In der vorliegenden Arbeit sollen die Erziehungsphilosophien des US-amerikanischen Universalphilosophen John Dewey (1859-1952) und des brasilianischen Volkspädagogen Paulo Freire (1921-1997) verglichen werden.
Es geht hierbei nicht um einen besser-schlechter-Vergleich, der dazu dienen könnte, einen der beiden Autoren „auszumustern”. Ich gehe vielmehr davon aus, dass beide Denker Wesentliches zur Disziplin der Erziehungswissenschaften beigetragen haben, und dass ihre Theorien und Gedanken immer noch aktuell sind. Es geht mir in dieser Arbeit eher um einen inhaltlich-qualitativen Vergleich. Wie noch zu zeigen sein wird, ist ein zentrales Moment in Deweys Schaffen das Streben nach Demokratie im weitesten Sinne; Freires Leben und Schreiben dreht sich um den Prozess der Befreiung von unterdrückerischen Verhältnissen.
Die Leitfrage ist daher die folgende:
Wo und in wie weit überschneiden sich Deweys Streben nach Demokratie und Freires Forderung nach Befreiung?
Genauer:
Wie dringend oder zwingend sollte sich jemand, der sich für Freires Erziehungsziel der Befreiung interessiert, auch mit Dewey auseinander setzen? Warum?
Wie dringend oder zwingend sollte sich jemand, der sich für Deweys Streben nach Demokratie interessiert, auch mit Freire auseinander setzen? Warum?
Es soll dabei hauptsächlich auf die Intentionen der Autoren – also die von ihnen vorgegebenen oder die aus ihrem Werk herauszuarbeitenden Ziele der Erziehung – eingegangen werden. Wir gehen als Forschungsprämisse also davon aus, dass die Motivationen und die Zielsetzungen eines Autors für die Auseinandersetzung mit dessen Werk besonders interessant sind. Stimmen die zwei Autoren in ihren Motiven und Zielen überein oder gibt es dabei eine wesentliche Überschneidung, dann ist folglich anzunehmen, dass das Interesse an einem der beiden auch mit dem Interesse am anderen einhergeht.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kurze Einführung in die pädagogischen Theorien Deweys und Freires
2.1. John Dewey: Demokratie und Erziehung
2.1.1. Kurzbiografie und ideengeschichtliche Ursprünge
2.1.2. Deweys Werk und seine Problemstellungen
2.1.2.1. Erkenntnistheorie: Der Begriff der Erfahrung
2.1.2.2. Erziehung, Schule und Lernen
2.1.3. Demokratie bei Dewey – Einführung; Bedeutung im Werk Deweys
2.1.4. Bedeutung und Wirkung von Deweys Werk
2.2. Paulo Freire: Erziehung als Praxis der Freiheit
2.2.1. Kurzbiografie
2.2.2. Freires Werk, seine Ausgangspunkte und seine Problemstellungen
2.2.3. Befreiung bei Freire – Einführung; Bedeutung im Werk Freires
2.2.4. Bedeutung und Wirkung von Freires Werk
3 Methodische Überlegungen zum Theorienvergleich
3.1. Was bedeutet Vergleichen?
3.2. Wie können pädagogische Theorien verglichen werden?
3.2.1. Das Problem der Inkommensurabilität
3.2.2. Feststellung der Vergleichbarkeit
3.2.3. Die Vergleichsorientierung: Bewertung oder Grundverhältnis-Klärung
3.2.4. Methoden und weitere Voraussetzungen für den Grundverhältnisse klärenden Vergleich
3.3. Wie Dewey und Freire vergleichen?
4 Die Untersuchung – John Dewey und Paulo Freire im Vergleich
4.1. Das Material – Auswahl der Forschungsgrundlage
4.1.1. Auswahl der Primärtexte, Biografien und Übersichtsarbeiten
4.1.2. Bisherige Dewey-Freire-Vergleiche: Überblick und Auswahl
4.2. Vergleichbarkeits-Voruntersuchung
4.2.1. Vergleichbarkeits-Voruntersuchung nach Greshoff
4.2.2. Vergleichbarkeits-Voruntersuchung nach Lindenberg/Wipplers Theorie der kollektiven Tatbestände und Prozesse
4.3. Inhaltlicher Vergleich
4.3.1. Inhaltlicher Vergleich nach Greshoff
4.3.2. Inhaltlicher Vergleich nach Lindenberg/Wipplers Theorie der kollektiven Tatbestände und Prozesse
4.3.3. Vergleichende Analyse der Begriffe Demokratie und Befreiung
5 Resümee – Wer Freire sagt, muss der/die auch Dewey sagen?
5.1. Übereinstimmungen zwischen Freire und Dewey und deren Bewertung
5.2. Abweichungen und Widersprüchliches
5.3. Wo und wie sich Freire und Dewey ergänzen
5.4. Schlussresümee und Ausblick
Anhang – Beschreibung eines Kulturzirkels
Abkürzungen
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt meinem betreuenden Professor, Peter Stöger, für seine große Geduld und Hilfe in allen Abschnitten dieser Arbeit.
Meiner Familie und FreundInnen, für ihre fortwährende Unterstützung, für (manchmal nicht zu viel) Nachfragen über mein Fortkommen, für ihre Aufmunterungen und das Mitfreuen über Erfolge.
Meiner Mutter Bärbel und Hanno Wilhelm für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung.
Meinen LektorInnen, für ihre mühsame und sehr hilfreiche Arbeit beim Korrekturlesen.
Stefan Feuerstein und Patricia Varela, für ihr Verständnis und ihr Entgegenkommen bei den extensiven Zeitbedürfnissen für die Erstellung dieser Diplomarbeit.
Den Vortragenden und LehrveranstaltungleiterInnen am Institut für Erziehungswissenschaften, sowie all meinen Lehrern und Lehrerinnen, die mich in meinem Lernprozess begleitet haben.
John Dewey und Paulo Freire, für ihre fortwährende Inspiration.
Mein größter Dank schließlich an den lieben Gott, der mich mit Leben, Intelligenz und Durchhaltevermögen ausgestattet hat; und allem sonstigen was zur Erstellung einer Diplomarbeit vonnöten ist.
Gabriel Stabentheiner, April 2011
1 Einleitung
John Dewey
„Alle echte Erziehung wird bewirkt, indem die Kräfte des Kindes durch die Anforderungen, die seine soziale Situation an sie stellt, angeregt werden. [...].
Erziehung, die nicht in den Formen des Lebens erfolgt, nicht um ihrer selbst willen wertvoll ist, ist immer nur ein kümmerlicher Ersatz für die Wirklichkeit und birgt die Gefahr, zu verkrampfen und zu ertöten.”[1]
Paulo Freire
„[E]ine nordamerikanische Pädagogin fragte Paulo, welche Eigenschaft er für einen Pädagogen für entscheidend hielt. Ohne viel nachzudenken, antwortete Paulo:
Er muss das Leben mögen.”[2]
In der vorliegenden Arbeit sollen die Erziehungsphilosophien des US-amerikanischen Universalphilosophen John Dewey (1859-1952) und des brasilianischen Volkspädagogen Paulo Freire (1921-1997) verglichen werden.
Es geht hierbei nicht um einen besser-schlechter-Vergleich, der dazu dienen könnte, einen der beiden Autoren „auszumustern”. Ich gehe vielmehr davon aus, dass beide Denker Wesentliches zur Disziplin der Erziehungswissenschaften beigetragen haben, und dass ihre Theorien und Gedanken immer noch aktuell sind. Es geht mir in dieser Arbeit eher um einen inhaltlich-qualitativen Vergleich. Wie noch zu zeigen sein wird, ist ein zentrales Moment in Deweys Schaffen das Streben nach Demokratie im weitesten Sinne; Freires Leben und Schreiben dreht sich um den Prozess der Befreiung von unterdrückerischen Verhältnissen.
Die Leitfrage ist daher die folgende:
Wo und in wie weit überschneiden sich Deweys Streben nach Demokratie und Freires Forderung nach Befreiung?
Genauer:
Wie dringend oder zwingend sollte sich jemand, der sich für Freires Erziehungsziel der Befreiung interessiert, auch mit Dewey auseinander setzen? Warum?
Wie dringend oder zwingend sollte sich jemand, der sich für Deweys Streben nach Demokratie interessiert, auch mit Freire auseinander setzen? Warum?
Es soll dabei hauptsächlich auf die Intentionen der Autoren – also die von ihnen vorgegebenen oder die aus ihrem Werk herauszuarbeitenden Ziele der Erziehung – eingegangen werden. Wir gehen als Forschungsprämisse also davon aus, dass die Motivationen und die Zielsetzungen eines Autors für die Auseinandersetzung mit dessen Werk besonders interessant sind. Stimmen die zwei Autoren in ihren Motiven und Zielen überein oder gibt es dabei eine wesentliche Überschneidung, dann ist folglich anzunehmen, dass das Interesse an einem der beiden auch mit dem Interesse am anderen einhergeht.
Es ist mir allerdings bewusst, dass die Intentionen eines Pädagogen oder Philosophen nicht das einzige ist, was an ihm interessieren kann. Um den Fokus unserer Betrachtung daher etwas weiter zu öffnen, sollen zusätzlich einige weitere Elemente der Werke von Dewey und Freire betrachtet werden, aufgrund derer die explizit formulierten Ziele bewertet und eingeordnet werden können. Es handelt sich dabei um folgende Elemente:
(1) Die In-Beziehung-Setzung der gewählten Ziele (Befreiung bzw. Demokratie) mit anderen Erziehungszielen, die von Freire bzw. Dewey erwähnt werden. Es wird gezeigt werden, dass die Begriffe Befreiung bzw. Demokratie jeweils im entsprechenden Werk eine entscheidende Bedeutung einnehmen. Weitere genannte Ziele sollen aufgezeigt und die Zusammenhänge und Wechselwirkungen mit den Hauptzielen dargelegt werden.
(2) Die philosophischen und epistemologischen, politischen und ethischen Grundlagen und Begründungen zur Untermauerung der gesetzten Ziele sollen herausgearbeitet werden.
(3) In einer Phase der Voruntersuchung soll die grundsätzliche Vergleichbarkeit von Dewey und Freire festgestellt werden, indem deren Begriffssysteme – zumindest ansatzweise – ausgefaltet und verglichen werden.[3]
(4) Die Mittel- oder Methodenwahl in Deweys und Freires Pädagogik soll nur insofern erläutert werden, in wie weit es zur Beleuchtung der Ziele notwendig ist.
(5) Die Praxis der beiden Pädagogen und deren Wirkung werden wir am Rande erwähnen, wo dies zur Erläuterung oder Einschätzung der von ihnen vertretenen Ziele nötig erscheint.
Damit dürfte gewährleistet sein, dass trotz der notwendigen inhaltlichen Fokussierung ein etwas breiteres und nicht all zu verzerrtes Bild der beiden Erziehungsphilosophen gezeichnet werden kann.
Im Falle John Deweys ist es übrigens nicht ganz selbstverständlich oder auf den ersten Blick logisch, sich seinem Streben nach Demokratie gerade aus einem erziehungswissenschaftlichen Blickwinkel zu nähern; hat er doch ein sehr breites, fast universelles philosophisches Werk vorgelegt, das sich beständig um den Gedanken der Demokratie dreht. Dewey selbst liefert uns allerdings die Berechtigung für eine derartige Herangehensweise, wenn er schreibt:
„Erziehung ist die grundlegende Methode des sozialen Fortschritts. Die Pflicht der Gesellschaft zu erziehen, ist daher ihre höchste sittliche Pflicht. Durch Gesetze und Strafen, soziale Agitation und Diskussion kann sich die Gesellschaft nur in planloser und zufälliger Weise regeln und formen. Durch Erziehung kann sie ihre eigenen Zwecke formulieren, ihre Mittel und Hilfsquellen organisieren und sich so mit geringstem Aufwand in der Richtung entwickeln, in der sie dies zu tun wünscht.”[4]
Was ist nun die Forschungsrelevanz dieser Arbeit? Sowohl John Dewey als auch Paulo Freire haben aktuell auf unterschiedliche Art und Weise noch Einfluss auf die pädagogische Praxis und die wissenschaftliche Diskussion. Sie haben Werke vorgelegt, die sich untereinander in vielerlei Art und Weise unterscheiden – nicht zuletzt durch die unterschiedliche Perspektive aus den USA bzw. aus Lateinamerika. Ich gehe davon aus, dass sich ihre pädagogischen und philosophischen Gedanken dadurch potentiell gegenseitig ergänzen können. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die beiden – zumindest in grundlegenden Punkten – von einer gemeinsamen Basis ausgehen. Aufgabe dieser Arbeit wird es also sein, sowohl diese Übereinstimmungen als auch Widersprüche und mögliche gegenseitige Ergänzungen herauszuarbeiten. So ist zu hoffen, dass durch eine mögliche Zusammenführung der beiden Pädagogen, oder zumindest ein Gegenseitig-näher-bringen neue Erkenntnisse für die Erziehungswissenschaft entstehen können. Diese Arbeit versteht sich dabei eher nicht dazu verpflichtet, diese neuen Erkenntnisse bereits zu produzieren, sondern vielmehr dazu, einen Raum zu eröffnen, in dem die Theorien John Deweys und Paulo Freires in Allianz gebracht werden können.
Warum aber überhaupt sich mit Freire und Dewey und mit Themen wie Demokratie und Befreiung beschäftigen? Diese Wahl scheint doch eher gegen den allgemeinen Trend in den Erziehungswissenschaften zu gehen. Der Spannungsraum Politik und Erziehung – der einen Kernpunkt der Erziehungsphilosophien von Paulo Freire und John Dewey darstellt – scheint insgesamt kaum Interesse hervorzurufen... zumindest wesentlich weniger als die Beziehung zwischen Pädagogik und anderen Nachbarwissenschaften wie Neurobiologie, Psychoanalyse oder Konstruktivismus (um nur einige wenige zu nennen). Dies ist wahrscheinlich ein weiterer Ausdruck der so oft behaupteten heutigen Politikverdrossenheit. Vor allem aus dem Blickwinkel Freires, aber auch dem Deweys ist dieses Ignorieren der politischen Verfasstheit erzieherischen Handelns äußerst bedenklich. Wer sich ausführlich mit diesen beiden Autoren auseinander setzt, kann sich anschließend nur wundern, dass der Zusammenhang Politik und Erziehung von anderen PädagogInnen so geflissentlich (oder auch ohne viel darüber nachzudenken) außen vor gelassen wird.
So soll mit dieser Arbeit auch eine Lanze gebrochen werden für eine kritische Pädagogik, die sich in einer aktiven und bedeutsamen Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sieht. Befreiung und Demokratie sind wesentliche Schlagwörter aus diesem Themenbereich, Freire und Dewey richtungsweisende – aber leider viel zu oft vergessene – Vertreter einer solchen Erziehungswissenschaft. Hier sollen sie zu Wort kommen. Dabei sollen ihre Antworten auf einige der Grundfragen der Erziehung beleuchtet werden: Was bedeutet erziehen? Wem dient Erziehung? Den zu Erziehenden, ihrem Umfeld, der Gesellschaft? Wodurch legitimiert sich Erziehung? Welche expliziten und welche impliziten Ziele werden in der Erziehung verfolgt?
Vorgestellt, möchte ich noch ein paar Worte zum Aufbau und zur methodischen Herangehensweise dieser Arbeit verlieren. Zunächst werden im Kapitel 2 die beiden Erziehungsphilosophen eingeführt. Wie sich herausstellte, fand ich keinen vorgefertigten Forschungsentwurf zum Theorienvergleich, der mir für meine Zwecke geeignet erschien. So entwerfe ich im Kapitel 3 die Vergleichsmethode selbst, wobei ich mich an verschiedenen bereits entwickelten Modellen orientiere. Mein Forschungsentwurf wird dann im 4. Kapitel in der Untersuchung umgesetzt. Im Abschlusskapitel werden schließlich die Erkenntnisse daraus zusammen gefasst, und einige Thesen zum Vergleich der beiden Autoren vorgelegt.
Was meine wissenschaftliche Grundhaltung im Bereich der Erziehungswissenschaften betrifft, so halte ich es ganz mit John Dewey, dass es dabei nicht darum gehen kann, nach logisch-einwandfreien und unbezweifelbaren, absoluten Wahrheiten zu suchen.
„Dewey geht es um den Mittelweg rationaler Überzeugungen, d.h. von Überzeugungen, die keine Gewissheit für sich beanspruchen können, die aber auch nicht auf der Ebene des Hergebrachten oder willkürlich Gesetzten verbleiben, sondern geformt sind vom Versuch, sich selbst und andere von der Vernünftigkeit einer Handlung (...) zu überzeugen.” (Joas 2000, S.12)[5]
„[...] Deweys Kernpunkt [...] besteht darin, dass jede Erkenntnis ungewiss ist, alle Autoritätsansprüche suspekt sind und jeglicher Wahrheitsanspruch sich der gründlichen Hinterfragung durch demokratisch verfasste Forschungsgemeinschaften unterziehen muss. Weder Nihilist noch Verfechter sozialer Kontrolle, bestand Dewey auf dem wertgebundenen und interpretativen Grundcharakter allen Strebens nach Erkenntnis.“ (Kloppenberg 2000, S.54)[6]
Von Paulo Freire übernehme ich die klare Forderung nach geschlechtgerechtem Formulieren, dessen Notwendigkeit er sehr eindrücklich und nachdrücklich darlegt.[7] Ich versuche diese in meiner Arbeit daher durchgängig umzusetzen.
Schließlich möchte ich der Leserin und dem Leser noch folgenden Gedanken mit auf den Weg geben: Es ist nicht immer leicht, Paulo Freire und John Dewey zu lesen. Die beiden hoffnungsfrohen Visionäre werden nicht müde in ihrer Forderung nach einer demokratischen Gemeinschaft und nach Befreiung von jeglicher Unterdrückung. In einer Welt in der – vor allem global betrachtet – echte Demokratie im Sinne Deweys oft nicht mehr als eine ferne Utopie ist, und die auch in demokratischen Staaten noch weit von ihrer Vollendung entfernt ist; einer Welt, in der Unterdrückung – in offensichtlich brutaler oder subtilerer Form – immer noch an der Tagesordnung steht; in einer solchen „schiachen” Welt („mundo feio”, Freire) ist die Hoffnung der beiden Pädagogen oft schwer auszuhalten. Weil wir, wenn wir uns ihr anschließen, unweigerlich vor dem manchmal unüberbrückbar scheinenden Abgrund zwischen dieser Hoffnung und der Realität stehen. Dies kann eine Frustration auslösen, die so manche sich von ihren Hoffnungen abwenden lässt. Vor allem Paulo Freire, der diese Frustration aus seiner eigenen Lebenserfahrung wohl nur all zu gut kennen musste, hat seine Hoffnung allerdings nie aufgegeben. Und er gibt uns einen Hinweis darauf, wie dies gelingen kann:
„[W]enn wir davon ausgingen, dass es unmöglich ist, die Erziehungsinstitutionen zu verändern, weil es nicht möglich ist, die Gesamtgesellschaft zu verändern, könnten wir zu der Schlussfolgerung kommen: 'Ich kann nichts tun, weil ich nicht die Gesamtgesellschaft verändern kann.' Ich bin anderer Meinung [...]. Wir als Pädagogen können und müssen in der Tat sehr viel tun im langwierigen Prozess gesellschaftlicher Veränderung.
Denn [...] es gibt keine Gesellschaft, in der nicht irgendwelche Veränderung stattfindet, noch eine Gesellschaft, die nicht schon irgendwelche Veränderung durchlaufen hat. Die Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Veränderungsprozess, sie ist immer in Bewegung.
Unsere Aufgabe ist es, die Freiräume in einer Gesellschaft und in den Institutionen dieser Gesellschaft zu entdecken. Wir müssen uns fragen: 'Was machen die Freiräume aus, die wir innerhalb des Systems haben und die es uns ermöglichen, etwas zu tun?' Der Begriff des Freiraums führt uns zu dem historisch Möglichen. D.h., wir können nur das tun, was unter den jeweiligen historischen Bedingungen möglich ist und nicht, was wir vielleicht gern tun möchten.“[8]
2 Kurze Einführung in die pädagogischen Theorien Deweys und Freires
Kurze Einführung in die pädagogischen Theorien Deweys und Freires
2.1 John Dewey: Demokratie und Erziehung
Dewey hat ein äußerst umfangreiches Werk hinterlassen, das weit über die Erziehungsphilosophie hinausgeht und detaillierte Abhandlungen etwa zur Erkenntnistheorie, Logik, Ethik und vielen anderen philosophischen Bereichen liefert. Brand Blanshard, ein Schüler Deweys, beschreibt Deweys Werk so:
„Dewey entwickelte seine Theorie vom Denken als im Wesentlichen praktisch zu einem umfassenden System. Diese Theorie erschien in seinem erzieherischen Werk als eine Verteidigung des Lernens durch Tun, in seiner Ethik als eine Lehre vom Wachstum als Ziel, in seiner Religionsphilosophie in Gestalt einer Interpretation des Glaubens als Hingabe an weitreichende Ziele, in der Geschichte der Philosophie als eine Abwertung der philosophischen Tradition der Griechen.“[9]
Dewey hat sein (erwachsenes) Leben lang geschrieben und war dabei äußerst produktiv. Die Gesamtausgabe seines Werkes umfasst 37 Bände. Verständlicherweise kann sich die vorliegende Arbeit nicht mit diesem umfang- und inhaltsreichen Gesamtwerk auseinandersetzen, sondern muss Schwerpunkte setzen. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf Deweys 1916 erschienenem pädagogischen Hauptwerk Demokratie und Erziehung [10] liegen, in dem er sich nicht nur der Erziehungsphilosophie widmet, sondern auch viele andere bis dahin erarbeitete Aspekte seiner Philosophie darlegt. Dewey selbst „ [empfand] dieses Buch als das bedeutendste seiner ersten Jahrzehnte”[11]. Neben diesem werden wir uns natürlich auch mit einigen anderen seiner Veröffentlichungen beschäftigen, die mit den Themen von Demokratie und Erziehung eng verwoben sind. Bevor wir uns aber dem Schaffen Deweys zuwenden, können wir einen kurzen Blick auf sein Leben werfen.
2.1.1 Kurzbiografie und ideengeschichtliche Ursprünge
Deweys Leben erscheint weit weniger außergewöhnlich und abenteuerlich, als etwa das Paulo Freires (wie wir sehen werden). Unter Umständen ermöglichte ihm gerade diese Tatsache, sich ganz auf sein akademisches Wirken, die Lehrtätigkeit und seine Veröffentlichungen zu konzentrieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Dewey in den 1940er Jahren. Fotografie der Morris Library, Southern Illinois University at Carbondale. In: Westbrook (1991), innerer Umschlag.
John Dewey wird am 20. Oktober 1859 in der Kleinstadt Burlington, Vermont, im Osten der USA geboren. Sein Vater Archibald, der bei Johns Geburt bereits 50 Jahre alt ist, besitzt einen Lebensmittel- und Kolonialwarenhandel, einen umgänglichen Charakter und einen trockenen Humor sowie eine Vorliebe für klassische Literatur. Als 1861 der Bürgerkrieg ausbricht, meldet er sich als Freiwilliger Abraham Lincolns und kehrt erst 1867 wieder nach Burlington und zu seinem Geschäft zurück. Deweys Mutter Lucina ist tief religiös und glaubt als Mitglied der First Congregational Church daran, dass nur ein ausgewählter Teil der Menschheit für seine Errettung durch Jesus Christus bestimmt ist. In diesem Sinne erzieht sie auch John und seine Brüder Davis und Charles, indem sie sich etwa beständig von ihnen versichern lässt, ob sie auch „right with Jesus” seien.[12]
„The effect of this relentless maternal solicitude, according to Dewey, was 'to induce in us a sense of guilt and at the same time irritation because of the triviality of the occasions on which she questioned us.' Under his mother's watchful eye, Dewey grew to be a shy and self-conscious young man, and a certain diffidence was to be a permanent feature of his character.“ (Westbrook 1991, S.3)
Zu dieser Schüchternheit oder Introvertiertheit könnte möglicherweise noch ein weiterer Umstand beigetragen haben: Das erste Kind der Deweys, Archibald John, kommt im Alter von knapp 3 Jahren bei einem tragischem Unfall ums Leben. Nachdem das Kind in eine Wanne heißen Wassers gefallen war, fangen die zur Linderung der Verbrennungen auf die Haut aufgetragenen Wattebäusche und Öle durch einen unglücklichen Umstand Feuer. Der Sohn stirbt noch in der selben Nacht. Rund neun Monate später kommt ein weiteres Kind zur Welt, das den Namen des verstorbenen Jungen erhält – „unser” John. Riggenmann vermutet, dass sich die Trauer und Schuldgefühle der Mutter während der Schwangerschaft auch auf den heranwachsenden Fötus solcherart ausgewirkt haben könnten, dass sie zur Ausbildung eines introvertierten Charakter beitrugen. (vgl. 2006, S.27)
Dewey besucht eine Grundschule, deren Struktur zwar gerade im Umbruch begriffen ist, deren Unterrichtsstil aber immer noch traditionell, „ mostly dull and uninspiring” (ebd., S.29) ist. John ist trotzdem ein guter Schüler, er darf insgesamt zwei Jahrgänge überspringen und schließt die grade school mit 12 Jahren ab. Riggenmann vermerkt, dass Deweys Erziehung und Bildung zu einem guten Teil nicht in der Schule stattfindet, sondern vielmehr durch seine Vorliebe für Bücher und die häufigen Besuche der öffentlichen Bibliothek, aber auch durch frühe erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sowie die zahlreichen und langen Aufenthalte in freier Natur. Dies ist prägend für sein späteres pädagogisches Konzept.
„The realization that the most important parts of his own education until he entered college were obtained outside the school-room played a large role in his educational work, in which such importance is attached, both in theory and in practice, to occupational activities as the most effective approaches to genuine learning and to personal intellectual discipline.” (Lewis Hahn, zit. in Riggenmann 2006, S.30f.)
Nach der High School besucht Dewey das College in Burlington. Auch wenn diese Hochschule mit ihren gerade einmal acht Dozenten kaum den Namen „Universität” verdient – zumindest nicht nach heutigen Maßstäben –, gilt die University of Vermont doch als „ one of the finest institutions of higher learning in New England” (Westbrook 1991, S.5). Unterschiedliche Studienrichtungen gibt es allerdings noch nicht, für alle Studierenden sind alle Fächer vorgesehen: von Alt-Griechisch und Latein über alte Geschichte, Philosophie, Ethik, Recht, Ökonomie und Psychologie, Mathematik bis zu naturwissenschaftlichen Fächern wie Geologie oder Biologie (vgl. ebd.; sowie Suhr 2005, S.11).
Mit 20 Jahren schließt John sein Studium ab und unterrichtet die nächsten 3 Jahren zunächst an einer High-School in South Oil City, Pennsylvania und dann an der village school einer Burlingtoner Nachbargemeinde (vgl. v.a. Riggenmann 2006, S.34). Sein Interesse für Philosophie, das in der College-Zeit geweckt wurde, verfolgt Dewey aber weiter. Und so schickt er schließlich einen Artikel an die Zeitschrift Speculative Philosophy, mit der Bitte, ihm mitzuteilen, „ ob es sich lohne, weiter seine Zeit für 'that sort of subject' zu verwenden.” (ebd.) Er erhält eine positive Antwort vom Herausgeber der Zeitschrift und sein Artikel wird veröffentlicht. So entschließt sich Dewey 1882, die graduate studies in Philosophie in Baltimore aufzunehmen. Zwei Jahre später dissertiert er mit einer Arbeit über „Kant's Psychology”.
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Abb. 2: Dewey an der University of Michigan, 1894. Fotografie der Bentley Historical Library, University of Michigan. In: Westbrook (1991), S.10.
Mit der Berufung an die University of Michigan in Ann Arbor als instructor of philosophy beginnt 1884 seine Laufbahn in der (Universitäts-)Lehre. Dieser wird er die nächsten sechs Jahrzehnte seines Lebens treu bleiben. Die Hauptstationen seines Wirkens werden dabei Michigan, dann Chicago und schließlich New York sein (vgl. Westbrook 1991). Ab diesem Zeitpunkt liest sich so manche Biografie Deweys als Bibliografie. Sein Leben – so weit es für den Biografen eines Philosophen interessant ist – scheint sich ganz um sein Schreiben zu drehen, sieht man einmal von zwei weiteren Elementen ab. Beim ersten handelt es sich um familiäre Ereignisse, die Dewey stark beeinflusst haben: die Heirat mit Alice und die Geburt und die Entwicklung seiner insgesamt sechs (bzw. neun, s.u.) Kinder. Das andere, besonders erwähnenswerte Element ist sein starkes soziales und politisches Engagement, das zum ersten Mal während der Zeit in Chicago manifest wird. Diese Elemente verflechten sich mit seinem akademischen Wirken und seiner theoretischen Entwicklung.
Bereits während seiner graduate studies in Baltimore beschäftigt sich Dewey ausführlich mit der deutschen Philosophie, vermittelt durch seinen Professor George Morris. Unter dessen Einfluss „ entwickelte Dewey die Idee einer intermediären Logik, die weder rein formal war noch eine reale Logik der Dinge, sondern eine Logik der Prozesse, durch die Erkenntnis erlangt wird” (Suhr 2005, S.13). Dewey macht sich den Idealismus Hegels zu eigen, um damit seinen Standpunkt als liberal Protestant zu verteidigen, um also das Vorhandensein eines Absoluten logisch zu beweisen. Er versucht die Kluft zwischen Religion und empirischer Wissenschaft zu überbrücken (vgl. Westbrook 1991, S.15-22). Dabei wendet er sich etwa der gerade aktuellen new psychology zu, die – aus Deutschland kommend – vor allem von William James und G. Stanley Hall vertreten wird und die versucht, dem menschlichen Geist und Bewusstsein durch physiologische Experimente nachzuspüren. In der 1887 erschienenen Psychology [13] versucht Dewey darzulegen, wie sich in diesen Experimenten das universal consciousness, das universelle Bewusstsein, im individuellen Bewusstsein manifestiert. Dieser Aufsatz Deweys kann jedoch, wie Westbrook festhält, nicht überzeugen. Weder bewegt er Neu-Hegelianer dazu, sich für empirische Psychologie zu interessieren, noch kann er Empiriker von der Existenz eines universal consciousness überzeugen (vgl. 1991, S.27-29). Es wird aber noch einige Zeit dauern, bis sich Dewey von der streng idealistischen „ Vorstellung des konstitutiven Geistes” löst und sich einer, stark von James beeinflussten „ Vorstellung von der Vermittlungsfunktion des Geistes zwischen angeborenen Impulsen und den Konsequenzen ihrer Operation” (Suhr 2005, S.13) zuwendet[14]. In der Zwischenzeit widmet sich Dewey der Ethik, einem Bereich, der für den absoluten Idealisten fruchtbarer scheint (vgl. Westbrook 1991, S.29-32).
Insgesamt kann Hegel sicherlich als einer der wichtigsten philosophischen Einflüsse auf Dewey genannt werden. In seinen eigenen Worten:
„Nichtsdestoweniger würde ich nicht im Traum daran denken zu verkennen, geschweige denn zu bestreiten, worauf scharfsinnige Kritiker dann und wann als neueste Entdeckung verweisen – dass die Bekanntschaft mit Hegel einen dauernden Eindruck in meinem Denken hinterlassen hat. Die Form, der Schematismus seines Systems erscheint mir jetzt höchst künstlich; aber im Inhalt seiner Ideen liegt oft eine außergewöhnliche Tiefe und in vielen seiner Analysen, wenn sie nur aus ihrem mechanischen dialektischen Rahmen herausgelöst werden, ein außergewöhnlicher Scharfsinn. Könnte ich überhaupt Anhänger irgendeines Systems sein, würde ich immer noch glauben, dass es bei Hegel einen größeren Reichtum und eine größere Vielfalt an Einsicht gibt als bei jedem anderen systematischen Philosophen – obwohl ich, wenn ich dies sage, Platon ausnehme, der immer noch meine philosophische Lieblingslektüre darstellt.“ (Suhr 2005, S.12f)
Die Entscheidung, dem Ruf an die Michigan University zu folgen, hat für Dewey auch eine entscheidende persönliche Auswirkung. Alice Chipman studiert bereits seit zwei Jahren in Ann Arbor, als Dewey beginnt, dort zu unterrichten. An einem seiner ersten Psychologie-Seminare nimmt sie teil und muss wohl „ the warmth beneath the cool exterior of the young professor” (Westbrook 1991, S.35) gespürt haben. Zwei Jahre später, 1886, heiraten sie. Alice, die Enkelin des bekannten Indianerrechtlers Fred Riggs, dürfte John wesentlich beeinflusst haben, unter anderem, indem sie seinen Willen zum sozialen Engagement wachküsst[15].
„Many observers commented on Alice Dewey's keen intelligence and the breadth and intensity of her social concern. Women who visited the Dewey home, [...] were particularly impressed by her [...]. One visitor [...] wrote her husband that 'she helps me to think of life, real activities, more than the subjectivities of my own communings with self.' Alice had much the same effect on Dewey, who credited her with putting 'guts and stuffing' into his work. With the exception of a few issues such as educational reform and feminism, her influence is difficult to pinpoint, but it was no coincidence that Dewey's immersion in politics and social reform followed close upon his marriage.“ (Westbrook 1991, S.35)
Unter Alices und T. H. Greens Einfluss, und immer noch im Rahmen eines absoluten Idealismus, beschäftigt sich Dewey mit der Ethik der Demokratie und beginnt so, sich mehr down-to-earth -Themen[16] anzunähern. Aus dieser Zeit stammen etwa die Veröffentlichungen The Ethics of Democracy (1888) und Christianity and Democracy (1892). (vgl. Westbrook, S.34-51) 1888 geht Dewey an die Universität in Minnesota. Ein Jahr später kehrt er jedoch schon wieder nach Ann Arbor zurück und tritt die Nachfolge des früh verstorbenen Morris, seines früheren Professors aus Baltimore, als Leiter des Psychologie-Instituts an. 1894 wird er schließlich, auf Betreiben eines früheren Kollegen aus Michigan, an die kürzlich gegründete Universität in Chicago berufen. Im Verlauf der 1890er-Jahre vollzieht sich schließlich die oben angesprochene Wendung Deweys vom Idealismus zu dem, was letztendlich in den Pragmatismus mündet, für den er noch heute bekannt ist (vgl. etwa Westbrook 1991, S.60). Diese Entwicklung vollzieht sich unter dem Eindruck seiner eigenen gedanklichen Fortschritte im Bereich der Erkenntnistheorie, und zwar indem er die von James vorgelegte Reflexbogentheorie übernimmt und weiterentwickelt. Um auch Deweys gedankliche Entwicklung zu illustrieren, möchte ich seine Überlegungen hier kurz erläutern:
James' Theorie beschreibt den Erkenntnis- bzw. Reaktionsakt so, dass ein peripherer Reiz (Empfindung) zu einer zentralen Aktivität (Idee) führt, was wiederum zu einer motorischen Reaktion (Akt) führt. Bei Dewey wird daraus ein "Schaltkreis" der Koordination, in dem Reiz und Reaktion ineinander übergehen. Die Reaktion selbst ist wiederum ein neuer Reiz und „ nur die angenommene gemeinsame Beziehung auf ein umfassendes Ziel [...] [kennzeichnet] jedes Glied entweder als Reiz oder als Reaktion “ (Dewey 1896, zit. nach Suhr 2005, S.37). Diese Erkenntnisse liefern die Grundlage für Deweys weitere Entwicklung des Begriffs der Erfahrung, dem in seinem Lebenswerk eine bedeutende Rolle zukommt (vgl. ebd., S.33-81). Wir werden darauf noch zurückkommen.
Westbrook zeigt, dass Deweys Abwendung vom Idealismus auch dazu führt, dass religiöse Elemente aus seiner Philosophie und Demokratietheorie verschwinden: „ As he chased the Absolute from his philosophy, he also stripped his social theory of all metaphysical and religious guarantees of progress toward his democratic ideals.” (Westbrook 1991, S.79)
Während Dewey diesen langsamen geistigen Wandel zu neuen Ideen vollzieht, ist auch sein Familienleben von Neuankömmlingen geprägt. Als John und Alice 1894 nach Chicago ziehen, haben sie bereits drei Kinder zwischen 2 und 7 Jahren im Gepäck. Der jüngste Sohn Morris stirbt jedoch ein Jahr später während eines Italien-Urlaubs. In den Jahren 1896 bis 1900 wächst die Familie um drei weitere Kinder an. Nur vier Jahre später, zu einem Zeitpunkt, an dem die Übersiedlung nach New York kurz bevorsteht, stirbt ein zweiter Sohn, bei einem Aufenthalt in Irland, 8-jährig.[17] „ Alice and John were both traumatized by the deaths of Morris and Gordon and may never have completely recovered from the experiences” (Simpson 2006, S.10). Möglicherweise aus diesen Verlusten heraus adoptieren die Deweys 1905 einen italienischen Jungen namens Sabino, den sie bei einem Urlaub in Venedig kennen gelernt hatten. (vgl. ebd., S.12; Westbrook 1991, S.12f)
Aber auch abgesehen von den Schicksalschlägen, beeinflussen Fred, Evelyn, Morris, Gordon, Lucy, Jane und Sabino Deweys Leben und seine Arbeiten in beträchtlichem Maße. Besonders während der Chicagoer Jahre fließen seine Beobachtungen der heranwachsenden Kinder in seine theoretischen Überlegungen zur kindlichen Entwicklung und zur Erziehung ein. (vgl. Simpson 2006, S.9f)
Neben dem Familienleben und den akademischen Arbeiten findet Dewey in Chicago noch einen weiteren Tätigkeitsbereich, für den diese „ rapidly changing multiracial and ethnic city” (Simpson 2006, S.10) keinen besseren Unter- und Hintergrund bieten könnte: sein politisches und soziales Engagement.
„The city had the numerous challenges that an early twentieth-century urban setting did in those days, especially where there were great economic and educational disparities. Social, economic, and employment problems were significant if not critical. Thus, the city became his laboratory for the study of social, political, and economic quanderies. Dewey created the University Elementary School in 1896 [...] to study the learning and thinking of children.“ (ebd.)
Diese Schule wird auch als Laboratory School oder einfach Dewey School bekannt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Geografie-Unterricht in Deweys Laboratory School (Jahr und Urheber unbekannt). Online verfügbar unter: http://www.lib.uchicago.edu/projects/centcat/centcats/fac/images/faculty_img19_sml.jpg.
Der Unterricht konzentriert sich auf sogenannte occupations, die als Klassenprojekte durchgeführt werden. Diese Projekte gehen von einfachen, häuslichen Tätigkeiten für die 4- bis 5-jährigen (Kochen, Nähen, Tischlern), dem Errichten eines Modellbauernhofes über die Untersuchung und angreifbare Nachstellung verschiedener historischer Epochen bis zu natur- und sozialwissenschaftlichen oder künstlerischen Experimenten der älteren (ab 10-jährigen) Schüler, etwa zu Anatomie, Elektro-Magnetismus, Wirtschaft und Fotografie. Die klassischen Lerninhalte wie Lesen, Schreiben und Mathematik werden dabei strikt als Hilfsmittel angesehen. Die Kinder eignen sich diese Fähigkeiten nach und nach immer dann an, wenn sie merken, dass sie für ihre konkreten Tätigkeiten nützlich und hilfreich waren (vgl. Westbrook 1991, S.101-104).
Aus den Erfahrungen an der Laboratory School und Deweys Reflexionen darüber entstehen The School and Society (1899) und The Child and the Curriculum (1902), die nur zwei Beispiele einer Vielzahl von Veröffentlichungen dieser Jahre darstellen.
Deweys praktische Erfahrungen beschränken sich allerdings nicht nur auf die Erkenntnisse aus seiner Schule. Eine Begegnung, die ihn in politischer Hinsicht beeinflussen sollte, ist die mit Jane Addams. 1889 hatte Addams, gemeinsam mit ihrer engen Freundin Ellen Gates Starr das Hull House in einem der Armen- und Migrantenbezirke Chicagos gegründet. Nach dem Vorbild der settlement houses, die bereits in anderen Städten ins Leben gerufen worden waren, soll das Haus als offenes Zentrum der praktischen und theoretischen Beförderung der Sozialreformen dienen. Es ist Nachbarschaftszentrum, Kinderhort, Apotheke, Wohnheim, Kunstgalerie, Musikschule und beherbergt eine Vielzahl von Clubs und Kursen. Es ist Treffpunkt für ArbeiterInnen und Intellektuelle und Schmiede von sozialreformerischen und politischen Gedanken. Auch Dewey ist im Hull House kein Unbekannter, was auch seiner eigenen Entwicklung zu Gute kommt. (vgl. Riggenmann 2006, S.50f)
„In Hull House war Dewey [...] den aufregendsten politischen Gedanken seiner Zeit 'ausgesetzt'. Diese 'exposure' gegenüber Reformerinnen wie Jane Addams brachte ihn dazu, sich in ein großes Spektrum von Reformaktivitäten einzubringen und alle Ansätze, die er wichtig fand, zu unterstützen, auch wenn sie unpopulär waren. Diese Jahre, in denen er im Hull House mitarbeitete, Kurse und Vorträge hielt und auch Mitglied des Vorstands war, markieren 'the birth of Dewey the political man'[...]: Er wurde zu der Persönlichkeit, auf die man in Komitees zur Befreiung politischer Gefangener zählen konnte, zu dem Prominenten, der Radikale für den Nobelpreis vorschlug, Kampagnen für akademische Freiheit startete und sich in ein breites Spektrum politischer Themata einbrachte, von 'Kirche und Staat in Mexiko' bis zur ethischen Beurteilung von Tierversuchen. Sein Interesse verlagerte sich vom Spekulativen zum Aktiven, so wie philosophisch aus dem idealistischen Neo-Hegelianer ein Pragmatiker geworden war.” (ebd.)
Nach schon länger andauernden Konflikten mit dem Präsidenten der Chicago University, die sich 1904 auch in der Kündigung Alice Deweys als Leiterin der Laboratory School äußern, gibt John seine Arbeit an der Chicago University auf (vgl. Westbrook 1991, S.111-113). Kurze Zeit später erhält er ein Angebot, an die Columbia University nach New York zu gehen, wo er im Februar 1905 die Arbeit im Philosophy Department und nebenbei als Lehrender im Teachers College antritt. „ Columbia provided him with an opening to return to full-time research and teaching, and he was pleased to leave behind the administrative duties of his department and the Laboratory School that consumed much of his attention in Chicago.” (Simpson 2006, S.12)
Gleichzeitig gibt Dewey mit der Laboratory School aber auch das auf, was in seinem Leben die einzige Gelegenheit zur umfangreichen praktischen Umsetzung seiner pädagogischen Ideen sein sollte (vgl. Westbrook 1991, S.113).
Ab diesem Zeitpunkt widmet er sich wieder ganz der theoretischen Arbeit an erzieherischen, aber auch und vor allem an philosophischen Themen. So beschäftigt er sich etwa mit dem Wissen, Denken und Verhalten (etwa in How We Think 1910 oder Human Nature and Conduct 1922), er entwickelt den – bereits angesprochenen – Begriff der Erfahrung weiter (Experience and Nature 1925, Experience and Education 1938), setzt sich mit Wahrheit und Wirklichkeit (The Quest for Certainty 1929), mit Logik (Essays in Experimental Logic 1916 oder Logic: The Theory of Inquiry 1938) und Moral und Ethik (Ethics 1932) auseinander . Die Demokratie und Demokratietheorie bleibt zeitlebens ein wesentliches Thema für Dewey, und er schreibt ausführlich über gesellschaftliche und gesellschaftstheoretische Belange (etwa German Philosophy and Politics 1915, The Public and Its Problems 1927, Liberalism and Social Action 1935 oder Freedom and Culture 1939). Aber natürlich beschäftigt sich Dewey auch weiterhin mit den Themen der Erziehung, wie zahlreiche Publikationen belegen, von denen wir nur eine Auswahl nennen können: Moral Principles in Education (1909), Schools of To-Morrow ( 1915), Democracy and Education (1916), das – wie gesagt – als eines seiner Hauptwerke und als das pädagogische Werk Deweys angesehen werden kann. In ihm eröffnen sich der/m LeserIn Deweys Begriff der Erfahrung genauso wie seine demokratie- und gesellschaftstheoretischen Analysen und seine Gedanken zur Erziehung und vereinigen sich zu einem demokratischen Credo. Weitere pädagogische Veröffentlichungen beinhalten The Sources of a Science of Education (1929), The Way Out of Educational Confusion (1931) und Education and the Social Order (1934).
Neben diesen Hauptthemen seines Interesses veröffentlicht Dewey – in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens – auch ein Buch zu seinen religiösen Ansichten (A Common Faith 1934) sowie zur Ästhetik (Art as Experience 1934). Außerdem schreibt er ungefähr 100 Gedichte, wahrscheinlich zwischen 1910 und 1918, die posthum als The Poems of John Dewey 1977 herausgegeben werden. (vgl. Simpson 2006, S.14).
John Dewey beschäftigte sich also mit einem weiten Kreis von Themen, vor allem rund um Philosophie und Erziehung. Simpson weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
„[...] Dewey did not divide his thinking into discrete realms, i.e., education and philosophy. His flow of thought moved easily and frequently from one topic to another because they were, in his mind, overlapping pieces of the same intellectual cloth. Philosophy and education, therefore, frequently commingle in his writings [...].“ (2006, S.14)
Wenden wir uns – fast schon gegen Ende dieser biografischen Betrachtungen – noch einer, nicht uninteressanten Frage zu. Abgesehen von den bereits erwähnten Hegel und James, von Deweys Familienleben, den Erfahrungen in der Laboratory School, seinem sozialen und politischen Engagement und den starken Frauen in seinem Leben (vgl. dazu Riggenmann 2006, S.24-65), wer und was hatte noch Einfluss auf dieses so umfangreiche Werk Deweys? Riggenmann zitiert dazu A.H. Johnson mit folgender Liste: die klassischen Philosophen Plato und Aristoteles sowie Bacon und Spinoza, der Empirist Locke (hier wäre ev. noch Hume hinzuzufügen, vgl. Suhr 2005, S.60-62) , Kant, Hegel (die ja bereits erwähnt wurden); der Utilitarist John Stuart Mill und der Darwinist Herbert Spencer, Rudolf Hermann Lotze [18], die Pädagogen Rousseau, Froebel und Pestalozzi [19] und der auch schon erwähnte James sowie Bergson, der mit seiner Version einer Wahrnehmungstheorie ebenfalls auf Dewey wirkte (vgl. Riggenmann 2006, S.112). Es scheint ja fast so, als gäbe es keine/n bedeutende/n oder auch nur bekannte/n Philosophen/in oder Pädagogen/in aus Europa und den USA, den/die Dewey nicht irgendwann zumindest erwähnt. Die zitierte Liste kann also nur als strenge Auswahl der allerwichtigsten Einflüsse auf Dewey verstanden werden. Nach Durchsicht der vorliegenden Biografien schlage ich für diese Top-Liste außerdem noch Darwin vor, dessen Evolutionsbiologie Deweys Entwicklung eines Instrumentalismus stark beeinflusst haben dürfte (vgl. Suhr 2005, S.19; Rorty 2000[20] ; auch Westbrook 1991, S.2) und der in obige Liste nur über die Vermittlung Spencers Eingang gefunden hat. Als zweiter Top-Kandidat erscheint mir Herbart, von dessen „ pädagogische[r] Systematik [...] auch Dewey quasi als 'state of the art' ausging. Als Mitglied der 'National Herbart Society' veroffentlichte [sic] Dewey in deren Jahrbüchern wichtige Aufsätze wie 'Ethical Principles Underlying Education' (1897).” (Riggenmann 2006, S.111). Herbart wird auch in Demokratie und Erziehung von Dewey einigermaßen detailreich besprochen (DE, S.99ff). Damit, denke ich, können wir diese Liste der Top-Einflüsse auf Dewey – wie gesagt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – abschließen.
Bleiben noch einige biographische Daten zu erwähnen: Deweys politisches Interesse hatte zwar den so fruchtbaren Boden Chicagos verloren, war aber keineswegs erloschen:
„Er war an der Gründung der ersten Lehrergewerkschaft sowie der American Association of University Professors beteiligt, letzterer diente er als erster Präsident. 1918 machte er Vorlesungsreisen nach Japan und China, 1924 in die Türkei, 1926 nach Mexiko, 1928 nach Russland, über das er sehr verständnisvolle Artikel verfasste, was ihm bei den Rechten den Ruf einbrachte, ein Bolschewik zu sein. Aufgrund seiner Besuche in Russland wurde er Mitglied der 'Commission of Inquiry into the Charges Against Leon Trotsky at the Moscow Trial' (Kommission zur Untersuchung der Vorwürfe gegen Trotzki bei den Moskauer Prozessen). Das Ergebnis, 'Nicht schuldig', führte dazu, dass er von der Linken als Reaktionär und Trotzkist verfemt wurde. In Wirklichkeit war Dewey ein Liberaler – im amerikanischen Sinne des Wortes[21].“ (Suhr 2005, S.17)
1930 tritt Dewey 70-jährig formal seine Pension an, bleibt aber noch weitere 10 Jahre an der Columbia University. Und auch nach seiner endgültigen Emeritierung 1939 wird Dewey des Schreibens nicht müde und veröffentlicht weiter, hauptsächlich Aufsätze, und 1949 Knowing and the Known.
Alice Dewey war schon 1927 an Arteriosklerose gestorben. Mit 87 Jahren heiratet Dewey ein weiteres Mal und gemeinsam mit seiner zweiten Frau Roberta adoptiert er noch zwei Kinder, John und Adrienne, die zwar „ came too late to significantly impact his [Dewey's, Anm. ] educational philosophy” – so wie es seine früheren Kinder getan hatten –, aber „ not too late for him to demonstrate his ongoing love for life and children.” (Simpson 2006, S.4)
Am 2. Juni 1952 verstirbt John Dewey im hohen Alter von 92 Jahren in New York City.
2.1.2 Deweys Werk und seine Problemstellungen
Wenn wir uns im Folgenden einen Überblick über Deweys Werk und seine – praktischen und theoretischen – Problemstellungen verschaffen werden, so möchte ich darauf hinweisen, dass es dabei aufgrund der hier notwendigen Kürze nicht möglich sein wird, auf die einzelnen Entwicklungsstufen von Deweys Denken einzugehen. Diese wurden – zumindest im Groben – ja bereits in den biografischen Betrachtungen dargelegt. Hier soll nun ein retrospektiver Gesamtüberblick, eine „overall”-Beschau von Deweys Werk versucht werden, mit besonderem Augenmerk für Demokratie und Erziehung, das ich als Ankerpunkt zumindest seiner pädagogischen Philosophie verstehe.
In freier Anlehnung an Bohnsack (2003)[22] können wir als wichtigste drei Elemente von Deweys Schaffen festhalten: (1) seinen Begriff der Erfahrung (experience) , (2) seine Demokratietheorie in politischer Philosophie und v.a. auch in der Erziehung und schließlich (3) seine Schul - und Lerntheorie. Als erstes möchte ich auf sein wissenschafts- und erkenntnistheoretisches Programm eingehen, das uns zum zentralen Begriff der Erfahrung führen wird.
2.1.2.1 Erkenntnistheorie: Der Begriff der Erfahrung
Nach der Aufgabe eines absoluten Idealismus reiht sich Dewey in die Vertreter der vermutlich ersten originär amerikanischen Philosophie[23], des Pragmatismus[24], ein. Dabei trägt er durchaus auch zur Weiterentwicklung desselben bei, wie etwa Hans Joas beschreibt: „ Philosophisch hatte Dewey aus den Kernideen des von Charles Sanders Peirce und William James begründeten Pragmatismus und aus einer spezifischen amerikanischen Variante des Neohegelianismus ein umfassendes philosophisches Programm entwickelt, das sich in vielen akademischen Disziplinen als wirkungsmächtig erwies.” (2000, S.7) James Kloppenberg sieht Dewey dabei als einen Philosophen „ zwischen Idealismus und Empirismus” (zit. nach Rorty 2000, S.20).
Was ist nun das Neue an diesem Pragmatismus, den Dewey vertrat? Als einer der wesentlichen Punkte in Antwort auf diese Frage sei die Durchbrechung von klassischen Dualismen genannt, um die sich Dewey bemüht. Wie lässt sich jedoch diese Aussage belegen, wenn zwar in einigen Biografien und Werken der Sekundärliteratur mehr oder weniger deutlich auf dieses „Prinzip der Stetigkeit (continuity)” Deweys hingewiesen wird (vgl. Suhr 2005, Breault 2003[25], Fishman/McCarthy 2007[26] ), wenn dieses sich jedoch in anderen nur am Rande oder gar nicht erwähnt findet (Westbrook 1991, Simpson 2006, Bohnsack 2003)?
In Demokratie und Erziehung ist der Stetigkeit der Großteil des Kapitels zu Erkenntnistheorie gewidmet; das Kapitel zur Philosophie (der Erziehung) ist ebenfalls von Deweys „Kampf” gegen Dualismen geprägt (vgl. beispielhaft DE, S.414-416). Und auch in seinen ausführlichen Abhandlungen zu Erziehung beschreibt Dewey, wie viele Schwierigkeiten und Probleme der Bildungsinstitutionen den Dualismen der klassischen Philosophie seit den Griechen entstammen. Sein Gegenentwurf sieht eine Pädagogik vor, die von diesen Dichotomien – wie etwa Geist/Körper, Subjekt/Objekt, Theorie/Praxis, Intellekt/Gefühl u.a.m. – befreit ist. Es ist also für zwei der drei oben aufgezählten zentralen Elemente von Deweys Schaffen – nämlich für den Begriff der Erfahrung und seine Schul- und Lerntheorie – das Prinzip der Stetigkeit wesentlicher Bestandteil von Deweys Gedanken. Aus diesem Grund möchte ich mich Suhr anschließen, wenn er nicht nur die Stetigkeit als das „ grundlegende[...] Prinzip der Erfahrung überhaupt” (2005, S.103) bezeichnet, sondern insgesamt konstatiert, dass „ gewiss […] kein anderer Autor mit einer solchen Leidenschaft und Sachkenntnis die europäische Philosophie der letzten zweitausend Jahre unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Überwindung des Dualismus von Körper und Geist dargestellt [hat].” (ebd., S.10).
Ich schlage daher das Prinzip der Stetigkeit und den Kampf gegen Dualismen als die theoretische Problemstellung Deweys vor – so wie sein Einsatz für Demokratie und Demokratisierung (wir werden noch dazu kommen) als die praktische Problemstellung Deweys angesehen werden kann.
Wie sieht nun Deweys Erkenntnistheorie – als Alternative zu dualistischen Modellen – aus? Wie Westbrook darlegt (vgl. 1991, S.71-77), verneint Dewey in den 1903 vorgelegten Studies in Logical Theory [27] die Vorstellung, dass die Dinge und das Denken gänzlich unabhängig voneinander existierten. Er meint, dass „ thought could not develop out of any sort of bare existences, indeed, that there could be any such thing as ' mere existence'. [...] [R]eflective thought grows organically out of an experience which is already organized, and that it functions within such an organism. ' [28] ” (ebd., S.74) Damit kritisiert er, wie Westbrook zeigt, nicht nur einen Realismus, der meint, wir erkennen die Dinge so wie sie tatsächlich sind, sondern auch einen Idealismus, der annimmt, dass wir die Dinge derart und in dem Umfang erkennen, wie sie schon als abstrakte Vorstellungen bestehen. Beide, so wie die klassische Philosophie überhaupt, gehen dabei – so Dewey – von einer irrigen Vorstellung der Erfahrung aus. Durch eine übermäßige Konzentration auf die Erkenntnislehre verstünden sie „ experience as strictly a 'knowledge-affair' in which knowing subjects were set apart from an objective world they attempted to know” (ebd., S.125). Für Dewey sei Erfahrung demgegenüber
„[...] not, ubiquitously, a knowledge-affair but rather 'an affair of the intercourse of a living being with its physical and social environment', in which that living being [is], in the first instance, not a knower but an 'agent-patient, doer, sufferer, and enjoyer'.“ (ebd., S.126)[29]
Dewey lehnt die Vorstellung ab, es gebe eine objektive Realität, die es zu erkennen gelte. Wie Westbrook nachzeichnet, sind Deweys Objekte der Erkenntnis[30] nicht, wie für die Realisten, die „rohen Existenzen” („brute existences”). Diese seien das Mittel zur Erkenntnis, aber nicht deren Objekte. Sie würden im Prozess der Untersuchung (inquiry) als Zeichen interpretiert, Zeichen, die der Schlussfolgerung dienen. Das eigentliche Objekt der Erkenntnis seien dann auch nicht diese Rohdaten, sondern die Hypothesen, die uns diese Daten aufstellen und überprüfen lassen (vgl. Westbrook 1991, S.129). Warum ist diese Unterscheidung wichtig? Dies dürfte – wenn ich Westbrook richtig interpretiere – daran liegen, dass für Dewey Denken und Erkennen, also die Erfahrung, immer zielgerichtet ist. Ihr Zweck ist die Anpassung an die Welt bzw. die Anpassung der Welt an die Bedürfnisse des Individuums (vgl. DE, S.71f, 433; sowie Blanshard, zit. in Suhr, S.19). „ [T]he object of knowledge […] [is] a truth [31] that worked successfully to transform a problematic situation.” (Westbrook 1991, S.129)
Suhr führt – im logischen Anschluss daran – aus, dass für Dewey Erfahrung keine rein psychische, subjektive Handlung ist, sondern: „ Was aus der Erfahrung selbst hervorgeht, ist eine wahrhaft objektive Welt, die in das Handeln und Leiden von Menschen eingeht und durch ihre Reaktionen Veränderungen erfährt.” „ [...]. In der Erfahrung sind die subjektive und die objektive Seite eins.” (2005, S.59)
Um diesen entscheidenden und doch nicht ganz leicht zugänglichen Punkt in Deweys Philosophie noch etwas auszuleuchten, möchte ich Dewey selbst in einiger Ausführlichkeit zu Wort kommen lassen, wenn er in Demokratie und Erziehung die Erkenntnistheorie thematisiert.[32] Seine Ausführungen in diesem Werk weisen durchgängig einen pädagogischen Anstrich auf, eine Orientierung auf die Erziehung hin. Das hindert ihn jedoch nicht daran, sein philosophisches Programm darzulegen, und liefert uns vielleicht sogar eine größere Anschaulichkeit, eine bessere Illustration seiner Ideen:
Zunächst führt Dewey aus, dass Fortschritte in Physiologie und Psychologie gezeigt haben, dass das Gehirn ein Organ zum Denken und zum Handeln ist. Das Denken verliert damit seine Sonderstellung und wird zu einer unter vielen Verhaltensweisen des Menschen.
„[D]as Gehirn ist das Werkzeug einer beständigen Neugestaltung des menschlichen Tuns im Sinne der Aufrechterhaltung seines Zusammenhanges, d.h. es dient einer solchen Abänderung des zukünftigen Handelns, wie sie durch das frühere Handeln notwendig gemacht wird.“ (DE, S.432)
Sodann argumentiert er, dass die Erkenntnisse aus der Biologie die Stetigkeit der Entwicklung beweisen. Jedes Lebewesen, somit auch der Mensch, sei Teil der Welt. Es teilt
„ihre Unbeständigkeit [der Welt, Anm.] und ihr Schicksal [...] und [kann] sich in seiner misslichen Lage nur dadurch einigermaßen sicherstellen [...], dass es sich geistig mit der Umwelt identifiziert, und in Voraussicht dessen, was in dieser Umwelt geschieht, seine eigene Betätigung passend einrichtet. Wenn das lebende und Erfahrungen machende Wesen aber in die Vorgänge der Welt, zu der es gehört, so stark und fest verwickelt ist, dann ist das Erkennen eine Form der Beteiligung an diesen Vorgängen, wertvoll in dem Grade, in dem es Wirkungen erzielt. Es kann nicht das müßige Zuschauen eines unbeteiligten Beobachters sein.“ (S.433)
Schließlich führt er die experimentelle Methode „ als wissenschaftliches Rüstzeug, als planmäßig angewandtes Mittel der Erkenntnisgewinnung” (S.434) ins Treffen. In ihr wird Erkenntnis nur durch Handeln bestätigt, sie ist die wissenschaftliche Methode des Ausprobierens von Gedanken, und sie geht schließlich davon aus, dass Denken immer von Nutzen ist bzw. sein sollte. In diesem Sinne versteht Dewey auch den Geist:
„Der 'Geist' als ein wirkliches Ding ist genau genommen die Fähigkeit, die Dinge zu verstehen im Hinblick auf deren Gebrauch, der von ihnen in einer Sachlage gemacht wird, an der mehrere beteiligt sind.“ (DE, S.55)
Mit den Erkenntnissen aus Gehirnphysiologie, Psychologie und Biologie und mit einer experimentellen Methode im Rucksack, liefert Dewey also ein Konzept von Erfahrung, das so ziemlich alle gängigen Dualismen hinter sich lässt, allen voran die Trennung „ zwischen Erkennen und Handeln, Theorie und Praxis, zwischen dem Geist als Ziel und Seele allen Tuns und dem Körper als Organ und Mittel desselben “ (DE, S.431). Im Prozess der Erfahrung verneint er die radikale Teilung von Subjekt und Objekt und sieht den Menschen als Teil der Welt.
Damit möchte ich die Besprechung des ersten Punktes der oben eingeführten Top-3-Gedanken Deweys, des Begriffs der Erfahrung nämlich, abschließen. Deweys Demokratietheorie bzw. die Bedeutung, die das Ziel der Demokratie auf sein gesamtes Werk hatte, möchte ich aufgrund seiner besonderen Wichtigkeit für diese Arbeit am Ende vorstellen. Kommen wir damit zunächst zu dem, was ich als drittes wesentliches Element von Deweys Schaffen vorgestellt habe: seine Schul- und Lerntheorie, und – dem vorausgehend – sein Konzept von Erziehung. Ich werde diese drei ineinander übergehenden Bereiche im Folgenden anhand der detaillierten Ausführungen in Demokratie und Erziehung erörtern.
2.1.2.2 Erziehung, Schule und Lernen
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass für Dewey Philosophie und Erziehung zwei unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Sache waren. An die Philosophie auf der einen Seite, die er als „ Wissenschaft der Lebensführung” (DE, S.417) versteht, hat er den Anspruch, dass sie das konkrete menschliche Leben beeinflussen könne und dies auch tatsächlich tue. Die Erziehung auf der anderen Seite sei dabei, so meinte er, „ das Laboratorium, in dem die philosophischen Formulierungen greifbar werden und erprobt werden können “ (DE, S.424). Schließlich fasst er die Beziehung zwischen den beiden Disziplinen so zusammen:
„Philosophie ist die Theorie der Erziehung in ihrer allgemeinsten Gestalt.“ (DE, S.426; vgl. auch S.417, 422-424)
In Demokratie und Erziehung liefert Dewey zwei Definitionen von Erziehung, die aufeinander aufbauen. Einerseits sieht er Erziehung – ganz „pragmatisch”[33] – als entscheidende Aufgabe für den sozialen Fortbestand des (menschlichen) Lebens. Andererseits konstruiert er Erziehung als Tätigkeit, die einzig und allein auf weitere Erziehung, auf weiteres Wachstum abzielt, ohne auf ein letztgültiges Ziel hinzustreben.
Kommen wir zunächst zum ersten Punkt. Als Grund dafür, warum Erziehung für den Fortbestand der Menschheit nötig ist, führt Dewey an, dass wir – mehr als die allermeisten Tiere – als „unfertige” Wesen auf die Welt kommen; und
„die Leistungen der Erwachsenen weit über das hinaus [gehen], wozu die unreifen Mitglieder fähig sein würden, wenn man sie sich selbst überließe. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Kultur erweitert sich die Kluft zwischen den ursprünglichen Fähigkeiten der Unreifen und den Normen und Sitten der Älteren. Bloß körperliches Heranwachsen, bloßer Erwerb des für die Erhaltung des Lebens unmittelbar Notwendigen genügt nicht mehr, um das Leben der Gruppe fortzupflanzen. […] Es ist die Erziehung die diese Kluft überbrückt – und nur die Erziehung.“ (DE, S.17)
Erziehung dient also der Stammessicherung. Dewey führt weiter aus, dass Erziehung nicht immer nur bewusst und absichtlich erfolgt, sondern dass „ der bloße Vorgang des Zusammenlebens erzieht” (DE, S.21). Er unterscheidet demnach systematische von unsystematischer, absichtsvolle von unabsichtlich erfolgender Erziehung und argumentiert, dass beide Formen wichtig sind. Rein systematische Erziehung laufe Gefahr, von der „ außerschulischen Erfahrung völlig abgetrennt” (DE, S.24) zu sein; rein unsystematische Erziehung sei andererseits heutzutage der entscheidenden Aufgabe, eine Vielzahl an Kulturtechniken auf eine plan- und zielvolle Art und Weise an die nächste Generation weiterzugeben, nicht mehr gewachsen. Dewey plädiert also für ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Modi der Erziehung (vgl. DE, S.23-25; 37-39; 42).
Bis zu diesem Punkt erscheint Erziehung als rein statische, mechanische Aufgabe von Wissensübermittlung der Älteren an die Jüngeren. Über diese Vorstellung geht Dewey jedoch in seinem zweiten, wesentlichen Element seines Konzepts hinaus. Er betont, dass die Ausgestaltung der Aufgabe der Erziehung von der jeweiligen Gesellschaftsform und ihren Zielen abhängt und innerhalb einer demokratisch orientierten Gesellschaft durchaus dynamisch und auf Entwicklung ausgelegt sein kann: „ Je nachdem, ob eine Gesellschaft durch Erziehung einen unveränderten Fortbestand erstrebt, oder ob der Wandel zum Besseren selbst als primärer Lebenszweck angesehen wird, ergeben sich unterschiedliche Normen und Methoden für die Erziehung.” (DE, S.113) Dewey vertritt nun klar letzteren Standpunkt, er sieht das Leben als beständige Entwicklung und Wachstum. Dabei sei das Wachstum auf kein bestimmtes letztes Ziel ausgerichtet, sondern das Wachstum selbst sei das Ziel. Erziehung, die unter dieser Vorgabe erfolge, habe das einzige Ziel, das Wachstum zu fördern. Daraus folgert Dewey einerseits, dass auch die Erziehung kein Ziel außer sich selbst habe, und andererseits, dass sie dynamisch sein, sich beständig neu gestalten müsse (vgl. DE, S.75f; vgl. auch Suhr 2005, S.108). Im Anschluss an diese Überlegungen liefert er folgende Definition:
„[...] Erziehung: sie ist diejenige Rekonstruktion und Reorganisation der Erfahrung, die die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit, den Lauf der folgenden Erfahrung zu leiten, vermehrt.“ (DE, S.108)
Gehen wir nun kurz auf Deweys Vorstellung von Lernen ein, in der sich sein zuvor beschriebenes Konzept der Erfahrung logisch fortsetzt. Lernen geschieht demnach im Wesentlichen vermittels Gegenständen und deren Bedeutung bzw. deren Gebrauch und Funktion im sozialen Kontext (vgl. DE, S.50). Physische Gegenstände beeinflussen den Geist jedoch nur, wenn sie „ in eine Tätigkeit eingehen, die Folgen für die Zukunft hat” (DE, S.53). Lernen findet also (1) durch aktives Handeln in einer bedeutungsvollen Umwelt statt – nicht etwa in einem isolierten, an sich bedeutungslosen Raum. Es wird (2) durch das Interesse der Lernenden vorangetrieben, weil sie den Prozess als zweckvoll erleben, und nicht etwa dadurch, dass sie durch Belohnung und Strafe dazu angehalten werden. Denn wenn Erziehungstätigkeiten „ [...] an sich für den Ausübenden zwecklos oder nur in sehr beschränkten Umfange zweckhaft sind, setzen sie die Intelligenz nicht angemessen in Tätigkeit. Das zwingt viele, sich auf sich selbst zurückzuziehen: [...] ihre geistige Haltung wird weltabgewandt, antischöpferisch; ihr Fühlen und Denken wendet sich auf sie selbst zurück, anstatt in Akte einzugehen, die die Welt umgestalten. “ (DE, S.182f)
Dewey referiert eine Anzahl verschiedener Erziehungsmodelle und die damit verbundenen Konzepte vom Lernen und kritisiert diese. Ich möchte diese Kritiken hier kurz anführen, da sie uns helfen, Deweys eigenes Lernmodell besser zu verstehen und abzugrenzen. Die „ Erziehung als Vorbereitung” möchte, so fasst Dewey zusammen, die Heranwachsenden auf das Erwachsenenleben und Beruf möglichst gut vorbereiten bzw. – in einer streng religiösen Variante davon – sieht sie die gesamte irdische Existenz nur als Vorbereitung auf das nachfolgende ewige Leben. Sie birgt die Gefahr des Motivationsverlustes angesichts eines so weit in die Ferne gerückten Zieles[34]. Außerdem tendiert sie dazu, allen Kindern und Jugendlichen dieselben, durchschnittlich benötigten Fähigkeiten anzutrainieren, anstatt auf deren individuelle Talente und Bedürfnisse einzugehen. Dieses Modell sieht – fälschlicherweise – die Unreife als reinen Mangel und ignoriert so angeborene Begabungen; es geht davon aus, dass Anpassung nur passiv erfolgen würde, und möchte durch einen übermäßigen Drill starre Gewohnheiten erzeugen (vgl. DE, S.76-83).
Die „ Erziehung als Entfaltung” (vgl. DE, S.83-88), die Dewey bei Fröbel, Hegel und Rousseau diagnostiziert, ist die Erziehung auf ein höheres – geistiges – Ideal hin. Wenn auch eine „Entfaltung” auf den ersten Blick dem Ziel des Wachstums ähneln mag, so gibt es jedoch bei allen drei Autoren deutliche Bruchstellen zu Deweys Konzept. Fröbel stülpe den Lernenden als Methode einen Symbolismus über, ein „ willkürliches und von außen auferlegtes diktatorisches Schema” (DE, S.86). Unter Hegels alles umfassendem „Weltgeist” müsse notgedrungen die Individualität der Lernenden zurücktreten, und Rousseau „ hatte seine Forderung, dass Erziehung eine natürliche Entwicklung und nichts von außen her [...] Aufgezwungenes [...] sein müsse, durch die Auffassung verunstaltet, dass die sozialen Verhältnisse unnatürlich seien. “[35] (DE, S.87)
In der „ formalen Bildung”, etwa von Locke, sollen bestimmte, bereits angelegte geistige Fertigkeiten ausgebildet und geübt werden. Dewey wendet ein, dass geistige Fähigkeiten nicht angeboren sind, sondern einzig bestimmte Basis-Reflexe. Außerdem bestünden Fertigkeiten nicht abstrakt, sondern immer in Bezug auf deren Anwendung (DE, S.88-94).
Schließlich kritisiert Dewey eine „ Erziehung als Aufbau”, wie sie bei Herbart zu finden sei. Diesem rechnet er zwar an, dass er den Fokus auf den Lehrstoff und nicht auf Methoden oder Fertigkeiten richtet, hält ihm aber vor, dass er das Lernen als völlig passiven Prozess entwirft (vgl. DE, S.99-102). Im Weiteren wendet sich Dewey gegen eine „ Erziehung als Wiederholung und Rückschau”, in der sich die Phylogenese in der Ontogenese abbildet (vgl. DE, S.102-104); und er entlarvt das „individualistische Ideal” der „ Naturmodelle” als hilflose Abwendung von der Gesellschaft (vgl. DE, S.126-128, 153).
In Deweys Vorstellung geschieht das Lernen also – noch einmal – durch Handeln, durch die aktive Interaktion mit der physischen und sozialen Umwelt. Um effizient zu sein, muss es vom Interesse der Lernenden getrieben sein und von diesen als bedeutungs- und wertvoll erlebt werden. Dies entspricht dem so oft zitierten von Dewey geprägten „learning by doing”[36].
Was die Bedeutung der Schule betrifft, ist eine gewisse Skepsis Deweys nicht zu verkennen, die sich wohl aus seiner eigenen, wenig begeisternden Schulerfahrung (zumindest bis zum college) ergeben hat (vgl. oben, S.13). So können wir etwa lesen: „ Schulen sind gewiss eine wichtige Veranstaltung für jene Übermittelung, die die Anlagen des Unreifen formt; aber sie sind nur ein Mittel, und im Vergleich mit anderen ein verhältnismäßig oberflächlich wirkendes. “ (DE, S.19). Dennoch befasst er sich sowohl praktisch (vgl. oben, S.17) als auch theoretisch eingehend mit den Möglichkeiten und Aufgaben einer institutionalisierten Bildung. Er entwirft Schule als embryonale Gesellschaft (embryonic society):
„It has a chance to affiliate itself with life, to become the child's habitat, where he learns through directed living, instead of being only a place to learn lessons having an abstract and remote reference to some possible living to be done in the future. It gets a chance to be a miniature community, an embryonic society.”[37]
Diese prototypische Gesellschaft dient den SchülerInnen als Lernumfeld, in dem sie bereits zweckvolle Erfahrungen machen können und nicht nur darauf vorbereitet werden. Die konkreten Aufgaben der Schule sind dabei, wie wir mit Bohnsack (2003, S.50) aus der eben zitierten und einer weiteren Textstelle (DE, S.39-42) zusammenfassen können: (1) Die Schule soll durchaus ein geplanter, angeleiteter Lern- und Lebensort (directed living) sein, also mitnichten ein anarchistisches Durcheinander einzelner, sich selbst überlassener Lernerfahrungen. (2) Sie soll eine vereinfachte Umwelt (simplified environment) bieten, damit die Kinder nicht, von der Komplexität der Gesellschaft überwältigt, an deren Teilhabe und Teilnahme gehindert werden. (3) Dabei soll auch eine Aussonderung derjenigen „ wertlosen und wertwidrigen” (DE, S.39) Einflüsse stattfinden, die dem Lernen der Kinder und der Entwicklung zu einer „ besseren Gesellschaft der Zukunft” (ebd.) im Wege stehen. (4) Außerdem soll gesellschaftlichen Ungleichheiten, etwa durch „Rassen, Religionen und Sitten” in der Schule entgegengewirkt werden. Dadurch soll eine „ reichere und besser ausgeglichene[...] Umwelt” geschaffen werden, „ als wenn die Jugendlichen sich selbst überlassen wären” (DE, S.42).
In den Aufgaben der Schule tritt also ein deutliches normatives Moment zu Tage (vgl. Bohnsack 2003, S.51). Dieses ist, auch hier, auf das Ziel des Wachstums ausgerichtet.
„Die Bereitschaft, vom Leben selbst zu lernen und die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass alle im Vorgang des Lebens lernen, ist das beste Ergebnis der Schularbeit.“ (DE, S.77)
Dieses Wunschziel Deweys für die Schule mag ebenso bescheiden wie allgemein-diffus wirken, entspricht aber seiner konsequenten Ablehnung von äußeren Zielen, an denen der „Erfolg” des Lernens festgemacht werden könnte.
Kommen wir damit – last, but quite definitely not least – zur dritten unserer Top-3-Problemstellungen Deweys.
2.1.3 Demokratie bei Dewey – Einführung; Bedeutung im Werk Deweys
„Es gibt wohl keinen Philosophen, für den die Demokratie so sehr Gegenstand und ständiger Orientierungspunkt seines Denkens war wie für John Dewey.
Es ist deshalb nicht übertrieben, seine Philosophie eine 'Philosophie der Demokratie' zu nennen [...]. Von frühen Aufsätzen Deweys über 'The Ethics of Democracy' oder 'Christianity and Democracy' über fachphilosophische Erörterungen zu inneren Beziehungen zwischen der Methode der Wissenschaften und der Demokratie bis hin zu späten Bekenntnissen, dass ein quasi-religiöser 'Glaube' an die Demokratie seine lebenslange Inspirationsquelle gewesen sei [...].“ (Joas 2000, S.11)
In der Dewey-Rezeption findet sich eine die Geister scheidende Auseinandersetzung über die Frage, ob Dewey letztlich eine logisch-schlüssige Begründung für die Demokratie vorgelegt hat oder nicht (vgl. dazu Westbrook 2000[38], Joas 2000). Ohne auf diese Debatte im Einzelnen einzugehen, lässt sich unbestrittenermaßen festhalten, dass er immer wieder versucht hat, logische Argumente für die Forderung nach Demokratie vorzubringen – was aufgrund der zentralen Bedeutung in seinem Werk auch nur zu verständlich ist. Wie Joas, Westbrook und auch Kloppenberg[39] darlegen, ist dabei eine wesentliche Marschrichtung Deweys, dass er das Funktionieren von Wissenschaftsgemeinschaften mit dem demokratischer Gesellschaften analog setzt. Die wissenschaftliche Methode ist ja fest in Deweys Erkenntnistheorie verankert. Er hatte gezeigt, dass der beste Weg, um Überzeugungen („ bewährte Annahmen”) zu bilden, in den Methoden, Praktiken und Werten einer Wissenschaftsgemeinschaft besteht. Diese Gemeinschaft sollte, um ideal zu funktionieren, demokratisch verfasst sein, also offen für alle kompetenten TeilnehmerInnen, eine Diskursethik beachtend und die Meinungsfreiheit respektierend. Aufgrund der Einsicht, dass diese Art der sozialen Organisation die beste Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnis bietet, sollte die demokratische Struktur auch als Modell für die Gesamtgesellschaft dienen. Ob Dewey jedoch den Unterschied zwischen den Vorgängen einer wissenschaftlichen Untersuchung und den praktischen und moralischen Urteilen einer Gesellschaft je logisch überbrücken konnte, bleibt zumindest umstritten (vgl. Joas 2000, S.12-14; Kloppenberg 2000, S.61; Westbrook 2000, S.343-346).
Nicht nur in der wissenschaftlichen Methode, sondern auch in den Erkenntnissen der Naturwissenschaften selbst wollte Dewey wenn schon nicht Bestätigung, so doch „ geistige Gewähr” für seine demokratische „ Unternehmung”[40] finden. Aber auch diese bleiben im spekulativen Bereich (vgl. Westbrook 2000, S.346).
Wir stehen hier also, um es mit Joas zu sagen, vor einer
„irritierende[n] Stelle in Deweys Werk [...], die sich leicht so interpretieren lässt, dass zwar die Idee der Demokratie den unbezweifelbaren Kern seines Werkes ausmacht, er aber unentschlossen zwischen einer fundamentalphilosophischen Rechtfertigung dieser Idee und einer pragmatischen Einwilligung, dass diese Idee einen Willen zum Glauben voraussetzt, hin- und hergeschwankt habe.“ (2000, S.13f)
Belassen wir es bei diesen Ausführungen darüber, wie Dewey Demokratie begründet, und gehen wir nun darauf ein, was uns Dewey über Demokratie zu sagen hat. „ Demokratie ist”, so seine wohl bekannteste Aussage zu diesem Thema, „ mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung “ (DE, S.121). Die „ politisch-institutionelle Seite ist vielmehr ein 'Mittel'”, führt Bohnsack Deweys Standpunkt weiter aus, „ um die Selbstbestimmung über ein erfüllendes Leben, mit dem Demokratie provokativ gleichgesetzt wird, zu gewähren: Demokratie ist daher 'keine Alternative zu anderen Prinzipien des Zusammenlebens. Sie ist die Idee des Zusammenlebens selbst.' [41] ” (2003, S.46f; vgl. auch ÖiP, S.125)
Was bedeutet nun Demokratie? Die eben zitierte Aussage Deweys dürfte ja wohl kaum dahingehend zu interpretieren sein, dass jegliches Zusammenleben automatisch demokratisch ist, sondern eher als Mahnung des Philosophen, dass Zusammenleben nur dann wahrhaft menschlich ist, wenn es demokratisch ist, wenn es die Selbstbestimmung der Individuen über ein erfüllendes Leben zulässt und unterstützt. Was sind nun Deweys Kriterien dafür, ob ein sozialer Zusammenhang demokratisch ist oder nicht? Es erwartet uns hierbei – nach dem ungewöhnlichen und sehr tief gehenden Konzept der Demokratie – eine weitere Überraschung. Nicht etwa Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten oder andere Formen der Partizipation sind zentral, auch nicht eine gleichmäßige Verteilung von politischen Rechten. Noch rückt Dewey die faktische Gleichbehandlung unterschiedlicher Individuen und Gruppen in den Vordergrund. In Demokratie und Erziehung erläutert er seine zwei wesentlichen Bedingungen, um von Demokratie sprechen können: (1) Eine soziale Gruppe oder Gesellschaft besitzt zahlreiche und mannigfaltige gemeinsame, bewusst geteilte Interessen. Die Individuen besitzen außerdem die Zuversicht, dass das wechselseitige Interesse als Faktor in der Regelung sozialer Beziehungen anerkannt ist. (2) Es besteht volle und freie Wechselwirkung und Zusammenarbeit der verschiedenen sozialen Gruppen. Dies äußert sich auch dadurch, dass das soziale Verhalten dauernd umgestaltet wird und sich die Gesellschaft beständig an die durch mannigfaltige Wechselwirkung entstehenden neuen Sachlagen anpasst (vgl. DE, S.115, 120; siehe auch ÖiP, S.130-132).
Warum bleibt Dewey in all diesen Aussagen auf einer relativ allgemeinen Ebene stehen, wirkt fast zögerlich zurückhaltend? Ein Beitrag von James Kloppenberg (2000) zu Deweys Demokratiebegriff könnte uns bei dieser Frage weiterhelfen. Kloppenberg zeigt auf, dass der Moralbegriff bei Dewey kein allgemein gültiges Regelwerk enthält, sondern dass er auf die Fähigkeit des Individuums zum situativen Urteilen vertraut:
„Im Gegensatz zu den Bemühungen der Intuitionisten und der Utilitaristen, universell gültige Regeln zur Bestimmung des Guten und des Rechten zu finden, befand Dewey, dass 'das Ziel von moralischen Prinzipien darin besteht, Richtlinien und Methoden anzubieten, die den einzelnen in die Lage versetzen, je nach Situation, in der er sich gerade befindet, selber über Gutes und Böses zu urteilen'. [...]. [...] [I]m Endeffekt tat Dewey mit seinem instrumentalistischen Verfahren nichts anderes, als die Bürde der Moralität von Regeln auf kritische Vernunft zu verlagern. [...].
Seine instrumentalistische Ethik gründete Dewey auf dieses demokratische Ideal: Er vertraute auf die Fähigkeit des Individuums zum verantwortlichen Umgang mit seiner moralischen Urteilskraft sowie auf die Fähigkeit der Gemeinschaft zur gemeinsamen Durchsetzung gegenüber Rechtsverstößen einzelner.“ (2000, S.58)
Auf die Demokratie umgelegt – und die organisationale Strukturierung der Gesellschaft zum Wohle aller Individuen kann ja durchaus als moralisches Problem angesehen werden – wird Deweys etwas undeterminierte Position nun besser verständlich. Er vertraut offensichtlich auch hier auf die moralischen Fähigkeiten der Menschen und schlägt nur die Rahmenbedingungen vor, unter denen sich diese Moral in eine demokratische gesellschaftliche Organisation überführen lässt: „ [...] nur in einer Demokratie lassen sich nach Dewey kollektive ethische Maßstäbe wirksam in positives, gesatztes Recht überführen. “ (Kloppenberg 2000, S.58f)[42]
Um diesen Erwartungen gerecht zu werden, müssen die Menschen in einer Demokratie gewissen Anforderungen entsprechen, sie müssen etwa Initiative zeigen und anpassungsfähig sein. Die Ausbildung dieser Fähigkeiten ist eine Aufgabe der Erziehung.
„Eine bewegliche Gesellschaft [...] muss darauf halten, dass ihre Mitglieder zu persönlicher Initiative und Anpassungsfähigkeit erzogen werden. Sonst werden sie durch die Umgestaltung, in die sie verwickelt werden, überwältigt, weil sie ihre Bedeutung und ihre Beziehungen nicht verstehen. Das Ergebnis wäre eine Verwirrung, in der sich einige wenige die Ergebnisse der blinden und von außen her geleiten Betätigungen der andern zunutze machen würden.“ (DE, S.121f)
Dewey setzt weiter darauf, dass Menschen grundsätzlich sozial ausgerichtet sind (vgl. DE, S.43f), er geht von einem natürlichen Antrieb zum Wachstum aus – „ Wo Leben ist, da ist stets eifrige und leidenschaftliche Aktivität. “ (DE, S.66) – und er sieht die Menschen als mit „ endurance, hope, curiosity, eagerness, love of action”[43] versehen.
[...]
[1] John Dewey, zitiert in: Hylla, Erich (o.J.): Vorwort zur 3. Auflage der deutschen Ausgabe. In: Dewey, John (2008): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. 3. Aufl. Herausgegeben von Jürgen Oelkers. Weinheim: Beltz, 2008. Im Weiteren als „DE”. S.8.
[2] Barreto, Vera (1998): Paulo Freire para educadores. São Paulo: Arte & Ciência. Online verfügbar unter http://www.scribd.com/doc/6993301/Vera-Barreto-Paulo-Freire-Para-Educadores, zuletzt geprüft am 13.9.2009. S.11. Übers. GS. Im Original: „ [U]ma educadora norte-americana perguntou para Paulo qual era a qualidade que considerava fundamental num educador. Sem muita demora, Paulo afirmou que, para ele, era gostar da vida. “
[3] Vgl. Greshoff, Rainer (1999): Die theoretischen Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann im Vergleich. Opladen: Westdt. Verl.
[4] John Dewey, zitiert in: Hylla, Erich (o.J.), S.8. Vgl. auch DE, S.15-18.
[5] Joas, Hans (2000): Einleitung: John Dewey - der Philosoph der Demokratie. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.7–19.
[6] Kloppenberg, James T. (2000): Demokratie und Entzauberung der Welt: Von Weber und Dewey zu Habermas und Rorty. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.44–80.
[7] Leider kann hier nicht Freires gesamte Erklärung wiedergegeben werden. Er wurde ja für die „fala machista” („Macho-Sprache”, Übers. GS) seines Frühwerks selbst angegriffen, und hat dies dann korrigiert. Vgl. Freire, Paulo; Freire, Ana Maria Araújo (1992): Pedagogia da esperança. Um reencontro com a Pedagogia do oprimido. Herausgegeben von Biblioteca digital Paulo Freire, o. J. Online verfügbar unter http://www.paulofreire.ce.ufpb.br/paulofreire/Controle?op=detalhe&tipo=Livro&id=1361, zuletzt geprüft am 8.2.2011. (Digitalisiert nach der Print-Ausgabe ersch. im Paz e Terra-Verlag, São Paulo, 1992), S.35f.
Freire schreibt: „Und man/frau soll nicht sagen, dass dies ein kleines Problem, wenn es in Wahrheit ein großes ist. Man/frau soll nicht sagen, dass, angesichts der fundamentalen Notwendigkeit der Veränderung einer schlechten Welt, ihrer Neuerschaffung, um sie weniger pervers zu machen, die Diskussion um die Überwindung einer frauenfeindlichen Sprache von geringerer Wichtigkeit ist [...]. Die Diskriminierung der Frau durch einen frauenfeindlichen Diskurs, der in einer konkreten Praxis verkörpert ist, ist eine kolonialistische Art, sie zu behandeln. Sie ist daher unvereinbar mit jeglicher progressiver Position, ganz egal ob von Frauen oder Männern.” (ebd., S.35, Übers. GS)
[8] Freire, Paulo (1981): Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender Bildungsarbeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-TB. S.96.
[9] Zitiert in Suhr, Martin (2005): John Dewey zur Einführung. Hamburg: Junius. S.19f.
[10] Die verwendete deutsche Ausgabe ist Dewey, John (2008): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. 3. Aufl. (aus dem Amerikanischen von Erich Hylla). Oelkers, Jürgen (Hg.). Weinheim: Beltz. Im Weiteren als „DE”. Zusätzlich herangezogen wurde die englische Originalausgabe: Dewey, John (1916): Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of Education. Herausgegeben von Questia Media America, o. J. Online verfügbar unter http://www.questia.com, zuletzt geprüft am 29.7.2009. (digitalisiert nach der Print-Ausgabe ersch. bei Macmillan, New York, 1916).
[11] Joas, Hans (2000): Einleitung: John Dewey - der Philosoph der Demokratie. S.8. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.7-19. Der Beitrag von Joas wird im Folgenden als „Joas 2000” zitiert, der Sammelband immer vollständig angegeben.
[12] Vgl. Riggenmann, Konrad (2006): Escola nova, escola ativa! John Deweys Pädagogik am Beispiel ihrer Rezeption in Brasilien. 2. Aufl. Oldenburg: Paulo Freire Verlag. S.24-27; sowie Westbrook, Robert B. (1991): John Dewey and American democracy. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press. S.1-3.
[13] Veröffentlicht etwa in: Dewey, John (1882-1898): Early Works. 5 Bde. Boydston, Jo Ann (Hg.). Carbondale: Southern Illinois University Press, 1967-72. 2. Band.
Im Folgenden referenziere ich Schriften aus der Werkausgabe von Boydston (neben Early Works noch Middle Works (1899-1924). 15 Bde. und Later Works (1925-1953). 17 Bde.) mit der Kurzbezeichnung, gefolgt von der Bandnummer und ev. einer Seitenangabe, also z.B.: Early Works 2 oder Middle Works 11, S.48.
[14] Zum Einfluss von William James Werk auf diese Wandlung Deweys vgl. auch Westbrook 1991, S.72.
[15] Ausführlich bespricht Riggenmann (2006, S.40-48) den Einfluss von Alice Chipman auf Dewey.
[16] Ich übernehme diesen Begriff (wörtl. „runter-auf-den-Boden”, im Sinne von „realitätsnahe”) von Riggenmann, der das Kapitel über Alices Einfluss auf Dewey so betitelt: Alice Chipman: „Down to earth, Johnny!” (2006, S.40).
[17] Vgl. Simpson, Douglas J. (2006): John Dewey. New York: Lang. S.9f.
[18] Dies ist ein Beispiel dafür, dass sich Dewey nicht nur mit den bekannteren Philosophen auseinandersetzte. Lotze („ an extremely important figure for Dewey”, Westbrook 1991, S.73) scheint ein wichtiger Reibungspunkt für die Entwicklung von Deweys Logik gewesen zu sein (vgl. ebd.).
[19] In Bezug auf die Pädagogen, auf die Dewey aufbaut, sei hier noch eine Beobachtung Riggenmanns angemerkt, die mir – gerade in Ansehung von Deweys ausführlicher Besprechung dieser Autoren, etwa in Demokratie und Erziehung – interessant erscheint: „ Allerdings sind die Beziehungen Dewey's zu den pädagogischen Denkern unter den Genannten [von Johnsons Liste, Anm.] nicht nur in den biographischen Analysen von Coughlan, Dearborn und Jane Dewey, sondern auch in den sehr umfangreichen 'Life and Mind'- Darstellungen von Schilpp, Dykhuizen und Westbrook erstaunlich marginal thematisiert. Das ist insofern ein Manko, als im Vergleich vor allem mit Rousseau Dewey's eigene Position, etwa bezüglich 'Orientierung am Kinde', deutlicher wird als ohne Kontrapunkt.” Auf den Einfluss dieser Pädagogen auf Dewey – sei es als direkter Einfluss, oder als Abgrenzung von diesen – sei also hier ausdrücklich hingewiesen.
[20] Rorty, Richard (2000): Dewey zwischen Hegel und Darwin. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.20-43.
[21] Damit ist, wie das darauf folgende Zitat nahe legt, wohl unter anderem sein Progressivismus und sein Einsatz für Benachteiligte gemeint (vgl. ebd., S.17f).
[22] Bohnsack, Fritz (2003): John Dewey. In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Klassiker der Pädagogik 2. Von John Dewey bis Paulo Freire. München: Beck, S.44–60. Bohnsack schlägt vier Punkte vor: Experience, Erziehungskonzept (er geht hierbei auch auf die Demokratie ein), Schulkonzept und Lehr-Lern-Konzept. Diese Gliederung und insgesamt seine Dewey-Einführung in Klassiker der Pädagogik ist selbstredend stark pädagogisch ausgerichtet. Die von mir gewählte Dreiteilung kann dieses Ungleichgewicht vielleicht etwas beheben, wobei mir bewusst ist, dass auch sie vielen der philosophischeren Betätigungsfelder Deweys nicht wirklich gerecht wird.
[23] Diese Formulierung, an die ich mich aus meiner Lektüre über Dewey zu erinnern glaube, konnte ich später leider nicht mehr auffinden. Besonders Westbrook beschreibt jedoch ausführlich, wie vor dem Aufkommen des Pragmatismus ausschließlich stark von europäischen Philosophen (v.a. Hegel bzw. Kant) beeinflusste und in deren Tradition stehende Philosophien in den USA existierten (vgl. 1991). Suhr erwähnt dies explizit (vgl. Suhr 2005, S.8). Es könnte eingewandt werden, dass auch James auf europäische Gedanken aufbaut (besonders auf den englischen Empirismus), und das Selbe für Dewey und andere Pragmatisten gilt. Trotzdem lässt sich der Pragmatismus als eigene philosophische Richtung ausmachen und ist klar so verstanden worden. (Sonst würden wir ja auch nicht von „dem Pragmatismus” sprechen.) Aufgrund dieser Quellenlage möchte ich also zwar an der Formulierung festhalten, kann sie allerdings nicht sicher untermauern.
Von einer solchen Formulierung, „ erste amerikanische Philosophie”, sollen sogenannte „Naturphilosophien” der native americans übrigens nicht berührt werden. (Auf Verweise zu solchen Naturphilosophien stößt man bei einer Internetrecherche zu „first american philosophy” recht schnell, wohingegen der Pragmatismus unerwähnt bleibt.)
[24] Oft wird Deweys Philosophie auch als Instrumentalimus beschrieben, ein Ausdruck, den Dewey selbst verwendete (vgl. Suhr 2005, S.9, 19; Bohnsack 2003). Auch Experimentalismus sowie ferner empirischer Naturalismus oder naturalistischer Humanismus sind gebräuchlich (vgl. Suhr 2005, S.9).
[25] Breault, Rick A. (2003): Dewey, Freire, and a Pedagogy for the Oppressor. In: Multicultural Education (San Francisco: Caddo Gap Press), Jg. 10, H. 3, S.2-6. Online verfügbar unter http://www.highbeam.com/doc/1P3-320225021.html, zuletzt geprüft am 28.7.2009.
[26] Fishman, Stephen M.; McCarthy, Lucille Parkinson (2007): John Dewey and the philosophy and practice of hope. Urbana: University of Illinois Press.
[27] In den darauf folgenden Jahren folgte eine Vielzahl weiterer Artikel zu diesem Thema. Einige davon sind gesammelt in Essays in Experimental Logic (1916). (vgl. Westbrook 1991, S.128)
[28] Insoweit stimmt Dewey, wie Westbrook ausweist, mit einem idealistischen Standpunkt überein. Dass diese organisierte Erfahrung jedoch „ p ure determinations of the constitutive thought of the Absolute” (ebd., S.75) sein sollte, weist Dewey jetzt zurück. Dies lasse die Frage nach der tatsächlichen Organisierung des Denkens unbeantwortet – auf dessen Spuren sich die psychologischen Forschungen und Überlegungen von James, Bergson und eben Dewey, etwa unter dem Reflexbogenkonzept, ja befanden (vgl. etwa Suhr S.33-51).
[29] Vgl. auch Suhr 2005, S.59, der hier offensichtlich dieselbe Originalstelle wiedergibt (wenngleich nicht als ausdrückliches Zitat). Suhr verwendet hier übrigens den Begriff Erkenntnis, wo in Westbrooks Wiedergabe knowledge steht (das ich eher als Wissen übersetzen würde).
[30] Im Original „knowledge”. Hier scheint Wissen keine geeignete Übersetzung zu sein, siehe Fußnote 29.
[31] Auf den pragmatischen Wahrheitsbegriff, für den Dewey und James häufig angegriffen wurden, kann hier nicht eigens eingegangen werden. Eine Diskussion desselben findet sich bei Westbrook (1991, S.130-137).
[32] DE, S.427-442. Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf den Abschnitt, in dem Dewey die „ Kräfte” erläutert, „ die die Unhaltbarkeit dieser Anschauungen [nämlich der dualistischen, Anm.] allmählich deutlich machen und für ihre Ersetzung durch den Gedanken der Stetigkeit wirken.” (S.431-435)
[33] Hier im Alltags-Sprachgebrauch zu verstehen.
[34] Obwohl die Vorstellung der himmlischen Existenz für viele Menschen eine durchaus nicht zu vernachlässigende Kraftquelle darstellt.
[35] Riggenmann findet den Vergleich mit Rousseau besonders aufschlussreich. Neben einigen Meinungsverschiedenheiten, unter denen die von Dewey erwähnte unterschiedliche Auffassung von Gesellschaft (und Natur) prominent rangiert, gibt es nach Riggenmann doch erstaunlich viele Übereinstimmungen (vgl. 2006, S.112-115).
[36] Scherzhaft auch als „learning by Dewey-ing”. (vgl. wikipedia (de) (Hg.): John Dewey. Online verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/John_Dewey, zuletzt geprüft am 8.9.2009)
[37] Dewey, John (1920): The School and Society. Revised Edition. Herausgegeben von Questia Media America, o. J. Online verfügbar unter http://www.questia.com, zuletzt geprüft am 29.7.2009 (digitalisiert nach der Print-Ausgabe ersch. bei University of Chicago Press, Chicago, 1920), S.15. Vgl. auch Bohnsack 2003, S.51.
[38] Westbrook, Robert B. (2000): John Dewey und die Logik der Demokratie. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.341–361.
[39] Kloppenberg, James T. (2000): Demokratie und Entzauberung der Welt: Von Weber und Dewey zu Habermas und Rorty. In: Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.44–80.
[40] Dewey, John (1919): Philosophy and Democracy. In: Middle Works 11, S.48. Zit. nach Westbrook (2000, S.346).
[41] Das Originalzitat stammt aus Later Works 2, S.328; ÖiP, S.129.
[42] Kloppenberg bezieht sich hier auf Dewey ([1893-1894]): Self-Realization as the Moral Ideal. In: Early Works 4; sowie Dewey (1989): Die Erneuerung der Philosophie. Hamburg.
[43] „Ausdauer, Hoffnung, Neugier, Eifer und Liebe zum Handeln” (Übers. GS). Middle Works 14, S.199f, zit. nach Fishman/McCarthy 2007, S.15.
- Quote paper
- Gabriel Stabentheiner (Author), 2011, Demokratie und Befreiung in den Erziehungsphilosophien von John Dewey und Paulo Freire, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303399
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