Eine ‚Geschichte des Fernsehens‘ stellt zumeist die Entwicklung der Fernsehtechnik, das durch diese empfangene Programm oder dessen gesellschaftspolitische Instrumentalisierung in den Vordergrund. Doch ist ‚die andere Seite der Mattscheibe‘, also die Menschen und ihre Soziotechniken mit deren Hilfe sie das neuartige Phänomen ‚Fernsehen‘ in ihre etablierten Wohnräume und Lebensrhythmen integrierten, für eine solche Betrachtung nicht von ebenso großer Bedeutung?
Diesem Leitgedanken folgend soll die Fernsehgeschichte im vorliegenden Essay aus einer Perspektive betrachtet werden, welche zum Teil quer zur herkömmlichen Darstellung steht.
Die Einführung des Fernsehens in Westdeutschland
Eine "Geschichte des Fernsehens" stellt zumeist die Entwicklung der Fernsehtechnik, das durch diese empfangene Programm oder dessen gesellschaftspolitische Instrumentalisierung in den Vordergrund. Doch ist "die andere Seite der Mattscheibe", also die Menschen und ihre Soziotechniken mit deren Hilfe sie das neuartige Phänomen "Fernsehen" in ihre etablierten Wohnräume und Lebensrhythmen integrierten, für eine solche Betrachtung nicht von ebenso großer Bedeutung? Diesem Leitgedanken folgend soll die Fernsehgeschichte im vorliegenden Essay aus einer Perspektive betrachtet werden, welche zum Teil quer zur herkömmlichen Darstellung steht. Ziel ist es, Möglichkeiten einer "anderen Geschichte des Fernsehens" auszumachen. Die Ergebnisse der bisherigen Forschung sollen dabei keineswegs negiert, sondern sinnvoll eingebunden und ergänzt werden. Eine unkonventionelle und zugleich die Durchbrechung etablierter Normen ermöglichende theoretische Grundlage liefert die "Akteur-Netzwerk-Theorie". Eine kurze Übersicht über deren Konzepte wird im folgenden Abschnitt gegeben.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie
Mitte der 1980er Jahre befasste sich eine Forschergruppe1 um Bruno Latour, Michel Callon, Madeleine Akrich und John Law mit einer neuartigen Herangehensweise an ethnographische, später zunehmend die gesamten Sozialwissenschaften betreffende Fragestellungen. Den Antrieb für dieses Unternehmen bildete eine Unzufriedenheit mit der durkheimschen2 Tradition der Soziologie und ihren bis heute nicht aufgelösten Aporien der Interaktion und Determination von Akteuren und Strukturen menschlicher Gruppen.
Die Auffassung, dass Menschen und ihr Verhalten notwendigerweise die primären Gegenstände einer sozialwissenschaftlichen - und somit im weiteren Sinne auch kulturgeschichtlichen - Untersuchung sein müssen, stellt die "Akteur-Netzwerk-Theorie" infrage. Es wird postuliert, dass diesen Platz stattdessen ein "Netzwerk" einnehmen sollte, welches über die menschlichen Akteure hinaus auch Gegenstände und Diskurse gleichberechtigt umfasse ("Symmetrie-Prinzip"). Um dieser Akzentverschiebung Rechnung zu tragen, werden die das "Netzwerk" bildenden Elemente entgegen der soziologischen Tradition in der Nomenklatur der NT3 nicht als Die Akteure", sondern als Die Aktanten" bezeichnet. Eine Schwierigkeit bei Anwendung der NT besteht darin, dass "[die Akteure bzw. Aktanten eines Netzwerks [...] in der empirischen Beobachtung zugleich als Agenten und als Resultat des Netzwerkbildens" betrachtet werden müssen.[4] Davon angeregt5 soll in dieser Arbeit das Fernsehgerät, die Gruppe menschlicher Wesen, in welche ersteres zu integrieren war, sowie deren unmittelbare architektonische Umgebung als sich gegenseitig beeinflussende, gleichrangige Aktanten veranschaulicht und wechselseitige Prozesse zwischen diesen untersucht werden.
Ein weiterer Aspekt der NT ist die Verschränkung der verschiedenen Aktanten eines Netzwerks durch sie verbindende "Prozesse". Einen, wenn nicht den entscheidenden "Subprozess", stellt die sog. "Translation", also die "Übersetzung" zwischen den verschiedenen Aktanten, dar. Dabei werden Eigenschaften und "Bedürfnisse" des einen so umformuliert, dass sie mit den anderen in Kontakt treten können. Im Einzelnen können diese Vorgänge höchst unterschiedlich sein. In diesem Essay werden einige solcher Translationsprozesse aufgezeigt. Vorrangig sind dies folgende: Erstens die "Übersetzung" der naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen der Optik, Mechanik und Elektronik durch die Wissenschaftler und Techniker in das durch den Verbraucher nutzbare Gerät "Fernsehapparat"; zweitens die "Übersetzung" des Gerätes als Gegenstand in den Raum des Wohnens durch die Fernsehenden und drittens die "Übersetzung" der neu aufkommenden Tätigkeit des "Fernsehens" durch den Apparat in das Familienleben.
Eine wichtige theoretische Grundsatzfrage für diese Arbeit stellt diejenige nach der konkreten Art des Untersuchungsgegenstandes dar. Der NT folgend soll die Genese eines "Netzwerks" und nicht die eines einzelnen Objekts oder eines "sozialen Systems" aufgezeigt werden. Demzufolge handelt es sich hierbei nicht um die Geschichte der Einführung des Fernsehgerätes. Stattdessen soll die Geschichte des "Fernsehens" als Phänomen, welches als Produkt eines Netzwerks verschiedener Aktanten hervorgebracht wurde, veranschaulicht werden.
Fernsehen - Wann und Wo?
Örtlichkeit, insbesondere die der Wohn- und Lebensbereiche, soll in dieser Untersuchung als selbstständiger Aktant betrachtet werden. Dennoch ist eine örtliche - ebenso wie eine zeitliche - (Makro-)Rahmung unerlässlich, um eine spezifische Untersuchungsumgebung zu schaffen.
Eine exzellente kulturhistorische Darstellung der Einführung des Fernsehens in den US 6 wurde bereits durch Lynn Spigel geleistet. Für den deutschen Kulturkreis blieb eine solche bislang jedoch aus. Nun soll durch diesen Essay versucht werden, diese Lücke zu schließen, wobei vergleichend auf die Befunde Spigels eingegangen wird. Zwischen den US und (West-)Deutschland ergeben sich aber nicht unerhebliche Unterschiede bezüglich Ort und Zeit der Einführung des Fernsehens, welche vor allem durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs bedingt sind. Orte von Spigels Untersuchungen sind die sich maßgeblich während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildenden Vorstadtsiedlungen in den US .7 Wenn auch vereinzelt wahrzunehmen, fand eine Suburbanisierung vergleichbaren Ausmaßes in (West-)Deutschland nicht statt. Stattdessen war der Wohnort eines Großteils der Deutschen bis in die 1960er Jahre hinein eine (zentral-)urbane Umgebung.8 Unabhängig der makroräumlichen Verortung, wurde das Fernsehen vor allem im Rahmen des häuslichen Zusammenlebens relevant. Die Ähnlichkeiten zwischen den US und (West-)Deutschland sind diesbezüglich ungleich größer und so können, wenn auch zeitlich versetzt, ganz ähnliche Vorgänge ausgemacht werden.
Um der Darstellung einen verknappten und dennoch möglichst umfassenden zeitlichen Rahmen zu geben, wird der Zeitraum von etwa 1935 bis 1965 gewählt. Der Beginn erscheint deshalb sinnvoll, da zwar bereits vor den 1920er Jahren wichtige Erfindungen für die Fernsehtechnik gemacht wurden, das Fernsehen in Deutschland aber erst ab ungefähr 1935 als massentaugliches Medium angesehen werden kann. 1967 hielt das Farbfernsehen, dessen technische Grundlagen beinahe genauso alt wie die des monochromatischen Fernsehens9 sind, nach den US und Japan auch in Westdeutschland Einzug.10 b diesem Zeitpunkt fand für einen stetig wachsenden Teil der Bevölkerung der Beginn einer neuen, "lebensechteren" Fernsehepoche statt. Das Fernsehen als vorabendliche Beschäftigung war aber bereits fest etabliert.
Technikgeschichtliche Aspekte
Um nicht Gefahr zu laufen, ein erneutes Primat der Technik und ihres vermeintlichen Fortschritts zu Grunde zu legen, soll hier kein direkter Vergleich bestimmter Baureihen oder Gerätetypen vorgenommen werden. Für die verfolgten Absichten genügt eine gröbere Übersicht über die Entwicklung der Fernsehtechnik.
Als Paul Nipkow11 dem Kaiserlichen Patentamt in Berlin 188512 die Pläne eines "Elektrischen Teleskops" zur Zerlegung und Erfassung von Bildern vorlegte, war ihm vermutlich nicht bewusst, damit den Grundstein zur Entwicklung der Film- und Fernsehtechnik gelegt zu haben. Mit der im "Teleskop" enthaltenen mechanischen Scheibe wäre es erstmals möglich gewesen, bewegte Bilder so umzuwandeln, dass sie mit Hilfe der Telegraphie als elektrische Signale hätten übertragen werden können. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass Nipkow einen Prototyp des von ihm entwickelten Apparats baute.
In den folgenden vierzig Jahren13 wurden die technischen Grundlagen des "mechanischen Fernsehens"14 durch eine Vielzahl weiterer Forscher, Tüftler und Techniker15 der Verfeinerung und Weiterentwicklung unterzogen, bis erste Geräte, die den späteren Fernsehern in ihren Grundzügen ähnelten, zur Verfügung standen. Mit der näher rückenden Marktreife wurde auch die Frage nach der Normierung der Fernsehtechnik relevant, da nur ein aufeinander abgestimmtes System aus Aufzeichnungsgeräten, Sendeanlagen und Empfängern den Anforderungen einer massenhaften Verbreitung gewachsen schien. In diesem Kontext entbrannte 1928 auch der erste "Formatkrieg"16 der Fernsehgeschichte zwischen dem Apparat des deutschen Physikers August Karolus und dem des Ungarn Dénes von Mihály, welche auf der 5. Berliner Funkausstellung vorgestellt wurden. Durch die Gunst des Reichspostzentralamtes konnte sich von Mihály letztlich durchsetzen. Sein Format (4x4 cm bei 30 Zeilen/900 Punkten pro Bild)17 wurde zur ersten deutschen Norm. Bis zu diesem Zeitpunkt war das "Fernsehen" in seinen technischen Aspekten kein vollelektronisches Verfahren. Erst die Weiterentwicklung der von Karl Ferdinand Braun erfundenen "Kathodenstrahlröhre" durch Manfred von Ardenne18 ermöglichte eine elektronische Bilderzeugung. Bis zur Marktreife massentauglicher Flachbildschirme um das Jahr 2000 war dadurch der vorherrschende Stand der technischen Grundlagen des Fernsehens erreicht.
Fernsehen 1935 bis 1952
Ab Beginn der 1930er Jahre fand die erste Phase der Verbreitung des Fernsehens in Deutschland statt. Diese hing in nicht unerheblichem Maße mit der politischen Geschichte zusammen, da die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme 1933 dieses Organ wie auch Presse und Rundfunk gleichschalteten. Dadurch versuchten sie die weitere Entwicklung des sich erst langsam ausbreitenden Mediums "Fernsehen" für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Mit dieser Absicht wurde 1935 der "Fernsehsender Paul Nipkow" als erste regelmäßig sendende Fernsehanstalt Deutschlands in Betrieb genommen. In deren Sendebereich im Großraum Berlin konnten bereits 1936 theoretisch bis zu mehrere Millionen Menschen die nationalsozialistische Propaganda über die Sommerolympiade verfolgen. Aufgrund der geringen Anzahl an bis dato hergestellten Empfangsgeräten,19 welche vorrangig "Technikern, Funktionären und Programm-Mitarbeitern"20 zur Verfügung standen, erreichte diese faktisch allerdings selbst zu Hochzeiten lediglich mehrere 10.000 Menschen.21
[...]
1 In diesem Essay wird ein vermeintliches "generisches Maskulinum" gebraucht, welches aber ständig und explizit alle Menschen, gleich welchen Geschlechts, einbezieht. Dies ist lediglich der einfacheren Lesbarkeit geschuldet.
2 Gemeint ist die Émile Durkheim (1858-1917), insbesondere in Hinblick auf die durch ihn begründete Methodik, folgende soziologische Tradition.
3 Akteur-Netzwerk-Theorie
4 Ingo Schulz-Schaeffer: Die Akteur-Netzwerk-Theorie - Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik", S. 198, in:
J. Weyer (Hg.): "Soziale Netzwerke - Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung", München 2000, S. 187-209.
5 Von mehr als einer Anregung kann, auch im Sinne der Urheber, nicht gesprochen werden, da die NT keine strenge "wissenschaftliche Theorie" im Sinne der Wissenschaftstheorie darstellt.
6 Z.B.: Lynn Spigel: "Make Room for TV - Television and the Family Ideal in Postwar America", Chicago 1992.
7 Diese werden im Folgenden, zur Unterscheidung vom deutschen "Vorstadt", mit der englischen Bezeichnung "suburb" betitelt.
8 Dort lebte jedenfalls der Großteil der Fernsehzuschauer. Knut Hickethier: "Zwischen Einschalten und Ausschalten. Fernsehgeschichte als Geschichte des Zuschauens", S. 252, in: W. Faulstich (Hg.): "Vom "Autor" zum Nutzer: Handlungsrollen im Fernsehen"(=Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 5), München 1994, S. 237-306.
9 In diesem Essay wird daneben keine Differenzierung zwischen Ton- und Stummfernsehen vorgenommen, da die Übertragung von Ton zur Zeit der Etablierung des Massenfernsehens bereits einen nicht wegzudenkenden Bestandteil darstellte.
10 Vgl.: M. Grisko (Hg.): "Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens", Stuttgart 2009, S. 326.
11 Dessen Name, aus propagandistischen Gründen, auch die erste, ab 1935 regelmäßig sendende Fernsehanstalt des nationalsozialistischen Deutschlands trug.
12 Die rückwirkende Patentierung auf den 6. Januar 1884 erfolgte am 15. Januar 1885. Die Kosten dafür trug seine damalige Verlobte Sophia Colonius.
13 Vgl.: Knut Hickethier: "Early TV: Imagining and Realising Television", S. 55, in: J. Bignell,.Fickers (Hg.): Die European Television History", Malden 2008, S. 55-76.
14 Eine irreführende Bezeichnung, da diese Technologie zumeist sowohl mechanische, als auch optische, elektrische und elektronische Bauteile beinhaltet.
15 Frank Bösch: "Mediengeschichte - vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen", Frankfurt 2011, S. 212.
16 Diesem kann, aufgrund der damaligen minimalen Verbreitung von Fernsehgeräten, kaum die Bedeutung späterer Wiederholungen, z.B. der in den 1970ern und -80ern zwischen den Standards "VCR", "VHS" und "Betamax" oder der in den 2000ern zwischen "HD-DVD" und "blu-ray" bzgl. des Heimkinos ausgetragenen, zugesprochen werden.
17 Grisko: "Theorie und Geschichte des Fernsehens", S. 323.
18 Dieser führte ebenfalls die erste vollelektronische Übertragung eines Fernsehbildes unter Anwendung einer solchen Röhre im Jahr 1930 durch. Hickethier: "Early TV ", S. 10f.
19 Bis zum Untergang des Dritten Reichs überstieg deren Zahl nie wenige hundert Geräte. Knut Hickethier: "Geschichte des deutschen Fernsehens", Stuttgart 1998, S. 52.
20 Hickethier: "Geschichte des deutschen Fernsehens", S. 52.
21 Bösch: "Mediengeschichte", S. 213.
- Citar trabajo
- Georg Hermann (Autor), 2014, Bildflächen. Die Einführung des Fernsehens in Westdeutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305232
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.