Ziel dieser Theoriearbeit ist es, zu untersuchen, welche Qualitätskriterien eine professionalisierte formalisierte Beratung in der Sozialen Arbeit erfüllen sollte. Dabei wird auf Beratung erster Ordnung fokussiert, bei welcher die Ratsuchenden gleichzeitig auch die Betroffenen oder „Endverbraucher“ des Beratungsprozesses darstellen.
In Kapitel 2 der Arbeit werden unspezifische Wirkfaktoren der Beratungsarbeit zusammengestellt, welchen unabhängig von verschiedenen Beratungsansätzen und -schulen ein maßgeblicher Einfluss auf Qualität und Ergebnis der Beratung zugeschrieben wird. Diese werden in Kapitel 3 mit dem Ansatz des Beratungsmodells nach Shulman verglichen (vgl. z.B. Shulman (1992): The skills of helping. Individuals, Families and Groups. Itasca, Illinois: F.E. Peacock Publishers). Abschließend wird in Kapitel 4 ein Entwurf eines Evaluationskonzeptes für die Beratung in der Sozialen Arbeit vorgestellt.
INHALTSVERZEICHNIS
Kapitel 1: Was ist Beratung
Kapitel 2: Auf der Suche nach gemeinsamen Wirkfaktoren in der Beratung – Empirische Studien, Sekundäranalysen und Modelle
2.1 Exkurs: Allgemeine Theorie der Veränderung nach PROCHASKA
2.2 Welche unspezifischen Wirkfaktoren bzw. Wirkmodelle von Therapie gibt es?
2.2.1 Erste Ansätze von FRANK (1961)
2.2.2 Die Berner Therapievergleichstudie von GRAWE, CASPAR und
AMBÜHL (1990)
2.2.3 Übersicht über verschiedene Wirkfaktorstudien von SHULMAN (1991)
2.2.4 Das Modell von TSCHEULIN (1992)
2.2.5 Die Suche nach Wirkfaktoren von HUF (1992)
2.2.6 „Die grossen Vier“ – Zusammenfassung empirischer Ergebnisse von HUBBLE, DUNCAN und MILLER (2001)
2.3 Zusammenfassung und Bewertung der Wirkfaktoren
2.3.1 KlientInnenfaktoren
2.3.2 Placebo- bzw. Hoffnungsfaktoren
2.3.3 Beziehungsfaktoren
2.3.4 TherapeutInnen- sowie Modell- und Technikfaktoren
2.3.5 Setting
2.3.6 Exkurs Kommunikationstheorie
Kapitel 3: Das Modell von SHULMAN (1992, 1993)
3.1 Grundlagen des Modells
3.2 Phasen der Beratung
3.3 The skills of helping – social work with individuals
3.3.1 Tuning in
3.3.2 Agency records and referral reports: avoiding the trap of stereotyping
the client
3.3.3 Contracting
3.3.4 Responding directly to indirect cues
3.3.5 Elaborating Skills
3.3.6 Empathic Skills
3.3.7 Sharing worker’s feelings
3.3.8 Making a demand for work
3.3.9 Pointing out obstacles
3.3.10 Identifying process and content connections
3.3.11 Sharing data skills
3.3.12 Ending and transition skills
3.4 Working with the system
3.5 Zusammenfassung und Bewertung
Kapitel 4: Entwurf eines Evaluationskonzeptes für die Beratung in der
Sozialen Arbeit
Literaturliste
Anhang
Kapitel 1: Was ist Beratung
Beratung ist eine helfende Interaktion, die täglich in vielen Situationen von Laien durchgeführt wird. Professionelle BeraterInnen mit entsprechender (Zusatz-) Ausbildung kommen dann als „dritte Kraft“ zum Einsatz, wenn diese Unterstützung durch das direkte soziale Umfeld zur Problembewältigung nicht mehr ausreicht bzw. nicht verfügbar ist, die Hilfesysteme des Sozialsystems (noch) nicht aktiv sind bzw. ebenfalls nicht genügend Unterstützung bieten oder die Beratung durch eine Institution angeordnet wird (PflichtklientInnenschaft). Ziel professioneller Beratung ist es, sowohl präventiv als auch kurativ und rehabilitativ den Ratsuchenden Unterstützung zur kognitiven, emotionalen und handelnden Lösung und Bewältigung lebenspraktischer Fragen, psychosozialer Konflikte und Krisen anzubieten.
Professionelle Beratung kann weiter differenziert werden mit Hilfe der Unterscheidungskriterien:
- Beratung erster und zweiter Ordnung,
- erwartende und aufsuchende Beratung,
- Formalisierungsstufe (informell, halbformalisiert, formalisiert).
Des Weiteren gibt es unterschiedliche Definitionen der in der Beratung tätigen Berufsgruppen.
In vielen Situationen der täglichen sozialen Interaktion wird beraten: Familienmitglieder, FreundInnen, KollegInnen unterstützen sich gegenseitig bei der Bewältigung von Problemen und Schwierigkeiten im Alltag, bei wichtigen Entscheidungen und in Konflikten. Für manche Menschen haben auch Berufsgruppen wie Gastwirte, Taxifahrer, Frisöre, Seelsorger u.ä. in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung. Das direkte soziale Umfeld ist für Ratsuchende in der Regel die erste Anlaufstelle, wenn Probleme auftauchen. Diese Alltagsberatung oder Laienberatung ist in vielen Fällen äußerst hilfreich und führt zu einer Bewältigung der Schwierigkeiten. Die Beratung muss dabei nicht ausschließlich in direkter Interaktion erfolgen – auch Beiträge in den Medien können zur Alltagsberatung gezählt werden.
Allerdings hat diese Form der Beratung auch ihre Grenzen.
„Oftmals geht man im Alltagsverständnis von einem verkürzten und rationalistischen Beratungsbegriff aus. Beratung ist demnach ein einmaliger auf eine bestimmte Situation bezogener „Ratschlag“, der unabhängig von Gesamtzusammenhang und den unbekannten Hintergründen als „vernünftig“ empfunden wird und ohne Probleme befolgt werden kann. Dieses Beratungsverständnis ist einfach naiv. Als wenn das Erkennen und Befolgen „richtiger“ Hinweise für Problembewältigung so einfach wäre. Leider haben wir es in den meisten Beratungsfällen mit tiefer gehenden Schwierigkeiten zu tun, die überhaupt erst nach einer vertrauensvollen und anonymen – also auch nicht verstrickten – Beratungsbeziehung ans Licht kommen. Dagegen sind mehr oder weniger gutgemeinte Vorschläge von Freunden oder Verwandten oftmals auch von deren Interessen und Schwierigkeiten geprägt, also durch die „eigene Brille“ wahrgenommen“ (Belardi u.a. 2001: 34).
Wenn das soziale Umfeld nicht mehr weiterhelfen kann oder die Ratsuchende sich an dieses nicht wenden will, weil ihr die Probleme peinlich sind, diese zu stark involviert sind oder sie keine Hoffnung hat, dass diese Personen ihr weiterhelfen können, sind professionelle BeraterInnen gefragt. Professionelle Beratung wird von Personen durchgeführt, die eine entsprechende Aus- oder Weiterbildung in einer Beratungs- bzw. Therapierichtung, in (Sozial-)Pädagogik oder Psychologie haben.
Belardi u.a. (vgl. 2001:35-43) unterscheiden zwei Arten professioneller Beratung:
- Sozialpädagogische Beratung wird beschrieben als
„eine spezielle Dienstleistung für Einzelpersonen, Familien und Institutionen, um diesen zur eigenständigen Lösung von Problemen im psychosozialen und/oder materiellen Bereich zu verhelfen. Sozialpädagogische Beratung kommt in allen Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens vor. Sie hat sehr unterschiedliche Schwerpunkte und Institutionalisierungsgrade. Da die sozialpädagogische Beratung nicht über eine eigenständige Methodik verfügt, benutzt sie in pragmatischer Weise Erkenntnisse und Verfahren aus der Psychologie, Psychotherapie, den Sozial-, Verwaltungs- und Rechtswissenschaften“ (Belardi u.a. 2001: 40).
Wichtige Merkmale sozialpädagogischer Beratung sind: „Professionalität, Erreichbarkeit, Uneigennützigkeit, Nichtverstrickung sowie Vermittlungsmöglichkeiten bezüglich weiterer Hilfequellen“ (belardi u.a. 2001: 36).
- Klinische Beratung oder Psychotherapie, die im rechtlichen Sinne eine Krankenbehandlung darstellt und die Kosten daher unter bestimmten Voraussetzungen von der Krankenkasse übernommen werden, „ist ein spezifisches Angebot von niedergelassenen Diplompsychologen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (manchmal auch Ärzten und Angehörigen anderer Berufe) im Rahmen freier Praxis. Aber auch in ambulanten und stationären Einrichtungen gibt es die klinische Beratung“ (belardi u.a. 2001: 35). Die Fachkräfte verfügen über qualifizierte psychotherapeutische Zusatzausbildungen und sind vom Gesundheitsamt anerkannt. Sie orientieren sich an wissenschaftlich anerkannten Krankheitsbildern (Diagnose) und versuchen PatientInnen, die an solchen Krankheiten leiden, zu heilen – unter Umständen auch mit Hilfe von Medikamenten (dies ist die Domäne der Mediziner).
Eine eindeutige Grenzziehung zwischen Beratung und Therapie ist jedoch äußerst schwierig, da sich beide in großen Teilen auf dieselben Modell- und Methodengrundlagen beziehen und die Übergänge in vielen Bereichen fließend sind.
„Trotz der schon mehrfach angesprochenen schwerpunktmäßigen Unterschiede zwischen klinischer und sozialpädagogischer Beratung („mehr Tiefe“ bzw. „mehr Breite“) gibt es einen Bereich, wo diese Grenzen nicht immer klar sein können und deswegen im Beratungsprozeß möglicherweise ineinander übergehen. Wenn man in der sozialpädagogischen Beratung immer wieder an denselben Punkt einer „verfestigten Lebensproblematik“ kommt, hat man es mit einem Bereich zu tun, den Psychotherapeuten als seelische Beeinträchtigung oder psychische Erkrankung bezeichnen. Hier intensiver weiterzumachen würde heißen, die Grenze zur Psychotherapie zu überschreiten. Daraus wird deutlich, daß es eine ideale Grenzziehung zwischen Beratung und Psychotherapie nicht geben kann. Auch im „normalen Gespräch“ unter Freunden (Alltagsberatung) gerät man zuweilen in psychotherapeutische Tiefen. Sozialpädagogische Beraterinnen und Berater müssen ihre Grenzen kennen und gegebenenfalls an andere Helfer oder Institutionen weiterverweisen können“ (Belardi u.a. 2001: 43)
Sickendiek u.a. (vgl. 1999: 15-21) unterscheiden die Arten professioneller Beratung anhand der Beratungsdefinitionen der in der Beratungsarbeit tätigen Disziplinen (Psychologie, Sozialarbeit, (Sozial-)Pädagogik und psychosoziale Arbeit):
- Psychologische Beratung wurde lange Zeit relativ eng als wissenschaftlich fundierte Beeinflussung diagnostizierter Störungen oder als Eignungsprognose (beispielsweise für bestimmte Berufe) verstanden. Erst in neuerer Zeit öffnete sich dieses Beratungsverständnis und schloss die Tätigkeiten anderer Berufsgruppen aus dem Erziehungs-, Bildungs- Sozial- und Gesundheitswesen mit ein. Diesem Verständnis liegt jedoch immer noch „die expertInnenorientierte Vorstellung des Vermittelns von fachlich legitimiertem Wissen“ (Sickendiek u.a. 1999: 16) zugrunde. Dies zeigt die Definition von Fröhlich (1994: 85f.):
„Beratung: Zusammenfassende Bezeichnung für die Erteilung von Entscheidungs- und Orientierungshilfen durch ausgebildete Fachkräfte (z.B. Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter) in Einzel- oder Gruppengesprächen. ... Zu den allgemeinen Kennzeichnen [!] der psychologischen Beratung gehört ihre nicht-direktive, d.h. nicht direkt auf eine Verhaltensmodifikation abzielende Art; sie fördert Einsichten und Einstellungsänderungen in bezug auf individuelle oder soziale Problembereiche“ (zitiert in: Sickendiek u.a. 1999: 16).
- Soziale Beratung oder lebensweltorientierte Beratung: „Soziale Beratung ist ein breitgefasster Begriff für die Gesamtheit beraterischer Hilfen in Problemfeldern, die sich auf Schwierigkeiten von Individuen oder Gruppen in und mit ihrer sozialen Umwelt beziehen. Unter sozialer Umwelt sind sowohl nähere soziale Kontexte wie Familie, Verwandschaft [!], berufliche oder schulische Umwelt oder Freundeskreise zu verstehen wie auch übergreifende, z.T. nur noch vermittelt erlebte gesellschaftliche Bedingungen. Soziale Beratung bezieht sich zudem auf die materiellen, rechtlichen und institutionellen Strukturen der sozialen Umwelt“ (sickendiek u.a. 1999: 17).
Nach Thiersch (vgl. 1995: 129-141) sind wichtige strukturelle Elemente des Beratungshandelns die Schritte Erkennen von Schwierigkeiten, Klären, Entwerfen von Hilfemöglichkeiten und Ressourcenerschließung. Sie wird zudem charakterisiert als Kommunikation auf der Basis von Vertrauen sowie Freiwilligkeit und aktiver Beteiligung der Ratsuchenden an der Problemdefinition sowie möglichen Auswegen. Beratung geht nach diesem Verständnis weit über die Hilfe bei der Bewältigung psychischer Probleme und die Verarbeitung von Lebenserfahrungen hinaus und befasst sich auch mit materiellen und sozialen Strukturen, welche die Ratsuchenden in der alltäglichen Lebensführung oder der Bewältigung von Krisen einschränken.
- Pädagogische Beratung kann als „Aufklärung und Hilfeleistung zu reflektierter Handlungsfähigkeit“ (Sickendiek 1999: 19) charakterisiert werden. Mollenhauer (vgl. 1968) sieht in Beratung einen herausgehobenen Moment im Erziehungsprozess, der sich häufig auch in einer umfassenderen pädagogischen Interaktion ergeben kann (vgl. halbformalisierte Beratung, S. 7). „Allerdings erwarten die Ratsuchenden in der pädagogischen Situation nicht, „erzogen zu werden“, d.h. keine Belehrungen, sondern eine offene Kommunikation. Beratung muß demzufolge „das Nein des Ratsuchenden“ dulden, um ihren Bildungssinn zu erfüllen“ (sickendiek u.a. 1999: 18). Eine wichtige pädagogische Bedeutung von Beratung liegt darin, dass sie „kritische Aufklärung“ (vgl. Mollenhauer 1968: 114) sein und beispielsweise oberflächliche Interpretationen der Wirklichkeit („Ich bin unfähig, meine Kinder gut zu erziehen.“) überwinden kann. Dadurch wird eine objektivere, rationalere Betrachtung der Probleme erreicht, die auch gesellschaftliche Ursachen der Probleme reflektiert (vgl. auch Frommann u.a. 1976).
- Im Mittepunkt der Psychosozialen Beratung steht die Vermittlung psychosozialer Kompetenz als das Erkennen von Belastungen und Einschränkungen (Reflexionsfähigkeit, aufklärerische Komponente) sowie darauf bezogene Problemlösekompetenzen. Diese sind nötig, um die Belastungen zu mindern und wieder handlungsfähig zu werden. „,Psychosozial’ impliziert ein Menschen- und Gesellschaftsbild, das psychische und soziale Befindlichkeiten in Verbindung zu sozialen Lebens- und Umweltbedingungen setzt. Die gesellschaftlichen Ansprüche, Normen und Werte werden in ihrem Zusammenhang mit persönlichen Bedürfnissen, Motivationslagen und Handlungsweisen betrachtet“ (sickendiek 1999: 19). Der Schwerpunkt der psychosozialen Beratung liegt daher auf Belastungen, die durch äußere Anforderungen an die Ratsuchenden entstehen, und den individuellen und sozialen Bewältigungsformen. Mit Fokus auf Wechselwirkungen und der Interaktion zwischen den Ratsuchenden und ihrer Umwelt wird an Lösungsmöglichkeiten für Probleme gearbeitet, die zwar im sozialen Leben wahrnehmbar sind und eventuell auch dort entstehen, von den Ratsuchenden aber als emotional-persönlich erlebt werden. Eine besondere Bedeutung haben Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen und subjektiven Bedürfnissen, Interessen und Zielen (z.B. unvereinbare gesellschaftliche Rollenanforderungen wie die engagierte, belastbare und flexible Arbeitskraft, die gleichzeitig rund um die Uhr für die Kinder da ist). „Eine zweite psychosoziale Perspektive setzt am Konzept der Ressourcen an. Ressourcen werden hier verstanden als persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen. Ressourcen liegen aber auch in jenen Merkmalen der sozialen und materiellen Umwelt, die Entfaltungsmöglichkeiten und Bewältigungspotentiale bereitstellen“ (sickendiek 1999: 20). Damit wendet sich psychosoziale Beratung entschieden gegen defizitorientierte Ansätze.
Professionelle Beratung kann daher als eine Form helfender Interaktion zwischen der BeraterIn und Einzelpersonen, Familien, Gruppen oder Organisationen bezeichnet werden, die sich auf kognitive, emotionale und handelnde Problemlösung und -bewältigung richtet. Ziel ist es, die Ratsuchenden bei der Gewinnung von Orientierung, Klarheit, Wissen, Bearbeitungs- und Bewältigungskompetenz in bezug auf lebenspraktische Fragen oder bei psychosozialen Konflikten und Krisen zu unterstützen. Sie erfüllt dabei sowohl präventive als auch kurative und rehabilitative Aufgaben (vgl. Nestmann u.a. 2001: 140).
Beratung ist folglich nicht nur eine Auskunft, sondern ein
"Angebot von Hilfe und Unterstützung
- bei der Orientierung in Anforderungssituationen und Problemlagen,
- bei der Entscheidung über anzustrebende Ziele und Wege,
- bei der Planung von Handlungsschritten zur Erreichung der Ziele,
- bei der Umsetzung und Realisierung der Planung
- und bei der Reflexion ausgeführter Handlungsschritte und Vorgehenswei-
sen" (Sickendiek u.a. 1999: 14 f.).
Wie bereits beschrieben wurde findet lange nicht alle Beratung in entsprechenden spezialisierten Einrichtungen statt. Daher können nach sickendiek u.a. (vgl. 1999: 23) drei Formalisierungsstufen von Beratung unterschieden werden:
- Informelle oder auch alltägliche Beratung – typischer Fall: Im Gespräch mit einem guten Freund erzählt der Familienvater von seinen Problemen mit der jüngsten Tochter und fragt diesen nach seinen Erfahrungen (Alltags- bzw. Laienberatung). Auch das informelle beratende Gespräch unter KollegInnen in der Kaffeeküche, beispielweise im Jugendamt, zählt hierzu (kollegialer Austausch). Von den angesprochenen Personen erhoffen sich die Ratsuchenden unabhängig von deren Ausbildung Ideen und Rat. BELARDI nennt diese Form auch funktionale Beratung (vgl. 2001: 37f.).
- Halbformalisierte Beratung – typischer Fall: Der Familienvater sucht beim Schulfest das Gespräch mit der Klassenlehrerin seiner jüngsten Tochter und erzählt von seinen Problemen mit ihr. Diese Form der Beratung, bei der die Person als Professionelle angesprochen wird, ist in einen weiter reichenden Kontext eingebettet, der die Chance zu einem unverbindlichen und damit oft auch niedrigschwelligeren Gespräch bietet. Sie zieht sich als Querschnittmethode durch alle Hilfeformen der Sozialen Arbeit sowie psychologischer, medizinischer, juristischer und weiterer sozialer Tätigkeiten. Bei BELARDI wird diese Form als funktionale oder niedrig institutionalisierte Beratung bezeichnet (vgl. 2001: 37f.).
- Formalisierte Beratung – typischer Fall: Der Familienvater sucht schließlich die Erziehungsberatungsstelle auf. Formalisierte Beratung findet in spezialisierten Beratungsstellen statt und die BeraterInnen verfügen über eine entsprechende (Zusatz-) Ausbildung. Beratung stellt hier eine eigenständige Hilfeform dar, die belardi (2001: 38) als institutionalisierte Beratung bezeichnet. Formalisierte Beratung findet in verschiedenen Zusammensetzungen der Beteiligten statt: Einzelberatung, Paarberatung, Familienberatung, Gruppenberatung, Begleitung von Selbsthilfegruppen, Organisations- und Institutionsberatung, Supervision. Das spezialisierte, an Problemlagen orientierte Angebot ist ebenso breit gestreut. Die wichtigsten Bereiche sind: Beratung im Allgemeinen Sozialen Dienst, in der Heimerziehung, im Jugendhaus, in der Schule (z.B. durch BeratungslehrerInnen mit entsprechender Fortbildung), Erziehungsberatung, Familienberatung, Klärungshilfe in Konflikten/ Mediation, SchuldnerInnenberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Sozialpsychiatrischer Dienst, Suchtberatung.
Zur Charakterisierung verschiedener Formen von Beratung ist eine weitere Unterscheidung wichtig. Die Mehrzahl der Beratungsangebote (beispielsweise die Erziehungsberatung) basiert auf einer Komm-Struktur, die hier als erwartende Beratung bezeichnet werden sollen. Diese Art von Beratungsangebot müssen die Ratsuchenden aus eigenem Antrieb aufsuchen, um es nutzen zu können. Sie werden von der Institution in der Regel nicht aufgefordert zu kommen – es handelt sich um rein freiwillige Angebote.
Allerdings gibt es auch bei der erwartenden Beratung „Angebote“, die nicht vollständig freiwillig aufgesucht werden. Beispiele sind die Schwangerschaftskonfliktberatung nach §218, Aufnahme-, Entlassungs- oder Vermittlungsgespräche in totalen Institutionen (Gefängnis, Psychiatrie) sowie Beratungsgespräche, die im Zusammenhang mit der Kontrollfunktion Sozialer Arbeit zustande kommen wie etwa beim Allgemeinen Sozialen Dienst. „Wenn die Beratung mit diesen anderen Tätigkeiten vermischt wird, also behördliche oder gerichtliche Anordnungen zur Grundlage hat, sprechen wir von einer Pflichtklientenschaft“ (Belardi u.a. 2001: 39).
In vielen Fällen haben Beratungsformen mit Pflichtklientenschaft die Form einer aufsuchenden Beratung (Geh-Struktur), d.h. die MitarbeiterInnen der Institution suchen die Ratsuchenden gezielt auf. Andere BeraterInnen sind im direkten Lebensumfeld der Ratsuchenden im Sinne eines „Personalen Angebotes“ einfach nur präsent und ansprechbar (z.B. in der Obdachlosenhilfe, Streetwork). Dieses relativ niedrigschwellige Angebot kann von diesen dann angenommen und genutzt werden – oder auch nicht. Trotz der freien Entscheidung, ob dieses „Personale Angebot“ genutzt wird, hat die Präsenz im direkten Lebensumfeld immer auch eine Kontrollfunktion, die im Beratungsprozess eine wichtige Rolle spielt und nicht selten zu Problemen führt – vor allem dann, wenn die Kontrollfunktion nicht transparent ist (vgl. Abschnitt 3.3.3b) .
Eine zentrale Funktion von Beratung in der Sozialen Arbeit ist es, die Lücke zwischen den Ratsuchenden und spezialisierten bürokratischen Hilfeinstitutionen des Sozialsystems (wie beispielsweise dem Sozialamt) oder dem Gemeinwesen zu schließen und als „dritte Kraft“ zwischen beiden zu vermitteln. Sie ist immer dann gefordert, wenn sich im Alltag der Ratsuchenden Probleme ergeben, welche diese nicht selbst lösen können, und der Kontakt zu den Institutionen (noch) nicht oder nur unter größeren Schwierigkeiten möglich ist. Des Weiteren bietet Beratung in der Sozialen Arbeit auch selbst Hilfe in spezialisierten Feldern an (z.B. Schwangerschaftskonfliktberatung, SchuldnerInnenberatung). Dabei ist jedoch immer neben dem spezialisierten Fokus der Bezug auf „das größere Ganze“ wichtig. Die Beratung blickt also über ihren eigenen „Tellerrand“ hinaus und versucht, die Schwierigkeiten und Probleme der Ratsuchenden in ihren komplexen Zusammenhängen zu verstehen und nicht nur bei einer Teillösung behilflich zu sein. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass einzelne Beratungseinrichtungen untereinander vernetzt sind und gegebenenfalls weitere Hilfe vermittelt werden kann.
Beratung in der Sozialen Arbeit muss sich auch politisch für ihre Ratsuchenden einsetzen – vor allem dann, wenn in einem bestimmten Aufgabenfeld immer wieder dieselben Probleme auftauchen. Dies ist als Anzeichen dafür zu werten, dass ein strukturelles Problem vorliegt. In diesem Fall ist es wichtig, dass sich Beratung nicht als „Feuerwehr“ missbrauchen lässt und nur reaktiv die Probleme bearbeitet, sondern offensiv für eine Verbesserung der Gesamtsituation kämpft.
Mit welcher Form von Beratung befasst sich die vorliegende Arbeit?
In dieser Arbeit wird untersucht, welche Qualitätskriterien eine professionelle formalisierte Beratung in der Sozialen Arbeit erfüllen muss. Dabei geht es primär um die Qualität von Beratung erster Ordnung, in welcher die Ratsuchenden gleichzeitig auch die Betroffenen oder „Endverbraucher“ des Beratungsprozesses sind. Im Gegensatz dazu sind bei einer Beratung zweiter Ordnung (Supervision) die Ratsuchenden „nicht direkt Gegenstand der Beratung, sondern nur indirekt. Sozialpädagogische Berater werden von einer anderen Fachkraft dahin gehend unterstützt, wie sie mit den Ratsuchenden im Prozeß der Beratung erster Ordnung besser arbeiten können“ (belardi 2001: 55). Die Gültigkeit der in Kapitel 2 formulierten Wirkfaktoren kann zwar auch für eine Beratung zweiter Ordnung angenommen werden, da sich diese nicht grundlegend von einer Beratung erster Ordnung unterscheidet, dass dies angezweifelt werden müsste. Sie werden jedoch in dieser Arbeit nur im Zusammenhang von Beratung erster Ordnung untersucht. Gleiches gilt auch für die in Kapitel 3 beschriebenen Fähigkeiten. Hier weist Shulman selbst darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Skills auch von den SupervisorInnen im Arbeitsprozess verwirklicht werden müssen, um sie den SupervisandInnen vermitteln zu können (vgl. shulman 1993: 3-6).
Die in den Kapiteln 2 und 3 formulierten Kriterien und Fähigkeiten haben für halbformalisierte und informelle Beratung sowie die Arbeit mit KooperationspartnerInnen nur eingeschränkte Gültigkeit. Da auf diese Einschränkungen im weiteren Verlauf der Arbeit nicht näher eingegangen wird, sollen sie hier in aller Kürze benannt werden. Die Formulierung der Einschränkungen soll jedoch nicht bedeuten, dass in diesen Fällen von der Verwirklichung der Kriterien und Fähigkeiten grundsätzlich abgeraten wird – es muss jedoch stärker darauf geachtet werden, was zum Ziel des Gesprächs nötig und passend ist und was die jeweilige Konstellation aushält.
Halbformalisierte Beratung findet in einem völlig anderen Rahmen statt als formalisierte Beratung. So wird beispielsweise der Aufbau einer stabilen und tragfähigen Arbeitsbeziehung durch die fehlende Kontinuität der Beratungsgespräche erschwert. Unter Umständen kann sich eine solche Beziehung jedoch im umgebenden weiteren Kontext des spontanen Gesprächs ergeben. Schwierig ist hier jedoch eine konfrontative Vorgehensweise. Die Ratsuchende hat es auf dieser Formalisierungsstufe sehr leicht, sich den unbequemen aber wichtigen Dingen durch die Rückkehr zum Kontext zu entziehen. Daher kann halbformalisierte Beratung bei ernsthafteren Schwierigkeiten nur ein erster Schritt sein. In vielen Fällen nutzen die Ratsuchenden die niedrige Schwelle, um die BeraterIn unverbindlich zu testen. Fällt dieser Test positiv aus, ist das halbformalisierte Gespräch eine gute Grundlage für eine weitergehende Arbeit.
Diese Einschränkungen treffen ebenfalls auf informelle Beratungsgespräche (Alltags- bzw. Laienberatung) zu.
Für die Arbeit mit KooperationspartnerInnen (beispielsweise mit Ärzten, LehrerInnen, aber auch den VermieterInnen der Ratsuchenden oder Angestellte der kreditgebenden Bank) können ebenfalls Einschränkungen identifiziert werden. Grundsätzlich ist es wichtig, hier im Blick zu haben, dass es nicht um die Probleme der KooperationspartnerInnen geht, sondern um Probleme der Ratsuchenden mit ihnen. Daher sind diese auch nicht freiwillig bei der BeraterIn gelandet, sondern wurden von ihr angefragt. Die KooperationspartnerInnen sind zudem oft in einer relativ starken Position („Wenn es nicht klappt wird eben gekündigt!“, „Die Kreditrückzahlungen müssen pünktlich kommen, egal wie sie das machen – sonst wird gepfändet!“). Diese Voraussetzungen müssen in den Gesprächen mit diesen berücksichtigt werden, damit sie nicht schon durch äußere „Formfehler“ bedingt scheitern. So ist es beispielsweise nicht immer förderlich, ständig die Gefühle des Kreditbetreuers der Bank gegenüber der Ratsuchenden an seiner Stelle empathisch-verstehend zu verbalisieren (da er sie selbst nicht direkt äußert, sondern nur auf der Sachebene argumentiert), um dann anschließend seine unsolidarische Haltung gegenüber finanziell Benachteiligten zur Sprache zu bringen und schließlich mit ihm zusammen die widersprüchlichen Gefühle bearbeiten zu wollen, die bei solchen Entscheidungen auftreten und ihn sicherlich auch belasten. Shulman sieht dieses Problem auch, ist aber der Meinung, dass bei solchen Befürchtungen meist vom „worst case“ pädagogischen Verhaltens ausgegangen wird.
„Workers often wonder about the use of empathic skills on other staff. They ask, “Isn’t it like ´social working´ a staff member, and won’t they resent it?” I believe that when they ask this, they are using the term social working in its worst sense and that what they are referring to is an insincere, ritualistic empathic response, which the other staff members quickly experience as an attempt to manipulate them” (shulman 1992: 605)
Eine weitere Gefahr ist, dass sich die KooperationspartnerInnen in ihrem Professionsverständnis bzw. in der konkreten Arbeit mit der Ratsuchenden kritisiert fühlen („So wie sie hier mit der Ratsuchenden gearbeitet haben ist es völlig falsch! Das muss anders gemacht werden – ich kann ihnen sagen, wie!“). Dies kann eine sinnvolle Zusammenarbeit blockieren oder gar unmöglich machen. Es muss daher geklärt werden, dass die BeraterIn nicht dazu da ist, die KooperationspartnerIn zu belehren oder an ihren Problemen zu arbeiten, sondern dass unter KollegInnen zusammen am Problem der Ratsuchenden gearbeitet werden soll (siehe auch Abschnitt 3.4, S. 148).
[...]
- Citation du texte
- Dipl. Pädagoge, Dipl. Psychologe Norbert Schäffeler (Auteur), 2003, Qualitätskriterien für die Beratung in der Sozialen Arbeit , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30726
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