chr. ist ein starkes Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen der Dargestellten untereinander, zum ausführenden Künstler und zum Geschlecht des Malenden, gemein. Ferner ist das Mutter-Kind-Thema in der malenden Kunst nicht selbstverständlich tradiertes Sujet, sondern Wiedergabe realer sozialer Beziehungen, die hinterfragt, aus diversen Perspektiven betrachtet, folglich analysiert werden können. Insbesondere die Fragen aus den Jahren 2000 n. Chr. und folgend sind in direktem Zusammenhang zu den Genderstudien zu sehen.
Auf den kunsthistorischen Kontext bezogen bedeutet dies, dass der Blick u.a. für fehlende, außerfamiliäre Vater-Sohn-Darstellungen und, prägnanter, auf kaum vorhandene Vater-Tochter-Darstellungen, selbst unter Rücksichtnahme auf Familien- portraits, gefallen ist. Ein Aufsatz aus dem Jahr 2008 n.Chr. kann zeigen, ob dieser Trend des Schauens, Untersuchens und Deutens beibehalten oder variiert wurde. Gleich zu Beginn des Artikels heißt es über Cassatts Frauendarstellungen:
Ist nur eine Figur auf einem Bild zu sehen, stellt sich vor allem der Eindruck von Innerlichkeit ein, von einer Frau mit Persönlichkeit, mithin das exakte Gegenteil zur oberflächlichen Äußerlichkeit, die von Frauen der bürgerlichen >> guten Gesellschaft << verlangt wurde. (…) Bei Cassatt…werden Oberfläche, Äußerlichkeit und Spektakel von einer psychologischen Innerlichkeit abgelöst.35
Der Rückgriff auf die Psychologie ist evident, nicht neu. Dieser erfolgte bereits mehrere Male zuvor, seit den 60er Jahren des 20. Jh. mit zunehmendem Maße. Als Novum ist jedoch die so genannte Innerlichkeit zu betrachten, die nicht in Bezug auf die enge Mutter-Kind-Bindung, sondern auf weibliche Einzelfiguren appliziert wurde. Die Frau strahlt aus sich heraus, auch ohne Kind im Arm. Als anschauliches Beispiel für diese Beschreibung kann das Gemälde Portrait of a Young Woman in Black von 1883 n.Chr. angesehen werden.36 Auf diesem Gemälde sieht der Betrachter eine junge Frau auf einem Sofa sitzend, wie der Titel impliziert, in schwarzer Kleidung. Doch hierbei kann es sich schwerlich um ein Trauerbild handeln, worauf die schwarze Kleidung zu Recht hinweisen mag. Die junge Dame sitzt überraschend locker, selbstsicher, den Blick interessiert zur linken Seite gerichtet, aufrecht da. Aus einer Mischung aus Verträumt- und Besonnenheit, schaut Sie seitlich aus dem Bild hinaus, dem Betrachter dadurch eine stille Beobachterposition zuschiebend. Ihr Blick ist nicht auf den des Betrachters ausgerichtet, sucht diesen nicht zu erhaschen oder aufzufangen. Ihr abwesender Blick zur Seite zeigt das Nachhängen eigener Gedanken, den Umstand der zuvor beschriebenen Innerlichkeit. Bemerkenswert an diesem beschriebenen Zustand ist der Wechsel von den Mutter-Kind-Darstellungen zu anderen Arbeiten der Künstlerin, in denen Kinder u.U. gar keine Rolle spielten.37 Im gleichen Artikel heißt es weiter:
Bei den Indépendants begannen Männer und Frauen, Lebensbereiche zu untersuchen und darzustellen, die in ihren Augen das je eigene soziokulturelle Moment auf unverwechselbare Weise reflektierten und durch das Prisma der vom jeweiligen Künstler sorgfältig entwickelten, individuellen Vision gesehen werden. Diese Bereiche umfassten das, was man soziologisch als Privatsphäre bezeichnen könnte, die Sphäre des Familienlebens und der Alltagsintimitäten, sowie gesellschaftliche Freizeitrituale in Gärten und Parks, am Strand, auf der Straße, im Theater und in anderen Vergnügungsstätten. Die Räume dieser neuen, urbanen Welt, die von den Künstlern zur speziellen Arena gemacht und zu zentralen Schauplätzen der Moderne erklärt wurden, mit der sie sich thematisch und stilistisch beschäftigten, waren Männern und Frauen indes nicht gleichermaßen zugänglich.38
In diesem Zitat ist Cassatt in einen größeren Kontext gesetzt, Sie wird einer künstlerischen Bewegung zugeordnet. Sowohl ihre Malerei als auch die Sujets werden unter Rücksichtnahme von Zeit und Geschlecht eingeordnet. Sowohl ihr Schaffen als Künstlerin, als auch ihre Arbeit, dessen Möglichkeit zur Herstellung, werden eindeutig den gegebenen Umständen, die selbständiger waren als je zuvor in der Geschichte für Frauen und Männer gleichermaßen, zugeschrieben. Cassatt und Malerkollegen sind als aufmerksame Betrachter ihrer Zeit dargestellt, die wiedergeben was Sie kennen, täglich sehen und erleben. Diesbezüglich ist eine Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Welt vorgenommen worden. Der Blick der Frauen ist anders als der der Männer, weil beide unterschiedliche Alltagswelten erleben. Diese Feststellung unterschiedlicher sozialer Welten, ergo divergierender Blicke, wurde bereits Ende der 60er Jahre des 20. Jh. gemacht. Damals noch unter strikter Bewertung des jeweiligen Blickes, zu Gunsten einer Partei - der weiblichen - und damit zu Ungunsten der männlichen. Diese Bewertung des Blickes findet in diesem Zitat nicht mehr statt, es wird festgestellt, statt bewertet. Der Artikel kulminiert in der Aussage:
Mit besonderer Aufmerksamkeit und Hingabe widmete sich Cassatt der Kombination von Paaren in radikal unterschiedlichen Lebensmomenten: Erwachsenenalter und Kindheit oder Säuglingsalter. Die zwei, manchmal drei, maximal vier Figuren treffen als fremde psychologische Entitäten aufeinander, das gegenseitige Nichtkennen wird durch die veränderte Konfiguration kompositorischer Mittel dargestellt, die auf dem Höhepunkt einer figurativen Vorstellung in der italienischen Renaissance entstanden sind.39
Diesem Absatz ist seine kunsthistorische Revolution kaum anzumerken. Was ist passiert? Cassatt ist beschrieben als Malerin, die sich grundsätzlich der Kombination von Paaren verpflichtet hat, Paare, die zu zweit, zu dritt oder zu viert dargestellt sind. Wie ist das möglich, wenn Cassatt doch die Mutter-Kind-Malerin der Kunstgeschichte ist? Wie kann eine Malerin an der Kombination von Paaren oder gar mehreren Personen interessiert sein, wenn einziges Augenmerk auf der stereotypen Widergabe von Mutter und Kind liegt? Dies offenbart einen kunsthistorischen Widerspruch, basierend auf der Blickexpansion des gegenwärtig Schauenden. Nachdem Cassatt über achtzig Jahre nach ihrem Tod als Paradebeispiel der Mutter-Kind-Darstellungen galt, erweitert sich das Blickfeld des Betrachters erneut. Obwohl dieser Fakt in vorliegendem Artikel keine weitere Explikation erfährt, ist der kunsthistorische Grundstein für ergänzende Blickinterpretationen - und damit eine eventuelle Erweiterung Cassatt kunsthistorischer Perzeption - möglich.
Dass es sich bei diesem Absatz um einen ansatzweisen Versuch der Neubewertung bzw. Perzeptionserweiterung Cassatts als Künstlerin und ihrer Kunst handelt, zeigt der Rekurs auf die Renaissance und deren Verknüpfung mit Cassatts Malerei. Diese Verbindung bewusst, willentlich und direkt zu setzen, ist bis dato kunsthistorisch gescheut worden. Dass dies wiederum vorgenommen wurde zeigt, dass Cassatt in ihrem Können zunehmend geschätzt, ihre Leistung als solche zunehmend anerkannt wird.
Ein letzter relevanter Punkt sei obigem Zitat entnommen.
So, wie der Blick auf Cassatt als der zwei-figurigen Malerin zur mehr-figurigen erfolgt, so erweitert sich das Spektrum von der Mutter-Kind Malerin zur Lebensalter Widergebenden. Der Bertachterblick erfährt in den Jahren zwischen 1998 n.Chr. und 2008 n.Chr. eine rigorose Erweiterung bezüglich Gesichtspunkt, Interpretationsbasis und Auslegung. Gilt das Mutter-Kind-Sujet als klares, wenig tiefgründiges innerhalb der Kunstgeschichte, so gilt jenes der Lebensalter als tradiert, ernst zu nehmend, mit mannigfaltiger Botschaft. Cassatts Malerei wird zunehmend in einen größeren, historischen Kontext gestellt. Synchron ist dadurch der Blick auf, die Perzeption von ihrer Malerei, erweitert.
Seit 2008 n.Chr. ist es um Cassatt nicht ruhiger, aber inhaltlich weniger ereignisreich bis stagnierend geworden. Aufsätze, Ausstellungskataloge, Bücher rezitieren bereits erörterte Ansichten in meditativem Gleichklang. Die letzte, nennenswerte Publikation stammt aus dem Jahr 2010 n. Chr. mit dem bezeichnenden Titel: M ü tter, die im Bilde sind. M ü tterportraits von ber ü hmten Malern und Malerinnen: Rembrandt, C é zanne, Mary Cassatt, Van Gogh, Frida Kahlo u.v.a. 40 Bereits anhand des Buchnamens ist der behandelte Inhalt zu erschließen. Auffällig ist die vollständige Namensnennung der Künstlerinnen Cassatt und Kahlo. Die männlichen Künstler sind lediglich mit Nachnamen aufgeführt. Es scheint auch 2010 n.Chr. immer noch als notwendig erachtet zu werden, auf die geschlechtliche Zugehörigkeit eines Künstlers hinzuweisen. Die Gründe für dieses Vorgehen sind von sekundärem Interesse und werden an dieser Stelle nicht erörtert. Doch ein evident scheinender feministischer Blick scheint stetig existent, die Kunst permanent beeinflussend, bis in die Namensschreibung der Künstler hinein.
Dieser Überblick von Zeitschriften, Artikeln, Aufsätzen und sonstigen Publikationen resultiert letzen Endes in einem durchaus aufschlussreichen Einblick in die Perzeption Cassatts zu Lebzeiten bis in die heutige Zeit. Durch alle Zeiten hindurch wurde Sie ausnahmslos als Malerin mit Talent und Kunstfertigkeit betrachtet. Daraus resultieren stetige Wertschätzungen, Achtung ihrem Können gegenüber, Respekt und Lob- preisungen.
Nach ihrem Versterben im Jahr 1926 n.Chr. begann eine willentliche geographische Zuschreibung Cassatts als ausgemachte Amerikanerin, die notgedrungen im Exil lebte. Diese Zuschreibung erfolgte und erfolgt überwiegend durch Amerikaner, aber auch Franzosen betonen bis in heutige Schriften hinein die originäre Abstammung Cassatts vom amerikanischen Kontinent. Bis in die gegenwärtige Zeit wird repetitiv diese Zuordnung betont. Cassatt ist nicht einfach ein Künstler der impressionistischen Bewegung, sondern eine Frau, eine im Exil lebende Amerikanerin, die in Frankreich gemalt hat.
Dass Segard mit seiner Biographie über Cassatt im Jahre 1913 n.Chr. den Grundstein für den Mythos der Mutter-Kind-Malerin legte, wurde bereits an vorheriger Stelle erörtert. Diese durchaus als simplifizierend zu bezeichnende Sichtweise wird durch den allgemeinen Betrachterblick sowie durch die Jahrzehnte hindurch konstant erweitert. Von der Mutter-Kind-Darstellerin, über die Kinderpersönlichkeit wahrnehmende und wiedergebende Künstlerin, bis hin zur Darstellerin zeitgenössischer Frauen beim Alltag ist eine breite Palette vertreten. Ab den 60er Jahres des 20. Jahrhunderts gewinnt die Interpretation zwischenmenschlicher Beziehungen, psychologisch wie sozial, an Bedeutung.
An all diesen genannten Punkten hat sich bis in die Gegenwart hinein wenig geändert, dabei ist die Tendenz der steten Blickerweiterung nachweislich vorhanden. Die zuvor aufgeworfene Frage, ob der feministisch geprägte Kunstblick bis in die Gegenwart anhält, wurde eindeutig positiv beantwortet. Eine Deutung ohne diese Schablone scheint noch nicht vorstell- bzw. durchführbar, obwohl der Blick dadurch bereits bezeichnend von der einzigen und ausschließlichen Mutter-Kind-Malerin nachweislich erweitert wurde. Es gilt diesen Blickwinkel in Frage zu stellen, ggf. zu ergänzen und zwar zu Gunsten einer Künstlerin, die wesentlich mehr konnte, als lediglich ein tradiertes Sujet in zeitgenössischem Gewand darzustellen.
3.0 Der Feministische Blick
Cassatts Oeuvre geriet unter der geistig-kulturellen Revolution des westlichen Feminismus in den Fokus kunstwissenschaftlicher Gender-Forschungen. Dieser Fokus wurde primär durch Cassatts biologische Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, weniger durch ihre malerischen Fähigkeiten begründet. Renommierte Hauptvertreterin dieser biologisch fundierten Sichtweise auf Cassatt ist Griselda Pollock, welche sich dieser verschrieben und seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb kunsthistorischer Kreise stringent vertreten hat. Welche Thesen vertritt Pollock? Sind diese überzeugend begründet? Sind die Beweisführungen stichhaltig, logisch oder fragwürdig und damit widerlegbar? Diese und weitere Fragen sind in nachfolgender Erörterung Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit.
3.1 Cassatt nach Pollock
Seit Pollocks ersten Publikationen sind die dort vertretenden Thesen bezüglich Cassatts Malerei inhaltlich unverändert geblieben.1 Zuletzt vertrat Pollock diese in ihrem Buch Mary Cassatt, Painter of Modern Women von 1998 n.Chr. Darin postuliert Sie, dass Cassatt sich weniger als Malerin von Mutter-Kind-Darstellungen auszeichne, als vielmehr durch malerische Darstellungen zeitgenössischer Frauen. Dies ist eine durchaus mutige, kunsthistorisch neue These, bedenkt man an dieser Stelle die seit Cassatts Tod vertretene These als der Mutter-Kind-Darstellerin. Was genau schildert Pollock diesbezüglich? Sie schreibt:
Cassatt was not a painter of the mother-and-child theme.”2 “There is, (...), nothing special about Cassatt painting women and children. It was so typical a subject that one can hardly find an artist in her group who did not complete his/her own familial situation or represent those of others.”3
“In dealing with what made women “new” and art “modern”, Cassatt made herself the “painter of modern women”.4
Pollock zufolge ist an Cassatts Mutter-Kind-Darstellungen nichts Außergewöhnliches detektierbar. Dieses Sujet sei zu Cassatts Lebzeiten weit verbreitet gewesen, daher als wenig beachtenswert oder besonders zu perzipieren. Pollock versteht stattdessen die bildliche Wiedergabe zeitgenössischer Frauen von Cassatt als einzigartiges, malerisches Novum. Wodurch sieht Pollock ihre Behauptung, Cassatt zeichne sich primär durch die einzigartige Wiedergabe zeitgenössischer Frauen aus, gerechtfertigt? Wie beweist Sie diese Behauptung und sind ihre Begründungen stichhaltig, nachvollziehbar oder strittig? Um ihre These zu untermauern, verweist Pollock auf die historischen Ereignisse, welche sich zu Lebzeiten Cassatts ereigneten und diese als Malerin wesentlich beeinflusst haben sollen.
She painted at a significant historical moment, when the New Woman emerged, desiring to travel, to be educated and make her own way into culture; when feminism became a political and, at times, a militant force for social change; when the beginning of psychoanalysis, the “talking cure” for young women suffering from a seeming epidemic of hysteria, coincided with the semiotic revolution of modern art whose focus was the spaces and social relations of the new metropolis.5
Pollock benennt in diesem Absatz eine Anzahl zeitlich-historischer Umstände, die Cassatt während ihrer Lebzeit von 1844 n.Chr. bis 1926 n.Chr. umgaben. Sie berichtet von einer allgemeinen Bewegung der Frau in die Kultur der Sie jeweils umgebenden Gesellschaft hinein. Sie erwähnt die Psychoanalyse, einen beginnenden Feminismus, welcher sowohl politisch als auch gewalttätig durchzusetzen versucht wurde, ferner die malerische Revolution zeitgenössischer Kunst, welche den Fokus auf gesellschaftliche Beziehungen sowie den rasant anwachsenden städtischen Raum legte.
An anderer Stelle hebt Pollock die in ihren Augen bedeutende Rolle zeitgenössischer politischer Umwälzungen hervor, ohne diese im Detail oder Ansatz zu erörtern. Stattdessen verweist Sie an gleicher Stelle auf die bestehende Schwierigkeit, Cassatts Arbeiten zu deuten. Cassatts Malerei sei spontan nicht zu verstehen, sondern vielschichtig, tiefgründig und ausschließlich unter Berücksichtigung und Rekonstruktion des historischen Kontextes adäquat zu deuten.
The work of Mary Cassatt is a monument created in its historical moment, which we cannot spontaneously understand. Yet it stands at the beginning of a process of cultural modernization that included a sustained exploration of women’s cultural and political consciousness.6
[...]
1 o.V. The Philadelphia Academy Exhibition, in: The Art Journal. London, 1876 (Vol.2), S. 222 - 223.
2 The Younger Painters of America, in: The Scribner’s Monthly, 1888, Vol.22,Nr.3, S.333.
3 Caldwell, Eleanor: Exposition Mary Cassatt, Gallery Durandruel, Paris, November - December, 1893, in: Modern Art, 1895, Vol.3, Nr.1, S. 5.
4 Walton, William: Miss Mary Cassatt, in: Scribner’s Monthly Magazine, 1896, Nr. 19:3, S. 354.
5 o.V.: Mother and Children. Mary Cassatt, in: Art and Progress, 1910, Vol.10, o.S.
6 o.V.: La Sortie du Bain by Mary Cassatt, in: The Bulletin of the Cleveland Museum of Art, 1920, Vol.7, Nr. 10, S. 147.
7 Forbes, Watson: Philadelphia pays Tribute to Mary Cassatt, in: The Arts, 1927, Vol. 11, Juni, S. 297.
8 Breuning, Margaret: Mary Cassatt. New York, 1944, S. 7.
9 Ebd., S. 7 - 8.
10 Begründet ist dieses, Cassatt stetig zugeschriebene, Charakteristikum durch das noch zu Lebzeiten Cassatts erschienene Buch von Segard 1913. Segard war der Erste, der Cassatt als die Mutter-Kind- Malerin deklarierte, siehe : Segard, Achille : Mary Cassatt. Un Peintre des Enfants et de Mères. Paris, 1913.
11 Breuning, Margaret: Mary Cassatt. New York, 1944, S. 10.
12 Damus, Martin : Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendierten zur affirmativen Moderne. Hamburg, 2000, S. 323.
13 Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 49.
14 Da es keine einzige objektive, sondern lediglich viele subjektive Wirklichkeiten gibt, ist dieser Denkansatz in seiner Ansicht philosophisch-kunsthistorisch beschränkend, siehe dazu: Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München, 2005, 10. Aufl.(1.Aufl.1978).
15 eine ausgezeichnete Analyse bezüglich der Masse, dem Individuum, deren Interaktion und Relation stammt von Le Bon, siehe: Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Hamburg, 2009 (1.Aufl. 1911)
16 Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 87.
17 Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 118.
18 Ausst.-Kat.: Women Artists: 1550 - 1950. Los Angeles, 1976, S. 237.
19 Fillin Yeh, Susan: Mary Cassatt’s Images of Women, in: Art Journal, 1976, Vol. 35:4, S. 359 - 363.
20 Ebd., S. 359.
21 Vgl. Nr.16.: Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 87.
22 Vgl. Nr.13: Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 49.
23 Havemeyer, Ann: Cassatt: The Shy American, in: Horizon, a magazine of the arts, 1981, Bd. 24, Heft 3, S. 60.
24 Herzog, Melanie: Intimacy in Pastel: Mary Cassatt, in: School Arts, a publication for those interested in art education, 1991, Bd. 91, Heft 1, S. 31.
25 Herzog, Melanie: Intimacy in Pastel: Mary Cassatt, in: School Arts, a publication for those interested in art education, 1991, Bd. 91, Heft 1, S. 31.
26 Herzog, Melanie: Intimacy in Pastel: Mary Cassatt, in: School Arts, a publication for those interested in art education, 1991, Bd. 91, Heft 1, S. 31.
27 Mancoff, Debra N.: Mary Cassatt. Reflections of Women’s Lives. New York, 1998, S.7.
28 siehe Fußnote Nr. 16 (Carson, Julia: Mary Cassatt. New York, 1966, S. 118.)
29 Mancoff, Debra N.: Mary Cassatt. Reflections of Women’s Lives. New York, 1998, S.70.
30 Barter, Judith: Mary Cassatt: The Sources, and the Modern Woman, in: Mary Cassatt: Modern Woman, Ausst.-Kat., Chicago, 1998, S. 49.
31 Nochlin, Linda: Representing Women. o.O., 1999, S. 191.
32 Pollock, Griselda: On Mary Cassatts reading le figaro or the case of the missing women, in: Looking back to the future. Essays on art, life and death, Amsterdam, 2001, S. 244.
33 Broude, Norma: Mary Cassatt. Modern Woman or the Cult of True Womanhood, in: Woman’s Art Journal, 2001, Bd.22, Nr.2, S.39.
34 Broude, Norma: Mary Cassatt. Modern Woman or the Cult of True Womanhood, in: Woman’s Art Journal, 2001, Bd.22, Nr.2, S.39.
35 Pollock, Griselda: Mary Cassatt - Ber ü hrung und Blick oder Impressionismus f ü r denkende Menschen, in: Impressionistinnen. Bonn, 2008, S. 155.
36 Abb.1:Cassatt, Mary: Portrait of a Young Woman in Black, 1883, Öl/Lw., 80 cm x 84 cm,The Peabody Institute of Baltimore, in: Effeny, Alison: Cassatt: The Masterworks, London, 1991, S.77.
37 besonders durch die Publikation von Segard aus dem Jahr 1913 n. Chr., Mary Cassatt: Un Peintre des enfants et des m è res, besteht bis heute die fast automatische Assoziation von Cassatt als der Mutter- Kind-Malerin per se.
38 Pollock, Griselda: Mary Cassatt - Ber ü hrung und Blick oder Impressionismus f ü r denkende Meschen, in: Impressionistinnen. Bonn, 2008, S. 157.
39 Pollock, Griselda: Mary Cassatt - Ber ü hrung und Blick oder Impressionismus f ü r denkende Menschen, in: Impressionistinnen. Bonn, 2008, S. 160.
40 Blisniewski, Thomas: Mütter, die im Bilde sind. Mütterportraits von berühmten Malern und Malerinnen: Rembrand, Cézanne, Mary Cassatt, Van Gogh, Frida Kahlo u.v.a., o.O., 2010.
1 vgl. Pollock, Griselda: Mary Cassatt. London, 1980. Parker, Rozsika u.a.: Old Mistresses. Women, Art and Ideology. London, 1981. Vision and Difference. Femininity, feminism and histories of Art. 6nd Ed. New York, 1996 (1st Ed. 1988). Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Women. London, 1998.
2 Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Women. London, 1998, S. 188.
3 Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Women. London, 1998, S. 189.
4 Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Women. London, 1998, S. 7.
5 Ebd., S. 7.
6 Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Women. London, 1998, S.32.
- Quote paper
- M.A. Eva Steinbrecher (Author), 2014, Mary Cassatt: Im Zwielicht der Kunst, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313229
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