Bei der Bezugspflege handelt es sich um ein Pflegemodell, daß die Verantwortung für einen Patienten bei einer Pflegekraft ansiedelt. Durch die individuelle Zuordnung von Patient und Pflegekraft entsteht eine neue, intensivere Beziehung zum Patienten und eine individuelle Verantwortung für seine Pflege.
Bezugspflege wird seit vielen Jahren verstärkt in der Literatur zur Pflege rezipiert. Dabei werden die Chancen, die sich durch dieses Pflegemodell ergeben, besonders hervorgehoben. Von den Schwierigkeiten, die mit der Einführung verbunden sind oder gar vom Scheitern dieses Modells, ist nur sehr selten die Rede.
Jede Neuerung muss aber mit dem Risiko des Scheiterns rechnen. Die mit der Bezugspflege verbundenen Umwälzungen vollziehen sich nicht ohne Widerstand, Krisen und Konflikte. Gerade weil die Bezugspflege neue Perspektiven für die Pflege eröffnet, ist es nötig, sich mit den für ein mögliches Scheitern relevanten Elementen dieses Konzeptes gründlich auseinanderzusetzen. In der Diplomarbeit werden die Risiken, die mit der Einführung der Bezugspflege verbunden sind, betrachtet. Es werden die Strukturen und Interaktionsfelder, die in der Umsetzung des Pflegemodells besonderen Spannungen unterliegen und von hohen Reibungsverlusten bedroht sind, aufgezeigt. Es wird weiterhin die These geprüft, ob Bezugspflege mit erhöhter Konflikthaftigkeit einhergeht und ob die Bezugspflege tatsächlich eine Innovation für die Pflege bedeutet.
Ziel des Vorgehens ist es, die mit dem Theorie – Praxis - Transfer verbundene Frustration von Pflegeidealisten und -visionären zu minimieren und die Erfolgsaussichten der Bezugspflege zu optimieren. Es wird eine Antwort auf die Frage gegeben, welche begleitenden Maßnahmen nötig sind, um Pflegenden zu helfen, ihre neuen Rollen in der Bezugspflege selbstbestimmt und konstruktiv zu ergreifen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Methodik
1.1. Einleitung
1.2. Methodik
2. Theoriebildung zur Bezugspflege
2.1. Kurzüberblick der relevanten Pflegetheorien zur Bezugspflege
2.2. Das Interaktionsmodell nach Peplau
2.3. Die therapeutische Dimension im Pflegemodell Peplaus
2.4. Die Grenzen der Interaktionstheorie nach Peplau
2.5. Zusammenfassung
3. Innovationen und Chancen des Bezugspflegemodells
3.1. Begriffsbestimmung der Bezugspflege
3.1.1. Der Begriff der Bezugspflege
3.1.2. Die Geschichte der Bezugspflege
3.1.3. Was ist Bezugspflege?
3.1.4. Von der Schwierigkeit, Bezugspflege eindeutiger zu definieren
3.2. Die Organisation der Bezugspflege
3.2.1. Die Delegationskompetenz der Bezugspflegekraft
3.2.2. Die Rolle der Stationsleitung
3.2.3. Die Veränderungen im Verhältnis zu den anderen Berufsgruppen
3.3. Qualitätsaspekte in der Bezugspflege
3.3.1. Bezugspflege als Garantie für höherer Pflegequalität ?
3.3.2. Ausbrennen und Berufsflucht in der Bezugspflege
3.4. Zusammenfassung
4. Die Beziehungsgestaltung als pflegespezifischer Heilfaktor
4.1. Die Beziehung als ein Kernelement der Bezugspflege
4.2. Bezugspflege als Heilfaktor auch aus medizinischer Sicht?
4.2.1. Das Krankheitsverständnis der psychosomatischen Medizin
4.3. Die psychotherapeutische Dimension in der Bezugspflege
4.4. Bezugspflege: ein Modell nur für die Psychiatrie?
4.5. Zusammenfassung
5. Konflikte in der Bezugspflege am Fallbeispiel
5.1. Fallbeispiel
5.2. Konflikte aus psychoanalytischer Sicht
5.2.1. Einige Kernelemente psychoanalytischer Theorie
5.3. Regression
5.4. Abwehrmechanismen und ihre Relevanz für die Bezugspflege
5.4.1. Abwehrvorgänge aus Sicht des psychoanalytischen Strukturmodells
5.4.2. Abwehrvorgänge im Fallbeispiel
5.4.3. Die Beziehung des Bezugspflegers zu den Ärzten im Fallbeispiel
5.5. Übertragung und Gegenübertragung in der Bezugspflege
5.5.1. Übertragungsphänomene am Fallbeispiel
5.5.2. Gegenübertragungsphänomene am Fallbeispiel
5.6. Das Ausagieren intrapsychischer Konflikte in der Bezugspflege
5.6.1. Ausagieren innerer Konflikthaftigkeit am Beispiel
5.7. Gegenseitige Vereinnahmung von Patient und Pflegekraft
5.8. Zusammenfassung
6. Arbeitsorganisatorische Konflikte in der Bezugspflege
6.1. Individuelle Pflegeverantwortung: eine Quelle von Überforderungen
6.1.1. Konkurrenz unter Pflegenden: ein Ergebnis der Bezugspflege?
6.2. Die Zusammenarbeit von Bezugspflegenden und Ärzten
6.3. Die Einführung der Bezugspflege im Klinikum Göttingen
6.3.1. Folgen einer erzwungenen Einführung von Bezugspflege für den Patienten
6.4. Zusammenfassung
7. Resümee und Ausblick
7.1. Wesentliche Ergebnisse der vorliegenden Arbeit
7.2. Ausblick
7.2.1. Ausblick auf arbeitsorganisatorische Konsequenzen
7.2.2. Ausblick auf die Kompetenzentwicklung von Bezugspflegenden
8. Literaturverzeichnis.
9. Verzeichnis der Abkürzungen.
1. Einleitung und Methodik
1.1. Einleitung
Bei der Bezugspflege handelt es sich um ein Pflegemodell, dass die Verantwortung für einen Patienten bei einer Pflegekraft ansiedelt. Durch die individuelle Zuordnung von Patient und Pflegekraft entsteht eine neue, intensivere Beziehung zum Patienten und eine individuelle Verantwortung für seine Pflege.
Bezugspflege wird seit einigen Jahren verstärkt in der Literatur zur Pflege rezipiert. Dabei werden die Chancen, die sich durch dieses Pflegemodell ergeben, besonders hervorgehoben. Von den Schwierigkeiten, die mit der Einführung verbunden sind oder gar vom Scheitern dieses Modells, ist nur sehr selten die Rede.
Jede Neuerung muss aber mit dem Risiko des Scheiterns rechnen. Die mit der Bezugspflege verbundenen Umwälzungen vollziehen sich nicht ohne Widerstand, Krisen und Konflikte. Gerade weil die Bezugspflege neue Perspektiven für die Pflege eröffnet, ist es aus unserer Sicht nötig, sich mit den für ein mögliches Scheitern relevanten Elementen dieses Konzeptes gründlich auseinanderzusetzen.
Die Risiken, die mit der Einführung dieses Pflegemodells verbunden sind, betrachten wir vor allem im Zusammenhang mit den Konflikten in der Bezugspflege. Wir benennen die Strukturen und Interaktionsfelder, die in der Umsetzung des Pflegemodells (und damit in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden) besonderen Spannungen unterliegen und von hohen Reibungsverlusten bedroht sind. Wir werden weiterhin die These prüfen, ob Bezugspflege mit erhöhter Konflikthaftigkeit einhergeht und ob die Bezugspflege tatsächlich eine Innovation für die Pflege bedeutet.
Ziel unseres Vorgehens ist es, die mit dem Theorie - Praxis - Transfer verbundene Frustration von Pflegeidealisten und -visionären zu minimieren und die Erfolgsaussichten der Bezugspflege zu optimieren. Wir zeigen die Gefahren auf, die eine Überforderung der Pflegenden mit sich bringt und wir entwickeln eine Antwort auf die Frage, welche begleitenden Maßnahmen nötig sind, um Pflegenden zu helfen, ihre neuen Rollen in der Bezugspflege selbstbestimmt und konstruktiv zu ergreifen.
Eine Hypothese unserer Arbeit ist: Die Beziehungsdimension der Bezugspflege fordert und fördert menschliche Nähe zwischen Bezugspflegenden und Patienten. Besonders im psychiatrischen Kontext geraten Bezugspflegende auf Grund des Beziehungsanspruchs in therapeutische und psychotherapeutische Rollen. Diese Anforderungen könnten zu Überforderungen führen, insbesondere, wenn Bezugspflege mit dem Schwerpunkt Arbeitsorganisation eingeführt wird und die Beziehungsdimension bei Einführung nicht ausreichend gewürdigt wird.
Wir werden überprüfen, in wie weit das Missverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf die Fähigkeiten der Pflegenden zu erhöhter intrapsychischer und sozialer Konflikthaftigkeit führt. Wir werden der Frage nachgehen, ob in diesem Zusammenhang eine Ursache für Ablehnung, Verweigerung und letzten Endes Scheitern des Pflegemodells zu sehen ist.
1.2. Methodik
Die Grundlage für die vorliegende Arbeit ist eine Auswertung der deutschen- und englischsprachigen Literatur zum Thema. Bei einem Pflegesystem wie der Bezugspflege, das große Entwicklungschancen für den einzelnen Pflegenden, aber auch für den Berufsstand der Pflege eröffnet, überwiegen die positiven Darstellungen. Dennoch sind bei gründlicher Suche auch kritische Anmerkungen zu finden, die hier dargestellt und auf ihre Relevanz untersucht werden sollen.
Die Pflege in England und in den USA blickt auf nunmehr fast dreißig Jahre Erfahrung mit diesem Pflegekonzept zurück. Untersuchungen zum Thema Primary Nursing, die (pflege-) wissenschaftlichen Kriterien genügen, sind aus diesem Grunde vorwiegend in diesen Regionen durchgeführt und i.d.R. in englischsprachigen Fachzeitschriften veröffentlicht worden. In Deutschland gibt es nur wenige Buchveröffentlichungen zum Thema Bezugspflege. In Fachzeitschriften wurden bisher mehr oder weniger fundierte Aufsätze mit vorwiegend beschreibendem Charakter publiziert, die sich oft an englische und US- amerikanische Autoren anlehnen. Viele Autoren aus Deutschland, der Schweiz und Österreich haben Praktika und Studienaufenthalte in England oder in den USA in Kliniken durchgeführt, die bereits Erfahrungen in der Anwendung dieses Konzepts hatten (Schneeberger;1992;52ff.; Bischofberger;1992;56ff.; Lemmenmeier;1993;60ff.; Müggler,1992,52ff.; Pittius;1992;77ff.)
Zur systematischen Literaturrecherche wurden Literaturdatenbanken genutzt. Die Recherche wurde an medizinisch - pflegerischen Datenbanken durchgeführt. Insbesondere wurden die Datenbanken „Medline“, „Carelit“ „Gerolit“, „Heclinet“, „Solis“ sowie die Datenbank des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen genutzt.
Die Suchbegriffe lauteten: „Primary Nursing“, „Bezugspflege“, „Bezugspersonenpflege“, „Bezugspersonensystem“, „Beziehungspflege“, die zudem mit den Begriffen „Konflikte“, „Scheitern“, „Kritik“, „Vorteile“ und „Innovation“ verbunden wurden. Weiterhin wurde eine Internetrecherche mit den o.g. Suchbegriffen durchgeführt. Auf diese Weise wurden über 600 Literaturhinweise zum Thema ermittelt. Die Ergebnisse wurden im Hinblick auf ihre Relevanz zum Thema der Arbeit untersucht. Der Volltext der in Frage kommenden Literatur wurde über die Deutsche Zentralbibliothek für Medizin und Pflege in Köln, sowie aus den Berliner Universitätsbibliotheken bezogen.
In den ersten drei Kapiteln nehmen wir eine inhaltliche Klärung der Bezugspflege vor. Dabei sind der theoretische Kontext, die begrifflichen Dimensionen und arbeitsorganisatorische Fragen von Bedeutung. Das vierte Kapitel widmet sich der Beziehungsdimension der Bezugspflege und geht der Frage nach, ob aus pflegerischer und aus medizinischer Sicht Beziehung und Interaktion auf eine Weise beschrieben werden können, dass Bezugspflege als ein pflegespezifischer Heilfaktor sinnvoll erscheint.
In Kapitel fünf und sechs werden wir prüfen, wie weit die Einführung und Umsetzung von Bezugspflege zu Konflikten v.a. in Zusammenhang mit Überforderungen der Pflegenden durch die Beziehungsdimension in der Bezugspflege führt. Wir werden diese Frage u.a. an einem Fallbeispiel beantwortet.1 Das Risiko eines Scheiterns der Bezugspflege wird im Hinblick auf die mit ihrer Einführung und Umsetzung verbundenen Konflikte untersucht. In Kapitel sieben werden wir die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit darstellen und einen Ausblick auf ein mögliches Vorgehen bei der Einführung und Umsetzung von Bezugspflege geben.
Wir weisen darauf hin, dass in der vorliegenden Arbeit im Zusammenhang mit Personengruppen (der Patient, der Arzt etc.) vorwiegend die männliche Form benutzt wird. Dies geschieht aus Gründen der Vereinfachung der schriftlichen Darstellung und beinhaltet keine Wertung. Bei der Verwendung der männlichen Form ist zugleich die weibliche Form gemeint und beim vorwiegenden Gebrauch der weiblichen Form (z. B. „die Bezugspflegende“) zugleich die männliche.
2. Theoriebildung zur Bezugspflege
Für die Prüfung unserer These, dass durch die besondere Qualität der Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient in der Bezugspflege, Pflegende in psychotherapeutische Rollen gelangen, ist es zunächst wichtig, zu prüfen, ob es einen pflegetheoretischen Kontext zur Bezugspflege gibt und ob ein entsprechendes Rollenverständnis dort bereits angelegt ist.
2.1. Kurzüberblick der relevanten Pflegetheorien zur Bezugspflege
Es gibt leider keine abschließende Systematisierung der Pflegetheorien. „Die Eingruppierung der Theorien in Klassen, Oberbegriffe bzw. Kategorien erfolgte in unterschiedlichen Arbeiten höchst unterschiedlich.“ (Mischo- Kelling/Wittneben;1995;177ff.) Mischo-Kelling zum Beispiel folgt in ihren Ausführungen einem chronologischen Modell.
Ziegler schlägt eine Systematisierung der Pflegetheorien in Metatheorien (Klärung von philosophischen und methodologischen Fragen), Theorien großer Reichweite (Darstellung umfassender konzeptioneller Modelle), Theorien mittlerer Reichweite (wenig abstrakte, Theorie-Praxis-Transfer Modelle) und praxisbezogene Theorien (Bereitstellung von Zielsetzungen und Handlungsanweisungen) vor. (Ziegler;1997;241ff.)
Jacqueline Fawcett ordnet die unterschiedlichen Pflegetheorien nach ihrem Abstraktionsgrad und schlägt vor, den Konzeptbegriff für Pflegemodelle anzuwenden, die sich der Klärung allgemeiner Fragen der Pflege zuwenden, ohne dabei einen Praxisbezug herzustellen. Pflegetheorie schlägt sie als Bezeichnung für Pflegemodelle vor, die sich durch eine hohe Schnittmenge von Theorie und Praxis auszeichnen, die konkrete, aber theoriegeleitete Aussagen zur Pflegepraxis machen und damit in einem empirischen Verfahren überprüfbar werden. (vgl.Fawcett;1996;41f.)
Trotz oder wegen der dargestellten Unübersichtlichkeit, soll nicht auf eine Ordnungs- und Orientierungsmöglichkeit verzichten werden. Das Modell von Afaf Meleis enthält sowohl chronologische als auch inhaltliche Systematisierungen und eignet sich von daher zur systematischen Beschreibung von Pflegetheorien.
Meleis nennt zusammenfassend vier wichtige Denkschulen, die versucht haben, umfassende Antworten auf die Fragen nach dem Auftrag und dem Gegenstand von Pflege zu finden. Eine Gruppe von Theorien orientiert sich an den Grundbedürfnissen des Menschen. Sie werden von daher als Bedürfnistheorien bezeichnet. Die herausragende Vertreterin der Bedürfnistheorien ist Virginia Henderson. Weitere Vertreterinnen dieser Schule sind F. G. Abdellah und D. E. Orem. Sie betrachten den Menschen in Bedürfnisbegriffen und in hierarchisch geordneten Bedürfnissen. (Meleis;1997;20f.) Eine weitere Denkschule der Pflegetheorien wird als humanistische Schule bezeichnet. In ihr wird Pflege als Betreuung, Fürsorge und Versorgung betrachtet. Als Vertreterinnen werden Watson,J., Paterson,J.G. und Zderad,L.T. genannt.
Eine weiter Theoriegruppe wird unter dem Oberbegriff: Pflegeergebnistheorien subsumiert. „Das Pflegeziel liegt nicht im Prozess selbst, sondern im Endergebnis ...“ (a.a.O.;22) Als Ziele werden Balance, Stabilität, Homöostase u.a. genannt. Das Ziel bestimmt sich zudem durch die gesellschaftlichen Erwartungen an die Pflege. Als Vertreterinnen werden Martha Rogers, und D.E. Johnson genannt.
Die Vertreterinnen einer vierten Gruppe von Pflegetheorien werden als Interaktionisten bezeichnet. Sie betrachten als Hauptgegenstand der Theoriebildung das Verhältnis zwischen Patient und Pflegekraft. Sie untersuchen Interaktionsmuster, Komponenten der Beziehung und deren dynamische Wechselwirkungen, wobei der Persönlichkeit der Pflegenden, ihrer Entwicklung und Reife eine besondere Rolle zukommt. Als Wegbereiterin dieser Schule wird v.a. Hildegard Peplau genannt. Sie gilt als eine der Begründerinnen der Pflegetheorie überhaupt. (Mischo-Kelling/Wittneben;1995;175f.) Als weitere Vertreterinnen dieser Denkschule werden Orlando I., Travelbee J., King I.M. betrachtet. (Meleis;1997;21)
2.2. Das Interaktionsmodell nach Peplau
Für fast alle Autoren, die zum theoretischen Hintergrund der Bezugspflege veröffentlicht haben, ist die Interaktionstheorie von Hildegard Peplau der gemeinsame pflegetheoretische Hintergrund. Wir beziehen uns daher weitgehend auf das Modell von Peplau und stellen einige elementare Aussagen unseren Ausführungen voran.
Peplau gilt als erste Vertreterin eines Pflegemodells, das die Beziehung zwischen Patient und Pflegekraft in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Ihr Hauptwerk erschien 1952 und gilt als erstes pflegetheoretisches Werk überhaupt.
Hermann weist in seinem Aufsatz „Psychoanalytische Anregungen zur Bezugspflege“ darauf hin, dass die Ideen Peplaus in den milieutheoretischen Ansätzen des amerikanischen Psychiaters H.S. Sullivan wurzeln.(Herman;1998;131) Jones sieht Peplaus Wurzeln zudem in der Freudschen Psychoanalyse und im Werk Maslows.(Jones;1996;877) Nach Meleis greift Peplaus Modell auf die humanistische Psychologie und v.a. auf die Elemente der Psychoanalyse zurück. (Meleis;1997;55) Peplaus Menschenbild ist von dem Wunsch des Individuums nach Wachstum bestimmt.
In ihrem Verständnis bedeutet Gesundheit: die Fähigkeit zum Wachstum, die unbehinderte Entwicklung der Persönlichkeit in einem dynamischen, entwicklungsfördernden Umfeld. Krankheit bedeutet demzufolge: die verhinderte Entwicklung in einem entwicklungshemmenden Umfeld.
Das Ziel der Pflege besteht nach Peplau darin, durch Interaktion den Aufbau von Beziehung zu erleichtern. Durch die Beziehung wird eine Basis geschaffen, auf der helfend, im Sinne einer Entwicklungsförderung, eingewirkt werden kann. Die pflegerische Hilfe bedeutet auch, den Patienten bei der Suche nach Sinn in seiner Erkrankung zu unterstützen. Die Pflege möchte einen Lernprozess initiieren. Bedingung dafür ist, dass die Beziehung dynamisch verläuft, d.h. auf gegenseitigem Austausch beruht und sich somit auch die Pflegekraft in der Beziehung mit dem Patienten entwickeln kann. Weitere Ziele sind, dem Patienten zu einem kreativen, konstruktiven, produktiven, sozialen und individuellen Leben zu verhelfen. Die zwei Hauptthesen Peplaus lauten:
1. Die Art der Persönlichkeit, die ein Pflegender bei der Ausübung der Pflege darstellt und verwirklicht, ist mit entscheidend dafür, was der Patient während des Krankenhausaufenthalts an seiner Krankheit erfahren und lernen kann.
2. Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung zur Reife ist eine Aufgabe der Pflege und Pflegeausbildung.
Die Dynamik der Pflegekraft-Patient-Beziehung wird in vier, sich teilweise überlappenden Phasen beschrieben:
1.Orientierungsphase; 2.Identifikationsphase; 3.Nutzungsphase; 4.Ablösephase.
Während dieser Phasen kommt den Pflegenden u.a. die Aufgabe zu, verschiedene Rollen (Ratgeber, Lehrer, Eltern, Sicherheitsbeauftragter, Vermittler, Verwalter, Chronist, Beobachter, Forscher, Untersucher u.a.) -je nach den Bedürfnissen des Patientenanzunehmen. „ Es geh ö rt zum K ö nnen einer Pflegekraft, die Rollen, die ihr der Patient zuweist, zu erkennen. “ (Peplau;1995;84f.)
2.3. Die therapeutische Dimension im Pflegemodell Peplaus
„ Die Pflege ist ein signifikanter, therapeutischer, interpersonaler Prozess ... Die Pflege ist ... eine die Reife f ö rdernde Kraft, die darauf abzielt, die Vorw ä rtsbewegung der Pers ö nlichkeit ... zu bewirken.“ (Peplau;1995;39)
Für dieses Pflegemodell ist prägend, dass ein psychologisch - therapeutisches Pflegeverständnis explizit zugrunde gelegt wird. Pflege hat demzufolge einen (psycho-) therapeutischen Anspruch: der bewusste Einsatz der eigenen Person im Interaktionsprozess soll den Heilungsverlauf unterstützen. (Meleis;1997;21)
Peplau beschreibt den Pflegeprozess in Dimensionen, die weit über eine somatische und organbezogene Sichtweise hinausgehen. Von Bedeutung ist nicht mehr in erster Linie was ein Pflegender kann, sondern was und wie er ist, d.h. wie sich sein Sein im Verhalten, in der Beziehung, widerspiegelt. Die Pflege wird in bestem Sinne persönlich in der Patient- Pflegekraft-Beziehung der Bezugspflege. Damit ist die einzelne Pflegende nicht mehr ohne weiteres austauschbar, sondern die individuelle Person wird gefragt und nicht, wie noch weithin üblich, die austauschbare Arbeitskraft. Die Persönlichkeit des Pflegenden wird zum wichtigstes Handwerkszeug bzw. Arbeitsinstrument. (Huck;1996;145; Isling;1999;46) Auch Simpson betont ausdrücklich den therapeutischen Charakter der Pflegekraft-Patient- Beziehung im Pflegemodell nach Peplau. „Ihre Konzepte entwickelte sie auf der Grundlage psychoanalytischer Theorien. Sie konzentrierte sich dabei auf den Aufbau von therapeutischen Beziehungen, die sie als wichtigsten Prozess bei der Pflege ansah.“(Simpson;1997;134). Durch den therapeutischen Auftrag wird die Pflege von ihrer verbreiteten Definition als Heilhilfsberuf unter ärztlicher Verantwortung emanzipiert.2 Den Pflegenden wird durch den Auftrag zur therapeutischen Beziehungsgestaltung eine Handlungskompetenz zugestanden, die ein kooperatives Verhältnis zu den anderen therapeutischen Berufsgruppen erfordert.
Es verwundert nicht, dass Peplaus Modell besonders im Bereich der psychiatrischen Pflege Zuspruch erhalten hat. Der professionelle Einsatz heilender Beziehung hat in der Psychiatrie verständlicher Weise besondere Bedeutung. (vgl. Bauer;1997; Huck;1996; Schädle-Deiniger/Villinger;1996; Tauch/v.Laak;100;1998; Teising;1996) Dies wird vor allem vor dem Hintergrund verständlich, dass die Pflegetheorie von Peplau im psychiatrischen Kontext entstanden ist. Peplau hat als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet und aus ihren Beobachtungen wichtige Anregungen für ihre theoretische Arbeit entnommen.
2.4. Die Grenzen der Interaktionstheorie nach Peplau
Die Antwort auf die Frage, woher Pflegekräfte diese (psycho-) therapeutische Kompetenz nehmen sollen, die sich andere Berufsgruppen (z. B. in der Psychoanalyse) nach abgeschlossenem Studium in aufwendiger Weiterbildung aneignen müssen, beantwortet Peplau lapidar: „Die Fähigkeit zur Übernahme von Rollen ... wird in der Praxis der pflegerischen Situation unter kompetenter Supervision entwickelt“. (Peplau;1995;97) Die Fähigkeit soll erst durch Reflexion (Supervision) im Nachhinein erworben werden.
Die Betrachtung der Patient-Pflegekraft-Interaktion als eine interpersonelle, psychodynamisch - therapeutische Beziehung, setzt entsprechende Fähigkeiten bei den Pflegenden voraus. Jones schließt seine Überschau der Pflegetheorie nach Peplau mit der Bemerkung, dass der Praxistransfer der Theorie seine Grenzen in dem Wissen und den Fähigkeiten der Pflegekraft findet. (Jones;1996;881)
Ein weitere Schwierigkeit, die hier in Betracht kommen soll, betrifft die Bereitschaft des Patienten an seiner Genesung mitzuarbeiten, sich zu öffnen und eine Beziehung mit therapeutischen Charakter überhaupt einzugehen. Es gibt einige Gründe, warum diese Bereitschaft nicht vorhanden sein kann. Dazu gehört z. B. eine mangelnde Krankheitseinsicht, die bei manchen Krankheiten direkt zur Symptomatik der Erkrankung zählt. So müssen Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft bei Abhängigkeitspatienten in der Entgiftungsphase oft erst über die Behandlung hergestellt werden! (vgl. Isling;1999;45)
Ein weiteres Beispiel liegt im Bereich der forensischen Psychiatrie, wo der Aufenthalt des Patienten gesetzlich erzwungen wird. Oft wird in diesen Bereichen die Motivation und Behandlungsbereitschaft des Patienten als Eingeständnis von Schuld angesehen. Jede therapeutische Annäherung setzt aber Freiwilligkeit voraus!
Als letztes Beispiel seien Krankheitsbilder wie das der Schizophrenie und des Autismus benannt, die ja gerade über das Leitsymptom der teilweisen oder vollständigen Unfähigkeit zur Beziehungsgestaltung definiert werden. In den aufgezählten Fällen ist es sehr schwer, über Interaktion und Beziehungsgestaltung heilend zu wirken. Die Bezugspflegenden stehen dann vor der Aufgabe, Rollenvorgaben und Phasenmodelle der Interaktion auf eine angemessene Weise zu modifizieren.
Das Pflegemodell der Bezugspflege stellt die Begriffe: Interaktion, Beziehung, Beziehungsfähigkeit und Verantwortung in den Mittelpunkt. Es wird daher zurecht der Interaktionstheorie zugeordnet. (vgl. Bauer;1997;7ff.; Huck;1996;144ff.) Als Voraussetzung und Grenze für die Anwendung der Interaktionstheorie in der Praxis durch die Bezugspflege muss die wechselseitige Bereitschaft und Fähigkeit von Patient und Pflegenden angesehen werden, eine nach therapeutischen Gesichtspunkten gestaltete Beziehung einzugehen.
2.5. Zusammenfassung
Peplaus Pflegemodell basiert auf einer psychoanalytisch-therapeutischen Betrachtungsweise der Pflegekraft-Patient-Beziehung. Beziehung und Interaktion stehen im Mittelpunkt des Pflegehandelns. Pflege definiert sich über den therapeutischen Beziehungsgestaltungsauftrag. Somatisch orientierte Aufgaben der Pflege stehen eindeutig im Hintergrund. Sie kann auf dieser theoretischen Grundlage als soziale und heilkundliche Profession verstanden werden, die auf einem rehabilitativen und therapeutischen Selbstverständnis beruht.3
Für den Fortgang unserer Arbeit war zunächst der Nachweis wichtig, dass die Pflege in Peplaus Sinne auch als psychotherapeutische Intervention begriffen wird. Wenn Bezugspflege sich mit (psycho-) therapeutischen Selbstverständnis entwickelt, so ist dies kein Zufall und keine Willkür von Pflegenden sondern bereits in dieser, für die Bezugspflege maßgeblichen Pflegetheorie, angelegt. Dies ist v.a. für unsere spätere Untersuchung der Konfliktpotenziale der Bezugspflege bedeutend.
3. Innovationen und Chancen des Bezugspflegemodells
Nach dem theoretischen Exkurs, werden wir uns mit praxisrelevanten Elementen der Bezugspflege auseinandersetzen. Es wird deutlich werden, dass das Verständnis von Bezugspflege in der Praxis erheblich variiert. Unterschiede zwischen dem angelsächsischen Verständnis und der Auffassung von Bezugspflege im deutschsprachigem Raum, werden dargestellt. Die Schwierigkeiten einer eindeutigen Begriffsbestimmung der Bezugspflege werden deutlich und ihre Hintergründe werden erhellt.
Weiterhin wird der Einfluss, den Bezugspflege auf die Pflegequalität hat, erläutert und arbeitsorganisatorische Veränderungen werden beschrieben. Die Bezugspflege schafft Rahmenbedingungen, die eine verantwortliche und individuelle Haltung zum Pflegeprozess und zum Patienten ermöglichen; dadurch kann die Qualität der erbrachten Pflege verbessert werden, eine Verbesserung kann aber nicht garantiert werden. Daher ist es wichtig, das Konzept der Bezugspflege einer Prüfung im Hinblick auf die Qualität der erbrachten Pflegeleistungen zu unterziehen. Wir werden in diesem Kapitel einige Studien vorstellen, in denen versucht wurde, die Frage der Qualitätsentwicklung nach Umsetzung der Bezugspflege, zu beantworten.
3.1. Begriffsbestimmung der Bezugspflege
Bei der Darstellung der Bezugspflege in der Literatur werden i.d.R. zwei Aspekte angesprochen, ohne dass diese in ihrer Unterschiedlichkeit explizit benannt werden. Zum einen dient Bezugspflege als Beschreibung eines Arbeitsorganisationsmodells und zum anderen als Beschreibung der Patient-Pflegekraft-Interaktion. Der erste Ansatz beantwortet Fragen der formalen Bedingungen: Arbeitsabläufe, Abwesenheitsregelungen, Delegationskompetenzen, etc. Der zweite Ansatz stellt die Gestaltung der Beziehung zwischen Bezugspflegendem und Patient in den Mittelpunkt der Betrachtungen und beantwortet Fragen nach phasentypischen Abläufen von professionellen Beziehungen, Nähe-Distanz-Regulationen, Rollenanforderungen usw.
Es ist nicht immer eindeutig, von welchem Aspekt gerade im Zusammenhang mit der Bezugspflege die Rede ist. Beide Dimensionen sind von großer Wichtigkeit. Beide benötigen eine differenzierte Betrachtung.4 Den Schwerpunkt einseitig auf die Beziehungsgestaltung oder die Arbeitsorganisation zu legen, hieße, wesentliche Elemente außer Acht zu lassen. Wir werden uns daher in diesem Kapitel Fragen der Arbeitsorganisation in der Bezugspflege zuwenden und im Kapitel vier die Beziehungsdimension vertiefen.
3.1.1. Der Begriff der Bezugspflege
Die Begriffe Bezugspersonensystem, Bezugspflege, Bezugspersonenpflege, Primary Nursing und auch Beziehungspflege beziehen sich, soweit die Äußerungen der Autoren pflegetheoretisch unterlegt werden, auf die Interaktionsmodelle in der Pflegetheorie und dabei v.a. auf das Modell Peplaus. Diese Begriffe sind in der Fachliteratur nicht deutlich voneinander abgegrenzt und werden im wesentlichen synonym verwandt. (Andraschko;1996;4ff.; Brechbühler;1994,8ff.; Detert;1998;14; Haffner;1992;63ff.; Marnitz;1996;192ff.; Müggler;1992;52ff.; Pittius;1992;78; Schlettig/v.d.Heide;1995;68; Schneeberger;1995;18ff.; Tauch/v.Laak;1998;101)
Lorenz-Krause und Zell konstatieren in ihrem Aufsatz: „Umsetzungschancen ganzheitlicher Pflegesysteme“: „Die Grundprinzipien und die Charakteristika des Primary Nursing und der Bezugspflege sind weitestgehend identisch.“(Lorenz/Zell;1992;80) Auch Tauch und v. Laak führen die Bezugspflege auf das Primary Nursing Konzept zurück und stellen die prinzipielle Gleichartigkeit der beiden Pflegesysteme fest. Unterschiede werden v.a. mit den unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und den USA begründet. (Tauch/v.Laak;1998;101)
Einige Autoren stellen die Beziehungspflege als ein besonderes Pflegemodell dar, ohne dabei direkt auf die Bezugspflege zu reflektieren. (Bauer;1997) Oder sie stellen die Bezugspflege als die Organisationsstruktur dar, die Beziehungspflege ermöglicht. (Huck;1999;34) Die meisten Autoren, die über Beziehungspflege schreiben, verwenden die Begriffe Beziehungspflege und Bezugspflege synonym (vgl. Huck;1996;147; Teising;1996;160) oder sie betrachten die Beziehung als zentralen Aspekt der Bezugspflege, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
Abderhalden/Needham haben die Verwendung des Bezugspflegebegriffs im Hinblick auf seinen Bedeutungsgehalt und im Hinblick auf seine Verwandtschaft mit dem Primary Nursing Begriff untersucht. Sie kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass in der deutschsprachigen Literatur die Begriffe Bezugspersonenpflege, Bezugspersonensystem, Primary Nursing, Beziehungspflege und Bezugspersonenpflegesystem synonym verwendet werden. Weiterhin sei nicht klar abgrenzbar, ob es sich bei der Bezugspflege um ein Pflegeorganisationsmodell oder um eine konzeptionelle Beschreibung von Pflege handelt. „Gemäß der untersuchten Literatur ist Bezugspflege eine Pflegeorganisationsform, ein Zuordnungssystem, ein System, ein Pflegemodell, ein Pflegekonzept, eine Denkart, eine Philosophie und professionelle Hilfe.“ (Abderhalden/Needham;1999;10) Die Autoren ermitteln als ein Ergebnis ihrer Arbeit sechs Kernelemente, durch die sich Bezugspflege konstituiert: Beziehung, Kontinuität, Kooperation, Koordination, Reflexion und Verantwortung. Sie verweisen auf Bedeutungsschwankungen der Bezugspflege zwischen dem englischsprachigen Raum, wo der Verständnisschwerpunkt in der Autonomie gesehen wird und im deutschsprachigen Raum, wo der Verständnisschwerpunkt in der Beziehung gesehen wird. (a.a.O.)
Einige Autoren haben die Pflegemodelle unter evolutionären Gesichtspunkten betrachtet. Es wurde eine chronologische Entwicklungslinie gezeichnet, die über die Funktionspflege, Gruppenpflege und Zimmerpflege5 zur Bezugspflege führt. Bezugspflege wird in diesem Zusammenhang als das Pflegekonzept der neunziger Jahre bezeichnet (Reader der Schwesternschule Theodosianum;1991;1; Müggler;1992;53; Andraschko;1996;7). In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Bezugspflege und Primary Nursing synonym verwendet. Primary Nursing wird dann bevorzugt eingesetzt, wenn sich die Darstellungen an englischen und US-amerikanischen Veröffentlichungen orientieren. Im deutschsprachigen Raum wurden kaum pflegewissenschaftliche Untersuchungen zur Bezugspflege durchgeführt. Die Feststellung der Gleichartigkeit von Bezugspflege und Primary Nursing war daher für unsere Arbeit von besonderer Bedeutung, da wir Ergebnisse von Studien referieren, die im Primary Nursing System durchgeführt wurden und sie im Hinblick auf unsere Fragestellung auswerten.
3.1.2. Die Geschichte der Bezugspflege
Als erste Einrichtungen, die Bezugspflege Anfang der siebziger Jahre eingeführt haben, werden das Krankenhaus in Burford (in der Nähe von Oxfort/England) und das Beth Israel Hospital (Bosten/USA) genannt. (Müggler;1992;52ff.; Brechbühler;1992;60). Andere Autoren nennen das Jahr 1968 und die University of Minnesota. Dort soll eine Gruppen von Krankenschwestern um Marie Manthey das Pflegesystem entwickelt und umgesetzt haben. (Miller;1998;3) Die Bezugspflege hat spätestens Anfang der siebziger Jahre Einzug in die Krankenpflege gehalten. Die Ausgangssituation in den englischen und US - amerikanischen Krankenhäusern, in denen man sich zur Einführung dieses neuen Pflegemodells entschloss, ähnelte der Situation, die Pflegende in unseren Kliniken beschreiben: Unzufriedenheit über die Arbeitsorganisation, Mangel an individueller, patientenzentrierter Pflege, oberflächliche Patient-Pflegekraft-Beziehung, mangelhafte Dokumentation und hohe Berufsunzufriedenheit mit niedriger Verweildauer im Beruf, verbunden mit entsprechend hoher Personalfluktuation.
Eine Ursache für diese Missstände wurde in dem vorherrschenden Pflegeorganisationssystem gesehen. Es funktionierte nach dem Prinzip der ärztlichen Zuarbeit. Als Wegbereiter für dieses Prinzip galt die von der Krankenpflege übernommene, krankheits- und organbezogene Sichtweise der Medizin. (Bischofberger;1992;57; Olson;1998;8; Pittius;1992;78;)
„Heutige ganzheitliche Pflegesysteme rekurrieren auf ein holistisches Weltbild, in welchem der Patient eine aktive Rolle einnimmt. Hierbei ist das Bild vom Menschen, als einer Einheit von Geist, Körper und Seele, von zentraler Bedeutung. Im Rahmen der biomedizinischen Deutungsmacht von Krankheit und Gesundheit durch die Medizin und der Zunahme technisch instrumenteller Diagnose und Therapie, wurde die Pflege als Heilhilfsberuf in die Rolle des Erfüllungsgehilfen ärztlichen Tuns gedrängt. Die Funktionspflege ist nach dem Prinzip der ärztlichen Zuarbeit organisiert. Der Anspruch auf Eigenständigkeit und Aufgabenabgrenzung wurde weitgehend aufgegeben.“ (Lorenz/Zell;1992;72)
Für eine weitgehende Eigenständigkeit der Pflege, wie es das Primary Nursing Konzept verlangt, bedarf es einer Abgrenzung der Pflege vom ärztlichen Berufsstand, jener Berufsgruppe, mit der Pflegende am intensivsten zusammenarbeiten.6
Die Bezugspflege erfreut sich wachsender Beliebtheit.7 Gründe für die zunehmende Popularität und einen Ausblick in eine mögliche Zukunft der Bezugspflege v.a. in psychiatrischen Einrichtungen sieht Hoffmann in dem zum Teil ökonomisch bedingten Rückgang der direkten therapeutischen Kontakte zwischen Arzt und Patient. Er führt dazu aus: „Heute scheinen immer weniger Psychiater in Institutionen psychotherapeutisch oder gar psychoanalytisch arbeiten zu wollen, sie sehen sich oft primär als pharmakologische Therapeuten, so dass Sozialarbeiter und Krankenschwestern die inhaltliche Arbeit mit den Patienten verrichten. In eine solche Richtung könnte die Entwicklung und theoretische Untermauerung der Bezugspflege gehen ...“ (Hoffmann;1998;134)
3.1.3. Was ist Bezugspflege?
Bezugspflege bezeichnet ein nach pflegerischen Gesichtspunkten gestaltetes, patientenorientiertes Pflegekonzept. Der Beziehungsprozess steht dabei im Zentrum der Pflege. Bezugspflege ist verpflichtende, festgehaltene, sichtbare Verantwortlichkeit einer qualifizierten Pflegekraft für die 24-Stunden-Pflege einer Gruppe von Patienten während ihres ganzen Stationsaufenthalts. Als Bezugspflegende wird in diesem Pflegesystem die Hauptzuständige bezeichnet. Sie verantwortet die Pflege für ihren Patienten rund um die Uhr gegenüber dem betreffenden Patienten, seinen Angehörigen, anderen Pflegenden, Ärzten und anderen Mitarbeitern. In ihr personifiziert sich die Hauptzuständigkeit und die Verantwortung des Pflegeteams für den Patienten.
Tauch und Laak unternehmen in ihrem Aufsatz „Bezugspflege in der psychiatrischen Pflege“ den Versuch einer Definition dieses Konzepts: „Bezugspflege ist die ‚Zuweisung‘ eines oder mehrerer Patienten zu einer Pflegeperson, die im professionellen Pflegeprozess nicht nur die funktionalen Anteile der Pflege übernimmt, sondern sich auch um soziokulturelle und soziotherapeutische Anteile der ‚ganzheitlichen‘ Pflege kümmert. Ganzheitlichkeit in der Pflege bedeutet hier zum einen, dass Handlungen als Ganzes ausgeführt werden, ohne sie in Teilbereiche zu zerlegen und dadurch aus dem Zusammenhang zu reisen, zum anderen, dass auch die Bedürfnisse der Schwester und anderer Mitarbeiter Berücksichtigung finden.“ (Tauch/Laak;1998;100) Verantwortung und besondere Zuständigkeit sind auch für Schädle-Deininger und Villinger die zentralen Elemente der Bezugspflege. (Schädle-Deininger/Villinger;1996;465)
Die Bezugspflegende führt das Pflegegespräch durch und erörtert Besonderheiten mit dem Patienten und seinen Angehörigen (Gewohnheiten, Vorlieben etc.). Daraufhin ermittelt sie den Pflegebedarf (erstellt u.U. Pflegediagnosen) und lässt ihre Informationen über den Patienten und seinen Heilungsverlauf ständig in den Pflegeprozess einfließen bzw. modifiziert diesen fortlaufend nach dem neuesten Stand ihrer Erkenntnisse. Jegliche Veränderung ihrer Planungen durch Dritte bedarf ihres Einverständnisses. Sie ist der Anwalt des Patienten, regelt die Terminvergabe für Diagnostik und Therapie und organisiert ihre Vertretung. Sämtliche Maßnahmen werden von ihr so geplant, dass sie für den Patienten nicht zur Überlastung führen. In der Praxis kann dies bedeuteten, dass sich alle am Genesungsprozess beteiligten Berufsgruppen bei ihr Termine für den Patenten einholen müssen.
Sie ist die erste Ansprechpartnerin für alle am Heilungsprozess Beteiligten. Sie begleitet die Arztvisite und koordiniert die Patientenaktivitäten. Bei ihr laufen alle Informationen über den Patienten zusammen. Sie wird daher auch zum Ansprechpartner für die Angehörigen des Patienten und der Mitarbeiter anderer Berufsgruppen. Schädle-Deininger und Villinger fassen die neue Rolle wie folgt zusammen: sie verhandelt mit dem Arzt über Indikationen, ist verantwortlich für Anamnese, Planung und Dokumentation der Pflege, übernimmt Vermittlerfunktion gegenüber den Angehörigen und Freunden, unterstützt und begleitet den Patienten in allen Belangen. Dafür dient ihr das besondere Vertrauensverhältnis zum Patienten als Basis. (Schädle-Deininger/Villinger; 1996;466)
Zur Entlassung des Patienten wertet sie mit ihm den Pflegeverlauf aus. Pflegeanamnese, - planung, -durchführung, -dokumentation und -evaluation bzw. -bewertung, kurzum der gesamte Pflegeprozess liegt in ihrer Verantwortung, zumindest soweit es ihren Patienten betrifft.
Hans Joachim Schlettig hat die Einführung der Bezugspflege im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke als Pflegedienstleitung maßgeblich begleitet und seine Erfahrungen in dem Buch „Bezugspflege“ (Schlettig/v.d.Heide;1995) veröffentlicht. Darin bestätigt er, dass Bezugspflegende in ihrem Aufgabenbereich autonom sind und gleichberechtigt mit den anderen Bezugspflegenden auf der Station arbeiten. Er erwähnt aber auch, dass sie zudem die Aufgabe haben, sich gegenseitig zu reflektieren, zu kritisieren, zu beraten und zu bewerten. (a.a.O.;90f.) Dadurch wird dem Missbrauch von Autonomie wirkungsvoll vorgebeugt. Die Bezugspflegende ist darüber hinaus zur kollegialen Zusammenarbeit mit den anderen Berufsgruppen verpflichtet.
3.1.4. Von der Schwierigkeit, Bezugspflege eindeutiger zu definieren
Es gibt keine allgemeingültige Definition dieses Pflegesystems. Je nach örtlichen Gegebenheiten, Ausbildungsstand, Stellenschlüssel, Rahmenbedingungen und der schwankenden Auffassung von Bezugspflege mal als Arbeitsorganisationsprinzip, mal als Beziehungsangebot, modifizieren sich die Modelle. Eine psychiatrische Abteilung stellt z. B. andere Anforderungen an das Konzept der professionellen Beziehungsgestaltung in der Bezugspflege als eine somatische Abteilung.
Das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke hat von 1988 bis 1992 die Bezugspflege eingeführt. Das Pflegehandbuch Herdecke sagt rückblickend zur Implementierung: „Es stellte sich schnell heraus, dass jede Pflegegruppe eine modifizierte, eigene Variante entwickeln muss, die von den Anforderungen der Patientengruppe, aber auch von den Entwicklungsschritten der jeweils Pflegenden abhängt Es zeigte sich hier um so deutlicher, dass jede Fachabteilung ihre eigene Interpretation der Bezugspflege erarbeiten muss.“ (Detert;1998;15ff.) Tauch und Laak haben die Implementierung der Bezugspflege in Rheinischen Kliniken Bedburg-Hau konzeptionell begleitet. Auch sie betonen die Notwendigkeit der Modifikation des Modells bei der Implementierung. (Tauch/Laak;1998;103)
Abderhalden und Needham haben neben der Auswertung des Bedeutungsgehalts der Bezugspflege in der Literatur auch untersucht, welche Begriffe Bezugspflegende in der Schweiz für die Bezugspflege als konstituierend betrachten. Danach bildet sich der begriffliche Konsens bei den Bezugspflegenden durch die Hauptmerkmale: alle Patienten haben eine Bezugsperson, Zuteilung einer einzigen hauptverantwortlichen Bezugsperson, Kontinuität der Pflege, Beziehung zu den Patienten, Kooperation, Koordination, Reflexion, direkte Kommunikation, Patientenorientierung, Entscheidungsbefugnis der Bezugsperson, Entscheidungsbereiche der Bezugsperson mit Verantwortung als Einzelperson, Begleitung der Patienten vom Eintritt auf einer Station bis zum Austritt aus dieser Station, Beteiligung an der Nachbetreuung, soweit dies zum Angebot der Institution gehört. (Abderhalden/Needham;1999;27)
Die Unterschiede in den Konzepten der deutschen Bezugspflege und dem englischen / US- amerikanischen Primary Nursing resultieren zusätzlich zu der bereits genannten Dimension (Unschärfe des Bezugspflegebegriffs) aus den unterschiedlichen Regelungen der Ausbildungsgänge (z. B. der seit Jahrzehnten üblichen durch Bachelor und Masterstudiengänge) und dem damit verbundenen unterschiedlichen Grad von Autonomie von Pflege. Am Beth Israel Hospital in Boston waren 1992 90% der Primary Nurses akademisch ausgebildete Pflegekräfte (Bischofberger;1992;52).
3.2. Die Organisation der Bezugspflege
Die Bezugspflege ist auch ein Arbeitsorganisationsmodell, d.h. es bedarf zu ihrer Umsetzung struktureller Veränderung der Arbeitsabläufe. Die Umstellung der Pflegeorganisation von der Funktionserfüllung zur Patientenorientierung fordert eingreifende Veränderungsprozesse in der ganzen Einrichtung. „ ... Wenn im Pflegebereich Veränderungen eingeleitet werden und an anderen Stellen des Netzes Krankenhausbetrieb ... nicht entsprechende Änderungen mit entwickelt werden, dann muss zwangsläufig der Erfolg ausbleiben und die Veränderungen müssen nach und nach wieder in den alten Zustand zurückgehen.“(Schlettig/v.d.Heide;1995;95f.)
Die Verantwortungs- und Kompetenzzuweisung an die Bezugspflegende erfordert für die Organisation eine Abflachung der in der Pflege üblicherweise sehr steilen Hierarchie. Flache Entscheidungsstrukturen, klare Verantwortlichkeiten und kollegiale, partizipative Leitungsstrukturen sind kennzeichnend für die Bezugspflege. Sie ist patienten- und aufgabenorientiert, d.h. die Bezugspflegende nimmt, soweit es ihre Patienten angeht, die Funktion sämtlicher Hierarchieebenen wahr.
Im Mount Sinai Medical Center (New York City, USA) wurden als Ergebnis der Einführung von Primary Nursing die Hierarchieebenen zwischen einer Krankenschwester und dem stellvertretenden Pflegedirektor von sechs auf zwei Ebenen abgeflacht. (Smith;1998;7)
3.2.1. Die Delegationskompetenz der Bezugspflegekraft
Die Bezugspflegende trägt die volle Pflegeverantwortung für den gesamten Aufenthalt des Patienten auf der Station. Die Verantwortung erstreckt sich auch und v.a. auf die Zeiten ihrer Abwesenheit. Sie muss daher berechtigt sein, die Pflegeausführung für ihre Patienten delegieren zu können. Zur Umsetzung ihrer Pflege stehen ihr während ihrer Abwesenheit Begleitpflegende (Assistant nurses/Associated nurses) und Pflegehilfskräfte / Pflegeassistenten (care assistant) zur Verfügung, die sie vertreten. Sie bleibt aber verantwortlich für die Pflege ihres Patienten und für die exakte Dokumentation aller Tätigkeiten, auch jener, die sie delegiert hat.
Die Begleitpflegende führt die Pflege exakt nach den Vorgaben der Bezugspflegenden aus. Oft befindet sich die Begleitpflegende in der Ausbildung zur Bezugspflegenden. Üblicherweise sind die Bezugspflegenden für eine Reihe von Patienten (die Anzahl schwankt) zugleich Begleitpflegende, d.h. sie führen die Pflegemaßnahmen exakt so aus, wie eine andere Bezugspflegende dies für ihren Bezugspatienten bestimmt hat. Sie hat daher Ausführungsverantwortung, aber keine Planungsverantwortung für diejenigen Patienten, für die sie Begleitpflegende ist. Zum weitgehend reibungslosen Ablauf der beschriebenen Delegation bedarf es verständlicherweise einer exakten schriftlichen Pflegeplanung für die Bezugspatienten und einer intensiven Dokumentation und Kommunikation zwischen den Begleitpflegenden und der Bezugspflegenden.
3.2.2. Die Rolle der Stationsleitung
So weit es die Stationsleitung angeht, ist die Bezugspflege ebenfalls nicht einheitlich organisiert. Manche Bezugspflegeeinheiten verteilen die Aufgaben der Stationsleitungen kollegial unter den Bezugspflegenden, in anderen Bezugspflegeeinheiten bleibt die Stationsleitung erhalten. Ihr Aufgabenprofil verändert sich allerdings, da die Bezugspflegenden die vollständige Pflegeverantwortung für ihre Patienten übernommen haben.
In anderen Pflegeorganisationsmodellen sammeln sich patientenbezogene Informationen bei der Stationsleitung, die bei den ärztlichen Visiten assistiert und die Informationen danach weiterleitet. Auf diesen Informationsvorsprung gründete sich ein erheblicher Teil der Autorität der Stationsleitung.
Der Informationsprozess verläuft in der Bezugspflege in anderen Bahnen. Die Bezugspflegende ist der zentrale Informationspool für ihren Patienten. Sie führt gemeinsam mit dem ärztlichen Dienst die Visiten am Patientenbett durch, bezieht ihren Patienten dabei aktiv ein und steht ihm nach Abschluss der Visite vermittelnd und erklärend zur Seite. In der Bezugspflege gibt es keine Teilung mehr zwischen Planung, Koordination und Ausführung der Pflege. Der gesamte Pflegeprozess liegt in der Verantwortung der Bezugspflegenden. Ein Hauptanliegen dieses Pflegekonzeptes ist, theoretisch-fundiertes Pflegewissen praxisnah anzuwenden und die Pflegepraxis entsprechen zu evaluieren.
Die Stationsleitung ist in der Bezugspflege v.a. für Administration, Personalauswahl, Coaching, Dienstplanerstellung, Fachberatung u.a. zuständig. (Andraschko;1996;8; Schneeberger;1995;19) Die Bezugspflegende ist ihr disziplinarisch und organisatorisch, aber nicht fachlich, unterstellt. Der Stationsleitung kommt die organisatorische Leitung und Begleitung der Bezugspflegenden zu. Unterstützung für ihre neue Rolle als Fachberaterin erhält die Stationsleitung durch Pflegespezialistinnen, die in besonderen Fragen vor Ort mit der Bezugspflegenden Unterweisungen durchführen. Ihr Einsatz wird von manchen Autoren als entscheidend für den Erfolg des Bezugspflege angesehen.(Müggler;1992;55; Bischofberger;1992;59)
Durch das veränderte Aufgabenprofil verliert die Stationsleitung bei der Umstellung auf die Bezugspflege zunächst einen Teil ihrer Autorität, ihrer Macht und ihres Prestiges. Es ist daher naheliegend, dass von dieser Seite Widerstand gegen die Bezugspflege erwartet werden kann.
3.2.3. Die Veränderungen im Verhältnis zu den anderen Berufsgruppen
Die Erfahrungen, die aus der Beziehung von Bezugspflegendem und Patient resultieren, fließen in die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller am GenesungsProzess beteiligten Personengruppen ein. (vgl. Haffner;1992;63; Schlettig/v.d.Heide;1995;96) In ihrer Rolle als Zentrale für alle Informationen ihrer Patienten, leiten die Bezugspflegenden die Informationen an das Team gezielt weiter. Es bedarf einer Vernetzung von patientenbezogenen Informationen. Der Aufwand für Kommunikation und Dokumentation in der Pflege erhöht sich.
Durch den engen Bezug zum Patienten lernen die Bezugspflegenden die Arbeitsfelder und Ressourcen der anderen Berufsgruppen im Krankenhaus besser einzuschätzen. Sie erleben, was ein Arzt, Ergotherapeut, Masseur, Psychologe, Sozialarbeiter und Physiotherapeut zum Heilungserfolg ihres Patienten beitragen kann und setzen diese Kompetenzen gezielt für ihre Patienten ein.
Ursula Isling arbeitet als Fachkrankenschwester für Psychiatrie mit abhängigkeitskranken Patienten während der stationären Entgiftung. Für sie besteht die Aufgabe der Bezugspflegenden auch darin, „... den Patienten mit seiner Erkrankung zu konfrontieren und den Patienten zu einer Krankheitseinsicht zu führen.“ (Isling;1999;45) Vermittelnde und aufklärende Patientengespräche sind nach der bisherigen Auffassung Aufgaben des ärztlichen und psychologischen Dienstes, da sie unmittelbar mit Diagnose und Therapie der somatischen Erkrankung verbunden sind. Die Verlagerung von Tätigkeiten aus anderen Berufen in den Pflegebereich, wird hierbei recht deutlich.
Eine solche Verlagerung ist möglich, bedarf allerdings einer entsprechenden Verabredung der betroffenen Berufsgruppen und entsprechender Fähigkeiten bei der Bezugspflegenden, um den Patienten vor inkompetenter Konfrontation zu bewahren und die Bezugspflegenden vor dem Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung zu schützen.8 Es ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Pflege als eigenständige Profession sich nicht nur durch die Anreicherung von Aufgaben aus anderen Berufsgruppen profilieren kann. So verständlich der Wunsch nach Autonomie auch ist, so besteht dabei doch auch die Gefahr, dass an dieser Stelle (z. B. im Verhältnis zur Medizin) über das nötige Maß hinausgegangen wird. Die Pflege sollte sich als Wissenschaft mit eigenem Profil definieren. Eine Anreicherung mit den Aufgaben anderer Berufsgruppen würde diesem Ziel nicht gerecht werden.
3.3. Qualitätsaspekte in der Bezugspflege
„ Ein Bezugspersonenkonzept erm ö glicht es, die Beziehungsarbeit in ihren Strukturen zu regeln ... sagt aber nichtsüber die Qualit ä t der Beziehung aus.“ (Haffner;1992;68) Eine eindeutige und zugleich allgemeine Aussage zur Qualität der Pflegeleistungen in der Bezugspflege lässt sich nur schwer treffen, da die Umsetzung der Bezugspflege aus den bereits genannten Gründen stark variiert. Es kann aber die Implementierung der Bezugspflege in einer konkreten Einrichtung und die Auswirkung auf die Qualität der dort erbrachten Leistungen untersucht werden. Leider haben wir keine wissenschaftlichen Untersuchungen mit entsprechender Zielsetzung in der deutschsprachige Pflegewissenschaft finden können.
In der englischsprachigen Forschung gibt es dagegen eine Reihe von Untersuchungen zum Thema, von denen wir einige vorstellen werden. Da die weit überwiegende Zahl der Veröffentlichungen positive Entwicklungen der Qualität nach Einführung der Bezugspflege nachweist, werden wir das Hauptaugenmerk auf sie richten.
3.3.1. Bezugspflege als Garantie für höherer Pflegequalität ?
Jillian M. MacGuire et al. untersuchten über einen Zeitraum von sechs Monaten die Einführung von Primary Nursing in einer geriatrischen Station. Die qualitative Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Pflegenden nach Einführung des Primary Nursing ein verbessertes Wissen über ihre Patienten haben „...improved knowledge of the patient to whom they were primary or associate nurses.“ (MacGuire et al;1990;1122). Insgesamt verbesserte sich die Kommunikation zwischen den Pflegenden und den Patienten. Die Patienten suchen eher das Gespräch und die Begegnung mit den Pflegekräften („...Patients were more likely to ask for the primary nurse ...“ (a.a.O.;1123) und auch Angehörige suchen stärker den Kontakt mit der Pflegekraft. Die Pflegekräfte äußern ihre Einschätzung, dass durch die intensivere Pflege-Patient-Beziehung eine persönlichere und vertrauensvollere Atmosphäre entsteht, die dem Patienten ein höheres Maß an Sicherheit vermittelte. Alle interviewten Pflegekräfte ziehen aus der neuen Verantwortlichkeit für ihre eigenen Patienten eine höhere Arbeitszufriedenheit. Sie vertreten die Ansicht, dass die Bedingungen des Primary Nursing die Effektivität erhöhe und die Rehabilitation der Patienten beschleunige. (a.a.O.;1120ff.)
Im Mount Sinai Medical Center in New York City, USA, wurde die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Patienten -nach Einführung von Primary Nursing im Jahre 1996- während eines Zeitraums von zwei Jahren (1996-1998) um 25% gesenkt. Diese Ergebnisse wurden mit der gleichen Anzahl von Pflegestunden pro Patient erzielt. Im gleichen Zeitraum nahmen die Patientenbeschwerden, die Pflege betreffend, um 30% ab. (Smith;1998;7)
Eine weitere Studie kommt zum Ergebnis, dass sich die Qualität der Pflege nach Einführung des Primary Nursing nicht signifikant verändert. In einem Niederländischen Krankenhaus (850 Betten) wurde von 1992 bis 1993 eine Studie mit dem Titel: „ Primary Nursing and the quality of care: a Dutch study “ durchgeführt. In der Studie wurde die Veränderung der Pflegequalität (Struktur-, Prozess-, Ergebnisqualität) nach Einführung von Primary Nursing untersucht. Ausgangssituation war ein festgestellter Mangel an verläßlichen empirischen Studien bzw. widersprüchliche Ergebnisse anderer Studien zum Qualitätsaspekt bei Primary Nursing.
[...]
1. Der Autor wurde im Rahmen eines Praktikums gebeten, im Bereich der psychiatrischen Stationen eines Krankenhauses der Maximalversorgung die Umsetzung der Bezugspflege zu begutachten. Nach allgemeiner Einschätzung aller Beteiligten (Pflegekräfte, Ärzte, Pflegedienstleitungen) „klemmte“ es in der Umsetzung der Bezugspflege Der Auftrag lautete, mögliche Ursachen für die Schwierigkeiten zu identifizieren. Das Fallbeispiel wurde im Rahmen dieses Praktikums aufgezeichnet.
2 Zur Definition der Pflege als Heilhilfsberuf unter ärztlicher Gesamtverantwortung vgl. Kapitel 6.2.
3 Zum sich wandelnden Selbstverständnis in der Pflege: vgl. Robert Bosch Stiftung „Pflege braucht Eliten“, 1993;118
4 Unsere Literaturrecherche ergab eine einzige wissenschaftliche Publikation zu dieser Frage. Der Artikel mit dem Titel „Primary nursing: a mode of care or a philosophy of nursing?“, setzt sich mit der Unschärfe des Bezugspflegebegriffs auseinander. Der Autor schlägt vor, Primary Nursing als Bezeichnung für das Organisationsmodell zu benutzen und führt den Begriff „human centred nursing“ ein, um die inhaltliche Dimension des Bezugspflegebegriffs zu beschreiben. Ob mit der Einführung eines weiteren Begriffs in dieser Frage mehr Klarheit entsteht, bezweifeln wir. (Pontin;1999;584ff.)
5 Funktionspflege bedeutet ein Arbeitsorganisationsprinzip, nach der anfallende pflegerische Arbeiten nach der Charakteristik der Tätigkeiten und nicht patientenbezogen im Pflegeteam verteilt werden. Gruppenpflege ist eine Pflegearbeitsorganisation, nach der eine bestimmte Anzahl von Pflegenden für eine definierte Anzahl von Patienten zuständig ist. Zimmerpflege bedeutet, dass eine oder mehrere Pflegende für die Pflege von Patienten eines Stationszimmers zuständig sind. Allen gemeinsam und zentrale Abgrenzung zur Bezugspflege sind die Zuordnungskriterien von Pflegekraft zu Patient, die von Faktoren wie Zimmerbelegung, Gruppenzugehörigkeit etc. bestimmt werden und nicht wie in der Bezugspflege, durch den kontinuierlichen, verantwortlichen und eindeutigen Bezug von einer Pflegendem zu einem Patienten.
6 Zu Fragen der durchschnittlichen Verweildauer von Pflegekräften im Beruf, der Abhängigkeit pflegerischer Tätigkeiten und des pflegerischen Selbstverständnisses von der ärztlichen Gesamtverantwortung, sowie der Definition der Pflege als ärztlicher Hilfsdienst vgl. Wedel-Parlow;1993;100ff.
7 Nach der Untersuchung von Abderhalden/Needham, deklarieren 85,3% der stationären psychiatrischen Einrichtungen in der deutschsprachigen Schweiz Bezugspflege als ihre praktizierte Arbeitsorganisation (Abderhalden/Needham;1999;7)
8 vgl. Kapitel 7.2.1.
- Citar trabajo
- Stefan Böhmer (Autor), 2001, Bezugspflege. Chancen und Risiken eines innovativen Pflegemodells, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/311318
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