Der demografische Wandel und der damit einhergehende zukünftige Mangel an Fach- und Führungskräften verstärken den Druck auf Unternehmen und Organisationen, sich Personengruppen zu öffnen, welche bisher bei der Personalgewinnung nicht berücksichtigt wurden oder sogar nicht erwünscht waren. Hierzu zählen Menschen, die ihre Geschlechtsidentität nicht eindeutig den biologischen Geschlechtern „Frau“ oder „Mann“ zuordnen können bzw. wollen oder die etablierten Geschlechterrollen ablehnen.
Diese Master-Thesis setzt sich damit auseinander, wie hoch der Anteil betroffener Menschen ist und wie sich Unternehmen und deren Mitarbeiter_innen gegenüber diesen Personen verhalten. Daraus resultierend werden die Auswirkungen auf die Erlangung einer bestimmten Position bzw. auf den beruflichen Aufstieg von transidenten Menschen beleuchtet. Die Analyse einer branchenübergreifenden anonymen Online-Umfrage bei 330 Teilnehmer_innen verifiziert bestehende Daten und Studien der Genderforschung. Die Ergebnisse der Umfrage sowie persönlichen Meinungen und Erfahrungen von Personen mit Führungsverantwortung zeigen die Prävalenz und die aktuelle Situation von Personen mit abweichender Geschlechtsidentität in Unternehmen. Der Einfluss soziokultureller Gegebenheiten auf das Verhalten von Unternehmen und deren Mitarbeiter_innen gegenüber transidenten Personen wird erörtert und nachgewiesen.
Es wird deutlich, dass die Auswirkungen von Geschlechterstereotypen und Stereotyp-Bedrohungen im beruflichen Umfeld, trotz einem schneller voranschreitenden Wertewandel in der Gesellschaft noch immer deutlich spürbar sind. Sie führen nach wie vor zu einer Benachteiligung der betroffenen Personen insbesondere bei der Bewerbung und Besetzung von Stellen.
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Beschreibung des Problemhintergrunds
1.2 Forschungsfrage
1.3 Vorgehensweise
1.4 Entwicklung des Online-Fragebogens
1.4.1 Fragegruppe 1 - Allgemeine Informationen
1.4.2 Fragegruppe 2 - Personalauswahl und -entscheidung
1.4.3 Fragegruppe 3 - Ihre persönliche Einstellung bzw. Meinung
1.5 Vorgehensweise bei der Durchführung
2. Begriffe
3. Transidentität - ein tabuisiertes Phänomen
4. Geschlechtsidentität gleich sexuelle Orientierung?
5. Geschlecht und Geschlechterrollen
5.1 Geschlecht
5.1.1 Genetisches Geschlecht
5.1.2 Hormonelles Geschlecht
5.1.3 Neuronales Geschlecht
5.1.4 Verhaltensebene
5.2 Soziale Konstruktion von Geschlecht
6. Verhalten, Einstellung und Erscheinung
6.1 Entwicklung geschlechtsbezogener Einstellungen und Verhalten
6.2 Verhalten innerhalb von Unternehmen und Organisationen
6.3 Äußere Erscheinung
6.4 Sympathie und Antipathie
7. Wahrnehmung, Identität und Zugehörigkeit
7.1 Wahrnehmung
7.2 Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung
7.3 Selbstkonzept und Selbstwertgefühl
7.4 Anerkennung und Akzeptanz
7.5 Sexuelle Identität
7.6 Sexuelle Orientierung
7.7 Erscheinungsformen der Transidentität
8. Prävalenz von Transidentität
9. Theorie der Stereotype
9.1 Stereotype allgemein
9.2 Diskriminierung durch Stereotype
9.3 Geschlechterstereotype
9.4 Typisch Mann - Typisch Frau
9.5 Kulturelle und soziale Entwicklung von Geschlechterrollen
9.6 Einflüsse aus Religion, Politik, Umwelt und der Historie
9.6.1 Religion
9.6.2 Politik
9.6.3 Kultur und Umwelt
9.6.4 Historische Einflüsse
9.7 Stereotyp-Bedrohung
9.8 Das männliche Modell der Führung
9.9 Geschlechterstereotype im beruflichen Umfeld
9.10 Geschlechterstereotype Erwartungen
9.11 Bewerbung und Rekrutierung
9.12 Folgen eines ÄOutings“
10. Analyse der Umfrageergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen
10.1 Prävalenz von Personen mit abweichender Geschlechtsidentität
10.2 Verhalten von Mitarbeiter_innen und Arbeitgebern gegenüber transidenten Personen
10.3 Einfluss von Transidentität auf die beruflichen Aufstiegschancen bzw. das Erreichen einer bestimmten Position
11. Zusammenfassung und Handlungsempfehlungen
12. Literaturverzeichnis
13. Andere Quellen
14. Abbildungsverzeichnis
15. Tabellenverzeichnis
16. Index
18. Anlagen
Danksagungen
Vorab möchte mich bei all denjenigen bedanken, die mich während meines gesamten Studiums und bei der Anfertigung meiner Master-Thesis motiviert und unterstützt ha- ben.
Herrn Mag. Bernd Geisler danke ich dafür, dass er sich eingehend mit meiner Disposition beschäftigt hat und mir wertvolle Hinweise und Anregungen zur Erstellung dieser Thesis gegeben hat. Ganz herzlich bedanke ich mich auch bei Necha Demirova und Alexandra Schredl von der Donau-Universität Krems. Die Beiden haben durch perfekte Organisation einen reibungslosen Ablauf des Studiums und für einen immer angenehmen Aufenthalt am Lehrstandort in Memmingen gesorgt.
Ganz besonderer Dank gebührt meiner Frau Silke. Sie war mir während der letzten 2½ Jahre meines Studiums immer eine Stütze und Hilfe. Sie hielt mir den Rücken frei, stand mir mit ihrem großen Erfahrungsschatz zur Seite und musste so manche lange Diskussion zu allen möglichen Themen des Studiums über sich ergehen lassen. Auch bei der Anfertigung der Master-Thesis waren ihre sachlichen und kritischen Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge sehr hilfreich.
Meinen Mitarbeiterinnen Beatrice Steinhorst und Saskia Ringwald sowie meiner guten Freundin Nicole Möllenbrock danke ich dafür, dass sie einen großen Teil Ihrer Freizeit in die Korrektur dieser Arbeit investiert haben. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass eine große Anzahl von Rechtschreibfehlern ausgemerzt werden konnte. Auch meinen MitarbeiterInnen und Geschäftsführerkollegen der Firma windata GmbH & Co.KG danke ich dafür dass sie mir den zeitlichen Freiraum zum Verfassen dieser Arbeit eingeräumt haben.
ÄLast but not least“ bedanke ich mich bei den zahlreichen TeilnehmerInnen meiner Online-Umfrage dafür, dass sie sich die Zeit genommen haben und mich mit wichtigen Informationen und Daten versorgt haben. Ohne deren Mithilfe und Unterstützung wäre eine solch umfangreiche und aussagekräftige Datenbasis nicht zustande gekommen.
Abstract
Der demografische Wandel und der damit einhergehende zukünftige Mangel an Fach- und Führungskräften verstärken den Druck auf Unternehmen und Organisationen, sich Personengruppen zu öffnen, welche bisher bei der Personalgewinnung nicht berück- sichtigt wurden oder sogar nicht erwünscht waren. Hierzu zählen Menschen, die ihre Geschlechtsidentität nicht eindeutig den biologischen Geschlechtern ÄFrau“ oder ÄMann“ zuordnen können bzw. wollen oder die etablierten Geschlechterrollen ableh- nen. Diese Master-Thesis setzt sich damit auseinander, wie hoch der Anteil betroffener Menschen ist und wie sich Unternehmen und deren MitarbeiterInnen gegenüber die- sen Personen verhalten. Daraus resultierend werden die Auswirkungen auf die Erlan- gung einer bestimmten Position bzw. auf den beruflichen Aufstieg von transidenten Menschen beleuchtet. Die Analyse einer branchenübergreifenden anonymen Online- Umfrage bei 330 TeilnehmerInnen verifiziert bestehende Daten und Studien der Gen- derforschung. Die Ergebnisse der Umfrage sowie persönlichen Meinungen und Erfah- rungen von Personen mit Führungsverantwortung zeigen die Prävalenz und die aktu- elle Situation von Personen mit abweichender Geschlechtsidentität in Unternehmen. Der Einfluss soziokultureller Gegebenheiten auf das Verhalten von Unternehmen und deren MitarbeiterInnen gegenüber transidenten Personen wird erörtert und nachge- wiesen. Es wird deutlich, dass die Auswirkungen von Geschlechterstereotypen und Stereotyp-Bedrohungen im beruflichen Umfeld, trotz einem schneller voranschreiten- den Wertewandel in der Gesellschaft noch immer deutlich spürbar sind. Sie führen nach wie vor zu einer Benachteiligung der betroffenen Personen insbesondere bei der Bewerbung und Besetzung von Stellen.
Stichworte:
Geschlecht, Geschlechtsidentität, Transidentität, Transsexualität, Diversity-Manage- ment, Verhalten, Beruf, Unternehmen, Auswirkungen, Diskriminierung, Personalbeschaffung, Karriere, Stereotype, Geschlechterstereotype, Prävalenz Der Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.1
Europäische Menschenrechtskonvention
Artikel 1 - Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über das Diskriminierungsverbot vom 04.11.2000
1. Einleitung
Die Erweiterung der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 2000 verpflichtet alle Bürgerinnen und Bürger von Europa zur Wahrung der grundlegenden Menschenrechte. Wir alle wissen, dass dies noch nicht in allen Lebenslagen umgesetzt und gelebt wird. Das Geschlecht einer Person wird in der Menschenrechtskonvention an erster Stelle aufgeführt. Dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, ist dennoch noch nicht überall selbstverständlich. Bei Löhnen und Gehältern stehen Frauen noch immer hinter Männern zurück, trotz gleicher Arbeit.
ÄDer Schutz von LGBT2 -Personen vor Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf ist EU-weit fest verankert. Die Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Be- ruf (Richtlinie 2000/78/EG) verbietet die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Aus- richtung, während die Richtlinie zur Gleichstellung von Männern und Frauen (Neufas- sung) (Richtlinie 2006/54/EG) in ihrer Auslegung entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf die Diskriminierung aufgrund der Ge- schlechtsidentität im Hinblick auf Transgender-Personen anwendbar ist, die sich einer Geschlechtsangleichung unterziehen möchten, unterziehen oder unterzogen haben.“ (FRA, 2014, S. 16)
Sehen wir ein Neugeborenes, ist meist die erste Frage an die Eltern: ÄWas ist es denn? Ein Junge oder ein Mädchen?“. Die Gesetze schreiben vor, dass aus dem Namen eines Menschen eindeutig das Geschlecht zu erkennen sein muss. Es fällt uns i. d. R. nicht schwer, das Geschlecht einer uns unbekannten Person sofort richtig zu bestim- men. Das Geschlecht scheint als soziale Kategorie eine bedeutende Rolle zu spielen. Es dient uns als ein grundlegendes Organisationskriterium und stellt eine Komponente des menschlichen Selbstkonzepts dar. Es ist jedoch allgemein bekannt, dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die sich nicht ihrem biologischen Geburtsgeschlecht zu- gehörig fühlen können oder wollen. Verfolgt man Berichte in Fernsehen und Printpub- likationen, wird in der Regel von Transsexuellen oder Transgender gesprochen. Das Soziale Netzwerk Facebook bietet seinen Mitgliedern bei der Profileinstellung an, das Geschlecht zu wählen. Seit September 2014 können die Mitglieder nicht nur die traditionellen Kategorien Äweiblich“ oder Ämännlich“ auswählen. Mit der Option ÄBenutzerdefiniert" werden die nachfolgenden 60 Auswahlmöglichkeiten zur Festlegung der eigenen geschlechtlichen Identität angeboten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1- Auswahl Geschlecht im Userprofil von Facebook (Stand 10/2014)
androgyner Mensch, androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann (FzM), gender vari- abel, genderqueer, intersexuell (auch inter*), männlich, Mann zu Frau (MzF), weder noch, geschlechtslos, nicht-binär, weitere, Pangender, Pangeschlecht, trans, trans- weiblich, transmännlich, Transmann, Transmensch, Transfrau, trans*, trans* weiblich, trans* männlich, Trans* Mann, Trans* Mensch, Trans* Frau, transfeminin, Transgen- der, transgender weiblich, transgender männlich, Transgender Mann, Transgender Mensch, Transgender Frau, transmaskulin, transsexuell, weiblich-transsexuell, männ- lich-transsexuell, transsexueller Mann, transsexuelle Person, transsexuelle Frau, In- ter*, Inter* weiblich, Inter* männlich, Inter* Mann, Inter* Frau, Inter* Mensch, intergen- der, intergeschlechtlich, zweigeschlechtlich, Zwitter, Hermaphrodit, Two Spirit drittes Geschlecht, Viertes Geschlecht, XY-Frau, Butch, Femme, Drag, Transvestit, Cross- Gender3
Dass ein Soziales Netzwerk mit vielen Millionen Mitgliedern das Thema ÄGeschlechts- identität“ aufgreift und als Einstellungen in den Benutzerprofilen anbietet, zeigt, dass es wohl eine nicht unerhebliche Anzahl4 von Menschen gibt, die sich nicht einem der beiden biologischen Geschlechtern ÄFrau“ oder ÄMann“ zugehörig fühlen und dass es Äzwischen den Geschlechtern“ wiederum eine große Anzahl von verschiedenen Aus- prägungen geben kann. Diese Personen, welche zwischen den biologischen Ge- schlechtern ÄFrau“ und ÄMann“ im beruflichen Umfeld existieren, werden im Fokus die- ser Thesis stehen.
1.1 Beschreibung des Problemhintergrunds
Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V. (DGFP) ÄMegatrends und HR Trends 2013“5 zählen zu den zwei größten Herausforderungen von Unternehmen der demografische Wandel und der Wertewandel.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 - Megatrends und ihre Auswirkungen auf das Personalmanagement (DGFP)
Für 71 % der befragten Unternehmen wirkt sich der demografische Wandel sehr stark bzw. stark auf das zukünftige Personalmanagement aus. Der Wertewandel in der Ge- sellschaft hat für 69 % der befragten Unternehmen sehr starke oder starke Auswirkun- gen. Aus diesen ÄMegatrends“ lässt sich ableiten, dass es Unternehmen in Zukunft nicht mehr so leicht fällt, die ÄWunschmitarbeiter_innen“ als Fach- und Führungskräfte zu gewinnen. Unternehmen werden zusehend gezwungen, sich den Herausforderun- gen zu stellen und auf diese Entwicklungen zu reagieren. Eine Möglichkeit bietet die Einführung eines ÄDiversity Managements“ (DM) und damit der Aufbau einer vielfälti- gen Belegschaft. Das Handlungsfeld ÄDiversity“ steht weit oben auf der Agenda der meisten Personalmanager. In der DGFP-Studie Megatrends 2013 beschreibt jedes dritte Unternehmen, das sich mit den Herausforderungen des Wertewandels und der Globalisierung in den nächsten Jahren konfrontiert sieht, das Management von Diver- sity als einen zentralen Handlungsansatz für die Zukunftsfähigkeit der Organisation.6 Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aller Menschen innerhalb einer Organisation lassen sich nach Lee Gardenswarts und Anita Rowe in 4 Dimensionen7 (Layers) dar- stellen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3 - Diversity nach Gardenswartz & Rowe (2nd Edition, SHRM, 2003)
Die Abbildung 3 zeigt, dass ÄDiversity“ eine Vielzahl von Persönlichkeitsattributen betrifft. Im Zentrum steht die Persönlichkeit eines Individuums, welche von den umliegenden Dimensionen beeinflusst wird. In dieser Master-Thesis soll aus der Gesamtzahl aller ÄDiversity-Dimensionen“ nur Bezug auf die interne Dimension ÄGeschlecht“ (gender) genommen werden. Es wird jedoch auch erforderlich sein, die Dimension ÄSexuelle Orientierung“ bei der Betrachtung zu berücksichtigen, da in Medien und manchen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen diese beiden Dimensionen meist auf die sexuelle Orientierung reduziert thematisiert werden.
Laut DSM (DIAGNOSTIC AND STATISTICAL MANUAL OF MENTAL DISORDERS, 5th Edition, DSM-V) der American Psychiatric Association (2013, S. 458) zum Thema ÄGender Dysphoria“ muss unterschieden werden, ob sich eine Person nicht konform einer stereotypen Geschlechterrolle verhält oder ob eine Person den strengen Wunsch hegt, einem anderen Geschlecht dauerhaft anzugehören. Rauchfleisch (2013, S. 24) gibt an, dass ÄTransidentität“ zwar keine häufige Variante der Identität eines Menschen ist, diese jedoch öfter vorkommt als allgemein vermutet wird. Während der gesamten Recherche konnte ich nur sehr wenige verlässliche und aktuelle Studien zur Prävalenz von Transidentität bzw. Transsexualität oder Geschlechtsidentitätsstörungen finden. Erste Untersuchungen zu diesem Thema fanden in den 1960er Jahren statt. Die da- mals erhobenen Zahlen sind jedoch unter dem Gesichtspunkt einer anderen Sexual- moral zu betrachten und lassen sich nicht mehr auf die heutige Zeit übertragen. Das verfügbare Datenmaterial bezieht sich meist auf die Anzahl durchgeführter ge- schlechtsangleichender Operationen in verschiedenen Ländern.
In der 4. Ausgabe von DSM (DSM-IV) aus dem Jahr 1994 wurde angegeben, dass ca. 1 von 30.000 Männern bzw. 1 von 100.000 Frauen eine Operation zur Geschlechtsangleichung erwägen. In der Ausgabe 4 der Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe Speculum aus dem Jahr 2002 wurde durch M. A. A. van Trotsenburg folgende Tabelle über die Prävalenz von Transsexualität veröffentlicht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4 - SPECULUM Daten zur Prävalenz von Transsexualität - Ausgabe 2/2002, S. 10
Rauchfleisch (2013, S. 25) bezieht sich auf Studien von van Kersten und nennt eine Häufigkeit von 1:10.000 bei ÄMann-zu-Frau-Transsexuellen“ (MzF) und 1:30.000 bei ÄFrau-zu-Mann-Transsexuellen“ (FzM). Lynn Conway, Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), welche selbst als Mann geboren wurde, hat zusammen mit Femke Olyslager eigene Studien an der Amsterdamer Gender Clinic betrieben. Sie stellen die bisher veröffentlichten Zahlen in Frage, da in nahezu allen Erhebungen die Basis für die Schätzungen der Häufigkeit von Transidentität bzw. Transsexualität nur tatsächlich durchgeführte medizinische Behandlungen (dauerhafte Hormontherapien und geschlechtsangleichende Operationen) bilden.
Olyslager/Conway (2007) geben nach ihren ersten Untersuchungen die Prävalenz mit 1:4.500 (MzF) und 1:8.000 (FzM) an. Die Gruppe der Menschen, welche eine solche Behandlung, aus welchen Gründen auch immer, nicht anstreben, bleiben bei den bisherigen Zahlen unberücksichtigt. Laut Conway liegt die Prävalenz8 von echter Transsexualität deshalb zwischen 1:250 und 1:5009. Die Menschen, welche unter Äeinen größeren Transgender-Schirm fallen“10, können laut Olyslager/Conway (2007) mit einer Prävalenz von 1:100 oder mehr angenommen werden.
In meiner Master-Thesis spielt die Äechte Transsexualität“ zwar eine Rolle, jedoch kon- zentriere ich mich primär auf die Personen, welche sich nicht geschlechterrollenkon- form darstellen und verhalten bzw. sich selbst nicht einem eindeutigen Geschlecht zu- ordnen können oder wollen. Sie entsprechen somit nicht dem allgemeinen Verständnis von einem Ätypischen Mann“ und einer Ätypischen Frau“ (s. nachfolgende Abbildung). Für diese Personen gibt Conway (2002) eine Prävalenz von 1:50 bis 1:200 an.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5 - Transidentität und Transsexualität (Grafik: Stefan Balk, 2015)
Wie sich Unternehmen gegenüber diesen Personen im beruflichen Umfeld verhalten, wird ein wesentlicher Teil dieser Arbeit und der Forschungsfragen sein.
In den nachfolgenden Ausführungen werde ich diese Personen, welche nicht in ihrem genetischen bzw. biologischen Geschlecht leben wollen oder eine andere Lebens- weise zwischen den Geschlechtern ÄFrau“ und ÄMann“ vorziehen, als Menschen bzw. Personen mit abweichender Geschlechtsidentität oder als transident bezeichnen. Zur Darstellung aller sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten verwende ich den sog. Gender Gap Ä_“ (Unterstrich) zwischen maskuliner und femininer Endung eines Wortes. Die Farbgebung zur Unterscheidung der Geschlechter in grafischen Darstel- lungen orientiert sich an den von Heller (1989) als allgemein mit den Geschlechtern assoziierte Farben Rosarot bzw. Pink für Äweiblich“ und Hellblau bzw. Blau für Ämänn- lich“.
1.2 Forschungsfrage
Aus der beschriebenen Problemstellung leiten sich nun folgende Forschungsfragen ab:
Wie hoch ist die Prävalenz von Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität und wie verhalten sich Mitarbeiter_innen in Unternehmen bzw. Arbeitgeber gegenüber diesen Personen?
Welchen Einfluss hat das Abweichen der Geschlechtsidentität einer Person von der Norm „Frau und Mann“ auf die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten bzw. das Erreichen einer bestimmten Position?
1.3 Vorgehensweise
Um das Verhalten von Unternehmen gegenüber ihrer Belegschaft und die daraus re- sultierenden beruflichen Perspektiven eines Individuums innerhalb einer Organisation zu verstehen, greife ich zunächst auf verschiedene theoretische Erklärungsansätze (Theorien) und bestehende empirische Daten zurück. Die daraus gewonnenen Er- kenntnisse wurden mit einer eigenen Erhebung überprüft. Zunächst hatte ich beab- sichtigt, mittels Experten-Interviews die theoretischen Ansätze, die Problemstellung und folglich auch die Forschungsfragen zu beantworten. Erste Gespräche haben je- doch gezeigt, dass die Gesprächspartner nicht nach ihrer persönlichen Einstellung ge- antwortet haben, sondern ich fast ausschließlich Antworten nach sozialer Erwünscht- heit erhalten habe. Nach dieser Erkenntnis habe ich entschieden, meine Vorgehens- weise zu ändern und eine empirische Untersuchung mittels einer anonymen Online- Befragung durchzuführen. Hierbei verwendete ich die Software ÄLimeSurvey“11, wel- che als Open Source-Software verfügbar ist. Die Umfrage-Software wurde auf meinem persönlichen Webserver installiert und entsprechend konfiguriert. Durch das Hosting der Umfragesoftware auf meinem persönlichen Server, kann ich die anonyme Durch- führung besser gewährleisten, als auf einem gemieteten Webserver.
Die Umfrage enthielt insgesamt 40 Fragen. Es mussten nicht alle Fragen beantwortet werden. Teilweise ist die Anzeige von Fragen abhängig, wie die vorhergehende Frage beantwortet wurde. Die Umfrage wurde in 3 Themenbereiche gegliedert:
- Allgemeine Informationen
- Personalauswahl und -entscheidung
- Ihre persönliche Einstellung bzw. Meinung
Die Online-Umfrage wurde im Zeitraum vom 22.10.2014 bis 19.12.2014 durchgeführt.
1.4 Entwicklung des Online-Fragebogens
Zur empirischen Überprüfung der Forschungsfrage(n) wurde ein Online-Fragebogen erstellt, welcher aus drei Fragengruppen bestand:
- Allgemeine Informationen
- Personalauswahl und -entscheidung
- Ihre persönliche Einstellung bzw. Meinung
Nachfolgend möchte ich die einzelnen Fragegruppen näher erläutern.
1.4.1 Fragegruppe 1 - Allgemeine Informationen
Im ersten Teil der Umfrage wurden die Teilnehmer_innen nach Basisinformationen zur eigenen Person, der beruflichen Position, ihrer Branche sowie Informationen zum ÄDiversity Management“ des Unternehmens befragt.
Die Antworten aus der Fragegruppe 1 dienen später zur Herstellung möglicher Korre- lationen mit den Antworten aus Fragegruppe 2 und 3. Sie haben für sich selbst keinen wertenden Charakter durch die Umfrageteilnehmerin bzw. den Umfrageteilnehmer. Sie dienen zur Abfrage von messbaren Fakten und späteren Gruppierung der Ergeb- nisse.
1.4.2 Fragegruppe 2 - Personalauswahl und -entscheidung
In der Fragegruppe 2 werden erstmalig Einstellungen bzw. Wahrnehmungen der Umfrageteilnehmer_innen erwartet. Die Umfrageteilnehmer_innen nehmen bei diesen Fragen persönliche Wertungen vor.
1.4.3 Fragegruppe 3 - Ihre persönliche Einstellung bzw. Meinung
In der 3. Fragegruppe geht es um die Selbsteinschätzung und das Selbstbild der Umfrageteilnehmer_in.
Die vollständige Online-Umfrage mit allen Antwortoptionen ist im Anhang zu dieser Arbeit beigefügt.
1.5 Vorgehensweise bei der Durchführung
Die anonyme Online-Umfrage wurde per E-Mail an folgende Personenkreise kommu- niziert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Des Weiteren wurde die Online-Umfrage über die Internetplattform Xing.de in div. Gruppen und Foren kommuniziert. Die Fachzeitschrift ÄPsychologie Heute“ hat sich bereit erklärt, die Umfrage auf der Internetseite www.psychologie-heute.de12 zu veröf- fentlichen. Der LSVD13 unterstützte die Umfrage ebenfalls durch Veröffentlichung auf der Internetseite www.lsvd.de. Screenshots der Veröffentlichungen sind in den Anla- gen zu dieser Arbeit zu finden.
Die anonyme Online-Umfrage wurde unter der URL wop.stefanbalk.de bereitgestellt. Im genannten Zeitraum haben sich insgesamt 330 Personen an der Umfrage beteiligt. Davon haben 138 Personen alle Fragen beantwortet und 192 Teilnehmer_innen haben Fragen nur teilweise beantwortet.
2. Begriffe
Die folgenden Begriffe sind überwiegend aus den ÄSAP-Richtlinien für die Geschlechtsangleichung“14 entnommen und wurden von mir persönlich ergänzt bzw. gekürzt. Die Begriffe sind immer auch vor dem Hintergrund der Individualität einer Person zu betrachten und für das Verständnis dieser Thesis wichtig.
Coming Out: Das ÄComing Out“ beschreibt den Vorgang, bei dem eine Person zum ersten Mal ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität akzeptiert bzw. anerkennt, diese selbst wertschätzt und andere davon in Kenntnis setzt. Der Prozess stellt für viele betroffene Personen eine große Herausforderung dar und geht oft mit einer Vielzahl von Emotionen einher, da die betroffene Person die Reaktionen des persönlichen Umfelds (Partner, Freunde, Verwandte, Kolleginnen und Kollegen oder andere Personen) meist nicht einschätzen kann.
Geschlecht: Die auf biologischen Merkmalen (äußere und innere Geschlechtsorgane) basierende Eigenschaft, aus der sich die Bezeichnung einer Person als männlich oder weiblich ableitet. Ob eine Person weiblichen oder männlichen Geschlechts ist, wird i. d. R. aus der visuellen Beurteilung der Geschlechtsorgane eines Neugeborenen durch einen Arzt festgelegt.
Gender: ÄGender“ stellt die soziale Dimension des biologischen Geschlechts dar. Die Gender-Rolle eines Individuums spiegelt die Pflichten, Eigenschaften und Erwartun- gen der Gesellschaft auf der Basis des sozialen Geschlechts (Gender) wider und um- fasst erlerntes Verhalten wie das Aussehen, das Verhalten, die Bewegung, die Klei- dung sowie den ausgeübten bzw. erlernten Beruf. Der Vorname einer Person be- schreibt diese ebenfalls.
Geschlechtsausdruck: Der Begriff ÄGeschlechtsausdruck“ verweist auf die äußeren Merkmale und Verhaltensweisen, die gesellschaftlich als männlich oder weiblich angesehen werden, z. B. Kleidung, Körperpflege, Eigenheiten, Sprechweise und die soziale Interaktion. Soziale und kulturelle Normen können dabei weit voneinander abweichen. Merkmale, die in der einen Kultur als männlich, weiblich oder neutral gelten, werden in einer anderen Kultur völlig anders bewertet.
Geschlechtsidentität: Der Begriff ÄGeschlechtsidentität“ stellt tief empfundene psy- chologische Identifikation als männlich oder weiblich dar. Sie ist angeboren und muss nicht zwingend mit dem Körper oder dem bei der Geburt bestimmten Geschlecht über- einstimmen.
Geschlechtsangleichung: Der Prozess (oft auch als Transition bezeichnet) bei dem ein Individuum seine äußerlichen Geschlechtsmerkmale und/oder sein geschlechtli- ches Ausdrucksverhalten an die empfundene Geschlechtsidentität anpasst. Dies kann z. B. durch operative Maßnahmen (geschlechtsangleichende Operation) erfolgen.
Transgender: Unter dem Begriff ÄTransgender“ wird ein Sammelbegriff für eine Viel- zahl verschiedener Personen verstanden, welche ihr soziales Geschlecht (Gender) als von ihrem biologischen Geschlecht abweichend empfinden und/oder ihr soziales Ge- schlecht vom biologischen Geschlecht abweichend ausdrücken. Dies geschieht durch ein entsprechendes soziales Verhalten oder durch eine medizinische Geschlechtsan- passung (z. B. geschlechtsangleichende Operation, Hormontherapie etc.). Transgen- der sind nicht nur transsexuelle Menschen (s. nachfolgenden Begriff), sondern umfasst die Menschen, die nicht den gängigen Geschlechterrollen entsprechen. Nicht alle Per- sonen, welche sich als Transgender bezeichnen, haben den Wunsch einer vollständi- gen Geschlechtsangleichung.
Transidentität: Der Begriff Transidentität (lat. trans Äjenseitig“, Ädarüber hinaus“ und idem Äderselbe“, Ädasselbe“ Äder gleiche“) wird von manchen Menschen synonym zu Transsexualität, oder auch zu Transgender verwendet, meint aber etwas anderes. Er beschreibt das Phänomen, dass die Geschlechtsidentität vom biologischen Geburtsgeschlecht abweicht.15
Transsexuell: Unter einer transsexuellen Person wird verstanden, dass das eigene biologische und/oder vor dem Gesetz geltende Geschlecht nicht akzeptiert wird und der Wunsch besteht, dieses dahingehend zu ändern, dass dieses mit der eigenen Ge- schlechtsidentität übereinstimmt. Der Begriff wird auch als Beschreibung von Indivi- duen verwendet, die sich vollständig gegenteilig zu ihrem biologischen Geschlecht ver- halten und sich mit dieser vom biologischen Geschlecht abweichenden Geschlechter- rolle vollumfänglich identifizieren. Die Transsexualität einer Person lässt keinen direk- ten oder vorhersagbaren Rückschluss auf die sexuelle Orientierung der Person zu.
Transfrau/Transmann: Nach einer geschlechtsangleichenden Operation von einem biologischen Mann zur Frau bzw. von der Frau zum Mann verstehen und bezeichnen sich transsexuelle Personen teilweise als Transfrau bzw. als Transmann.
3. Transidentität - ein tabuisiertes Phänomen
Als ich in meinem Familien- und Bekanntenkreis meine Überlegungen, ÄTransidenti- tät“, ÄTranssexualität“ oder Äabweichende Geschlechtsidentität“ insbesondere im be- ruflichen Umfeld und in Bezug auf die Karrierechancen Betroffener als Schwerpunkte für das Thema meiner Master-Thesis zu wählen, erntete ich zunächst Skepsis, Unver- ständnis und teilweise strikte Ablehnung. Das Thema würde im Berufsleben keine Rolle spielen, die Anzahl der betroffenen Personen sei doch so gering, dass es sich nicht lohnen würde darüber eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben und außerdem würden sich auch kaum Personen finden, die eine Umfrage zu diesem Thema beant- worten wollen. Die meisten Menschen glauben, dass ÄTranssexualität“ bzw. ÄTransi- dentität“ extrem selten auftritt. In der ÄZEIT Online“ wurde im Leserartikel-Blog am 20.07.2009 ein Artikel unter dem Titel ÄTranssexualität - für Journalisten ein Tabu?“ veröffentlicht. Hieraus möchte ich wie folgt zitieren:
Diese Behauptung (Anmerkung: Transsexualität ist extrem selten) wird gerne mit Zah- len untermauert, die sich streng an erfolgten Operationen orientieren und noch zu einer Zeit erhoben wurden, als kaum Menschen zu dieser Operation Zugang finden konnten. Tatsächlich zeigt eine realistische Berechnung für die Anzahl der Menschen, die eine entsprechende, Genital angleichende, Operation hatten, für die USA einen kaum ge- hörten Wert von 1:2500 - die tatsächliche Anzahl Betroffener dürfte aber etwa um das 5-fache höher liegen, da für viele Betroffene aus verschiedenen Gründen die Anglei- chung nicht möglich ist. Da Anzahl Betroffener Personen liegt also deutlich über der z.B. von Multipler Sklerose Betroffener. Während aber für MS Betroffene eine solide Forschungsbasis und medizinische Infrastruktur bereitsteht, wollen sich am TS Thema kaum Menschen "die Hände schmutzig machen" - weil da wieder die oben genannten gesellschaftlichen Weltbilder in Frage gestellt werden.“16
Aufgrund der Tabuisierung des Themas und der Nicht-Wahrnehmung der heteronor- mativen Prägung unseres Alltags- und Arbeitslebens reagieren viele Menschen, die darauf angesprochen werden, mit Aussagen, wie z.B.: »Sexualität hat am Arbeitsplatz nichts zu suchen«, »Was hat die Sexualität mit der Arbeitsleistung einer Mitarbeiterin/eines Mitarbeiters zu tun?«“17. Wird eine Person erstmals mit dem Phänomen ÄTransidentität“ (Familie, Beruf, Freundeskreis etc.) konfrontiert, sorgt dies im Allgemeinen für große Irritation (Rauchfleisch, 2013, S.63). ÄIch würde das von der mir vorgesetzten Person gar nicht wissen wollen. Ebenso würde ich meine Sexualität keineswegs am Arbeitsplatz zu Thema machen wollen.“18
Der Schauplatz der Anerkennungskämpfe von Transidentitäten heißt in Deutschland »Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszuge- hörigkeit in besonderen Fällen - Transsexuellengesetz« (TSG) und ist wie jedes Ge- setz ein Kind seiner Zeit.“ (Adamietz, 2012, S. 16). Das Transsexuellengesetz wurde geschaffen, um betroffene Personen die rechtliche Anerkennung ihres empfundenen Geschlechts zu ermöglichen. Das Gesetz wurde fast 30 Jahre lang nicht geändert, Stück für Stück wurde es seit seinem Erlass vom BVerfG demontiert, um es dem wis- senschaftlichen Stand anzupassen. Doch die Kernkonstruktion mit ihren heteronorma- tiven Erwägungen bleibt (Pfeiffer, 2013). Trotz dieser langsamen Anpassung der recht- lichen Rahmenbedingungen an die Lebensbedingungen betroffener Menschen ist die Existenz von ÄTranssexualität“ bzw. ÄTransidentität“ in unserer Gesellschaft noch nicht akzeptiert und wird nach wie vor tabuisiert. Dies betrifft auch Unternehmen und Orga- nisationen. Hierfür gibt es vielerlei Gründe, welche ich in den nachfolgenden Ausfüh- rungen aufzeigen möchte.
4. Geschlechtsidentität gleich sexuelle Orientierung?
Die Geschlechtsidentität eines Menschen wird im allgemeinen Gebrauch oft mit der sexuellen Orientierung gleichgesetzt: Transsexuell = Homosexuell. Zum Verständnis des eigentlichen Sachverhalts dieser Master-Thesis erachte ich es darum für notwendig, dieses ÄMissverständnis“ zu klären.
Zur wissenschaftlichen Definition der Begriffe ÄTranssexuell“ bzw. ÄTransident“ wird hierfür aus dem Buch ÄAnne wird Tom - Klaus wird Klara“ von Prof. Udo Rauchfleisch zitiert, da dessen Erklärung die Begriffe sehr treffend und verständlich deutlich be- schreibt:
Im Allgemeinen hören Sie die Begriffe »Transsexualität« und »Transsexualismus«. Dies sind die üblichen Begriffe in der öffentlichen Diskussion, aber auch im wissen- schaftlichen Bereich«Die Bezeichnung »Transsexualität« trifft jedoch nicht das We- sen dieser Menschen, da es ihnen nicht um die sexuelle Ausrichtung oder die Art, wie sie ihre Sexualität leben, geht, sondern um ihre Identität. Aus diesem Grund wird in neuer Zeit, auch unter Fachleuten, eher der Begriff »Transidentität« verwendet, den auch ich bevorzuge« Bei der Beschreibung sogenannter »transidenter Menschen« wird in psychologischen und psychiatrischen Berichten häufig von »Frau-zu-Mann«- bzw. von »Mann-zu-Frau«-Transidenten gesprochen. Durch »Mann-zu-Frau« soll aus- gedrückt werden, dass ein biologischer Mann sich als Frau wahrnimmt und die Anglei- chung an den weiblichen Körper wünscht. »Frau-zu-Mann« dient der Beschreibung dessen, dass eine biologische Frau sich als Mann empfindet und die Angleichung an den männlichen Körper sucht. Im Grunde widersprechen diese Bezeichnungen aber dem Erleben transidenter Menschen. Aus ihrer Sicht machen sie nämlich keine Ver- änderung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann durch, sondern sind von jeher im Inneren Frau bzw. Mann gewesen und möchten nun »nur noch« den Körper an diese Identität anpassen lassen und in der dieser Identität entsprechenden Rolle leben.“19
Unter sexueller Orientierung wird verstanden, zu welchem Geschlecht sich ein Mensch hingezogen fühlt. Asendorpf/Neyer (2012, S. 341) beschreiben die sexuelle Orientie- rung, ob die sexuelle Erregung durch einen Menschen des anderen Geschlechts (He- terosexuell) des gleichen Geschlechts (Homosexuell) oder durch beide Geschlechter (Bisexuell) erfolgt.
Wie eingangs erwähnt, soll die sexuelle Orientierung eines Individuums nicht Inhalt dieser Arbeit sein. Jedoch wird sich zeigen, dass die sexuelle Orientierung nicht ganz unbeachtet bleiben kann. Personen, welche die vorgenannten Unterscheidungen nicht kennen, urteilen meist nach ihrer Augenscheinnahme und meist unterbewusst nach Stereotypen. Sie sehen z. B. einen (transidenten) Mann, welcher sich zu einem ande- ren Mann hingezogen fühlt. Die Transidentität des ersten Mannes ist für sie zunächst nicht für ihre Kategorisierung präsent (Es wird später in den Ausführungen auf diese stereotype Kategorisierung eingegangen). Für sie erscheint es, dass ein Mann mit ei- nem Mann sexuell verbunden ist. Man neigt dazu, diese beiden Männer als Äschwul“ oder ÄHomosexuelle“ zu bezeichnen. Da der transidente Mann sich jedoch selbst als Frau fühlt und sieht ist für ihn die Beziehung vollkommen Änormal“, also Äheterosexu- ell“.
Der Comedian Sam Killermann hat in seinem Buch ÄThe Social Justice Advocate’s Handbook: A Guide to Gender“20 die Unterscheidung zwischen Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck, biologischem Geschlecht und sexueller Orientierung in Form einer Ägebackenen Person“ (s. Abbildung 6, S. 27) dargestellt. Diese etwas kindliche Darstellung erfüllt mit Sicherheit nicht wissenschaftliche Ansprüche, verdeutlicht aber sehr gut, aus welchen ÄKomponenten“ - bezogen auf das Geschlecht - eine Person besteht. Killermann setzt seine ÄGenderbread Person“ aus den Komponenten
- Identity (Identität)
- Gender Expression (Geschlechtsausdruck, Aussehen)
- Biological Sex (biologisches Geschlecht, innere und äußere Geschlechtsmerk- male) und
- Sexual Orientation (sexuelle Orientierung)
zusammen. Zugleich verdeutlicht die Illustration der ÄGenderbread Person“, dass die Identität, und somit auch die Geschlechtsidentität, eine Konstruktion ist, welche im menschlichen Gehirn vorhanden ist bzw. entsteht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6 - Genderbread Person aus Killermann, Sam "The Social Justice Advocate's Handbook: A Guide to Gender" - www.guidetogender.com
5. Geschlecht und Geschlechterrollen
Um die Forschungsfragen besser zu erfassen, ist es zunächst notwendig zu klären, was Geschlecht im eigentlichen Sinne ist, welche Funktionen - neben der Fortpflan- zung - dem Geschlecht in einer Gesellschaft (und somit auch in einem Unternehmen) zukommen und warum das psychologische Geschlecht nicht immer mit dem biologi- schen Geschlecht (Geburtsgeschlecht) übereinstimmt. Küppers (2012, S. 4) be- schreibt ÄGeschlecht“ als eine von gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen ge- prägte Praxis und nicht als direktes Abbild der Natur. Es ist das Ergebnis eines lang- wierigen gesellschaftlichen Prozesses der nicht nur den natürlichen Geschlechtskör- per, sondern auch die Geschlechterrollen, -normen und -identitäten umfasst (Mairhofer, 1995 in Küppers, 2012, S. 8).
Um das Verhalten der Gesellschaft und Unternehmen gegenüber Menschen mit ab- weichender Geschlechtsidentität zu verstehen und zu erklären, muss erörtert werden, wie Geschlechterrollen entstehen und welchen Einfluss diese Rollenbilder auf das Ver- halten haben. Es ist daher sinnvoll, zunächst eine reduzierten Betrachtung der Ge- schlechter (und Geschlechterrollen) nach den biologischen Geschlechtern ÄFrau“ und ÄMann“ durchzuführen. Aus dem vorgenannten wird folgende These abgeleitet:
Die Unterschiede zwischen biologischen Geschlechtern ÄFrau“ und ÄMann“ können zur Erklärung des Verhaltens von Personen und Unternehmen gegenüber Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität dienen.
5.1 Geschlecht
Das Geschlecht ist ein biologisches Faktum. Ob jemand ein Junge oder ein Mädchen, ein Mann oder eine Frau ist, lässt sich meist sehr genau aus den äußeren Geschlechts- organen (Scheide oder Penis) schließen, deren Beschaffenheit fast perfekt mit dem chromosomalen Geschlecht (XX oder XY) korreliert (Asendorpf/Neyer, 2012, S. 334). Die Unterschiede der Geschlechter aus rein genetischen Aspekten sind jedoch zu kurzsichtig. Um Geschlecht richtig zu erfassen und zu definieren, müssen verschiedene Ebenen betrachtet werden: der genetischen, der hormonellen, der neuronalen und der Verhaltensebene.
5.1.1 Genetisches Geschlecht
Der Mensch gehört zu den Lebewesen, die über ein XX/XY-System21 zur chromoso- malen Geschlechtsbestimmung verfügen. Genetische Frauen verfügen über zwei X- Chromosomen (XX), Männer hingegen über ein X- und ein Y-Chromosom (XY). Beim Y-Chromosom handelt es sich um ein verkürztes X-Chromosom. Die beiden Chromo- somen (X und Y) haben teilweise identische Sequenzen. Genetisch ist das Geschlecht definiert durch ein einziges Gen im Genom eines Menschen. Die ÄSex Determining Region of Y-Gen“ (SRY-Gen) auf dem Y-Chromosom bestimmt das genetische Ge- schlecht eines Menschen. Die biologischen Geschlechtsmerkmale werden weitestge- hend durch dieses Gen festgelegt.
5.1.2 Hormonelles Geschlecht
In den ersten 6 Wochen der embryonalen Entwicklung sind zunächst alle Föten weib- lich. Etwa in der 7. Schwangerschaftswoche werden durch Aktivität des SRY-Gens und anderer, verbundener Gene die Bildung der jeweiligen Geschlechtsorgane ausge- löst. Diese Aktivitäten führen zur Produktion von Geschlechtshormonen (z. B. das männliche Hormon Testosteron bzw. die weiblichen Hormone Östrogen und Proges- teron), welche die organische Entwicklung beeinflussen. Jedoch wäre es falsch anzu- nehmen, dass ein männlicher Fötus nur männliche und ein weiblicher Fötus nur weib- liche Hormone produziert. Sowohl männliche als auch weibliche Föten bilden sowohl Testosteron als auch Östrogen und Progesteron (sowie andere Geschlechtshormone). Beeinflussend auf die weitere Geschlechtsentwicklung wirkt die Quantität der jeweils vorhandenen männlichen bzw. weiblichen Hormone. Die Quantität der Geschlechts- hormone während der fötalen Entwicklung hat zudem Einfluss auf die Entwicklung des späteren psychologischen Geschlechts eines Menschen. Eine Störung der hormonellen Entwicklung kann, nach Asendorpf/Neyer (2012, S. 336), auch eine Störung der späteren Geschlechtsidentität bewirken. Einen weiteren Beweis für den Einfluss der Geschlechtshormone auf das Verhalten und die Geschlechtsidentität liefert die Adoleszenz, die jeder (gesunde) Mensch selbst erlebt und durchlebt hat.
5.1.3 Neuronales Geschlecht
Im Verlauf der individuellen Entwicklung kann die Entwicklung des Gehirns durch Hor- mone beeinflusst werden (Asendorpf/Neyer, 2012, S. 337). Die Einflüsse der Hormone sind während des gesamten Lebens eines Menschen wirksam. Die Adoleszenz oder die weibliche Menopause können hier beispielhaft aufgeführt werden. Während der gesamten menschlichen Entwicklung - von der Zeugung bis zum Tod - unterliegen wir den Einflüssen der geschlechtsspezifischen Hormone, welche teilweise große Wir- kung auf unser Gehirn haben und damit die Bildung einer, teilweise sich während des Lebens verändernden, Geschlechtsidentität beeinflussen. Die Geschlechtsbeeinflus- sende Wirkung von Hormonen wie Testosteron oder Östrogen wird besonders deutlich bei der Behandlung von transsexuellen Menschen mit gegengeschlechtlichen Hormo- nen.
Neuronale Geschlechtsunterschiede können jedoch nicht ausschließlich der Wirkung von Geschlechtshormonen zugeschrieben werden. Das Verhalten und die Einflüsse der Umwelt haben ebenso neuronale Wirkung.
5.1.4 Verhaltensebene
Wie Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen entstehen und sich dauerhaft etablieren, beschreiben verschiedene Theorien. Bezüglich der Geschlechterstereo- type wird hierbei gerne Bezug darauf genommen, dass die Einstellungen, wie ein be- stimmtes Geschlecht wahrgenommen wird und wie es zu sein hat, eine Ursache in der Kindererziehung und der Sozialisation eines Menschen findet. Im Kapitel ÄTheorie der Stereotype“ ab Seite 55 wird auf die Wirkung von Stereotypen vertiefend eingegangen.
Die Idee, dass ÄGeschlecht“ (gender) überwiegend (oder sogar ausschließlich) durch Sozialisation gelernt wird, wird in zahlreichen soziologischen Publikationen vertreten.
Biologische Aspekte werden hierbei oft entschlossen zurückgewiesen (Carter, 2014). Peterson/Hann (1999, S. 327) nennen vier Einflussfaktoren der Sozialisierung, die zur Bildung von Geschlechterstereotype beitragen. Beeinflussend wirken hierbei die Eltern (Äparent effects“), andere Kinder bzw. Gleichaltrige (Ächild effects“), die Wechselwir- kung aus der Gesellschaft (Äreciprocal socialization“) und die systemisch-ökologi- schen Faktoren (Äsystemic-ecological theory“). Der Einfluss der Eltern wird in nahezu allen soziologischen Arbeiten als omnipotent angesehen. Aus der Behauptung, dass ausschließlich die Sozialisation einen Einfluss auf die Geschlechtsidentität einer Per- son habe, entwickelte sich in den späten 1960er und Anfang der 1970er Jahre eine Überzeugung, Geschlechterunterschiede seien unbedeutend geworden. Diese Sicht- weise wurde mittlerweile von zahlreichen Soziologen und Psychologen, welche diese Meinung vertraten, relativiert bzw. sie haben ihre Ansicht gänzlich umgekehrt.
Auch Bischof-Köhler (2011, S. 43) widerspricht diesem Standpunkt, dass die Ge- schlechtsidentität ausschließlich durch Sozialisation gebildet wird in ähnlicher Vehe- menz, wie die Befürworter der reinen Sozialisierungstheorie. Sie verweist hierbei auf die Beziehung zwischen Biologie und Moral: ÄTraditionelle Kulturen nehmen nicht nur eine Dichotomisierung nach Art der Abbildung vor, sie setzen ihre Mitglieder - bald rigoros und autoritär wie im islamischen Fundamentalismus, bald unbewusst ermun- ternd - dem Zwang aus, ein typisch weibliches oder männliches Verhalten an den Tag zu legen. Um dieser Forderung nun einen Absolutheitsanspruch zu verleihen, bezie- hen sie sich auf die Veranlagung, versuchen also Moralvorschriften naturgesetzlich zu legitimieren.“.
Zahlreiche Studien und Untersuchungen haben mittlerweile gezeigt, dass der Einfluss auf die Geschlechtsidentität einer Person und die Bildung von Geschlechterstereotype sowohl biologische, als auch soziologische Ursachen haben.
5.2 Soziale Konstruktion von Geschlecht
Die Unterscheidung zwischen Frau und Mann im täglichen Umgang mit anderen Men- schen treffen wir unbewusst und selbstverständlich, so dass der Eindruck entstehen könnte, das Geschlecht sei naturgegeben, immer direkt zu erkennen und nicht in Frage zu stellen.
Athenstaedt/Alfermann (2001, S. 11f) beschreiben das Geschlecht als soziale Katego- rie und soziale Rolle. ÄDie Zuordnung von Personen in die Kategorie ÄFrau“ oder ÄMann“ nennt man soziale Kategorisierung. Gemeint ist der Äkognitive Prozess der Gruppierung von Personen oder Gruppen, die ein oder mehrere Merkmale gemeinsam haben.“ (Petersen & Six-Materna, 2006, S. 431). Wobei der Prozess der Kategorisie- rung nicht mit der Zuordnung zu Gruppen endet, sondern auch einhergeht mit der Zu- schreibung der für diese Gruppe als typisch erachteten Charakteristika. Kategorisie- rung vereinfacht in diesem Sinn unsere soziale Informationsverarbeitung, bedingt aber auch Informationsverlust, da Individuen auf Basis der Gruppenzugehörigkeit beurteilt werden und ihre ÄIndividualität“ vernachlässigt wird. (Mackie, Hamilton, Susskind & Rosselli, 1996). Geschlecht ist neben Alter und ethnischer Zugehörigkeit eine der zent- ralen sozialen Kategorien, die Individuen zur sozialen Kategorisierung verwenden (Fiske, 1998).22 Diese Kategorisierung führt dazu, dass wir unterbewusst eine Person in eine der beiden Kategorien ÄMann“ oder ÄFrau“ einordnen und diese Person als Äähnlich“ zu Personen derselben Kategorie betrachten.
Laut Bischof-Köhler (2011, S. 70) sprechen bereits Kinder im ersten Lebensjahr auf Merkmale des Geschlechts an, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt das eigene Geschlecht noch nicht bestimmen können. Mit etwa 7 Monaten können Kinder weibliche und männliche Stimmen und ab dem 9. bis 12. Monat können sie auch die Gesichter von Frauen und Männern unterscheiden.
Geschlecht ist neben der kognitiv repräsentierten Kategorie auch eine gesellschaftlich definierte soziale Rolle. Soziale Rollen sind Positionen innerhalb einer Gesellschaft, die mit spezifischen Erwartungen an die Rollenträger einhergehen (Stryker & Statham, 1985). Diese Erwartungen haben normativen Charakter (Cialdini & Trost, 1998), so dass Rollenträger, die sich nicht erwartungskonform verhalten, sanktioniert werden. In diesem Zusammenhang kann auch Verspottung, Kritik oder Ausgrenzung als Sanktion gesehen werden kann.“23.
Für Butler (2011) ist Geschlecht eine Praxis der Improvisationen im Rahmen des Zwangs. Keine Person spielt ihre Geschlechterrolle allein, sondern man spielt diese Rolle immer mit oder für einen anderen, selbst wenn dieser andere nicht real existiert, also man sich diesen nur vorstellt. ÄDie Bedingungen, die das eigene Gender kreieren, liegen jedoch von Anfang an außerhalb meiner selbst, wurzeln außerhalb meiner selbst in einer Sozialität, die keinen einzelnen Urheber kennt (und die Idee der Urhe- berschaft selbst grundlegend in Frage stellt).“24 Menschen, die sich nicht ihrem biolo- gischen Geschlecht zugehörig fühlen, haben hierbei mit einer doppelten ÄBelastung“ zu kämpfen. Zum einen sind sie dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, ihre biolo- gische Geschlechterrolle zu erfüllen und zum anderen wird das ÄAnderssein“ von ih- rem Umfeld nicht oder nur sehr begrenzt akzeptiert.
6. Verhalten, Einstellung und Erscheinung
In der Psychologie werden unter ÄVerhalten“ alle Handlungen und Äußerungen eines Menschen verstanden, welche von außen unmittelbar beobachtbar sind. Im Gabler Wirtschaftslexikon definiert Siller Verhalten wie folgt:
Verhalten umfasst i.d.R. drei Dimensionen: Handeln, Dulden (Stillhalten, Zulassen) und Unterlassen als Nichthandeln. In einer weitergehenden Differenzierung kann man drei Ebenen von Verhalten unterscheiden:
a) Unbewusste, physiologische Reaktionen des Organismus;
b) gelernte, routinierte, aber nicht bewusst oder nur unterbewusst gesteuerte Verhaltensweisen;
c) bewusstes, gesteuertes Handeln.“25
6.1 Entwicklung geschlechtsbezogener Einstellungen und Verhalten
Bereits Neugeborene werden mit geschlechtsbezogenen Erwartungen konfrontiert und lernen, was es heißt Ämännlich“ oder Äweiblich“ zu sein (Hunger, 2007, S. 12). Das Geschlechtsverständnis wird oft in Verbindung gebracht mit geschlechtertypischen Einstellungen. Es gilt hierbei oft die Annahme, dass sich die Einstellung einer Person zu bestimmten Dingen (ÄWas ich gerne tun würde“) am Geschlechtsverständnis (ÄJun- gen oder Mädchen tun so etwas nicht“) orientiert. Es ist jedoch nicht zwingend, da sich geschlechtertypische Einstellungen unabhängig vom Geschlechterverständnis entwi- ckeln. Die Parallelität zwischen dem zunehmendem Geschlechterverständnis bei her- anwachsenden Kindern und einer Zunahme von geschlechtertypischen Einstellungen scheint einen nicht vorhandenen kausalen Zusammenhang vorzutäuschen, welcher nach Asendorpf/Neyer (2012, S. 339) aber nicht zu bestehen scheint.
Hunger (2013, S. 12) bezieht sich in ihrem Artikel auf Metz-Göckel (1993, S. 104ff) und Bilden (1998, S. 282ff) und führt an, dass insbesondere Jungen früh beginnen, ihre Geschlechterrolle besonders streng auszulegen und sich von »mädchen- typischem« Verhalten (auch hierarchisch) abzugrenzen, wohingegen Mädchen ihre Geschlechterrolle was z. B. Spielzeug und Kleidung betrifft, flexibler auslegen. Jungen werden bei geschlechtsuntypischem Verhalten strenger sanktioniert als Mädchen. ÄDer Prozess der geschlechtsspezifischen Sozialisation vollzieht sich in der Regel sehr subtil. Es sind nicht unbedingt die klaren traditionellen Ermahnungen (Äso was tut ein Mädchen nicht“) oder auffällig stereotyp vorgelebten Rollenmuster, an denen Jungen und Mädchen lernen, was ‚männlich bzw. weiblich sein‘ bedeutet. Vielmehr ist es das Gesamt an unauffälligen Rückmeldungen, Ermunterungen und Unterstützungen, quasi-selbstverständlichen Symbolen, medialen Einflüssen, unscheinbaren Arbeitstei- lungen etc., das Mädchen und Jungen verdeutlicht, was in geschlechtlicher Hinsicht sozial erwünscht ist und ihnen bei dem Aufbau ihrer Geschlechtsidentität Orientierung gibt.“26
Maccoby (2012, S. 195) fasst zusammen, dass Menschen zwar meist wissen, was Ärichtiges Verhalten“ ist oder was von ihnen Äerwartet“ wird, sie verhalten sich jedoch nicht immer so. Diese Erkenntnis lässt sich auf das Ägeschlechterspezifische Verhal- ten“ in besonderem Maße anwenden, wenn die betroffene Person über eine vom bio- logischen Geschlecht abweichende Geschlechtsidentität verfügt. Die kindliche ge- schlechtstypische Sozialisation und das anerzogene geschlechtstypische Verhalten stehen i. d. R. in krassem Widerspruch zu dem tatsächlichen Verhalten der entspre- chenden Person.
Dieses ÄAbweichen“ einer Person von der ÄNorm“ ist auch für Gruppen, Unternehmen und Organisationen eine Herausforderung, da das erwartete Verhalten oft nicht dem tatsächlichen Verhalten entspricht.
6.2 Verhalten innerhalb von Unternehmen und Organisationen
Die allgemeine Definition von Verhalten (s. S. 34) lässt sich nicht nur auf einzelne Individuen anwenden, sondern betrifft auch Unternehmen (Gruppen, Organisationen etc.). Nach Werth (2004, S. 257) hat die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bedeutenden Einfluss auf das Verhalten der Mitglieder, da jede Gruppe bestimmte Werte und Nor- men entwickelt, die das Verhalten der Gruppenmitglieder steuern. Mit einer Zunahme der Identifikation zu der Gruppe, desto stärker identifizieren sich die einzelnen Grup- penmitglieder mit den Gruppenzielen und -normen. Das Verhalten eines Unterneh- mens bzw. einer Organisation gegenüber seiner Belegschaft ist dadurch geprägt, wie die Gesamtheit der Individuen, welche das Unternehmen bilden, sich untereinander und gegenseitig beeinflussen. Nachfolgend werden diese Zusammenhänge grafisch27 vereinfacht darstellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7 - Beeinflussung des Verhaltens einer Organisation durch das Verhalten der agierenden Individuen (Balk, 2014)
Der linke Teil der Grafik soll exemplarisch verdeutlichen, dass zahlreiche äußere Einflüsse das Verhalten der in einer Organisation agierenden Individuen beeinflussen und dies wiederum das ÄGesamtverhalten“ der Organisation bildet.
[...]
1 Quelle (Abruf 29.09.2014): http://www.menschenrechtskonvention.eu/protokoll-nr-12-emrk-9277/
2 LGBT: Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender - Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender
3 Quelle (Abruf 29.09.2014): http://www.sueddeutsche.de/digital/neue-funktion-in-deutschland-face- book-laesst-nutzer-aus-geschlechtsidentitaeten-waehlen-1.2116073
4 Olyslager, F./Conwa, L. (2008), Transseksualiteit komt vaker voor dan u denkt, Tijdscchrift voor Genderstudies, 2008 Nr. 2
5 Quelle DGFP-Praxispapiere 3/2013 (Abruf 07.10.2014): http://static.dgfp.de/assets/publikatio- nen/2013/DGFP-Studie-Megatrends-und-HR-Trends2013.pdf
6 DGFP (2014): Vielfalt bereichert Unternehmen - Erfolgreiches Diversity Management in DGFP-Mit- gliedsunternehmen, Düsseldorf, Seite 8 - http://static.dgfp.de/assets/news/2014/DGFPDiversity.pdf
7 Gardenwarts & Rowe (2003): Diverse teams at work - 4 Layers of Diversity - http://www.gar- denswartzrowe.com/images/FOUR%20LAYERS.pdf
8 Der Begriff Prävalenz (stammt ursprünglich aus der Medizin) sagt aus, wie viele Menschen einer be- stimmten Gruppe bzw. Population von einer bestimmten Krankheit, Störung oder Eigenschaft betrof- fen sind.
9 Conway, Lynn (2006), ins Deutsche übersetzt von Vivian Silver, M.D., Ph.D. - http://ai.eecs.um- ich.edu/people/conway/TS/DE/TSDE-II.html#anchor635615 (Abruf 12.10.2014)
10 Olyslager/Conway (2007), ins Deutsche übersetzt aus http://ai.eecs.umich.edu/people/con- way/TS/Prevalence/Reports/Prevalence%20of%20Transsexualism.pdf (Abruf 30.10.2014)
11 LimeSurvey Version 2.05+ Build 140204, verfügbar unter http://www.limesurvey.org/de/
12 Link: http://www.psychologie-heute.de/service/mitmachen/
13 LSVD-Verein für europäische Kooperation e.V., Köln, Link: http://www.lsvd.de/community/studien- und-umfragen.html
14 Die SAP Deutschland SE & Co.KG bietet ihren Führungskräften einen umfangreichen Leitfaden zum Umgang mit transidenten Personen (SAP-Richtlinien für die Geschlechtsangleichung, Version 2.0 vom Februar 2014)
15 Quelle: wikipedia.de, http://de.wikipedia.org/wiki/Transidentit%C3%A4t, Abruf 07.01.2015
16 Quelle: ZEIT ONLINE, http://community.zeit.de/user/bad-hair-days/beitrag/2009/07/20/transsexua- lit%c3%a4t-f%c3%bcr-journalisten-ein-tabu, Abruf 04.01.2015, Rechtschreibfehler im Originalbeitrag wurden von mir berichtigt
17 Hofmann, 2012, S. 2 in Rauchfleisch (2013) S. 63
18 Aussage einer/eines Teilnehmerin/Teilnehmers meiner Online-Umfrage
19 Rauchfleisch (2013, S. 6f)
20 Quelle: http://www.guidetogender.com (Abruf: 30.10.2014)
21 Das XY-System ist für Säugetiere typisch
22 Vgl. Athenstaedt/Alfermann (2001), Geschlechterrollen und ihre Folgen - Eine sozialpsychologische Betrachtung, Kohlhammer, Stuttgart, S. 11f
23 Athenstaedt/Alfermann (2001), Geschlechterrollen und ihre Folgen - Eine sozialpsychologische Betrachtung, Kohlhammer, Stuttgart, S. 13
24 Butler (2011, S. 9), Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt
25 Springer Gabler Verlag (Herausgeber), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Verhalten, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/1408500/verhalten-v3.html (Abruf: 24.10.2014)
26 Hunger (2013, S. 13)
27 Die Farbgebung der Geschlechter in der Grafik (ÄFrau“ = Pink und ÄMann“ = Blau) erfolgte nach der von Heller (2011) ermittelten Assoziationen für ÄDas Männliche“ und ÄDas Weibliche“
- Citation du texte
- Stefan Balk (Auteur), 2015, Abweichende Geschlechtsidentität. Prävalenz, Auswirkungen und Verhalten im beruflichen Umfeld, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303549
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