Lehrerinnen und Lehrer sind in ihrem Arbeitsalltag immer wieder mit Unterrichtsstörungen konfrontiert, der Umgang mit ihnen macht somit einen wichtigen Teil der pädagogischen Arbeit aus.
Diverse Studienergebnisse zeigen dabei, dass es sowohl qualitative als auch quantitative Unterschiede im Störverhalten von Mädchen und Jungen gibt. Die vorliegende Arbeit widmet sich daher der Frage, inwiefern sich die jeweiligen sogenannten geschlechtsspezifischen Unterrichtsstörungen voneinander unterscheiden und wie das unterschiedliche Verhalten von Jungen und Mädchen aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht zu erklären ist.
Ziel ist es einerseits zu klären, wie Geschlecht in unserer Gesellschaft konstruiert wird und wie Geschlechterrollen sozial reproduziert werden. Andererseits soll geklärt werden, inwiefern diese geschlechtlichen Sozialisationsprozesse auch in der Schule stattfinden, wie Lehrkräfte daran mitwirken (doing gender) und wie Mädchen und Jungen ihr Geschlecht selbst inszenieren.
Hierzu werden zunächst verschiedene gängige Sozialisationstheorien vorgestellt und diskutiert, um diese dann auf die Erkenntnisse über Störverhalten von männlichen und weiblichen Schüler_innen anzuwenden. Anschließend wird die Rolle der Lehrperson konkreter besprochen, sowie die Auswirkungen von Rollenverhalten für Mädchen und Jungen dargestellt.
Es zeigt sich somit, dass Geschlecht auch in der Schule allgegenwärtig ist und bei vielen Interaktionen eine große Rolle spielt. Eine Schlussfolgerung ist, dass es auch beim Umgang mit Unterrichtsstörungen nicht genügt, die in der Fachliteratur empfohlenen allgemeinen Techniken der Reaktion und Prävention zu beherrschen. Vielmehr müssen Lehrkräfte auch Genderkompetenz mitbringen, um bestimmte Störsituationen analysieren, bewerten und adäquat auf diese regieren zu können.
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Sozialisation und Geschlecht
2.1 sex und gender
2.2 Sozialisationstheorien
2.2.1 Lerntheoretische Erklärungsansätze
2.2.1.1 Bekräftigungstheorie
2.2.1.2 Imitationstheorie
2.2.2 Kognitiver Erklärungsansatz
2.2.3 Sozialpsychologischer Erklärungsansatz
2.2.4 Zwischenfazit
2.3 doing gender
2.3.1 Inszenierung von Männlichkeit
2.3.2 Inszenierung von Weiblichkeit
2.4 Mediale Einflüsse
2.5 Geschlechterrollen
2.6 Geschlechterstereotype
3. Mädchen, Jungen, Unterrichtsstörungen
3.1 Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikte
3.2 Repräsentation in Fallbeispielen
3.3 Unterrichtsstörungen durch Jungen
3.4 Unterrichtsstörungen durch Mädchen
3.5 Schlussfolgerungen
4. Die Rolle der Lehrperson
4.1 Aufmerksamkeitsverteilung
4.2 gendering-Prozesse
4.3 Geschlecht der Lehrperson
5. Folgen
5.1 Selbstkonzepte
5.2 Schulische Leistungen
6. Genderkompetenz als Handlungsperspektive
6.1 Was ist Genderkompetenz?
6.2 Elemente von Genderkompetenz
6.3 Genderkompetenz und Unterrichtsstörungen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Masterarbeit greift zwei wichtige Aspekte der pädagogischen Arbeit auf und setzt sich intensiv mit diesen auseinander. Zum einen wird das Thema Unterrichtsstörungen behandelt. Diese gehören stets zum Schulalltag dazu, schließlich ist „störungsfreier Unterricht (…) eine didaktische Fiktion“1. Gleichzeitig kommt der Genderaspekt ins Spiel, denn bei der Durchsicht von Literatur und Studien zu Unterrichtsstörungen fällt immer wieder auf, dass es Unterschiede im Störverhalten von Mädchen und Jungen zu geben scheint. Da auch Geschlecht als soziale Kategorie in der Schule eine erhebliche Rolle spielt, Geschlechtergerechtigkeit zunehmend als Anspruch formuliert wird und die Auseinandersetzung mit gender immer mehr an Aktualität gewinnt, erscheint es sinnvoll, diesen Sachverhalt näher zu untersuchen.
Diese Arbeit richtet sich daher vor allem an Lehramtsstudierende und Lehrer_innen und soll dabei helfen, Unterrichtsstörungen auch aus einem Gender-Blickwinkel zu betrachten.
Hauptanliegen dieser Masterarbeit war es, die Frage zu beantworten, wie genau sich das Störverhalten von Jungen und Mädchen unterscheiden kann und wie diese Verhaltensunterschiede zu erklären sind. Zudem sollte eine Antwort auf die Frage nach Handlungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer gegeben werden. Hierzu wird im ersten Kapitel des Hauptteils zunächst auf sozialisationsbedingte Ursachen von Geschlechtsspezifika eingegangen. Dabei werden zum einen die Begriffe „sex“ und „gender“ definiert, weiterhin werden gängige Sozialisationstheorien vorgestellt und diskutiert. Auch wird der Begriff „doing gender“ aufgeschlüsselt und Geschlechterinszenierungen an Beispielen verdeutlicht. Zudem folgt eine Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Geschlechterstereotypen. Kapitel zwei beschäftigt sich mit Unterrichtsstörungen von Jungen und Mädchen. Es wird zunächst definiert, was unter einer Unterrichtsstörung zu verstehen ist, anschließend werden Fallbeispiele für geschlechtsspezifische Störungen aus der Fachliteratur angebracht und das jeweilige Störverhalten von Jungen und Mädchen beschrieben. Im Anschluss daran wird vor dem theoretischen Hintergrund aus dem ersten Kapitel ein kurzes Zwischenfazit gezogen. Im nächsten Kapitel (Kap. 3) wird auf die Rolle von Lehrer_innen im Zusammenhang mit Unterrichtsstörungen und Geschlecht eingegangen. Hier wird auch besprochen, welche Relevanz und Auswirkungen das Geschlecht der Lehrperson im Unterricht haben kann. Im anschließenden Kapitel werden mögliche Folgen von geschlechtsspezifischen Unterrichtsstörung für Schülerinnen und Schüler dargestellt. Der Hauptteil schließt mit einem Kapitel über Genderkompetenz sowie deren Relevanz für das pädagogische Handeln, insbesondere für den Umgang mit Unterrichtsstörungen von Jungen und Mädchen. Als Abschluss der Arbeit wird im Anschluss ein Fazit gezogen und ein Ausblick für mögliche Forschungsansätze gegeben.
Anzumerken ist, dass im Kontext dieser Arbeit Geschlechterunterschiede nicht als naturhaft, sondern als sozial konstruiert und kulturell bedingt betrachtet werden. Somit wird auch nicht auf biologische Erklärungsansätze für Verhaltensunterschiede von Männern und Frauen bzw. Jungen und Mädchen eingegangen. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, werden auch die allgemeinen Methoden zum Umgang mit Unterrichtsstörungen - etwa Strategien zur Prävention von und Reaktion auf Störungen - nicht dargestellt. Da Unterrichtsstörungen wie auch durch Geschlecht geprägtes Verhalten zudem in allen Schulformen und -stufen zu beobachten sind, ist im Folgenden, wenn von Kindern bzw. Jugendlichen die Rede ist, keine spezielle Altersgruppe gemeint.
2. Sozialisation und Geschlecht
2.1 sex und gender
Da der Begriff „Geschlecht“ in der deutschen Sprache semantisch uneindeutig ist, hat sich auch im Deutschen die Verwendung der englischen Begriffe sex und gender etabliert, um eine Differenzierung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht zu kennzeichnen. Sex meint dabei das rein biologische Geschlecht, welches durch Geschlechtsorgane, Hormone und Chromosomen definiert wird. Der Begriff gender meint das kulturell-sozial konstruierte Geschlecht, also beispielsweise geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Präferenzen. Gender bezeichnet also die in einer Gesellschaft „sozial auferlegte Dichotomie von maskulinen und femininen Rollen und Charaktereigenschaften“.2
Biologistische Erklärungen von Geschlechterrollen und -normen scheitern an Tatsachen wie denen, dass Frauen- und Männerrollen in unterschiedlichen Kulturen stark variieren, gender wiederum kann als Folge von Funktionsweisen einer Gesellschaft betrachtet werden. Der Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen liegt die Idee zugrunde, dass „Geschlechtsrollen sich nicht primär aus biologischen Tatsachen (Körperdifferenzen) ableiten lassen, sondern historische, kulturelle und soziale Konstruktionen sind“3.
Da das biologische Geschlecht nicht zum Gegenstand dieser Arbeit gemacht werden soll, ist im Folgenden stets das soziale Geschlecht, also gender, gemeint, wenn lediglich der Begriff „Geschlecht“ verwendet wird.
2.2 Sozialisationstheorien
2.2.1 Lerntheoretische Erklärungsansätze
Aus lerntheoretischer Perspektive wird angenommen, dass das Erlernen geschlechtstypischer Verhaltensweisen auf gleiche Art und Weise erfolgt, wie das Erlernen jedes anderen Verhaltens. Typisch „männliches“ beziehungsweise „weibliches“ Verhalten werde dabei einerseits durch direkte Bekr ä ftigung erlernt, andererseits erfolge ein Lernen am Modell 4 .
2.2.1.1 Bekräftigungstheorie
Die Bekräftigungstheorie 5 stützt sich auf B.F. Skinners Erkenntnisse zur operanten Konditionierung, also dem Lernen durch Belohnungen bzw. Bestrafungen.6 Die Theorie geht davon aus, dass die in einer Gesellschaft vorherrschenden Geschlechterrollen und -stereotype einen großen Einfluss auf das Erziehungsverhalten von Eltern und anderen Bezugspersonen haben.
Die Grundannahme der Bekräftigungstheorie ist: „daß geschlechtsspezifisches Verhalten dadurch zustande kommt, daß Jungen und Mädchen schon im Kleinkindalter für Verhaltensweisen, die ihrem Geschlecht angemessen sind, bekräftigt werden, d.h. Lob, Zustimmung, Anerkennung oder Belohnung erhalten.7 “
Die Theorie geht dabei von drei aufeinander aufbauenden Hypothesen aus.8 Die Hypothese differentieller Erwartungen meint, dass seitens der Eltern und anderer Interaktionspartner_innen von Jungen und Mädchen schon von früh auf unterschiedliches Verhalten erwartet wird. Obwohl sich Eltern in der letzten Zeit immer mehr davon abwenden, ihre Kinder den gängigen Rollenklischees entsprechend zu erziehen, spiegeln sich die geschlechtsrollenspezifischen Erwartungshaltungen doch beispielsweise in Kleidung (Mädchen tragen rosa, Jungen hellblau), Spielsachen (Mädchen bekommen Malstifte, Puppen, Bastelutensilien, Jungen bekommen Autos, Konstruktionsspiele, Experimentierkästen) oder Büchern, mit denen Eltern ihre Kinder ausstatten, wider.9 Auch ist belegt, dass Eltern von ihren Söhnen eher Eigenschaften wie Leistungsorientierung, Durchsetzungsfähigkeit und Wettbewerbsverhalten erwarten, während von Töchtern eher Sauberkeit, Ordentlichkeit und Angepasstheit erwartet wird.10
Die Hypothese differentieller Bekr ä ftigung besagt, dass Jungen und Mädchen diesen Erwartungen entsprechend bestärkt werden. Jungen erfahren diese Bekräftigung laut Matzner und Tischner, „wenn sie keine Schwäche zeigen, hart gegen sich selbst und andere sind, wenn sie sich gegen andere behaupten und wehren und ihren Kopf durchsetzen, wenn sie etwas wollen. Aggressives Verhalten wird bei ihnen geduldet, zuweilen sogar verstärkt.“11
Mädchen hingegen werden in der Regel dann bekräftigt, „wenn sie brav und folgsam sind und sich ‚mädchenhaft‘, z.B. also gesittet und ordentlich, anschmiegsam und gefühlsbetont verhalten“.12 Verhaltensweisen, die als unangemessen und geschlechtsuntypisch gelten, werden dabei bestenfalls ignoriert, in der Regel jedoch durch Missbilligung, Kritik oder Liebesentzug negativ sanktioniert.13 Die Hypothese differentieller Bekr ä ftigungseffekte geht davon aus, dass die je nach Geschlecht des Kindes unterschiedlichen Erwartungen und Bekräftigungen beziehungsweise Bestrafungen von Verhaltensweisen Jungen und Mädchen jeweils unterschiedlich beeinflussen. So lernen die Kinder nach und nach, sich entsprechend den Erwartungen an das eigene Geschlecht zu verhalten.14
Die Gültigkeit der Bekräftigungstheorie scheint allerdings nicht klar erwiesen zu sein. So weist Asendorpf zwar darauf hin, dass durch Metaanalysen bestätigt wurde, dass Eltern ihre Kinder tatsächlich im Sinne des Geschlechtsstereotyps differentiell bekräftigen, allerdings sei bislang nicht bestätigt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Bekräftigungsverhalten und dem geschlechtstypisierten Verhalten der Mädchen und Jungen gibt.15 Grund dafür sei, dass es schwierig ist, diese Kausalität wissenschaftlich exakt nachzuweisen, da bei den entsprechenden Untersuchungen bislang lediglich Eltern zu ihrem Verhalten ihren Kindern gegenüber befragt wurden, es für eindeutige Ergebnisse allerdings vonnöten wäre, Eltern und Kinder in ihrem natürlichen Umfeld über lange Zeiträume hinweg zu beobachten.16 Da sich zudem alle bislang zu dem Thema durchgeführten Untersuchungen auf die Befragung von Müttern aus der Ober- und Mittelschicht beschränkten 17, bedarf es einer Längsschnittstudie, bei der beide Elternteile aus Familien aller Gesellschaftsklassen befragt werden.
2.2.1.2 Imitationstheorie
Die Imitationstheorie oder soziale Lerntheorie geht auf die lernpsychologische Theorie des Lernen am Modell nach Bandura (1971) zurück. Sie geht davon aus, dass geschlechtstypisiertes Verhalten dadurch erworben wird, dass „Jungen und Mädchen […] gleichgeschlechtliche Modelle beobachten und deren geschlechtsangemessenes Verhalten nachahmen und übernehmen“18. Diese Modelle können dabei sowohl Erwachsene wie Eltern oder Lehrpersonen, Gleichaltrige, als auch literarische oder mediale Figuren sein.19 Hierbei spielt es - wie auch bei der Bekräftigungstheorie - eine Rolle, ob das am Modell beobachtete Verhalten von anderen belohnt oder bestraft wird. so wird durch Beobachtung und Nachahmung erlerntes geschlechtstypisiertes Verhalten nur dann gezeigt, „wenn das Modell für sein Verhalten positive Konsequenzen erfahren hat“20. Man spricht in diesem Fall von „stellvertretender Bekräftigung“21.
Nach Trautner lassen sich für die Imitationstheorie ebenfalls drei Hypothesen aufstellen. Die erste Hypothese, die Hypothese differentieller Beobachtungsh ä ufigkeit, meint, dass Jungen und Mädchen häufiger die Gelegenheit haben, gleichgeschlechtliche Modelle zu beobachten. Die Hypothese selektiver Nachahmung besagt, dass Kinder von sich aus eher gleichgeschlechtliche Modelle imitieren. Die dritte Hypothese der Elternidentifikation sagt aus, dass Mädchen und Jungen in ihrer Kindheit bevorzugt das gleichgeschlechtliche Elternteil nachahmen.22
Allerdings muss man einwerfen, dass Kinder in heutigen industrialisierten Gesellschaften die gleichen Chancen haben, sowohl gegen- als auch gleichgeschlechtliche Modelle zu beobachten.23 Auch würden Jungen, die durch den hohen Anteil an Erzieherinnen und Lehrerinnen vor allem in ihrer Kindheit überwiegend mit weiblichen Modellen konfrontiert sind, laut der Imitationstheorie weibliches Verhalten erlernen, was in der Realität nicht der Fall ist. Vielmehr sind Jungen früher als Mädchen in ihren Geschlechterrollen gefestigt.24 Geschlechtstypische Interessen und Verhaltensweisen scheinen also schon festgelegt zu sein, bevor Kinder Modellverhalten einordnen und nachahmen können. Für die Auswahl und Nachahmung von Verhaltensmodellen müssen sich Jungen und Mädchen zunächst ihrer eigenen Geschlechtsidentität bewusst geworden sein.25
Auch die Hypothese, dass Jungen eher ihre Väter und Mädchen eher ihre Mütter nachahmen, kann nicht bestätigt werden. Vielmehr zeigte sich, dass Kinder Verhaltensweisen beider Elternteile übernehmen.26
Die Ausbildung geschlechtstypisierten Verhaltens kann durch die Imitationstheorie also nicht hinreichend erklärt werden. Allerdings weißt Kasten darauf hin, dass sie durchaus nützlich sein kann, wenn man sie in Verbindung mit anderen theoretischen Erklärungsansätzen begreift und ihren Geltungsanspruch auf bestimme Altersphasen verlagert.27
2.2.2 Kognitiver Erklärungsansatz
Die kognitive Theorie der Geschlechtsrollenentwicklung nach Kohlberg (1966) stützt sich auf die allgemeine kognitive Theorie des Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Dieser ging davon aus, dass die kognitive Entwicklung des Kindes stufenweise abläuft, jedes Kind also aufeinander aufbauende Entwicklungsstadien durchläuft.28 In Piagets Theorie kommt dem sozialen Umfeld nur eine untergeordnete Rolle zu, während das Kind selbst im Fokus steht. So setzt sich dieses aktiv mit seiner Umwelt auseinander und erwirbt auf diese Weise Wissen, das es auf sich und andere anwenden kann29 Es ist hierbei also nicht die Bekräftigung oder Imitation von Verhaltensweisen, die zur Geschlechtstypisierung führen, sondern die eigene kognitive Leistung des Kindes.
Speziell geht Kohlberg davon aus, dass kognitive Konzepte über Geschlecht einen Einfluss auf Vorlieben und Verhaltensweisen haben. So erfahren Kinder schon früh, dass die soziale Kategorie „Geschlecht“ bedeutsam für das Verstehen der eigenen Umwelt ist und seien daran interessiert, diese Kategorie mit Wissen darüber zu füllen, was „Geschlecht“ bedeutet.30 Sie erwerben so kognitive Konzepte über die Kategorien „weiblich“ und „männlich“, indem sie „in der frühen Kindheit (…) auf äußere Erscheinungsmerkmale, wie Körperbau, Kleidung, Haartracht, Stimme usw., später dann auch auf Verhaltensweisen, Beschäftigungsvorlieben, Einstellungen und Haltungen als Anhaltspunkte (zurückgreifen)“31.
Das Kind durchläuft nach Kohlberg fünf aufeinander aufbauende, invariante Entwicklungsstufen im Prozess der Geschlechtsrollenübernahme.32 Der erste Schritt ist die Bestimmung des eigenen Geschlechts. Das Kind entwickelt also eine Geschlechtsidentität und weiß, dass es ein Junge oder ein Mädchen ist. Dies geschehe im Alter zwischen zwei und drei Jahren. Es ist sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht der Endgültigkeit der Geschlechterzugehörigkeit bewusst.33 Etwa ein Jahr später, im zweiten Schritt - der Bestimmung des Geschlechts bei anderen -,begreift das Kind, dass es Mädchen und Jungen, Männer und Frauen gibt. Hiermit gehe auch eine vorläufige Festigung der Geschlechtsidentität einher. Das Kind weiß nun also, dass es zu den Mädchen oder Jungen gehört und dass aus Mädchen Frauen, aus Jungen Männer werden.34 Im dritten Schritt beginnt es, eine Verbindung zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der Geschlechterzugehörigkeit bei anderen festzustellen. Das Kind entdeckt beispielsweise, dass Mädchen und Jungen mit unterschiedlichen Spielsachen spielen und Männer und Frauen unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. Daraus entwickeln sich ein erstes Stereotypenwissen. Dies geschieht ab einem Alter von etwa fünf Jahren.35
Im vierten Schritt erfolgt eine positive Bewertung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit und eine Bevorzugung des eigenen Geschlechts, während das andere Geschlecht abgewertet wird. Auf Grundlage des Stereotypenwissen gewinnt die Geschlechtszugehörigkeit für das Handeln des Kindes an immer größerer Bedeutung. So bevorzugt es je nach seinem Geschlecht typisch „weibliche“ bzw. „männliche“ Spielsachen und Spiele und sucht sich gleichgeschlechtliche Spielkamerad_innen. Auch werde das Handeln des Kindes davon beeinflusst, inwieweit es dieses als geschlechtsangemessen ansieht.36 Die Entwicklung ist allerdings erst dann abgeschlossen, wenn das Kind sich der eigenen Geschlechtskonstanz bewusst wird. Dies geschehe im Alter zwischen sechs und acht Jahren und wird von Kohlberg auch als „Herausbildung der Invarianz der eigenen Geschlechtszugehörigkeit“37 bezeichnet. Hiermit ist gemeint, dass das Kind begreift, dass weder zeitliche noch äußerliche Veränderungen etwas an der eigenen Geschlechtszugehörigkeit ändern können. Es identifiziert sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und ahmt dessen geschlechtsrollenspezifisches Verhalten nach. Allerdings ist dies in diesem Zusammenhang nicht im Sinne der Imitationstheorie zu verstehen:
„Das Kind zeigt geschlechtstypisiertes Verhalten und imitiert gleichgeschlechtliche Modelle demnach nicht, wie in der Lerntheorie angenommen, weil es dafür von anderen belohnt wird, sondern weil es auf diese Weise seine eigene Geschlechtsidentität etablieren und bestätigen kann.“38
Das Stereotypenwissen wird verbindlich auf das eigene Verhalten angewandt, obwohl das Kind auch Wissen über gegengeschlechtliche Verhaltensweisen hat und diese auch ausüben könnte, diese werden nun allerdings als minderwertig angesehen. Die Geschlechtsidentität ist somit gefestigt.39
Kohlbergs Theorie der Geschlechtsrollenentwicklung konnte bislang nur teilweise bestätigt werden. Es wurde beispielsweise nachgewiesen, dass die Intelligenz des Kindes sich durchaus auf den Prozess der Geschlechtstypisierung auswirkt. Besonders intelligente Kinder können bereits früher als ihre durchschnittlich intelligenten Altersgenossen geschlechtstypische Verhaltensweisen und Merkmale erkennen und unterscheiden.40 Dies spräche dafür, dass die Geschlechtstypisierung tatsächlich eine primär kognitive Leistung ist. Allerdings zeigte sich auch, dass es vor allem die hochintelligenten Kinder sind, die sich früher von Geschlechtsrollenklischees und Stereotypen befreien und zuweilen sogar im Jugend- und Erwachsenenalter die eigene Geschlechterrolle negativ bewerten, da sie sich kritisch mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit auseinander setzen.41 Dies widerspricht der Annahme der zwangsläufigen und durchgängigen Höherbewertung des eigenen Geschlechts.
Ein weiterer Widerspruch zu Kohlbergs Theorie zeigt sich darin, dass nicht nur die kognitive Leistungsfähigkeit, sondern auch der sozioökonomische Hintergrund eines Kindes relevant für die Entwicklung von Geschlechterrollen ist. So weißt Kasten darauf hin, dass „Kinder gleicher Intelligenz und gleichen kognitiven Entwicklungsstandes eine stärkere Typisierung in ihrem geschlechtsspezifischen Verhalten zeigen, wenn sie der sozialen Unterschicht angehören“.42 Dies hinge damit zusammen, dass diese Kinder häufiger in Familien groß werden, in denen traditionelle Geschlechterrollen seitens der Eltern eher erwartet und verstärkt werden, während Kinder aus der Mittel- und Oberschicht eher in ihrem selbstständigem Denken und kritischen Urteilsvermögen gefördert werden.43
Kohlbergs Theorie kann sicherlich ebenfalls nicht vollständig erklären, wie es zur Übernahme von Geschlechterrollen kommt, allerdings macht sie darauf aufmerksam, dass es sich bei der Geschlechtstypisierung um einen Prozess handelt, der nicht nur extern ausgelöst wird, sondern bei dem das Kind eine zentrale Rolle spielt. Es sei somit „ein großer Verdienst der kognitiven Entwicklungstheorie, den aktiven Part des Kindes in der Geschlechtstypisierung zu betonen“.44
2.2.3 Sozialpsychologischer Erklärungsansatz
Aus sozialpsychologischer Perspektive wird die Konstruktion von Geschlecht im sozialen Kontext untersucht. Hierbei wird davon ausgegangen, dass gesellschaftlich vorherrschende Geschlechtsstereotype einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Geschlechterrollen haben. Dies Stereotype tragen dazu bei, dass Geschlechterunterschiede erzeugt und aufrechterhalten werden, indem sie nicht nur auf Gruppen männlicher bzw. weiblicher Personen, sondern auch auf Individuen angewandt werden.45 Infolgedessen tendieren Individuen dazu, sich im Sinne der an sie herangetragenen Erwartungen zu verhalten. Wenn also „die (nicht explizit genannten) Erwartungen einer Person eine andere Person bewegen, sich in einer Weise zu verhalten, die den anfänglichen Erwartungen der ersten Person entspricht“46, so spricht man von einer self-fulfilling prophecy oder dem auf Deutsch dem behavioralen Erwartungseffekt. Dieser Effekt wurde auch in einem Experiment von Skrypnek und Snyder (1982) nachgewiesen. Hier zeigte sich zum Beispiel, dass Frauen in gemeinsamen Projekten eher stereotyp „weibliche“ Aufgaben auswählen, wenn sie meinen, dass ihr männlicher Interaktionspartner dies von ihnen erwartet.47 Skrypnek und Snyder fassen zur Resistenz von Geschlechterstereotypen zusammen:
„Behavioral confirmation processes may account, at least in part, for the reason why stereotypes about women and men, for which there is little empirical validity, have remained strong and stable over the years.48 “
Steele (1997) beschreibt zusätzlich eine weitere Art, wie Stereotype sich auf die Entwicklung geschlechtstypisierten Verhaltens auswirken. In seiner Theorie der Stereotypebedrohung (streotype threat) wird angenommen:
„dass Personen ein Gefühl der Bedrohung erleben, wenn sie sich in einer Situation befinden, in der sie befürchten (a) auf Basis von negativen Stereotypen beurteilt zu werden bzw. (b) durch ihr eigenes Verhalten negative Stereotype bezüglich ihrer Gruppe unbeabsichtigterweise zu bestätigen.“49
Vorraussetzung für die Wirkung des stereotype threat ist, dass der agierenden Person die Stereotype über die Gruppe, der sie angehört, bekannt sind. Auf Grundlage dieses Wissens führt der Prozess der Stereotypenbedrohung bei dieser Person dann zu Denkprozessen und Ängsten, die sich folglich tatsächlich negativ auf ihre Leistungen auswirken.50 Ein oftmals in diesem Zusammenhang angeführtes Beispiel sind die Testleistungen von Frauen im Bereich Mathematik. So führten Spencer, Steele und Quinn (1999) Tests durch, bei denen weibliche und männliche Studierende Mathematikaufgaben lösen sollten. Dabei zeigte sich, dass Frauen und Männer in etwa gleich gut abschnitten, wenn Geschlecht im Rahmen der Untersuchung nicht thematisiert wurde. Wurde den Teilnehmenden von den Untersuchungsleitern allerdings im Vorfeld gesagt, dass es in der Vergangenheit geschlechtsspezifische Unterschiede im Bezug auf die Testergebnisse gab oder sie aufgefordert wurden, ihr Geschlecht in den Testbögen anzugeben, so zeigten die Frauen eindeutig stereotypkonsistent schlechtere Leistungen als die Männer.51 Hier zeigte sich also, dass die Stereotypenbedrohung aktiviert wurde, indem bei den weiblichen Teilnehmerinnen ein Denkprozess über das negative Stereotyp („Frauen sind schlecht in Mathematik“) angeregt wurde.
Die Theorie der Stereotypenbedrohung könnte demnach auch erklären, weshalb Frauen beispielsweise nach wie vor ihrer Geschlechterrolle entsprechende berufliche und akademische Laufbahnen bevorzugen.52 Die Angst davor, mit negativen Stereotypen konfrontiert zu werden und diese zu bestätigen, könnte für viele Frauen ein Grund sein, sich von „typisch“ männlichen Domänen zu distanzieren. Geschlechterstereotype würden folglich zur Perpetuierung von traditionellen Geschlechterrollen beitragen.
Die Theorien des behavioralen Erwartungseffekt und der Stereotypenbedrohung können somit erklären, wie Stereotype und vermeintlich geschlechtsadäquate Rollenbilder stets neu konstruiert und gefestigt werden. Sie können allerdings nicht pauschal als Erklärung dafür hinzugezogen werden, wie geschlechtstypisiertes Verhalten entsteht.
2.2.4 Zwischenfazit
Die hier vorgestellten Erklärungsansätze wirken zwar einleuchtend, allerdings wird deutlich, dass lediglich ein Ansatz alleine nicht ausreichen kann, um die Entwicklung von Geschlechterrollen und geschlechtstypisierten Verhaltens hinreichend zu erklären, da sich sowohl bestätigende als auch widersprechende Befunde und Überlegungen zu den jeweiligen Theorien finden lassen. Vielmehr sollten die Erklärungsansätze insofern betrachtet werden, als dass sie jeweils wichtige Prozesse und Faktoren in der Entwicklung der Geschlechterrollen beleuchten. So beeinflusst positive bzw. negative Bekräftigung Kinder sicherlich auch in ihrem Verhalten, allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass diese Mechanismen zwangsläufig immer eine Wirkung haben.
Wahrscheinlicher ist, dass Bekräftigungen und Imitationen von Rollenvorbildern gemeinsam wirken. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass bestimmte kognitive Voraussetzungen und Leistungen erforderlich sind, um eine eigene Geschlechtsidentität, das Stereotypenwissen und das Wissen um die Geschlechterkonstanz aufzubauen. Dass Erwartungshaltungen und Stereotype hinsichtlich der Festigung von Geschlechterrollen ebenfalls eine Rolle spielen, zeigt die sozialpsychologische Perspektive auf.
Es erscheint daher sinnvoll, die einzelnen Theorieansätze miteinander zu verknüpfen. Kasten schlägt hierfür eine Rahmentheorie vor, bei der die kognitive Theorie den Rahmen bietet, in den sich die weiteren Theorien einordnen lassen.53 So muss die eigene Geschlechtsidentität erst stufenweise aufgebaut werden, während parallel die Erfahrungen, die das Kind in seinem sozialen Umfeld macht, ebenfalls maßgeblichen Einfluss auf die Identitätskonstruktion und die Entwicklung von Geschlechterrollen haben. So macht das Kind Erfahrungen damit, dass bestimmte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen bekräftigt, andere bestraft werden, was sich wiederum auf dessen Verhalten auswirkt.54 Außerdem wird es mit Modellen konfrontiert, deren Verhalten es unter Umständen imitiert. Obwohl Kasten nicht auf den behavioralen Erwartungseffekt und die Theorie der Stereotypenbedrohung eingeht, können auch diese beiden Erklärungsansätze in das Modell integriert werden. Die beiden Theorien sind dabei insofern relevant, als dass sie verdeutlichen, wie die darin beschriebenen Prozesse auch bis in das Erwachsenenalter hinein wirken können. So beschreibt die kognitive Theorie, dass das Wissen um Geschlechterstereotype und um Verhaltensweisen, die in der Gesellschaft als geschlechtsadäquat gelten, erworben wird. Darauf aufbauend beeinflussen diese Erwartungen und (negativen) Stereotype das eigene Verhalten und festigen wiederholt die Rollenbilder.
2.3 doing gender
Doing gender ist ein Erklärungsansatz zur Konstruktion von Geschlecht, bei dem Geschlechtszugehörigkeit nicht als festes Merkmal eines Individuums betrachtet wird, sondern der Fokus auf den sozialen Prozessen liegt, in denen die Kategorie „Geschlecht“ hervorgebracht und reproduziert wird.55 Das Konzept geht zurück auf West und Zimmerman (1987) und hat zur Grundannahme, dass „Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität als fortlaufender Herstellungsprozess aufzufassen sind, der zusammen mit faktisch jeder menschlichen Aktivität vollzogen wird und in den unterschiedliche institutionelle Ressourcen eingehen.“56
West und Zimmerman entwickelten den Begriff dabei in Abgrenzung zur sex-gender-Theorie. In dieser wird zwar zwischen biologischem und sozialen Geschlecht unterschieden, allerdings wird sex als Grundlage von gender betrachtet, so dass letztendlich doch von einem biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern ausgegangen wird. Um diesem „heimlichen Biologismus“57 zu umgehen, schlagen die Autoren einen dreigliedrigen Ansatz vor: es wird beim doing gender zwischen sex, sex category und gender unterschieden:
„ Sex ist dabei die Bestimmung jener biologischen Kriterien, auf die man sich gesellschaftlich geeinigt hat, um mit ihnen Personen als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zu klassifizieren. […] Sex category ist die Zuordnung in eine der beiden Kategorien durch die Anwendung des Kriteriums. Die Fähigkeit, das eigene Verhalten so zu managen, dass die alltäglichen Praktiken mit der vorgenommenen Zuordnung übereinstimmen, bezeichnen West/Zimmerman als gender. “58
Geschlecht ist also nicht etwas, was eine Person bloß hat und das im alltäglichen Handeln seinen Ausdruck findet, sondern vielmehr das Ergebnis eines „aktiven und handlungsorientierten Prozesses“59, also etwas, das man tut: „members do gender as they do housework“60. Es reiche allerdings nicht, Geschlecht lediglich für sich selbst zu inszenieren. Vielmehr könne die Inszenierung erst dann als erfolgreich angesehen werden, wenn anderen glaubhaft gemacht werden konnte, dass man eine Frau oder ein Mann, ein Mädchen oder ein Junge ist.61 An der sozialen Herstellung von Geschlecht sind folglich immer mehrere beteiligt: diejenigen, die ihr Geschlecht inszenieren und diejenigen, die die Inszenierung anerkennen. Diese Prozesse laufen häufig unbewusst ab, sind jedoch allgegenwärtig. So bilde „doing gender […] die Basis dafür, unsere Geschlechterverhältnisse als Normalität anzusehen und nicht als das, was sie sind: eine erhebliche kulturelle Leistung“.62
Auch im schulischen Kontext lassen sich doing-gender- Prozesse beobachten. Schließlich ist die Schule ein sozialer Ort, in dem Kinder und Jugendliche einen Großteil ihrer Zeit verbringen, sie ist „ein bedeutsamer Raum für adoleszente Prozesse der Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern und Geschlechterverhältnissen“63.
Jungen und Mädchen erwerben in der Schule also nicht nur Fachwissen, das im Unterricht vermittelt wird, sondern sie lernen in ihrer Schulzeit auch, sich als geschlechtliches Wesen zu begreifen, ihr Geschlecht für sich und für andere aktiv zu inszenieren und sich vom anderen Geschlecht abzugrenzen. Solche Prozesse der Herstellung von Geschlecht vollziehen sich natürlich nicht nur außerhalb der Schulstunden, sondern häufig im Unterricht selbst. Die Lehrperson spielt bei der Geschlechterinszenierung also eine ebenso wichtige Rolle, da sie beispielsweise Unterrichtsthemen und -materialien aussucht, die Geschlecht thematisieren und dramatisieren, sowie durch ihre Äußerungen und ihr Verhalten gegenüber Schülerinnen und Schülern Geschlechterinszenierungen ermutigen kann. Auch werde etwa durch monoedukativen Unterricht Geschlecht dramatisiert und hergestellt.64
Während in Kapitel 4 die Rolle der Lehrperson bei der Herstellung von Geschlechterdifferenzen näher beschrieben wird, wird im Folgenden darauf eingegangen, wie Mädchen und Jungen ihre Weiblichkeit bzw. Männlichkeit inszenieren.
2.3.1 Inszenierung von Männlichkeit
Trotz dessen, dass das traditionelle Männlichkeitsbild heutzutage in der Öffentlichkeit immer mehr in Kritik gerät, orientieren sich viele Jungen nach wie vor an einem „Ideal von Unabhängigkeit und Stärke, von Aktivität und Dominanz, das den Charakter eines Leitbildes von gelungener und sozial hoch bewerteter Männlichkeit hat“65. Diese Orientierung lasse sich besonders stark bei Jungen aus niedrigen sozialen Schichten und jenen mit Migrationshintergrund beobachten, allerdings sei das Leitbild für Jungen aller sozialer Milieus bedeutsam.66 Die zentralen Felder der Männlichkeitsinszenierung seien dabei speziell die Bereiche „Sport“ und „Technik“.67
Im Zusammenhang mit männlicher Geschlechterinszenierung spielt die gleichgeschlechtliche peer group eine große Rolle. So versuchen Jungen zum einen an das ideale Männlichkeitsbild heranzukommen, indem sie Hierarchien untereinander schaffen, sich in „typisch“ männlichen Bereichen miteinander messen und versuchen, sich immer wieder selbst als männlich zu behaupten. Diese Hierarchien seien zwangsläufig wandelbar, da die darin erreichten Positionen von anderen Jungen bedroht werden könnten und gegen diese verteidigt werden müssten.68 Jungen, die als „unmännlich“ gelten, werden ausgegrenzt, wodurch die anderen wiederum ihre Geschlechtsidentität behaupten können. Es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Diese „Wir-Gruppe“ „ist auf die Ausgrenzung anderer grundsätzlich angewiesen, denn nur so erhält Männlichkeit eine scharfe Konturierung, die es den Schülern erlaubt, zwischen männlich und unmännlich zu unterscheiden“69.
Ein Kernelement der Männlichkeitsinzenierung ist zudem die Abwertung des Weiblichen und des weiblich konnotierten, beispielsweise von mit Abhängigkeit, Schwäche, Unsicherheiten, Angst und Hilflosigkeit verbundenen Eigenschaften von Personen.70 Diese Abwertung von Weiblichkeit bzw. speziell von Mädchen kann sogar so weit gehen, dass außerschulische Freundschaften zu Mädchen in der Schule vor den peers verheimlicht oder geleugnet werden.71 Aber auch Jungen, die in ihrem Verhalten, ihrem Äußeren oder ihren Interessen als „mädchenhaft“ gelten, werden von anderen Jungen oft abgewertet, indem sie beispielsweise als „schwul“ beschimpft werden.72 Jungen, die sich nicht vollkommen in dem gewünschten Männlichkeitsbild wiederfinden, haben es besonders schwer, sich zu behaupten, da sie strengen Restriktionen unterliegen:
„Die Furcht, als lächerlich, verweichlicht, oder zu wenig „cool“ zu gelten, hemmt die Experimentierlust mit Verhaltensweisen, die aus dem Bereich männlicher „Normalität“ herausfallen. Insbesondere die Gruppe der Gleichaltrigen sanktioniert solche Versuche in der Regel negativ.“73
Auch zeigen Studien, dass das Bemühen um gute Noten und in der Schule geforderte Tugenden wie Fleiß, Aufmerksamkeit und Zuhören als weiblich konnotiert gelten und für Jungen somit häufig nicht erstrebenswert sind.74 Vielmehr scheinen Jungen ihre Männlichkeit oftmals dadurch zu inszenieren, dass sie das gegenteilige Verhalten an den Tag legen. So versuchen manche Jungen, ihre männliche Identität damit zu festigen, dass sie den Unterricht stören, im Unterricht besonders „cool“ wirken, Regeln nicht befolgen und keine „Streber“ sind. Infolgedessen haben Jungen oftmals negative Schulerfahrungen, die allerdings nicht zwangsläufig schädlich für ihr Selbstvertrauen sein müssen, da Ermahnungen und Disziplintadel seitens der Lehrperson „ja die Bestätigung [enthalten], ein »richtiger« Junge zu sein, von dem eben auch abweichendes Verhalten erwartet wird“75.
Zwar ist der Zusammenhang zwischen Schul(miss)erfolg und Männlichkeitsinszenierungen bislang noch nicht untersucht worden, allerdings lässt sich hier die Hypothese aufstellen, dass das vergleichsweise schlechte Abschneiden der Jungen, die als „Bildungsverlierer“ gelten, seinen Ursprung unter anderem auch darin hat, dass diese sich von einem Männlichkeitsbild beeinflussen lassen, welches mit Schulerfolg nicht zwangsläufig vereinbar ist.76
Auch inszenieren Jungen ihr Geschlecht nicht nur vor anderen Jungen, sondern ebenso vor Mädchen. Dies geschieht laut Flaake häufig dadurch, dass Mädchen bzw. der weibliche Körper oder Details der Kleidung lautstark kommentiert werden, dass Mädchen offen sexualisiert oder spöttisch beurteilt werden.77
Wichtig ist, dass Männlichkeitsinszenierungen ein kollektives Phänomen sind. So stellten Frosh und Phoenix in einer Untersuchung, bei der Gruppen- und Einzelinterviews mit Jungen durchgeführt wurden, fest, dass diese ihre Männlichkeit vor allem in Anwesenheit ihrer gleichgeschlechtlichen peers inszenieren; die Orientierung am männlichen Idealbild wurde so insbesondere in den Gruppendiskussionen deutlich. Wurden die Jungen alleine befragt, so konnten einige von ihnen durchaus ihre Position in der Gruppe und ihr Verhalten darin kritisch reflektieren und sensiblere Seiten von sich zeigen.78 Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sehr doing-gender-Prozesse - vor allem bei männlichen Schülern - die Interaktion mit anderen beeinflussen und sicherlich häufig auch erschweren, da sie Jungen unbewusst Zugänge zu anderen, neuen Erfahrungen verwehren.
2.3.2 Inszenierung von Weiblichkeit
Das neue weibliche Idealbild, an dem sich viele Mädchen heutzutage orientieren, ist zweigeteilt. Einerseits scheint das Bild der „starken“, „coolen“ jungen Frau, wie sie häufig in den Medien propagiert wird, erstrebenswert. Sie ist jemand, der „selbstbewusst ist, geradeheraus ihre Meinung sagt, sich von niemandem in ihre Pläne reinreden lässt, sehr klar Bescheid weiß über sich und die Welt, in der sie sich bewegt, und trotzdem Spaß hat, viel Spaß. [...] Sie weiß Bescheid über Trends, sie kennt sich aus ohne dabei ihre Besonderheit zu verlieren.“79
Dieses Idealbild ist zwangsläufig mit viel Druck für Mädchen verbunden. Nicht Jede kann „cool“ sein, zumal Untersuchungen zeigten, dass gerade in der Pubertät das Selbstbewusstsein junger Frauen - anders als bei Jungen - drastisch sinkt 80. Zweitens würden junge Frauen mit einem nie ganz erreichbaren Idealbild von Schönheit und Attraktivität konfrontiert werden.81 Mädchen versuchen sich also gleichzeitig als selbstbewusst und „tough“, als auch als für das andere Geschlecht interessant, also körperlich attraktiv zu machen. Sie inszenieren somit den „männlichen Blick“. Zur Weiblichkeitsinszenierung gehört allerdings auch, vor allem in gleichgeschlechtlichen peer groups eine Unzufriedenheit mit seinem eigenen Körper zu inszenieren. Für viele Mädchen sei es normal, sich zu dick zu fühlen; eine Zufriedenheit mit dem eigenen Gewicht und der Figur gelte eher als Abweichung von der Norm.82 So spricht Flaake davon, dass es bei jungen Frauen eine Kultur der Kritik gebe, „kaum jedoch eine Kultur des Stolzes, des körperlichen Wohlbefindens und der wechselseitigen positiven Bestätigung83 “. Mädchen bewerten sich auch gegenseitig äußerst kritisch und werten andere Mädchen, die nicht dem Ideal entsprechen, häufig ab. Anders als Jungen inszenieren Mädchen ihr Geschlecht in ihren gleichgeschlechtlichen peer groups allerdings nicht durch Abwertung allen Männlichen. Es gebe, abgesehen davon, dass Jungen von Mädchen häufig als „unreif“ bezeichnet werden, kein grundsätzliches Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem anderen Geschlecht, aus dem die eigene Weiblichkeit geschaffen werden könnte.84 Vielmehr ist es so, dass Mädchen auch der Zutritt zu Männer- bzw. Jungendomänen gewährt wird: „Sie dürfen ihre Möglichkeiten in das in unserer Gesellschaft hoch bewertete männliche Spektrum hin erweitern, das gilt als rationales Verhalten und wird ihnen - jedenfalls in Maßen -zugestanden.“85
Im Allgemeinen sind gute bis sehr gute schulische Leistungen mit dem Frauenbild, an dem sich Mädchen orientieren, gut vereinbar. Ihre Weiblichkeitsinszenierungen beinhalten nicht - wie etwa bei den Jungen - Störungen des Unterrichts und das Nichtbefolgen von in der Schule aufgestellten Regeln, um als „cool“ zu gelten. Auch hier lässt sich die ergänzende Hypothese aufstellen, dass es eine positive Korrelation zwischen Weiblichkeitsinszenierung und Schulerfolg geben könnte. Da Mädchen durch das Zeigen von in der Schule von ihnen erwartetem Verhalten und guten Leistungen ihre Weiblichkeit nicht als gefährdet, sondern unter Umständen gar bestätigt sehen, stellt sich ihnen in diesem Zusammenhang nicht dieselbe Hürde wie den Jungen. Dies könnte einer der Gründe dafür sein, weshalb Mädchen tendenziell bessere Schulleistungen und Schulabschlüsse als Jungen erreichen.
Allerdings sind sich Mädchen gerade in der Schule bewusst, dass es „Jungen-“ und „Mädchenfächer“ gibt, also einerseits Fächer, in denen von ihnen erwartet wird, gute Leistungen zu bringen, andererseits jene Fächer, in denen schlechte Leistungen nicht unbedingt als beunruhigend gelten. In Fächern aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich inszenieren manche Mädchen deshalb Hilflosigkeit und Inkompetenz, „um ihre Weiblichkeit herauszustellen“86. Dass diese Inszenierungen problematisch sind, ist offensichtlich. Wie auch die Jungen, verwehren sich viele Junge Frauen so Zugänge zu Bereichen, die dem anderen Geschlecht zugeordnet werden, weil diese als nicht weiblich und somit als nicht angemessen gelten; allerdings spielen hier sicherlich auch die Angst, den Erwartungen nicht zu entsprechen sowie der stereotype threat eine große Rolle. So waren 2010 lediglich 16% aller Studentinnen in Deutschland in sog. „MINT“-Studiengängen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) eingeschrieben, während ganze 46% der männlichen Studierenden sich für ein Studienfach aus diesem Bereich entschieden hatten.87 Somit lässt sich sagen, dass Mädchen und Frauen zwar leichteren Zugang zu typisch „männlichen“ Bereichen haben als umgekehrt, diese Chancen allerdings nur selten wahrnehmen, da sie sich in ihren privaten sowie beruflichen Interessen als weiblich inszenieren.
2.4 Mediale Einflüsse
Obwohl Familie, Schule und peers sicherlich die primären Sozialisationsinstanzen von Kindern und Jugendlichen sind, dürfen mediale Einflüsse nicht unterschätzt werden, wenn es um die Verbreitung von Geschlechterstereotypen geht, die wiederum Auswirkungen auf das Verhalten haben können.
So gibt es im Bereich der Kinder- und Jungendliteratur spezielle „Mädchenbücher“ und „Jungenbücher“, die jeweils für die Geschlechter vermeintlich relevante Themen behandeln, wobei auffällt, dass weitaus mehr Mädchen- als Jungenbücher auf dem Markt sind.
[...]
1 Lohmann 2003, S.13.
2 Frey 2003 S. 26, zitiert nach Rendtorff 2006, S.99.
3 Dietzen 1993, S.12.
4 vgl. Aktionsrat Bildung 2009, S.47.
5 vgl. Trautner 1979.
6 vgl. Straka/Macke 2006, S.57ff.
7 Kasten 1995, S.4 (online).
8 vgl. Asendorpf 2012, S.411.
9 Kasten 1995, S.4 (online).
10 vgl. ebd. S.5.
11 Matzner/Tischner 2012, S.67.
12 Kasten 1995, S.4 (online).
13 vgl. ebd.
14 vgl. Matzner/Tischner 2012, s.67.
15 vgl. Asendorpf 2009, S.168.
16 vgl. Kasten 1995, S.5f (online)
17 vgl. ebd. S.6.
18 Kasten 1995, S.6 (online).
19 vgl. Trautner 2008, S.669.
20 Aktionsrat Bildung 2009, S. 47.
21 vgl. ebd.
22 vgl. Trautner 2008 s.646.
23 Kasten 1995, S.7 (online)
24 vgl. ebd.
25 vgl Kasten 1995, S.7 (online).
26 vgl. ebd.
27 vgl. vgl Kasten 1995, S.8. (online)
28 vgl. Lohaus et. al. 2010, S.105.
29 vl. Kasten 1995, S.9 (online).
30 vgl. Aktionsrat Bildung 2009, S.48.
31 Kasten 1995, S.9 (online).
32 vgl. Bischof-Köhler 2006, S.67f.
33 vgl. Kasten 1995, S.9 (online).
34 vgl Kasten 1995, S.9 (online).
35 Powlishta et al. 1994, zitiert nach Aktionsrat Bildung 2009, S.48.
36 vgl. Aktionsrat Bildung 2009, S.48.
37 vgl Kasten 1995, S.10 (online).
38 Aktionsrat Bildung 2009, S.48.
9 vgl. Bischof-Köhler 2006,S.67f.
40 vgl. Kasten 1995, S.10 (online).
41 vgl ebd. S.10f.
42 Kasten1995, S. 11 (online).
43 vgl ebd.
44 Aktionsrat Bildung 2009, S.48
45 Aktionsrat Bildung 2009, S.49.
46 Eckes 2008, S.178.
47 Skrypnek/Snyder 1882.
48 vgl. ebd. S.120.
49 Petersen/Six 2008, S.88.
50 vgl. Lippa 2002, S.93.
51 vgl. Spencer et. al.1999.
52 vgl. Petersen/Six 2008, S.89.
53 vgl. Kasten 1995 S.12 (online).
54 vgl Kasten 1995, S.13.
55 vgl. Gildemeister 2010, S.137.
56 Gildemeister 2010, S.137.
57 Gildemeister s.138.
58 Faulstich- Wieland 2004, S.177.
59 Budde 2005, S.24.
60 Berk 1985, S.201.
61 vgl. Budde/Willems 2006, S.6 (online)
62 ebd.
63 Flaake 2006, S.29.
64 vgl. dazu Budde/Willems 2006, S.8f. (online)
65 Flaake 2006, S.30.
66 vgl. ebd.
67 vgl. ebd.
68 vgl. Flaake 2006, S. 30.
69 Budde/ Faulstich-Wieland 2005, S. 41
70 vgl. Flaake 2006, S.31.
71 vgl. Michalek 2006, S.55.
72 vgl. Flaake 2006, S.31.
73 Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1996, S.128.
74 vgl. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1996, S.128.
75 Ulrich 2001, S.111.
76 vgl. Flaake 2006, S.31.
77 vgl. Flaake 2006, S.32.
78 vgl. Frosh u. a. 2002; Phoenix/Frosh 2005 zit. nach Flaake 2006, S.33.
79 Stauber 1999, S. 54.
80 vgl. Flaake 2006 S.34.
81 ebd. S.36
82 vgl. Flaake 2006, S.36.
83 ebd.
84 vgl. Flaake 2006, S..37.
85 Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1996, S.128.
86 Flaake 2006, S.38.
87 vgl. Statistisches Bundesamt 2012, S.22f (online).
- Arbeit zitieren
- Tanja Burykina (Autor:in), 2014, Geschlechtsspezifische Unterrichtsstörungen. Phänomene, Ursachen, pädagogische Relevanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307298
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