Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem nach wie vor oft tabuisierten Thema: Aggression in der psychiatrischen Krankenpflege.
In Theorie und Praxis soll folgender Versuch unternommen werden: Was ist Aggression und in welchen Formen kann sie während eines nicht nur stationären Pflegeprozesses auftreten? Welche theoretischen Ursachen und Definitionen werden angenommen und welche verworfen? Wie können Pflegende in der Praxis darauf reagieren?
Ein Beispiel aus dem pflegerischen Alltag eines an einer Psychose erkrankten jungen Mannes soll Aufschluss darüber geben, was sich hinter aggressivem und gewalttätigem Verhalten verbergen kann und welche Hilfen und Möglichkeiten bestehen, diese für alle am Pflegeprozess Beteiligten belastenden Erlebnisse jeweils zu integrieren.
Diese Arbeit ist auch ein Beitrag zum Umgang mit Gefühlen, denen sich jede Pflegekraft im professionellen Alltag stellen muss!
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffe
2.1 Aggression
2.2 Gewalt
2.3 Ärger, Wut, Zorn und Haß
3 Falldarstellung
4 Aggressionstheorien
4.1 Triebtheorien
4.1.1 Psychoanalytische Triebtheorien
4.1.2 Ethologische Triebtheorie
4.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
4.3 Lerntheorien
4.3.1 Klassisches Konditionieren
4.3.2 Operantes Konditionieren
4.3.3 Kognitive Lerntheorie
4.3.4 Psychoanalyse
5 Aspekte zur Entwicklung aggressiven Verhaltens
6 Theoretische Bewertung der Falldarstellung
7 Aspekte zur Pflege im Umgang mit aggressiven Patienten
8 Schlußbemerkungen
9 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ein Blick in das Herkunftswörterbuch (vgl. Duden Band 7 1989, S. 23 f.) verrät Aggression als „kriegerischen Angriff“. Aggression ist gleichbedeutend mit dem lateinischen aggressio aus dem 18. Jh., welches sich wiederum aus dem lateinischen aggredi „heranschreiten; angreifen“ ableitet, wobei das lateinische ad für „heran, hinzu“ und das lateinische gradi für „schreiten, gehen“ steht. Während der Aggressor „Angreifer“ dem 17. Jh. zuzuordnen ist, entstammt aggressiv „angriffslustig, herausfordernd“ dem 19. Jh. als neulateinische Bildung.
Der Verfasser (d.Verf.) muß gestehen, daß er erst ausreichend persönliche Erfahrungen im Umgang mit der Aggression einfangen mußte, um den Versuch einer gezielteren Annährung an dieses so komplexe Thema zu unternehmen.
Seit 1980 haben Aggressionen in der stationären psychiatrischen Arbeit mehr und weniger zum Alltag gehört. Doch vieles davon ist unreflektiert geblieben, so daß der Begriff Aggression unscharf und emotional eher negativ besetzt geblieben ist.
Doch muß dies so bleiben? Was verbirgt sich hinter diesem Begriff eigentlich, was ist der Sinn? Ist nur der psychisch kranke Mensch aggressiv oder sind es nicht auch die psychiatrisch Tätigen? Kommt es nicht häufig zu Mißverständnissen? Wird Aggression zu oft mit Ärger oder Wut verwechselt? Ist Aggression mit der Gewalt gleichzusetzen? Fragen, die mich seit Jahren begleiten und beschäftigen!
Zunächst sollen einige Begriffe erläutert werden. Es folgen eine persönlich erlebte Fallgeschichte sowie ein Kapitel über Aggressionstheorien. Anschließend möchte d. Verf. eine Bewertung der Falldarstellung versuchen. Den Aspekten zur Pflege im Umgang mit aggressiven Patienten soll abschließend eine Schlußbetrachtung zum Thema folgen.
2 begriffe
2.1 Aggression
Die Aggression stellt sich als ein Problem dar, solange es Menschen gibt. Schon das alte Testament gibt zahlreiche Schilderungen und Beispiele von indirekten und direkten Aggressionen bis hin zum Brudermord von Kain an Abel (vgl. SELG et al. 1997, S. 1 f.).
Immer wieder haben Wissenschaftler Aggression unterschiedlich bewertet und gewichtet, so daß der Terminus eine immer weitere Ausdehnung erfahren hat.
In der Sportberichterstattung, z.B. über Fußball und Boxen erfährt man oft nur relativ wenig über menschliche Fähigkeiten eines einzelnen Sportlers, sondern meist nur Ausschnitte darüber, wer wen im Strafraum aggressiv gefoult hat oder in den ersten Runden zu Boden geschlagen hat. Der Sieger siegt, weil er halt gehörig aggressiv aufgetreten ist.
Die Rockmusik der 70er Jahre hinterließ bei den Eltern d. Verf. stets einen wüsten und aggressiven Eindruck.
Aber reicht das für eine Beschreibung aus?
Es wird oft behauptet, auch in der Aggressionsforschung gebe es keine befriedigende Definition von Aggression (vgl. SEL et al. 1997, S. 3 f.).
Sicherlich wird Forschung und Wissenschaft aber immer wieder der Situation ausgesetzt sein, nie zu jeder Zeit auf relevante Begriffe so zu antworten, daß jeweils ein Höchstmaß an Befriedigung und „endgültiger“ Definition herauskäme. Begriffe und deren Definitionen sind immer auch Konstrukte, die weiter entwickelbar bleiben müssen. Denn was gestern noch brauchbar und nützlich gewesen ist, kann morgen schon wieder neu oder anders gestellten Fragen nicht mehr genügen. Wissenschaft und Forschung sollten nicht durch Dogma und Starre charakteristisch sein, sondern sich offen, aber präzise, durchlässig und doch grenzenaufzeigend darstellen.
Von den meisten Begriffen darf man wohl auch nicht die Definition erwarten, sondern meistens den Stand derzeitiger Forschung.
Selg hält an seiner bereits 1968 formulierten Umschreibung von Aggression fest:
„Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize; eine Aggression kann offen oder verdeckt, sie kann positiv oder negativ sein.“ (vgl. Selg et al. 1997, S. 4 f.)
Selg möchte die Aggression als einen Beurteilungs- und nicht als Beschreibungsbegriff verstanden wissen (vgl. Selg et al. 1997, S. 15 f.).
Für ihn kann Aggression körperlich und/oder verbal, aber auch phantasiert, von der Kultur ge- und mißbilligt in Erscheinung treten. Aggression umschreibt auch Ärger erregende Verhaltensweisen wie beleidigende und Schmerz zufügende.
Mit Aggression ist kein Affekt gemeint, sondern ein Verhalten ohne Spekulationen über mögliche Ursachen.
Danach paßt es nicht, zu sagen, der Patient X habe Aggressionen, wo er Zorn oder Wut verspüre, um daraufhin zu joggen. Patient Z reagiere Aggressionen ab, wäre in diesem Sinne ebenfalls unpassend. Es paßt aber zu sagen, Patient Z reagiere konkret seinen Ärger ab (vgl. Selg et al. 1997, S. 4 f.).
Wenn d. Verf. einen Teil der letzten Urlaubsfotos (zu verstehen als Organismussurrogat) zerreißt, geschieht dies nicht in einer aggressiven Handlung, sondern er hält die Bilder für nicht aufhebenswert.
Als gestern der Stadtbus in der Kurve scharf bremsen mußte, wurden einige Fahrgäste mit Stehplatz unangenehm von dahinterstehenden angerempelt. Dies geschah nicht zielgerichtet in aggressiver Weise, obwohl dies zunächst von einigen betroffenen Fahrgästen so erlebt wurde.
Aggressives Verhalten sollte also nur als solches bezeichnet werden, wenn schädigende Reize auf einen Organismus bzw. ein Organismussurrogat einwirken und das Verhalten als (wissenschaftlich begründet) zielgerichtet interpretiert werden kann: nicht jedoch vom Opfer oder Täter (vgl. Selg et al. 1997, S. 7 f.).
2.2 Gewalt
Die Begriffe Gewalt und Aggression werden oft in enger Verbindung miteinander genannt. Auch in der psychiatrischen Arbeit hat d. Verf. wenig saubere begriffliche Trennung erleben können.
In Verbindung mit Aggression rezipieren wir fast täglich über Gewalt aus den Medien.
Das Herkunftswörterbuch beschreibt das Wort Gewalt u.a. als abgeleitet von gewaltig „mächtig, außerordentlich groß oder stark“, dem mhd. gewaltec und dem ahd. giwaltig entsprechend (vgl. Duden Band 7 1989, S. 239 f.).
Die Begriffe Gewalt und Aggression teilen miteinander, daß viele jeweils vieles darunter verstehen. So hat Galtung („strukturelle Gewalt“) Gewalt zum Gegenspieler für Frieden aufgebaut und Voraussetzungen beschrieben. Gewalt wird weiterhin in Verbindung zu physischer Gewalt gebracht. Und als gewalttätig wird ein Vater gegenüber seinem kleinen Sohn gesehen – nicht umgekehrt. Attentate z.B. gegen herrschaftliche Despoten waren gewalttätig, werden aber im Nachhinein als nicht ausreichend gewalttätig genug begriffen – jedoch toleriert.
Die Begriffe Aggression und Gewalt bedürfen auch der Befreiung vom Beigeschmack des Unrechtmäßigen und Bösen (vgl. Selg et al. 1997, S. 8 f.).
2.3 Ärger, Wut, Zorn und Haß
Aggresssions-affine Gefühle sind Ärger, Wut und Zorn, die im direkten Umfeld von Aggressionen anzutreffen sind.
Sogenannte kalte Aggressionen sind aber auch ohne diese Emotionen denkbar (vgl. Selg et al. 1997, S. 8 f.). Man kann seinen Ärger auch „runterschlucken“, weil man sich, stets objektbezogen, über etwas oder wen, ärgert.
Da jetzt schon ein neuer Tag angebrochen ist, ärgert sich d. Verf. darüber, daß er mit Telefonaten am vorangegangenen Abend Zeit für die Hausarbeit verschenkt hat.
Aggression als Hindernisbeseitigung ist in dieser Situation fehlangebracht; eine Problemlösung ist angezeigt. Die Zeit (Hindernis) ist vergangen und es muß künftig aufgepaßt werden, die zur Verfügung stehende Zeit so einzuteilen, damit sich aus dem Ärger keine Bedrohung mit sich anschließend ergebener Furcht entwickelt. Dann wäre die Motivation zur Flucht (vor der Aufgabe) gegeben.
Ärger zählt wie Freude oder Überraschung zu den Primäremotionen. Ärger ist mehr als ein unangenehmes Gefühl. Ärger ist sogar nützlich, wenn über deren Auslöser (Motiv) reflektiert wird. Wenn z.B. anschließend darüber gesprochen und damit möglicherweise der Ärger „bereinigt“ wird. Denn dann entsteht über den erlebten Ärger und dessen Motiv Handlung und damit auch problemlösendes Handeln und die Chance für Veränderung.
Die Reaktion auf Ärger und Aggression ist sowohl angeboren angelegt als auch auslösbar durch Behinderung oder Blockierung. Wir können damit konstruktiv wie destruktiv umzugehen lernen (vgl. Selg et al. 1997, S. 8 f. und Heinemann 1996, S. 34 f.).
Ärger und Wut sind eng miteinander verbunden. Wut ist spontaner, weniger begleitet von Kognition und Reflexivität. Der Erregungsgrad ist höher, die Aggression näher. Wir reden über und hören von „blinder Wut“.
Wird die Wut auch Tieren zugesprochen, erweist sich der Zorn als überaus menschlich: z.B. bei Normverletzungen muß der Zornige nicht Opfer der verletzten Norm sein (vgl. Selg et al. 1997, S. 10 f.).
Haß hingegen wird als intensive und langandauernde Einstellung beschrieben.
Haß etwa zwischen Fangruppen in einem Fußballstadion kann die gegenseitige Vernichtung zum Ziel haben; dann wird das personale Objekt gesichtslos.
3 Falldarstellung
Es ist Anfang Dezember und der Winter scheint noch nicht in Sicht. Ein ganz normaler Spätdienst, an einem ganz normalen Wochentag.
Heute kam bislang noch kein Patient zur Aufnahme und hausintern ist auch niemand zur Verlegung auf die offene allgemeinpsychiatrische Station angekündigt. Während der Dienstübergabe wird nichts wesentlich Neues geschildert.
Besorgnis wird allerdings, wie in den Tagen zuvor, über Herrn G. geäußert: er sei komisch und gereizt. Das Pflegeteam nimmt dies zur Kenntnis. Primär eine medikamentöse Frage?
Herr G. ist vor knapp 1,5 Jahrzehnten erstmalig an einer schizophrenen Psychose erkrankt. Bevor dies jedoch eruiert wurde, befand er sich schon in Untersuchungshaft. Die Polizei hatte ihn seinerzeit mit einem Messer in der Hand fuchtelnd in der belebten Fußgängerzone einer niedersächsischen Kleinstadt festgenommen.
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