Weshalb suchen immer mehr Akteure und Denker nach Alternativen zu unserem, dem westlichen, dem vorherrschenden Lebensmodell? Mit den wachsenden Zweifeln daran erodiert die Überzeugung, dass unsere Konzepte von Entwicklung, von sog. Fortschritt förderlich für andere sein können.
Nach welchen Alternativen wird gesucht? Gut leben statt „besser“ leben, Glück statt Bruttosozialprodukt, lokal statt global, Solidarität statt Hilfe, Menschenrecht statt Almosen, Autonomie statt Abhängigkeit. Es sind viele Stimmen, die sich nicht leicht Gehör verschaffen, weil sie vom Mainstream übertönt werden. Es sind Millionen, sie sind eine Minderheit. Sie bilden keinen Chor, die Netze, die sie knüpfen, haben viele lose Enden, aber allmählich verschaffen sie sich Gehör.
Alternativen?
"(Es) wäre eine Vielzahl von Zukunftsperspektiven für Gesellschaften denkbar, die das Niveau ihrer materiellen Produktion beschränken, um sich anderen Idealen zu verschreiben, die aus ihrer Tradition erwachsen".
Wolfgang Sachs
Am 28 September 2008 gab sich Ekuador per Volksentscheid eine neue Verfassung. Ihr Ziel ist, den Bürgern ein “gutes Leben”, buen vivir, zu gewähren, ein “Zusammenleben in Vielfalt und in Harmonie mit der Natur”, wie es in der Präambel heißt.
Am 25. Januar 2009 gab sich Bolivien per Volksentscheid eine neue Verfassung mit dem gleichen Ziel des buen vivir.
Auch die Verfassungen Kolumbiens und Venezuelas wurden durch Volksabstimmungen angenommen und teilen Prinzipien wie partizipative Demokratie, kollektive, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und anerkennen Rechtsansprüche indigener Gruppen.
Im selben Jahr 2009 erging ein „ Aufruf der indigenen Völker an das Weltsozialforum von Belem angesichts der Krise der Zivilisation “ und das Weltsozialforum verabschiedete eine Erklärung zum „ Guten Leben “ mit dem Leitsatz „ Wir wollen nicht besser leben, wir wollen gut leben “. Und 2010 wurde auf dem Weltsozialforum in Porto Allegre buen vivir als Alternative zum Wirtschaftswachstum jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus eingehend diskutiert.
Im Morgengrauen des 01.01.1994 besetzte die indigene zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, EZLN (Ejercito Zapatista de la Liberacion Nacional) fünf Kreisstädte in Chiapas, Mexiko. An diesem Tag wurde die erste „Declaracion de la Selva Lacandona“ verlesen, in der die EZLN dem mexikanischen Staat den Krieg erklärte. Sie berief sich dabei auf Artikel 39 der mexikanischen Verfassung, wonach die nationale Souveränität einzig und allein in den Händen der Bevölkerung liegt. Am selben Tag trat die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA in Kraft, heute mit ca. 457 Millionen Einwohnern neben der ASEAN und dem Europäischen Wirtschaftsraum eine der weltweit größten Freihandelszonen mit unbeschränktem Zugriff auf Waren, Kapital und Dienstleistungen in Kanada, Mexiko und den USA.
Die Gleichzeitigkeit von Unvereinbarkeiten.
Auf den Straßen von Seattle und Genua führten militante Jugendliche den Namen des 1919 ermordeten mexikanischen Revolutionsführers Emiliano Zapatas im Mund, in Italien entstand die Gruppe Ya Basta!, die erheblichen Anteil am Entstehen der antikapitalistischen Bewegung in Europa hatte, und linke Intellektuelle schwärmen vom Zapatismus als Rettung der Linken.
Grund dafür ist, dass die Zapatistas von Anfang an ihren Aufstand als Teil eines weltweiten Kampfes gegen Neoliberalismus begriffen und propagiert haben. Als sie im Sommer 1996 ein „Treffen für Menschlichkeit und gegen Neoliberalismus“ mitten in Chiapas veranstalteten, an dem rund 5000 Menschen aus 42 Ländern teilnahmen, ließ das bereits die Entwicklung erahnen, die die weltweite Bewegung ab den Protesten in Seattle 1999 nehmen würde.
Seit über zwanzig Jahren wird in Lateinamerika über die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der autochthonen Völker reflektiert und um sie gestritten. Die Festlegung dieser Rechte in Verfassungen lateinamerikanischer Regierungen in jüngster Zeit kann als eine Vertiefung des demokratischen Prozesses gedeutet werden und weist eine transnationale Dimension auf. Sie kann aber auch als Wiedererweckung einer neuen alten Utopie (miss-) verstanden werden.
Das Konzept des buen vivir stellt einen Bruch mit der herrschenden Einheits-, Verwertungs- und Wachstumslogik dar und will als indigenes Wertesystem nachhaltigen Zusammenlebens, als gesellschaftliche Utopie wie auch als Ausweg aus der Dauerkrise des Kapitalismus verstanden werden. Es ist historisch gewachsen und eröffnet einen utopischen Horizont, gleichzeitig wird es in Politik umgesetzt. Das geht nicht ohne Streit, ohne ständige Interpretation und Widerspruch. Eduardo Gudynas, Exekutivsekretär des lateinamerikanischen Zentrums für Soziale Ö kologie in Uruguay und Autor eines aktuellen Hintergrundpapiers über die Philosophie des buen vivir nennt es ein im Entstehen begriffenes Konzept. Als alternativer Diskurs zum Diskurs der Entwicklung verknüpfe es ethische Prinzipien der alten andinen Kultur, für die sich die autochtone Bevölkerung einsetze, mit zeitgenössischen Beiträgen kritischer intellektueller Strömungen wie der „décroissance“, dem Ökosozialismus, dem Ökofeminismus oder der Anti- Globalisierungsbewegung, mit denen es Dissonanzen und Übereinstimmungen gebe. Man muss freilich eine klare semantische Unterscheidung treffen zwischen dem Konzept von buen vivir und den indigenen Prinzipien, aus denen es sich speist. Das Konzept Sumak Kawsay der Quetschua und ähnlicher Begriffe anderer autochthoner andiner Volksgruppen bezieht sich auf Weltanschauungen, die in die Moderne kaum übertragbar sind (oder sich bewusst von ihr abschotten) und zu fundamentalistischen Auswüchsen führen können. Das Konzept des buen vivir hingegen will den Dialog mit der Moderne und aktuellen Formen kritischer Theorien.
Um zu zeigen, dass buen vivir vielfältige Wurzeln hat, folgt ein Überblick über Bisherige Ansätze Kritik an der Wachstumsgesellschaft wurde erstmalig 1969 im Bericht der Kommission für Internationale Entwicklung der Weltbank (Pearson- Bericht) artikuliert, der das Wachstumsmodell für gescheitert erklärte. 1972 wurde sie zu einem öffentlichen Thema durch den Bericht des Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“. Gefördert von der Volkswagenstiftung, war er von einem Team von 17 Wissenschaftlern am Massachusetts Institute of Technology erarbeitet worden und ist in erster Linie mit dem Namen Meadows verbunden. Der Bericht beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsdichte, Landnutzung, Umweltzerstörung, Energie Nahrungsmittelressourcen u.a.m. und entwickelte mittels Computersimulation eine Reihe von Szenarien. Die unveränderte Fortsetzung der Wachstumspolitik würde, so das Ergebnis, ein starkes Anwachsen der Weltbevölkerung bei ungenügender Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, eine durch wachsende industrielle Produktion verursachte beschleunigte Umweltzerstörung und die Erschöpfung der wichtigsten Rohstoffe wie Erdöl, Erdgas und Eisenerz zur Folge haben.
Die Reaktionen darauf waren ernüchternd und partielle Kritiken wie der Vorwurf der unterschiedlichen Verwendung von Wachstumsfunktionen wurden zur generellen Diskreditierung benutzt.
Dahin gegen fand 2008 eine Studie der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation eine deutliche Übereinstimmung mit Vorhersagen des Standardszenarios. Und Ende 2012, 40 Jahre danach, erklärte Meadows in einem Interview mit Le Monde, dass die wesentliche damals getroffene Feststellung nach wie vor gültig sei: dass nämlich das Überschreiten der physikalischen Grenzen des Systems zu dessen Zusammenbruch führe. Das Wachstum werde enden, die aktuellen Erschütterungen der Eurozone stellen nur einen kleinen Teil jener Veränderungen in den Bereichen Politik, Umwelt, Wirtschaft und Technik dar, die sich bis 2030 ereignen werden.
„ Wenn Ihre ganze Politik auf Wachstum ausgerichtet ist, wollen Sie nicht vom Ende des Wachstums reden hören “ .
Wie das japanische Sprichwort sagt: wenn der Hammer das einzige Werkzeug ist, gleicht alles einem Nagel.
Während die einen durch auf Dauer sinkendes Wachstum alarmiert sind, propagieren andere die „décroissance“, also „Minuswachstum“ als unausweichlich. Die einen, das sind die noch dominierenden Ökonomen und fast alle Politiker. Unter den anderen finden sich ebenfalls Ökonomen, auch ganz prominente wie Joseph Stiglitz, ehemals Chefvolkswirt der Weltbank und Träger eines Nobelpreises für Wirtschaft. Unsere Gesellschaften stehen vor einem Dilemma: Ohne Wachstum besteht das Risiko eines wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs. Weitermachen wie bisher gefährdet das Ökosystem und damit langfristig unser Überleben. Langfristig? Bis Ende des Jahrhunderts müsste CO² eliminiert werden, das Gegenteil ist wahrscheinlicher, denn Milliarden wollen so leben wie wir es noch tun. Sind die einen völlig blind, die anderen Untergangspropheten? Die einen klammern sich an die Hoffnung auf immer währenden technologischen Fortschritt, die anderen halten eine andere Wirtschaftsform für unvermeidlich.
Was ist das für ein System, fragen mehr und mehr, in dem immer Neues produziert wird, damit immer mehr konsumiert wird? Das so tut, als seien die Ressourcen unerschöpflich? Das Ende von Lehmann Brothers hat nicht nur eine Liquiditätskrise angezeigt, es war ein tiefer Sprung in der glänzenden Oberfläche des Kapitalismus. „Empört Euch“ war ein überraschender Bestseller, der aussprach, was sich seit Jahren weltweit vollzieht: Unruhen derer, die nicht mithalten können, der Opfer wachsender sozialer Ungleichheit, aber auch solcher, die nicht mehr mithalten wollen, die nicht mehr an ein richtiges Leben im falschen glauben. Mehr dazu später.
In Bhutan wurde, auch im Jahr 1972, die Vision vom Bruttosozialglück formuliert. Der Gross National Happiness-Index soll auf vier Ebenen verwirklicht werden: wirtschaftliche Entwicklung, Schutz der Kultur, Schutz der Natur und gute Staatsführung (good governance). Letztere ist auch eine der neun Dimensionen: psychisches Wohlbefinden, Gesundheit, Zeitverwendung, Bildung, kulturelle Vielfalt und Belastbarkeit, good Governance, Vitalität der Gemeinschaft, Ökologische Vielfalt und Widerstandsfähigkeit, Lebensstandard. 2010 erklärten sich 8,3% der Bevölkerung Bhutans für "zutiefst glücklich", 32,6% für „ziemlich glücklich", 47,8% für „gerade noch glücklich" und 10,4% für „unglücklich" . Zunehmender Tourismus und die Öffnung für moderne Medien werden das Glücksgefühl beeinflussen.
Im April 2012 fand in der UNO auf Initiative Bhutans ein Treffen auf hohem Niveau (high-level meeting) zu „Wohlbefinden und Glück“ statt, um ein neues ökonomisches Paradigma zu definieren. Das internationale Streben nach Änderung wurde deutlich, als die 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Konsens die Resolution 65/309 "Glück: Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Ansatz für Entwicklung" annahmen. Diese Resolution nennt Glück ein grundlegendes menschliches Ziel, eine „universelle Sehnsucht“ und stellt fest, dass „ das BIP aufgrund seiner Natur dieses Ziel nicht reflektiert, dass nicht nachhaltige Produktion und Konsum nachhaltige Entwicklung behindern und dass ein umfassenderer, gerechterer und ausgewogenerer Ansatz notwendig ist, um Nachhaltigkeit zu fördern, Armut zu beseitigen und das Wohlbefinden zu verbessern. “
Generalsekretär Ban Ki-moon wies daraufhin, dass die Auffassung, „Bruttonationalglück“ sei wichtiger als Bruttoinlandsprodukt, auch anderswo Boden gewinne.
Er nannte die Beyond GDP-Initiative der Europäischen Union zur Entwicklung von Indikatoren, die den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Klimawandel, Armut, Ressourcen-verbrauch, Gesundheit und Lebensqualität besser entsprechen als das Bruttosozialprodukt.
„ Das BIP misst alles außer dem, was dafür sorgt, dass das Leben wert ist, gelebt zu werden “ Robert Kennedy Schon im Bericht der von Altkanzler Willy Brandt geleiteten Nord-Süd- Kommission aus dem Jahr 1980 steht zu lesen:
"Entwicklung ... trägt in sich nicht nur die Idee des materiellen Wohlstands, sondern auch die von mehr menschlicher Würde, mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. “
1987 führte der Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ den Begriff der Nachhaltigkeit in die Entwicklunsdiskussion ein:
"Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält."
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- Citation du texte
- Wilfried Hoffer (Auteur), 2015, Alternativen zum Fortschritt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309348
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