Alfred Hitchcock zählt zweifelsohne zu den bekanntesten und bedeutendsten Regisseuren der Filmgeschichte. Des Weiteren ist er ein faszinierendes Beispiel für den Aufbau einer Marke durch die Selbstinszenierung seiner eigenen Person. Sein 50. Film, der Spionagethriller „Der zerrissene Vorhang“ hebt sich in vielerlei Hinsicht von „typischen“ Werken des Master of Suspense ab. Der vorliegende Essay zeigt anhand von Beispielen aus dem Film, wie Hitchcock in ihm sein vorangegangenes filmische Schaffen selbst dekonstruiert.
Hitchcock dekonstruiert Hitchcock
in seinem Spätwerk „Torn Curtain“ (1966)
Alfred Hitchcock zählt zweifelsohne zu den bekanntesten und bedeutendsten Regisseuren der Filmgeschichte. Des Weiteren ist er ein faszinierendes Beispiel für den Aufbau einer Marke durch die Selbstinszenierung seiner eigenen Person. In der das Filmseminar „Wie funktioniert ein Filmarchiv?“ begleitenden Filmreihe „Perlen aus dem Norden“ im Saarbrücker Kino auchteinhalb war der Master of Suspense mit der Originalfassung seines 50. Films, dem Spionagethriller „Torn Curtain“, vertreten.
Bei dem gezeigten Filmmaterial von Alfred Hitchcocks Jubiläums-Film aus dem Jahr 1966 handelte es sich um eine hervorragend erhaltene Kopie 1. Generation auf 35 mm-Triacetat-Sicherheitsfilm mit Lichtton, die im Technicolor-Farbverfahren hergestellt wurde und noch keine starken Symptome des Essig-Syndroms aufwies. Dank des Technicolor-Verfahrens, bei dem die drei Farbschichten Magenta, Cyan und Gelb nacheinander auf das Trägermaterial gedruckt werden, sind die Farben des Films bis heute originalgetreu erhalten geblieben und noch ebenso farbecht wie im Jahr seiner Entstehung. Hitchcock traf selbst Aussagen über die Farbgebung seines Werks. Diese nachzuvollziehen sollte vor dem Hintergrund der Originaltreue der Farben auf der gezeigten Kopie recht einfach sein.
Laut Hitchcocks eigener Aussage wies er seine Filmcrew an, bei den in der Deutschen Demokratischen Republik spielenden Szenen „überwiegend mit Grau- und Beigetönen zu arbeiten. Nur hin und wieder, zur Lenkung des Blicks auf das Rot an den Uniformen der Vopos, ein bißchen [sic] Rot“1 ins Bild zu bringen. Auch brachte er seine Intention hinter dieser Farbgebung zum Ausdruck: „Man spürt die Kälte [..] wie sie aus bleichen Farben kriecht.“2. Schaut man sich den Film jedoch an, ist die Beigetönung zwar auffällig, wirkt jedoch alles andere als kalt und bleich – im Gegenteil. Das Beige wirkt sehr golden, warm und prunkvoll – insbesondere in Kombination mit dem Rot, das sich nicht auf Uniformdetails beschränkt, sondern auf größeren Flächen wie Flaggen oder Kleidungsstücken findet und dem Bild einen sehr strahlenden und majestätischen Anschein verleiht.
Diese kleine „Irreführung“ des Zuschauers passt sich in das Bild ein, das im Verlauf des Films entsteht: Möglicherweise wollte Hitchcock mit seinem Spätwerk „Torn Curtain“ herausfinden, in wie weit er sein Publikum manipulieren konnte. Seiner als Marke Hitchcock etablierten Star-Persona des „Master of Suspense“ mit all ihren Eigenheiten stehen filmische sowie szenische Elemente des Films entgegen, die mit Hitchcocks eigenen Standards und Prinzipien brechen zu wollen scheinen.
Ein sehr prägnantes Beispiel für diese Dekonstruktion ist das Feuerzeug Gromeks. Es wird oft in Szene gesetzt, mit Hilfe filmischer Mittel in den Fokus gerückt. Wiederholt ist Gromek nicht in der Lage, sich mit dem Feuerzeug eine Zigarette anzustecken – er kann ihm einfach keine Flamme entlocken, egal wie oft und bemüht er es auch versuchen mag. Beim erbitterten Kampf um sein Leben fällt es ihm schließlich aus der Tasche, wird anschließend von Armstrong bemerkt, aufgehoben und – nachdem es für eine lange Zeit von der Kamera fokussiert wurde – mühelos entzündet. Obwohl diesem deutlich sichtbaren, greifbaren und eindeutig benennbaren Gegenstand keinerlei handlungsrelevante Bedeutung zukommt, spielt es filmisch eine sehr große Rolle und ist damit Hitchcocks Konzept des von ihm selbst erfundenen „MacGuffin“ als zentrales Element des Suspense diametral entgegengesetzt.
Der Zuschauer baut anhand des Gesehenen eine bestimmte Erwartungshaltung auf: das Feuerzeug muss einen Zweck erfüllen, es muss relevant sein. Viele Zuschauer denken beim Entzünden des Feuerzeugs durch Armstrong an eine Explosion des Bauernhauses – immerhin war zuvor minutenlang Gas aus dem Ofen ausgetreten. Doch nichts passiert. Das Feuerzeug wird zugeklappt und von Armstrongs Mordkomplizin in der Tasche ihrer Schürze verstaut. Wiederum werden Erwartungen geschürt und Spekulationen über den weiteren Verlauf des Films beim Publikum ausgelöst: dem Feuerzeug muss eine Bedeutung zukommen – bestimmt wird es die Mörder entlarven, von der Polizei entdeckt, fällt vielleicht aus der Tasche der Schürze und verrät, dass Gromek auf dem Bauernhof gewesen sein muss… Doch das wird es nicht. Es kommt im restlichen Film nicht wieder vor. Es wird irrelevant, als der Taxifahrer zur Polizei fährt. Der Zuschauer vergisst es wieder, um im Anschluss an den Film über seinen Sinn zu grübeln, sich zu fragen: „Wieso bloß das Feuerzeug, Mr. Hitchcock?“.
Auch an anderer Stelle wird der Suspense aufgelöst, verläuft sich einfach im Sande und enttäuscht damit die Erwartungen des mit Hitchcocks vorangegangenen Filmen vertrauten Zuschauers. Bei Armstrongs Museumsbesuch, zum Beispiel, bekommt der Zuschauer seinen Verfolger Gromek nicht zu sehen, er hört lediglich seine Schritte in den großen leeren Sälen widerhallen, geht anfangs davon aus, Gromek betrete jeden Saal nach Armstrong, sieht ihn jedoch nach wie vor nicht und stellt sich schließlich die Frage, ob der Hall der Schritte in der Tat vom Eingangsbereich des jeweiligen Saals aus ertönt oder eventuell von der anderen Seite – ob Gromek sich möglicherweise direkt hinter seinem Ziel befindet und es gleich zum Aufeinandertreffen kommen wird… Doch kaum hat der Zuschauer diesen Gedanken gefasst, verlässt Armstrong das Museum, springt eilig in ein Taxi, das davonfährt und von Gromek fehlt weiterhin jede Spur im Bild – der Zuschauer hat sich den Suspense förmlich herbeigesehnt, versucht zu denken wie Hitchcock normalerweise „denkt“, filmt, seinen berühmten Suspense platziert – nur um sich anschließend mit dem Wissen darüber, dass in den vergangenen Filmminuten wirklich nicht mehr wahrzunehmen war als das gezeigte Bild und der abgespielte Ton in einem Zustand arger Verwirrung wieder zu finden: Der typische Hitchcock-Suspense ist nicht da. Im Kinosaal ist der Zuschauer durcheinander, von Hitchcock verlassen. Auf der Leinwand fährt Armstrong zu einem Bauernhof, er redet mit π, der Zuschauer hat Gromek vergessen; aber genau dann taucht er auf, plaudernd mit dem Taxifahrer – ohne Vorbereitung auf ein Zusammentreffen, ohne damit verbundene Spannung, er ist einfach da, wartet bis Armstrong hinein gegangen ist und klopft dann höflich an die Tür.
Dem perplexen Zuschauer wird in den darauf folgenden Minuten eine schier endlose Mordszene präsentiert, in der Hitchcock um des Realismus willen zeigen wollte „wie schwierig, mühsam und zeitraubend es ist, einen Mann umzubringen“3, obwohl er und andere Filmemacher dem Publikum zuvor unzählige Male auf der Leinwand vor Augen geführt hatten, wie schnell es gehen und wie einfach es sein kann.
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1 Theweleit (2003:92)
2 Theweleit (2003:92)
3 Truffaut (1974:300)
- Quote paper
- Isis Martinsen (Author), 2015, Hitchcock dekonstruiert Hitchcock. Analyse seines Spätwerks „Torn Curtain“ (1966), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302042