Problemstellung
Betrachtet man die berufs- und wirtschaftspädagogische Diskussion um die Schlüsselqualifikationen, so wird oftmals darauf verwiesen, dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen auf einer formalen Bildungstheorie basiere und die formale Allgemeinbildung1 eine Renaissance erlebe. So schreibt beispielsweise Beck: „Die geschichtliche Tradition der Schlüsselqualifikationen liegt eindeutig in den formalen Bildungstheorien.“ (Beck 2001, S.38). Dörig meint: „Der Anspruch der Schlüsselqualifikationsvertreter, Bildung und Erziehung auf wenig konzentrierte, situationsgerecht immer wieder neu generierbare und kombinierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten zu reduzieren, beruht auf einem Verständnis von Formalbildung.“ (Dörig 1996, S.81). Arnold und Müller gehen davon aus, „dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen sich aufgrund seiner formalen Struktur direkt zu der seit dem 18.-Jahrhundert geführten bildungstheoretischen Diskussion um die Theorie der formalen Bildung in Beziehung setzen lässt.“ (Arnold/Müller 2002, S.7). In ihrem „Handbuch der Berufsbildung“ schreiben Arnold und Lipsmeier schließlich, der Ansatz der Schlüsselqualifikationen sei „in gewisser Weise eine neue Variante von ‚Allgemeinbildung’, insofern zwar auf die berufliche Bildung [...] keineswegs verzichtet wird, aber darüber hinaus weitere Fähigkeiten, Orientierungs- und Sozialkompetenzen vermittelt werden sollen, die über die spezifische Arbeitsplatzbedingen hinaus und sogar in der sozialen Lebenswelt ganz allgemein von Bedeutung sind.“ (Arnold/Lipsmeier 1995, S.22). Sucht man jedoch nach Begründungen und weiterführenden Erläuterungen für die These, das Schlüsselqualifikationskonzept basiere auf einer formalen Bildungstheorie und sei letztlich klassische formale Allgemeinbildung in modernen Gewande, so wird man nicht oder nur unzufriedenstellend fündig. Diese These wird in der Literatur meist einleitend in den Raum gestellt, jedoch nicht weiter ausgeführt. Somit drängt sich ein direkter Vergleich des Konzeptes einer formalen Allgemeinbildung und der Schlüsselqualifikation geradezu auf, Zum einen wird die formale Bildung von der materialen Bildung abgegrenzt: Unter „materialer“ Bildung wird die Aneignung bestimmter Bildungsinhalte, also Sach- oder Wissensbildung verstanden. „Formale“ Bildung hingegen meint, dass den Inhalten die Aufgabe zukommt, die geistigen Fähigkeiten der Bildenden herauszufordern und abzubilden...
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen
2. Formale Allgemeinbildung
2.1 Genese des Konzeptes und historische Einordnung
2.2 Analyse der „Theorie der Bildung des Menschen“ von W. v. Humboldt (1794)
2.2.1 Definition/Begriffsverständnis
2.2.2 Begründungszusammenhänge
2.2.3 Lehr- und Lernformen
2.3 Zusammenfassung
3. Schlüsselqualifikationen
3.1 Genese des Konzeptes und historische Einordnung
3.2 Analyse des Schlüsselqualifikationskonzeptes von D. Mertens (1974)
3.2.1 Definition/Begriffsverständnis
3.2.2 Begründungszusammenhänge
3.2.3 Lehr- und Lernformen
3.3 Analyse des Schlüsselqualifikationskonzeptes von L. Reetz (1990)
3.3.1 Definition/Begriffsverständnis
3.3.2 Begründungszusammenhänge
3.3.3 Lehr- und Lernformen
3.4 Analyse des Schlüsselqualifikationskonzeptes von U. Laur-Ernst (1990)
3.4.1 Definition/Begriffsverständnis
3.4.2 Begründungszusammenhänge
3.4.3 Lehr- und Lernformen
3.5 Zusammenfassung
4. Gegenüberstellung und Vergleich
5. Fazit und Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
Betrachtet man die berufs- und wirtschaftspädagogische Diskussion um die Schlüsselqualifikationen, so wird oftmals darauf verwiesen, dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen auf einer formalen Bildungstheorie basiere und die formale Allgemeinbildung[1] eine Renaissance erlebe.
So schreibt beispielsweise Beck: „Die geschichtliche Tradition der Schlüsselqualifikationen liegt eindeutig in den formalen Bildungstheorien.“ (Beck 2001, S.38). Dörig meint: „Der Anspruch der Schlüsselqualifikationsvertreter, Bildung und Erziehung auf wenig konzentrierte, situationsgerecht immer wieder neu generierbare und kombinierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten zu reduzieren, beruht auf einem Verständnis von Formalbildung.“ (Dörig 1996, S.81). Arnold und Müller gehen davon aus, „dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen sich aufgrund seiner formalen Struktur direkt zu der seit dem 18.-Jahrhundert geführten bildungstheoretischen Diskussion um die Theorie der formalen Bildung in Beziehung setzen lässt.“ (Arnold/Müller 2002, S.7). In ihrem „Handbuch der Berufsbildung“ schreiben Arnold und Lipsmeier schließlich, der Ansatz der Schlüsselqualifikationen sei „in gewisser Weise eine neue Variante von ‚Allgemeinbildung’, insofern zwar auf die berufliche Bildung [...] keineswegs verzichtet wird, aber darüber hinaus weitere Fähigkeiten, Orientierungs- und Sozialkompetenzen vermittelt werden sollen, die über die spezifische Arbeitsplatzbedingen hinaus und sogar in der sozialen Lebenswelt ganz allgemein von Bedeutung sind.“ (Arnold/Lipsmeier 1995, S.22).
Sucht man jedoch nach Begründungen und weiterführenden Erläuterungen für die These, das Schlüsselqualifikationskonzept basiere auf einer formalen Bildungstheorie und sei letztlich klassische formale Allgemeinbildung in modernen Gewande, so wird man nicht oder nur unzufriedenstellend fündig. Diese These wird in der Literatur meist einleitend in den Raum gestellt, jedoch nicht weiter ausgeführt. Somit drängt sich ein direkter Vergleich des Konzeptes einer formalen Allgemeinbildung und der Schlüsselqualifikation geradezu auf, welcher eine solche These überprüfen könnte. Genau dies soll die vorliegende Arbeit zumindest grob und exemplarisch leisten versuchen.
Zu fragen ist nach den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden dieser beiden Konzepte, die sich anscheinend, glaubt man so manchen Autoren im Diskurs, einander ähneln. Sind die Schlüsselqualifikationen wirklich „alter Wein in neuen Schläuchen“, also im Prinzip in modifizierter Form das, was seit der deutschen Aufklärungsbewegung als formale Allgemeinbildung bekannt ist?
1.2 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen
Um einen solchen Vergleich vorzunehmen, bewegt sich diese Arbeit auf einer bildungstheoretischen Ebene und hat dabei einen empirischen Zugang, nämlich eine Inhaltsanalyse prominenter Ansätze der jeweiligen Konzepte und Termini. Somit werden die Konzepte exemplarisch und nicht umfassend dargestellt, was hier auch nicht zu leisten gewesen wäre.
Als Ansatz für das Konzept einer formalen Allgemeinbildung wurde die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts gewählt, da Humboldt als Hauptrepräsentant der neuhumanistisch-klassischen, spezifisch deutschen Bildungstheorie wohl der Erste war, der eine Theorie der Bildung erarbeitete, welche unser gegenwärtiges Bildungsdenken nachhaltig beeinflusste und prägte (vgl. Henz 1991 S.13f./Menze 1970, S.139/Benner 2003, S.7). Mit seiner Idee einer formalen allgemeinen Menschenbildung als Entfaltung innerer Kräfte grenzte er sich von einer materialen, „speziellen“, auf reinen Wissenserwerb gerichtete, Berufs- und Standeserziehung ab und ergriff Partei für die Individualität (vgl. Menze 1983, S.351f.). Somit lässt sich Humboldt als Begründer einer formalen Allgemeinbildung ansehen, auf den auch moderne formale Bildungskonzepte, wie z.B. die „Theorie der formalen Bildung“ wie sie Erich Lehmensieck 1926 vorgelegt hat, Bezug nehmen. (Zudem finden sich in den Literaturverzeichnissen einschlägiger Literatur zur Schlüsselqualifikationsthematik des öfteren der Name Humboldt wieder, was einen solchen direkten Vergleich spannend werden lässt.). Um nicht die Grenzen dieser Arbeit zu sprengen, aber dennoch Humboldts Bildungsdenken in groben Zügen nachzuzeichnen, wurde sich bei der Textanalyse auf das berühmte Fragment „Theorie der Bildung des Menschen“ aus dem Jahre 1794 beschränkt, in dem Humboldt seine zwar nicht systematische, sondern fragmentarische Bildungstheorie entfaltet hat.
Als Ansätze für das Konzept der Schlüsselqualifikationen wurde zunächst das „Urkonzept“ von Dieter Mertens aus dem Jahr 1974 ausgewählt, da dieser mit seinen „42 Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft“ den Terminus der Schlüsselqualifikationen in die Diskussion einbrachte. Des weiteren sollen die persönlichkeits- und handlungsorientierten Ansätze von Lothar Reetz und Ute Laur-Ernst, vorgestellt auf einem Symposium 1990 in Hamburg, analysiert werden, die den Mertenschen Ansatz zur Persönlichkeitsbildung fortentwickelten. Diese drei prominenten Ansätze lassen sich „Mainstream“ der Schlüsselqualifikationsdebatte ansehen. Bewusst wurden alternative, teilweise ideologiekritische Positionen zu den Schlüsselqualifikationen, wie sie beispielsweise Oskar Negt oder Karlheinz A. Geißler und Frank-Michael Orthey vorgelegt haben, in dieser Arbeit ausgeklammert, nicht nur um den hiesigen Rahmen nicht zu sprengen, sondern weil diese Ansätze entweder nicht auf die seit Mertens geführte bildungstheoretische und politische Diskussion Bezug nehmen oder weil sie eine neue Perspektive auf die Schlüsselqualifikationen einnehmen, die sich zu weit von den ursprünglichen Intentionen entfernt hat. Abgebildet werden soll hier das ursprüngliche und während der Jahre kontrovers diskutierte Konzept der Schlüsselqualifikationen.
Welche Kriterien wurden ausgewählt, um die beiden Konzepte analytisch möglichst nachvollziehbar vorzustellen und vergleichbar machen zu können?
Gefragt wurde bei der Auswahl zunächst in allgemein-naiver Weise, was eine Theorie oder ein Konzept eigentlich enthalten sollte. Klar sollte erstens sein, was die Autorin oder der Autor unter dem thematisierten Gegenstand versteht, um diesen eingrenzen zu können. Zweitens ist nach den Begründungs- und Legitimationszusammenhänge des Gegenstandes und des jeweiligen Ansatzes zu fragen. Warum braucht es dieses Gegenstandes und warum wird das jeweilige Konzept entfaltet? Drittens, da es dich um pädagogische Gegenstände handelt, wie können diese möglich, also erworben werden. Was sind geeignete Formen der Vermittlung und der Aneignung? Somit dienen als Analyse- und Vergleichskriterien folgende:
1. Definition/Begriffsverständnis: Was ist unter Bildung bzw. Schlüsselqualifikationen zu verstehen?
2. Begründungszusammenhänge: Warum ist es wichtig Bildung bzw. Schlüsselqualifikationen zu erwerben? Wie wird der eigene Ansatz begründet und legitimiert?
3. Lehr-Lernformen: Wie ist Bildung möglich bzw. wie ist der Erwerb von Schlüsselqualifikationen möglich?
Anhand dieser drei Fragen „was?, warum?, wie?“ sollen die Texte analysiert und die Konzepte vorgestellt und anschließend miteinander verglichen werden.
Eine skeptische Frage scheint an dieser Stelle berechtigt, nämlich ob das Konzept Humboldts einer formalen allgemeinen Menschenbildung und das Konzept der Schlüsselqualifikationen überhaupt vergleichbar ist, wenn man sich die zeitliche Distanz von 180 Jahren zwischen den beiden Konzepten und ihre unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge vor Augen hält. Zugegebener Maßen ist ein solcher Vergleich riskant und anfällig für Kritik. Deshalb soll auch eine kurze Darstellung der Genese des jeweiligen Konzeptes und eine historische Einordnung vor der eigentlichen Analyse die unterschiedlichen Rahmenbedingungen verdeutlichen, z.B. dass das Konzept Humboldts eine umfassende Bildungstheorie für den allgemeinbildenden Bereich darstellt, während die Schlüsselqualifikationen, wie der Name schon sagt, als ein Qualifikationskonzept aus arbeitsweltlichen Zusammenhängen entstand und primär für den berufsbildenden Sektor konzipiert wurde. Dennoch verbindet beide Konzepte, dass sie traditionelle Bildungsvorstellungen mit Ansprüchen der Moderne zu versöhnen versuchen und zudem mehr oder minder umfassende praktische Reformen in der jeweiligen Bildungspraxis ihrer Zeit bewirkten, was einen Vergleich fruchtbar erscheinen lässt. So soll zumindest versucht werden, auf einer abstrakten Ebene einige einzelne strukturelle Analogien der beiden Konzepte herauszuarbeiten.
2. Formale Allgemeinbildung
2.1 Genese des Konzeptes und historische Einordnung
Der neuzeitliche, genuin deutsche klassische Bildungsbegriff einer formalen allgemeinen Bildung entwickelte sich ab Mitte des 18. Jahrhundert in Abgrenzung zur „utilitaristischen“ Aufklärungspädagogik (vgl. Baumgart 2001, S.83).
Diese hatte versucht mit einer Erziehung zur „Brauchbarkeit“ einen Beitrag zur Lösung der Krisen ihrer geburtsständischen absolutistisch regierten Gesellschaft, wie die Krise der Landwirtschaft mit daraus resultierenden Hungerkrisen oder die ökonomische Krise des Gewerbes und Handels, zu geben. Bildung war „der Schlüsselbegriff, die Zentralformel für planmäßiges und direktes Eingreifen des Erziehers auf ein festgelegtes Ziel hin.“ (Menze 1970, S.137). Die geistigen und körperlichen Anlagen des Menschen seien dabei auszubilden und zu vervollkommnen, um den Menschen einerseits zur Glückseligkeit zu führen und andererseits in das gesellschaftliche Ganze einzupassen, wodurch auch die Berufsbildung ihre Stelle in der Aufklärungspädagogik hatte (vgl. ebd.). Bildung in diesem Sinne hatte eine hohe Affinität zur Schule und Unterricht. Der Mensch wurde vornehmlich als „homo oeconomicus“ betrachtet, dessen charakteristische Eigenschaft die Industriösität ist. Seine Bestimmung wurde in der Erfüllung der ihm zugewiesenen gesellschaftlichen Aufgabe in Stand und Beruf gesehen. Durch die Ausbildung der Kräfte der Individuen sollte der gesellschaftliche Fortschritt befördert werden, was sich jedoch letztlich als Illusion erwies. Aus diesem Grund entwickelte sich eine neue Form pädagogischer Reflexion, welche den Humanismus der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts „erneuerte“, dabei jedoch die griechische Antike vor der römischen bevorzugte und daher unter dem Begriff „Neuhumanismus“ in die Bildungsgeschichte einging. Im Rückgriff auf die als beispielhaft empfundene Norm vollendeten Menschentums in der idealisierten Antike enthielt der Neuhumanismus „das Programm einer neuen, bürgerlich-liberalen Gesellschaft“ (Baumgart 2001, S.83). Humboldt als „eindrucksvollster Repräsentant des neuen griechisch-deutschen Humanismus“ (Blankertz 1982, S.101) lehnte wie die anderen Neuhumanisten die aufklärerische Idee der Berufs- und Standeserziehung ab, da dadurch Erziehung mit Berufsausbildung gleichgesetzt wurde. Humboldt und andere Neuhumanisten trennten jedoch streng die Allgemeinbildung von der speziellen beruflichen Ausbildung, die nur der Funktion des Menschen im sozialen Leben diente. Bildung wurde nicht wie im Philanthropismus von objektiven Anforderungen und Inhalten und damit material definiert, sondern formal vom Subjekt her mit dessen individuellen Möglichkeiten. Die, ursprünglich von Rousseau stammende, Idee der reinen Menschenbildung und Selbstbestimmung, wurde vom Neuhumanismus zum Individualitätsprinzip erweitert. Unter diesem Gesichtspunkt war die Allgemeinbildung für Humboldt vor allem lebenslange Selbstbildung und Selbstvollendung. Somit konnte Allgemeinbildung nur von Innen heraus, nicht jedoch von Außen auf das Innere einwirkend, gestaltet werden.
Es war dann der Ausbruch der Französischen Revolution 1789, der die Einsicht brachte, dass die Krisen im ausgehenden 18. Jahrhundert nur über radikale Reformen zu meistern seien, um einen revolutionären Umsturz hierzulande zu verhindern, was die Hoffnung des deutschen Bildungsbürgertums auf die Verwirklichung ihrer Idee einer neuen individuellen und gesellschaftliche Freiheit nährte. Baumgart interpretiert die neuhumanistische und ihre bildungspolitischen Implikationen als „Teil eines liberalen Reformprogramms, als spezifisch deutsche Antwort auf die Herausforderungen der Französischen Revolution“ (Baumgart 2001, S.85).
Nach der Niederlage gegen die französischen Revolutionsarmeen 1806 erhielten die liberalen Reformkräfte in Preußen und den anderen deutschen Staaten die Chance ihre Reformansätze umzusetzen. Als „Stein-Hardenbergsche Reformen“ wurde eine umfassende gesellschaftliche Modernisierung hin zu einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft forciert, die auch eine Reform des Bildungswesens beinhaltete, für die in Preußen zu Beginn Humboldt verantwortlich war. Die „neue“ deutsche Nation war geprägt durch ein politisch und wirtschaftlich empor drängendes Bürgertum. Gesellschaftlich–kollektive Zucht wich einer freien, individuellen Bildung, und die Bestimmung des Menschen wurde vom deutschen Bildungsbürgertum im Ideal der Bildung gesehen. Die Reorganisation der staatlichen Verwaltung sowie ökonomische Reformen zielten darauf, die Individuen aus alten feudalen Abhängigkeiten zu befreien und ihre individuelle Initiative und Leistung zum Motor des gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritts zu machen. Eine Reform des Schulwesens nach neuhumanistischen Prinzipien sollte hierbei moderne Schulen schaffen, die das entsprechende Rüstzeug für die zukünftige Gesellschaft vermittelte. Das geeignete theoretische Instrumentarium wurde hierbei in einer Theorie einer formalen Bildung aller individuellen Kräfte gesehen (vgl. a.a.O., S.86). Die staatliche Schule, so die bildungstheoretische Prämisse Humboldts, sollte nur allgemeine Menschenbildung bezwecken und sich weder an den Interessen sozialer Stände und Gruppen noch an den Anforderungen späterer Berufstätigkeit orientieren. Der Grundsatz „Vorrang der allgemeinen Menschenbildung vor aller besonderen Berufsausbildung“ (Blankertz 1982, 119 ff.) bedeutet, dass alle Schulen, die auf Beruf oder Gewerbe zielen, lediglich nach „vollendetem allgemeinen Unterricht“ (ebd.) folgen dürfen. Damit war die Trennung von Bildung und Ausbildung, von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung vollzogen, „was sich (als Missverständnis Humboldts) in der Form allgemeiner pädagogischer Disqualifizierung der Berufsausbildung bis weit in das 20. Jahrhundert auswirkte“ (Gudjons 1999, S. 95). Denn für Humboldt bedeutete Bildung und Ausbildung kein Widerspruch. „Im Gegenteil: Allgemeine Bildung sei eine unverzichtbare Voraussetzung einer erfolgreichen Berufsausbildung und –tätigkeit“ und somit das „Fundament der ‚speziellen’ Bildung“ (Baumgart 2001, S.91).
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts trat dann ein Verfall des humanistischen Bildungsideals ein, der in der Verdrängung der Humboldtschen formalen Bildungstheorie einer allseitigen Kraftbildung durch eine allseitige Sachbildung und materiale Wissensbildung im Zuge der Ablösung der Pädagogik von der Metaphysik und ihrer Verwissenschaftlichung sichtbar wurde. Erschwerend kam hinzu, dass Bildung zum Privileg der geistigen Elite wurde, welche sich von den „ungebildeten Massen“ abhob. Bildung wurde somit mehr und mehr zu einem bloßen Statussymbol und zu einer „abgeschlossen“ Bildung, was zusammen mit der Abtrennung der bloßen Ausbildung von der eigentlichen Bildung, in der die stürmisch sich entwickelnden Naturwissenschaften und die Technik keinen Platz fanden, eine vielfältige Kultur- und Bildungskritik auslöste, die bis in unsere Tage andauert. (vgl. Menze 1970, S.148ff.). Wurde der Bildungsbegriff nach 1945 noch viel gebraucht, geriet er in den 60er und 70er Jahren unter heftige Kritik und als idealisierend, historisch überholt und ideologieverdächtig in Frage gestellt, weshalb nach Ersatzbegriffen wie Lernen, Qualifikation, Kompetenz u.ä. gesucht wurde (vgl. Wehnes 1991, S.256).
2.2 Analyse der „Theorie der Bildung des Menschen“ von W. v. Humboldt (1794)
2.2.1 Definition/Begriffsverständnis
In Humboldts Fragment zur „Theorie der Bildung des Menschen“ findet sich keine explizite Definition des Bildungsbegriffs. Dennoch lässt sich Humboldts Verständnis des Gegenstandes herausarbeiten.
Gleich zu Beginn seines Textes verdeutlicht Humboldt sein Bildungsverständnis einer formalen allgemeinen Bildung und grenzt sich von einer material verstandenen „speziellen“ Ausbildung ab, indem er zunächst mit dem Gesuch einleitet, die Fähigkeit zu schildern, welche Erkenntnisse erweitern, bearbeiten und in eine Verbindung setzen kann, im Hinblick auf die Ausbildung der Menschheit als Ganzes. Doch er stellt fest, dass nur wenige Menschen diese Fähigkeit erlangen und zu einer „allgemeineren Uebersicht“ kommen. Humboldt beklagt, dass mangels dieser Übersicht, die Wahl einer Tätigkeit unter vielen schwer fällt und die Entscheidung meist aus „untergeordneten Absichten“ oder zum Gebrauch als ein „zeitverkürzendes Spielwerk“ fällt, wodurch die „Bearbeitung des Geistes unfruchtbar bleibt“ und „zwar Vieles um uns her zu Stande gebracht, aber nur wenig in uns verbessert wird“. Um zu solcher allgemeinen Übersicht zu gelangen, ist Allgemeinbildung notwendig, welche aus seiner Sicht gegenüber der speziellen wissenschaftlichen Ausbildung vernachlässigt wird (Humboldt 1969 [1794], S.234/235).
Denn der Mensch wird nicht mehr durch die Gesellschaft geforderten Teilleistungen bestimmt, sondern „im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich.“ (a.a.O., S.235). Hier wird das formalistische und individualistische, also subjektbezogene Bildungsverständnis Humboldts deutlich. Humboldt sieht die Persönlichkeit des Menschen als Wert, der erhöht und dessen natürlichen Kräfte gestärkt werden müssen. Es ist keine Rede von Schulung und daran angeschlossener Bildung. Im Mittelpunkt steht „der Mensch,“ verstanden als einzigartige Person oder Individuum, welcher die Kräfte seiner Natur stärkt und seinem Wesen Wert und Dauer ohne jede besondere Absicht, also zweckfrei bzw. zum Selbstzweck verschafft.
Das gelingt nur dann, wenn eine grundlegende Relation beachtet wird, das Verhältnis von „Mensch“ und „Welt.“ Die Kräfte des Menschen brauchen Gegenstände, an denen sie sich üben, die bloße Form oder der reine Gedanke benötigt Stoff, in den sie sich einprägen, um so fortzudauern. Die reine Innerlichkeit kann nicht überdauern, vielmehr muss sie sich formen, „Bildung“ wäre so selbst geformte Innerlichkeit, nicht geschultes Wissen. Humboldt lässt offen, was genau unter „Gegenstand“ und „Stoff“ verstanden werden muss. Im Prinzip bildet alles, was zur „Welt“ gehört, also außerhalb des individuellen Menschen angenommen wird. „Welt“ ist nicht Lehrplan, zwischen Mensch und Welt tritt weder Schule noch Lehrautorität, vielmehr entspringt das Streben des Menschen, „den Kreis seiner Erkenntnis und Wirksamkeit zu erweitern,“ (ebd.) der fortlaufenden Erfahrung von Welt, die selbst unbestimmt ist.
Bildung bedeutet somit für Humboldt in einem reflexiven Sinne die Entfaltung innerer Kräfte und Erkenntniserweiterung in der selbständigen Auseinandersetzung mit der mannigfaltigen Welt und damit eine innere Verbesserung und Veredelung der Persönlichkeit und die Gewinnung von Individualität. Sein Bildungsverständnis ist gekennzeichnet durch drei Grundkategorien[2]:
1. Die Totalität als Bildung der Kräfte zu einem Ganzen statt Füllung mit Stoffen,
2. Die Universalität als Bezug zur mannigfaltigen Welt und
3. Die Individualität als innere Formkraft zur Selbstbestimmung und Entfaltung der Persönlichkeit.
2.2.2 Begründungszusammenhänge
Humboldt begründet und legitimiert sein Bildungsverständnis zunächst mit der bereits erwähnten Kritik an einer materialen Bildung und utilitaristischer Ausbildung, welche die „Bearbeitung des Geistes unfruchtbar“ macht und „wenig in uns verbessert“ (a.a.O., S.234), was sicherlich auch im historischen Kontext, dem Entstehen einer freien bürgerlich-liberalen Gesellschaft, neuzeitlicher Wissenschaft, fortschreitender Arbeitsteilung und Spezialisierung zu sehen ist.
Stattdessen schlägt er ein Konzept einer formalen allgemeinen Bildung vor, das mit einer spezifischen pädagogisch-anthropologischen Begründung steht und fällt: Humboldt geht vereinfacht von der Annahme aus, dass der Mensch erst dadurch Mensch wird, indem er sich die Welt aktiv aneignet, also ‚lernt’. Die Aufgabe des menschlichen Lebens sei es „die Kräfte seiner Natur“ zu „stärken“ und zu „erhöhen“, um „seinen Wesen Werth und Dauer“ zu verschaffen. „Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, (...)“. Deshalb versuche der Mensch „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“. (a.a.O., S.235). Der Mensch wird also als Einheit von Kräften, von Vermögen, welche innerlich schlummern, gesehen. Bildung ist dann jener Prozess bzw. das Ergebnis jenes Prozesses, in dem diese schlummernden Kräfte durch Übung an geeigneten Stoffen zu wirklichen Kräften, zu ausgebildeten Instrumenten der Bewältigung mannigfacher Inhalte werden.
[...]
[1] Der Begriff formale Allgemeinbildung meint eine doppelte Abgrenzung:
Zum einen wird die formale Bildung von der materialen Bildung abgegrenzt:
Unter „ materialer “ Bildung wird die Aneignung bestimmter Bildungsinhalte, also Sach- oder Wissensbildung verstanden. „ Formale “ Bildung hingegen meint, dass den Inhalten die Aufgabe zukommt, die geistigen Fähigkeiten der Bildenden herauszufordern und abzubilden. Somit lässt sie sich als Persönlichkeitsbildung ansehen, in deren Mittelpunkt nicht die Inhalte, sondern der Bildende selbst steht (vgl. Klafki 1963, S.27ff.).
Zum anderen grenzt sich die Allgemeinbildung von der besonderen Fach- und Berufsbildung ab:
Die „Allgemeinbildung“ zielt nicht auf die Vermittlung spezieller funktioneller Fertigkeiten, sondern ist allgemein in ihrem Weltbezug, indem sie den Menschen befähigt, in allen Bereichen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Allgemeinbildung sollte allen Menschen zukommen (vgl. Böhm 2000, S.14).
[2] In Anlehnung an Spranger, E: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909
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- Michael Rump (Author), 2004, Schlüsselqualifikationen und formale Allgemeinbildung nach Humboldt: Alter Wein in neuen Schläuchen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31002
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