Eine der Grundsatzdiskussionen im Wissenschaftsbereich Soziologie dreht sich um die Frage, aus welcher Perspektive ihr Untersuchungsgegenstand „Gesellschaft“, d.h. die Bedingungen und Formen menschlichen Zusammenlebens und die komplexen Struktur- und Funktionszusammenhänge der Gesellschaft und ihrer Institutionen, am besten erfaßt werden kann. Es haben sich im wesentlichen zwei Traditionen entwickelt, welche die entgegengesetzten Pole des gesellschaftswissenschaftlichen Spektrums bilden: Mikroperspektivische Ansätze sind handlungstheoretisch ausgerichtet und fokussieren die individuellen oder auch kollektiven Akteure und ihre von subjektivem Sinn geleiteten Handlungen, die es wiederum für den Sozialforscher zu deuten und zu verstehen gilt. Der komplementäre Ansatz dagegen untersucht aus der Makroperspektive vor allem die Funktionsweisen sozialer Strukturen und Institutionen, die als gesellschaftliche Ordnung objektive gesellschaftliche Wirklichkeit manifestieren, und die Handlungen der sozialen Akteure vorstrukturieren und bedingen. Der erste Ansatz betont somit die Kreativität sozialer Akteure und betrachtet Gesellschaft als Produkt sozialen Handelns, hat aber häufig nur mangelhafte Erklärungen für das dauerhafte Bestehen sozialer Ordnung und deren komplexe Strukturen. Der strukturfunktionalistische Ansatz dagegen, wie er vor allem durch Talcott Parsons vertreten wurde und lange bis in die 60er insbesondere die amerikanische Soziologie dominierte, unterstreicht den Objektcharakter sowie die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung, seine Schwächen liegen dadurch eher in der mangelnden Erklärungskraft für Individualität und sozialen Wandel.
Die meisten der erstgenannten Positionen werden unter dem Begriff des interpretativen Paradigma zusammengefasst, mit dem sich ein Ansatz entwickelte, der als Gegenentwurf zum Parsonschen Strukturfunktionalismus verstanden werden kann, wenn er sich auch nicht gleichermaßen etablieren konnte. In diesem Rahmen werden handlungstheoretische mit sozialpsychologischen Ansätzen verknüpft und ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten die Kommunikationsprozesse und -symbole, mittels derer die sozialen Akteure interagieren. Die zwei bekanntesten „Theoriestränge“ innerhalb dieses Paradigmas sind der Symbolischer Interaktionismus und die Phänomenologie, die von Alfred Schütz als soziologische Methode „erschlossen“ wurde.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit nach Peter L. Berger Und Thomas Luckmann
1. Eine Neue Definition von Wissenssoziologie
2. Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt
3. Gesellschaft als objektive Wirklichkeit
4. Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit
III. Kritische Anmerkungen
1. Die Thematisierung der Machtfrage
2. Zur Dichotomie von subjektiver und objektiver Wirklichkeit
3. Zur Vernachlässigung der kulturhistorischen und kulturvergleichenden Dimensionen von Gesellschaft
IV. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Eine der Grundsatzdiskussionen im Wissenschaftsbereich Soziologie dreht sich um die Frage, aus welcher Perspektive ihr Untersuchungsgegenstand „Gesellschaft“, d.h. die Bedingungen und Formen menschlichen Zusammenlebens und die komplexen Struktur- und Funktionszusammenhänge der Gesellschaft und ihrer Institutionen, am besten erfaßt werden kann. Es haben sich im wesentlichen zwei Traditionen entwickelt, welche die entgegengesetzten Pole des gesellschaftswissenschaftlichen Spektrums bilden: Mikroperspektivische Ansätze sind handlungstheoretisch ausgerichtet und fokussieren die individuellen oder auch kollektiven Akteure und ihre von subjektivem Sinn geleiteten Handlungen, die es wiederum für den Sozialforscher zu deuten und zu verstehen gilt. Der komplementäre Ansatz dagegen untersucht aus der Makroperspektive vor allem die Funktionsweisen sozialer Strukturen und Institutionen, die als gesellschaftliche Ordnung objektive gesellschaftliche Wirklichkeit manifestieren, und die Handlungen der sozialen Akteure vorstrukturieren und bedingen. Der erste Ansatz betont somit die Kreativität sozialer Akteure und betrachtet Gesellschaft als Produkt sozialen Handelns, hat aber häufig nur mangelhafte Erklärungen für das dauerhafte Bestehen sozialer Ordnung und deren komplexe Strukturen. Der strukturfunktionalistische Ansatz dagegen, wie er vor allem durch Talcott Parsons vertreten wurde und lange bis in die 60er insbesondere die amerikanische Soziologie dominierte, unterstreicht den Objektcharakter sowie die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung, seine Schwächen liegen dadurch eher in der mangelnden Erklärungskraft für Individualität und sozialen Wandel.
Die meisten der erstgenannten Positionen werden unter dem Begriff des interpretativen Paradigma zusammengefasst, mit dem sich ein Ansatz entwickelte, der als Gegenentwurf zum Parsonschen Strukturfunktionalismus verstanden werden kann, wenn er sich auch nicht gleichermaßen etablieren konnte[1]. In diesem Rahmen werden handlungstheoretische mit sozialpsychologischen Ansätzen verknüpft und ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten die Kommunikationsprozesse und -symbole, mittels derer die sozialen Akteure interagieren. Die zwei bekanntesten „Theoriestränge“ innerhalb dieses Paradigmas sind der Symbolischer Interaktionismus und die Phänomenologie, die von Alfred Schütz als soziologische Methode „erschlossen“ wurde.[2]
Den Symbolischen Interaktionismus bezeichnet Joas als „Fortsetzung jenes lockeren interdisziplinären Geflechtes von Theoretikern, Sozialforschern und Sozialreformern an der University of Chicago, welches in der eigentlichen Institutionalisierungsphase der amerikanischen Soziologie zwischen 1890 und 1940 bestimmend für das Fach war.“[3]
Als „Ahnherr des Symbolischen Interaktionismus“ gilt der Philosoph und Psychologe George Herbert Mead, wegen seines „theoretisch fundiertesten und inzwischen klassischen Beitrag zum Begriff symbolisch vermittelter Interaktion.“[4] Namensgeber dieser Theorierichtung war jedoch sein Schüler Herbert Blumer, der in einem berühmt gewordenen Aufsatz die Grundposition des symbolischen Interaktionismus anhand dreier Prämissen[5] formulierte:
1) Menschen handeln „Dingen“ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese für sie besitzen; mit Dingen wird alles bezeichnet, was der Mensch wahrzunehmen vermag, Gegenstände, Menschen, Institutionen, Leitideale, Handlungen anderer Personen etc.
2) Die Bedeutung dieser Dinge entsteht oder leitet sich ab aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht.
3) Diese Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen anwendet, gehandhabt und abgeändert.
Um folglich soziales Handeln erklären zu können, muss der oder die wissenschaftliche BeobachterIn nicht nur „objektive“ Umstände oder Folgen von Handeln erfassen, sondern vor allem die subjektive Sicht der Handelnden berücksichtigen, denn „wenn eine Person eine Situation als real definiert, dann ist diese Situation in ihren Konsequenzen real.“[6]
Mit diesen Annahmen ist der Grundstein gelegt für eine Auffassung von sozialer Wirklichkeit, die nicht mehr nur objektive gesellschaftliche Phänomene zu erklären sucht, sondern konsequent Wirklichkeit als gesellschaftlich konstruiert betrachtet. Im folgenden soll die bekannte Theorie von Berger und Luckmann dargestellt und kritisch untersucht werden, die diesen Ansatz verfolgt, und die für sich in Anspruch nimmt, den dialektischen Widerspruch von subjektiver und objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit in einer theoretischen Synthese aufzulösen.
II. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit nach Peter L. Berger Und Thomas Luckmann
Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben mit ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie[7] aufbauend auf dem handlungstheoretischen Ansatz Max Webers und der Schützschen Phänomenologie eine Theorie im Rahmen des interpretativen Paradigmas vorgelegt, die in diesem Kapitel dargestellt werden soll.
In diesem Werk gehen sie der Frage nach, durch welche Prozesse sich für die Mitglieder von Gesellschaften eine intersubjektiv geteilte, gemeinsame Wirklichkeit herausbildet, wobei es ihnen vor allem darum geht, das dialektische Verhältnis, in dem die gesellschaftliche Produktion und die individuelle Aneignung von Wirklichkeit zueinander stehen, herauszuarbeiten. An erster Stelle befassen sie sich phänomenologie-basiert mit „präsoziologischen“ Überlegungen zu den Grundlagen des Alltagswissens, anschließend untersuchen sie, wie durch den intersubjektiven Gebrauch von Symbolen, insbesondere der Sprache, Gesellschaft als "objektive Wirklichkeit" entsteht und mit welchen Mitteln sie gewahrt oder verändert wird, um schließlich die verschiedenen Phasen der Sozialisation und damit die subjektive Dimension von Gesellschaft nachzuzeichnen, in denen die Individuen die gesellschaftlich vorgegebene Wirklichkeit internalisieren und dabei reproduzieren oder verändern.
1. Eine Neue Definition von Wissenssoziologie
In ihrer Einleitung, die dem „Problem der Wissenssoziologie“ gewidmet ist, stellen die Autoren zunächst die Hauptthesen des Buches vor, die im folgenden behandelt werden sollen.[8] Die erste These behauptet die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, die zweite These besagt, daß die Wissenssoziologie sich mit den Prozessen auseinandersetzt, in denen dies geschieht.[9] Die dabei verwendeten Schlüsselbegriffe sind „Wissen“ und „Wirklichkeit“. Wissen wird definiert als „die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“, wohingegen „Wirklichkeit“ als „Qualität von Phänomenen, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind“ bestimmt wird.[10]
Wichtig ist den Autoren herauszustellen, daß sie weder an einer ontologischen noch an einer erkenntnistheoretischen Klärung dessen interessiert sind, was Wissen und Wirklichkeit absolut darstellen. Nicht die philosophische Fragestellung ist also charakteristisch für ihr Vorgehen, sondern die soziologische, genauer: die wissenssoziologische Herangehensweise an das, was Wissen und Wirklichkeit darstellen. Deshalb soll die Quelle für das, was als Wissen gilt, das „Jedermannswissen“ in der Alltagswelt sein.[11]
Damit distanzieren sich Berger und Luckmann von der bisherigen Wissenssoziologie, insbesondere durch die Ausklammerung erkenntnis-theoretischer und methodologischer Probleme und leisten so eine Neubestimmung derselben: Wissenssoziologie, so verstanden, soll eine Theorie sein, die auf einen empirischen Gegenstand der Soziologie gerichtet ist. Wie Helmuth Plessner in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe erklärt, umgehen die Autoren auf diese Weise die Probleme, mit denen sich die Wissenssoziologie bis dahin konfrontiert sah, nämlich „sich mit Fragen der Immunisierung gegen Marx abzuquälen oder wie das vom Blick der Schlange gebannte Kaninchen auf das Ideologieproblem zu starren.“[12] Statt dessen können sie sich unter Heranziehung einer phänomenologisch ausgerichteten Methode ihrer Hauptfrage stellen, nämlich, „wie gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen zur außer Frage stehender Wirklichkeit gerinnt.“[13]
2. Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt
In diesem Kapitel[14] streben Berger und Luckmann eine soziologische Analyse der Alltagswirklichkeit an. Obwohl sie an dieser Stelle nochmals betonen, daß sie die Wirklichkeit nicht unter philosophischen Perspektive betrachten wollen,[15] bezeichnen sie die folgenden Erörterungen als eigentlich präsoziologische, philosophische Prolegomena[16], insofern, als sie versuchen festzumachen, worauf das (Jedermanns-) Wissen über die Alltagswelt gründet.
So müssen wir also doch, bevor wir unsere Hauptaufgabe vornehmen, die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt herausfinden, das heißt die Objektivationen subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die intersubjektive Welt entsteht.[17]
Der erste Punkt, auf den Berger und Luckmann in diesem Zusammenhang hinweisen, ist die Tatsache, daß das Bewußtsein immer auf einen Gegenstand gerichtet sein muß, also intentional ist.[18]
Desweiteren konstatieren sie, daß die Wirklichkeit der Alltagswelt eine intersubjektiv geteilte Wirklichkeit ist. Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Arten der Wirklichkeit, wie sie dem Einzelnen z.B. im Traum erscheinen kann. Auch wenn die Wirklichkeit der Alltagswelt einer Person nicht in allen Punkten deckungsgleich mit der einer anderen Person sein muß, herrscht doch eine weitestgehende Übereinstimmung derselben. Die Wirklichkeit der Alltagswelt liegt außerdem nach Ansicht der Autoren zweifelsfrei vor. Es verhält sich sogar so, daß die Gewißheit von ihr so selbstverständlich ist, daß der Zweifel an ihr zur Schwierigkeit wird.
Diese Ausschaltung des Zweifels ist so zweifelsfrei, daß ich, wenn ich den Zweifel einmal brauche – bei theoretischen oder religiösen Fragen zum Beispiel, eine echte Grenze überschreiten muß.[19]
Das routinierte Handeln in der Alltagswelt ist für Berger und Luckmann der Bereich, in dem das Alltagswissen völlig unproblematisch vorhanden ist. Probleme können dann entstehen, wenn sich Situationen ergeben, denen mit Routine nicht beizukommen ist und die diese damit gefährden. Durch Ableitungswissen können solche „Krisensitutationen“ jedoch oft gemeistert und in die Alltagsroutine integriert werden. Neben der Wirklichkeit der Alltagswelt gibt es weitere Wirklichkeitsebenen, die sie als „umgrenzte Sinnprovinzen“[20] bezeichnen. Diese anderen Wirklichkeiten verfügen über eine eigene und geschlossene Sinnstruktur. Beispiele hierfür wären der Traum und das Spiel, insbesondere das Theaterspiel, aus dessen Wirklichkeit man nach dem Fallen des Vorhanges wieder entlassen wird. Über den künstlerischen Bereich hinaus stellt vor allem die Religion eine Pforte zu anderen Wirklichkeitsbereichen dar.
Ästhetische und religiöse Erfahrungen stecken voller derartiger Grenzübergänge, in eben dem Maße, in dem Kunst und Religion Provinzen sind, in denen immerwährend ‚Enklaven‘ abgegrenzt werden.[21]
Kennzeichnend für diese Arten von Wirklichkeit ist das Übersetzungsproblem, das entsteht, wenn beispielsweise die Erfahrungen aus der Wirklichkeit eines Traums in die Sprache und damit das Wissen der Alltagswelt übertragen werden sollen.
Den Rang, den eine bestimmte Wirklichkeit in der Hierarchie der Wirklichkeiten einnimmt, läßt sich nach Ansicht der Autoren je nach dem Grad der Anspannung, in dem sich das Bewußtsein befindet, bestimmen. In der Alltagswelt ist die Anspannung des Bewußtseins am höchsten.
Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die räumliche und zeitliche Struktur der Alltagswelt. Während sie die räumliche Struktur der Alltagswelt in diesem Zusammenhang für marginal halten, erscheint die zeitliche Struktur Berger und Luckmann um so wichtiger. „Zeitlichkeit ist eine der Domänen des Bewußtseins.“[22] Individuell wird die Zeit zwar durchaus verschieden erlebt, aber die Wirklichkeit der Alltagswelt ist geprägt durch eine „Standardzeit“[23], die intersubjektiv ist (was sie z. B. von Träumen deutlich unterscheidet, in welchen diese Zeitordnung oft aufgehoben ist). Die Zeitstruktur der Alltagswelt hat auf den einzelnen Menschen eine solche Faktizität, daß er seine individuellen Absichten dieser unterordnet. Die Zeitstruktur ist vor allem als Zwang zu begreifen: Nicht nur, daß durch sie eine - nicht umkehrbare! - Reihenfolge bestimmter Ereignisse vorgegeben wird, vor allem das Wissen um den Tod und die Begrenztheit der Lebenszeit hat sehr zwingenden Charakter.
Nach ihrer Abhandlung über die grundlegenden Merkmale der Alltagswirklichkeit, setzen sich Berger und Luckmann mit der gesellschaftliche Interaktion innerhalb derselben auseinander.[24] Der Prototyp gesellschaftlicher Interaktion ist für die Autoren die Interaktion von Angesicht zu Angesicht, andere Interaktionsformen gelten lediglich als Ableitung davon. Der Grad der Unmittelbarkeit bzw. Abstraktion der Interaktion ist entscheidend für die Erfahrung der Anderen, ebenso der Grad des Interesses und der Intimität. Steht eine andere Person also in direkter Interaktion mit mir oder kenne ich sie lediglich aus den Medien als Zeitgenossen, ist es mein Geliebter oder die Frau am Zeitungskiosk. Typisch für die Vis-à-vis-Situation ist auch, daß in ihr eine ständige Anwendung von Typisierungen stattfindet, die wie Schablonen sowohl an die Person als auch an die Situation, in der ich mit ihr interagiere, angelegt werden.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt wird also als ein kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen wahrgenommen, welche um so anonymer werden, je mehr sie sich vom ‚Jetzt und Hier‘ der Vis-à-vis-Situation entfernen. An einem Pol dieses Gebildes befinden sich diejenigen Anderen, mit denen ich häufige und enge Kontakte pflege, mein ‚innerer Kreis‘ sozusagen. Am anderen Pol stehen höchst anonyme ‚Abstraktionen‘, die ihrem Wesen nach niemals für Vis-à-vis-Situationen erreichbar sind.[25]
Das letzte Teilkapitel dieses Abschnittes ist Sprache und Wissen in der Alltagswelt gewidmet.[26] Sprache ist nach Ansicht von Berger und Luckmann eine Möglichkeit unter vielen zur Objektivation. Unter Objektivation verstehen die Autoren in diesem Fall eine Manifestation menschlicher Tätigkeit in einer verständlichen Form für all diejenigen, die dieselbe Alltagswelt teilen. Der Objektivation kommt aber eine noch bedeutendere Rolle zu:
Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich.[27]
Ein besonderer Fall der Objektivation ist die Zeichengebung. Verschiedene Zeichensysteme (beispielsweise gestische und mimische Zeichensysteme) lassen sich danach differenzieren, wie einfach sie von Vis-à-vis-Situationen abgelöst werden können. Sprache als das Wichtigste unter den Zeichensystemen ist grundlegend für das Verständnis der Alltagswirklichkeit. Über Sprache kann ein Wissensvorrat vermittelt werden, so daß er zum geteilten Wissensvorrat einer Sprachgemeinschaft bzw. Gesellschaft wird. Dies geschieht, indem über den Wissensvorrat Typisierungen transportiert und tradiert werden, die dem oder der Einzelnen dann zur Einordnung von Erfahrungen und Ereignissen der Alltagswelt dienen, bzw. diese überhaupt erst ermöglichen.
[...]
[1] Wenzel 1990, 12
[2] Er modifizierte die philosophische Phänomenologie Husserls.
[3] Joas 1988, 419
[4] Wenzel 1990, 7
[5] Blumer 1973, 81
[6] Dies ist eine sinngemäße Wiedergabe des sogenannten Thomas-Theorems, benannt nach W. I. Thomas (1863-1947), der ebenfalls zu den Vertretern des symbolischen Interaktionismus zählt.
[7] Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1996 [fortan: Berger/Luckmann 1996].
[8] Für das folgende vgl. Berger/Luckmann 1996, 1-20.
[9] Vgl. Berger/Luckmann 1996, 1.
[10] ebda.
[11] Vgl. ebda.
[12] Plessner, Helmuth: Zur deutschen Ausgabe. In: Berger/Luckmann 1996, IX-XIX, XIV.
[13] Berger/Luckmann 1996, 3.
[14] Berger/Luckmann 1996, 21-48.
[15] Man könnte fast den Eindruck bekommen, ein Problem philosophisch zu betrachten sei irgendwie anrüchig! Helmut Plessner erklärt diesen Umstand im Vorwort mit der Haltung des amerikanischen Publikums, „das geneigt ist, in jeder grundsätzlichen Überlegung ein Philosophem zu beargwöhnen.“ Berger/Luckmann, S. XIII
[16] Vgl. Berger/Luckmann 1996, 22.
[17] Berger/Luckmann 1996, 22
[18] Berger/Luckmann 1996, 23
[19] Berger/Luckmann 1996, 26
[20] Berger/Luckmann 1996, 28. Dieser Terminus stammt von Alfred Schütz
[21] Berger/Luckmann 1996, 28
[22] Berger/Luckmann 1996, 29
[23] Ebda.
[24] Vgl. Berger/Luckmann 1996, 31-36
[25] Berger/Luckmann 1996, 36
[26] Vgl. Berger/Luckmann 1996, 36-48
[27] Berger/Luckmann 1996, 37
- Citation du texte
- Andrea Müller (Auteur), 2003, Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31202
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