Manhattan Transfer erschien 1925 und umfasst die erzählte Zeit von 1897 bis 1924. Eine Zeit, die geprägt war von Fortschritt, Industrialisierung und Mechanisierung.Das Ende des Zweiten Weltkrieges stellte vor allem die Kriegsheimkehrer vor neue Probleme, da sich die Reintegration dieser Menschen als sehr schwierig erwies. Frustriert und desillusioniert versuchten sie sich im modernen Amerika zurechtzufinden. Die Bevölkerung war gespalten und hin und her gerissen zwischen blindem Fortschrittsglauben und kritischer Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten. Zentrum des neuen Lebens war die Stadt, die zum Dreh- und Angelpunkt der Moderne wurde. Speziell New York zog Artisten aus allen Bereichen an, die direkt am Puls der Zeit ihre Arbeiten entwickeln wollten.
Dos Passos selbst reiste schon als kleiner Junge mit seiner Mutter durch Europa, er studierte in Harvard und Spanien, bis er sich freiwillig als Ambulanzfahrer im Ersten Weltkrieg bewarb. Die dort gesammelten Erfahrungen verarbeitete Dos Passos in seinen beiden ersten Romanen One Man´s Initiation (1920) und Three Soldiers (1921).
Nach seiner Rückkehr nach Amerika widmete sich Dos Passos nicht nur dem Schreiben, sondern er engagierte sich auch in sozialen Projekten, was mehr und mehr zu seiner kritischen Grundhaltung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft führte. Wenn man Kritikern wie Richard Johnson Glauben schenken darf, so hat Dos Passos diese Gesellschaftskritik in Manhattan Transfer verarbeitet diesen Aspekt zu verfolgen ist jedoch nicht das primäre Ziel meiner Arbeit. Vielmehr steht Dos Passos´ Beziehung zu zeitgenössischen Künstlern und deren Beeinflussung auf seine eigenen Arbeiten im Vordergrund. Auf seinen Reisen nach Frankreich lernte er in Paris Scott und Zelda Fitzgerald und die Malerin Sarah Murphy kennen. In regem Austausch über Problemstellungen der Künste stand er mit ihnen, aber auch mit E.E. Cummings, Ernest Hemmingway oder Edmund Wilson. Dos Passos´ Bestreben, eine neue Möglichkeit des Ausdrucks zu schaffen teilte er mit vielen seiner zeitgenössischen Kollegen. Während seiner Zeit im Boheme Viertel in Greenwich Village formulierte Dos Passos dieses Bestreben: “There is nowhere on earth“, he declared, “where convention is more hide bound, where the intellectual straight jacket is tighter, where people have less tolerance for the views and actions of others. What we need is to learn to think independently and not to be herded like a lot of sheep with newspaper for watchdogs.”
[...]
1.Vorwort
Auf die Idee, den Roman Manhattan Transfer von John Dos Passos mit Aspekten moderner Kunst zu vergleichen, kam ich, als ich zufällig ein Bild von Otto Dix mit dem Titel Der Zündholzverkäufer gesehen habe. Das Bild entstand 1920 und könnte im Prinzip die malerische Umsetzung des ersten Absatzes des Kapitels “Skyscraper“ aus Manhattan Transfer sein. Es schien mir, als hätten sich Otto Dix und John Dos Passos gekannt und einer von beiden durch die Arbeit des anderen inspiriert die Szene dargestellt. Leider war es mir nicht möglich, dies durch meine Nachforschungen über John Dos Passos zu belegen, obwohl beide Künstler oft ähnliche Reiserouten einschlugen und gemeinsame Bekannte hatten. So kam es dazu, dass ich den Roman unter dem Aspekt wiederaufnahm, Verbindungen zu den zeit- genössischen Kunststilen zu finden und in einen logischen Zusammenhang zu setzen. Dabei wurde schnell deutlich, dass eine Analyse unter diesen Gesichtspunkten auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Großstadt einschließt.
2. Einleitung
Manhattan Transfer erschien 1925 und umfasst die erzählte Zeit von 1897 bis 1924. Eine Zeit, die geprägt war von Fortschritt, Industrialisierung und Mechanisierung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges stellte vor allem die Kriegsheimkehrer vor neue Probleme, da sich die Reintegration dieser Menschen als sehr schwierig erwies. Frustriert und desillusioniert versuchten sie sich im modernen Amerika zurechtzufinden. Die Bevölkerung war gespalten und hin und her gerissen zwischen blindem Fort- schrittsglauben und kritischer Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten.
Zentrum des neuen Lebens war die Stadt, die zum Dreh- und Angelpunkt der Moderne wurde. Speziell New York zog Artisten aus allen Bereichen an, die direkt am Puls der Zeit ihre Arbeiten entwickeln wollten.
Dos Passos selbst reiste schon als kleiner Junge mit seiner Mutter durch Europa, er studierte in Harvard und Spanien, bis er sich freiwillig als Ambulanzfahrer im Ersten Weltkrieg bewarb. Die dort gesammelten Erfahrungen verarbeitete Dos Passos in seinen beiden ersten Romanen One Man´s Initiation (1920) und Three Soldiers (1921).
Nach seiner Rückkehr nach Amerika widmete sich Dos Passos nicht nur dem Schreiben, sondern er engagierte sich auch in sozialen Projekten, was mehr und mehr zu seiner kritischen Grundhaltung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft führte. Wenn man Kritikern wie Richard Johnson Glauben schenken darf, so hat Dos Passos diese Gesellschaftskritik in Manhattan Transfer verarbeitet diesen Aspekt zu verfolgen ist jedoch nicht das primäre Ziel meiner Arbeit. Vielmehr steht Dos Passos´ Beziehung zu zeitgenössischen Künstlern und deren Beeinflussung auf seine eigenen Arbeiten im Vordergrund. Auf seinen Reisen nach Frankreich lernte er in Paris Scott und Zelda Fitzgerald und die Malerin Sarah Murphy kennen. In regem Austausch über Problemstellungen der Künste stand er mit ihnen, aber auch mit E.E. Cummings, Ernest Hemmingway oder Edmund Wilson. Dos Passos´ Bestreben, eine neue Möglichkeit des Ausdrucks zu schaffen teilte er mit vielen seiner zeitgenössischen Kollegen. Während seiner Zeit im Boheme Viertel in Greenwich Village formulierte Dos Passos dieses Bestreben:
“There is nowhere on earth“, he declared, “where convention is more hide bound, where the intellectual straight jacket is tighter, where people have less tolerance for the views and actions of others. What we need is to learn to think independently and not to be herded like a lot of sheep with newspaper for watchdogs.”[1]
Das Leben der Künstler in den Metropolen der Welt, seien es nun Literaten oder Maler, barg für sie alle die gleichen Probleme. Neben dem Problem des täglichen Überlebens waren sie konfrontiert mit den Umwälzungen ihrer Zeit. Das Tempo der Moderne und vor allem das Tempo in der Stadt zwang sie alle dazu, vorhandene Strukturen zu überdenken und neue Wege des Ausdrucks zu finden. Manhattan Transfer ist das Produkt eines solchen Ausdrucks eines neuen Lebensgefühls, entstanden in einer bewegten Zeit und produziert von einem engagierten und bewegten Autor.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist der veränderte Blick auf die Arbeiten dieser Zeit eine logische Konsequenz, weg von der Koexistenz der Literatur und Bildenden Kunst, hin zu einer Durchdringung der Künste, die beide auf den selben Hintergründen und Umständen fußen.
Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, aufgrund biographischer Fakten den Roman zu analysieren und so in Zusammenhang mit der modernen Kunst zu setzen. Vielmehr ist die Biographie von John Dos Passos eine Untermauerung der These, dass sich in der Moderne die Künste einander annähren und voneinander profitieren. Glen Mcleod formuliert dies in seinem Essay ”The Visual Arts“ treffend: ”It is impossible to understand fully the development of literary Modernism, without at least a rudimentary knowledge of modern art.”[2] Den Kern allen modernen Lebens stellt zweifelsohne die Großstadt. Aus diesem Grund bezieht sich meine Analyse auf zwei große Teile. Zum einen möchte ich den Zusammenhang zwischen der Großstadt und den Künsten herausarbeiten, zum anderen soll es meine Aufgabe sein, die Spuren der modernen Malerei und die Bezüge zur Großstadt direkt in Manhattan Transfer herauszuarbeiten. Aufgrund der Interdisziplinarität meines Anliegens werde ich mich nicht, auch wenn dies zunächst naheliegend erscheint, auf die spezifisch auf New York ausgerichteten Kunstströmungen beziehen. Es soll ein globaleres Bild aus Bezügen entstehen, das sich an die großen Stilrichtungen der Kunst anlehnt, angefangen vom Impressionismus über den Expressionismus hin zum Kubismus.
Mein Ziel ist es, moderne Kunstformen in Manhattan Transfer aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass diese wichtiger Bestandteil des gesamten Romankonzepts sind. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, fällt es leichter als zur damaligen, diese Spuren zuzuordnen, da die Entwicklung der einzelnen Kunststile abgeschlossen ist und sie sich sowohl formal als auch zeitlich deutlich einordnen lassen. Des weiteren wird es meine Aufgabe sein, sowohl die Darstellungsformen moderner Maler, als auch die Darstellungsformen moderner Schriftsteller in Bezug zur Großstadt zu setzen und daraus die Grundlage für die Analyse von Manhattan Transfer zu bilden. Daher ist der Teil über allgemeine Darstellung der Großstadt in den Künsten recht umfangreich. Dies ist jedoch unumgänglich, will man Dos Passos´ Roman unter dem Aspekt moderner Bezüge verstehen.
Nach einer kurzen Einführung in die verschiedenen modernen Kunstformen, möchte ich in Kapitel 4 zunächst die Wahrnehmung und Darstellung der Großstadt, sowohl in der Literatur als auch in der Bildenden Kunst, analysieren. Dabei ist die Veränderung großstädtischen Lebens und mit ihr einhergehend die Veränderung der Menschen an sich ein wichtiger Aspekt für die Analyse der Figuren in Manhattan Transfer. Sie tragen die für die Zeit typischen Charaktereigenschaften und werden als Symbol für einen neuen Menschenschlag dargestellt.
Die Korrespondenz zwischen Literatur und Bildender Kunst wird in Kapitel 5 näher analysiert, jedoch noch nicht romanspezifisch ausgelegt. Es geht vielmehr um allgemein gültige Tendenzen, verdeutlicht durch den Exkurs über Gertrude Stein, die sich als logische Folgerung zu Kapitel 6 vereinen. Hier wird nun explizit auf den Roman eingegangen, zum einen unter dem Aspekt der Bezüge zur modernen Kunst, zum anderen im Kontext der Großstadt. Manhattan Transfer fungiert als Beispiel für einen möglichen Ansatz der Analyse moderner Großstadtromane. Es soll hier ein Versuch gestartet werden, eine neue Sichtweise, einen neuen Zugang zu diesen Romanen anzubieten. In der Sekundärliteratur finden sich zu diesem Thema nur wenige Texte, die sich zwar im Ansatz mit dem Problem beschäftigen, jedoch eher an der Oberfläche bleiben. Gerd Hurm beispielsweise, beschäftigt sich in seinem Buch Fragmented Urban Images zwar mit der Analyse der “Cubist City“[3] und weist Manhattan Transfer Spuren kubistischer Darstellung zu, allerdings beschränkt er sich zum einen auf rein formale Aspekte der Konstruktion und zum anderen schließt er weitere moderne Kunstformen aus. Die vorliegende Arbeit bezieht sich zwar auch in großen Teilen auf die formale Analyse[4], jedoch schließe ich auch Verbindungen zwischen der Darstellung der Charaktere der Figuren und zeitgenössischen Kunststilen und der Großstadt.[5] Aus dieser Kombination soll ein stimmiges Bild der interdisziplinären Betrachtungsmöglichkeit von Manhattan Transfer entstehen.
3. Moderne Kunstformen
3.1. Impressionismus 1860 bis 1900
Die verschiedenen Facetten des großstädtischen Lebens wurden von den Impressionisten in ihren Bildern festgehalten. Sie verließen ihre Ateliers und begaben sich mitten hinein in das bunte Treiben auf den Straßen der aufblühenden Städte, zeichneten die umtriebigen Gassen und belebten Cafés. Ausflüge ins Grüne gehörten zum guten Ton des modernen Großstädters und so entstanden unvergleichliche Landschaftsbilder, wie die von Edouard Manet oder Claude Monet. Die Impressionisten waren Realisten, dennoch befassten sie sich kaum mit gesellschaftlichen Fragestellungen.
1874 stellte eine Reihe von Impressionisten, unter ihnen Camille Pissarro, Pierre–August Renoir, Claude Monet und Paul Cézanne, ihre Werke in einem französischen Atelier aus. Monet zeigte unter anderem sein Gemälde Impression. Aufgehende Sonne, ein Bild dessen banales Sujet und flüchtiger Farbauftrag das Publikum empörte und zugleich erheiterte. Die Impression des Sonnenaufgangs regte einen Journalisten dazu an, seinen Artikel mit dem Titel Ausstellung der Impressionisten zu versehen, womit die Stilbezeichnung geboren war.
Die Bezeichnung „Eindrucksmaler“ war a priori kein Kompliment, denn lediglich Impressionen wiederzugeben, entsprach keineswegs dem, was man im späten 19. Jahrhundert von der hehren Kunst erwartete. Nicht nur die demonstrative Abwendung vom heroischen Historienbild, das in der akademischen Hierarchie an erster Stelle stand, hin zu Landschaft, Portrait, Genre und Stilleben, sondern auch die Malweise, die sich durch ihre helle Palette, zufällig wirkenden Bildausschnitte und den locker hingeworfenen Farbauftrag von der durchgearbeiteten Akademiemalerei absetzt, wurde vom Publikum zunächst als unkünstlerisch empfunden.
Die Impressionisten trugen ihren Namen jedoch mit Stolz, denn die tonangebende Akademiemalerei mit ihrem Regelkanon erschein ihnen im Zeitalter einschneidender technischer Neuerungen lebensfern und öde. Das neue Medium der Photographie spielte für die impressionistischen Maler eine nicht unwesentliche Rolle. Das „Mitten–aus–dem–Leben–greifen“ reizte sie, denn auch für die Impressionisten war die unmittelbare Wahrnehmung oberster Maßstab. Sie wollten, objektiv wie ein Kameraauge, nur malen, was sie tatsächlich sahen. Wenn sie ihr Motiv betrachteten, versuchten sie, sich unabhängig vom Gegenstand allein auf die Farbwerte und ihre Verteilung, die Beschaffenheit der Form und das Spiel mit Licht und Schatten zu konzentrieren. Als passionierte Freilichtmaler stellten sie fest, dass sich mit dem Licht auch die Erscheinungsweise der Dinge verändert. Das Erfassen flüchtiger Lichteffekte verlangte ein recht zügiges Arbeiten. Die Farben wurden oft nur lose miteinander auf der Palette vermischt und rasch in groben Strichen und Flecken auf die Leinwand aufgetragen. Diese Art der Darstellung entsprach somit dem natürlichen Seheindruck, denn in einiger Entfernung betrachtet, erscheinen Dinge nicht mehr detailgenau, sondern unklar und aufgelöst. Sie werden bei der Betrachtung nur auf Grundlage von Wissen und individueller Seherfahrung rekonstruiert. Ebenso funktionieren die in Farbtupfer aufgelösten impressionistischen Bilder; die visuellen Schemata werden beim Betrachten des Bildes mit den Farbspuren in Deckungsgleichheit gebracht, so dass sich aus den Pinselhieben ein erkennbares Bild herauslöst. Zugleich lenkte der impressionistisch lockere Pinselduktus die Malerei in völlig neue Bahnen. Bei allem abbildlichen Verweis auf die Wirklichkeit waren die rauen Bilder der Impressionisten erstmals Beispiele, die die Malerei als Malerei sichtbar machten. Während die akademischen Maler sich bemühten mit ihrer Malweise den Gegenstand möglichst naturalistisch nachzumodellieren, um so zu einer möglichst hohen Deckungsgleichheit zwischen Bild und Wirklichkeit zu gelangen, ermöglichten die Impressionisten dem Betrachter Einblicke in ihr Handwerk. Der Farbauftrag gibt sowohl Auskunft über den Malprozess, den Wahrnehmungsprozess als auch über das Medium der Abbildung, der Malerei selbst. Die Impressionisten verleugneten den Bildträger nicht länger, sie ließen sogar absichtlich Teile der Leinwand frei. Somit verdeutlichten sie, dass ein Bild immer etwas Gemachtes, dass das gemalte Abbild immer eine Illusion der Wirklichkeit, eine künstlerische Fiktion ist.
3.2. Expressionismus 1905 bis 1945
Eine Fülle von Erfindungen im technisch–industriellen Bereich sowie neue einschneidende Erkenntnisse in den Geistes– und Naturwissenschaften läuteten das 20. Jahrhundert ein. Von den Menschen wurden nun neue, abstraktere Denkweisen gefordert, denn die aktuellsten Erkenntnisse, wie etwa Einsteins Relativitätstheorie, hatten deutlich gemacht, dass Wirklichkeit weit mehr als das unmittelbar Sichtbare bedeutete. Hatten die Impressionisten noch darauf vertraut, die Welt in einem einzigen Augenblick erfassen zu können, so wurde ihr Oberflächenrealismus nun von der jungen Künstlergeneration abgelehnt und heftig kritisiert. Die Jungen wollten der Wirklichkeit den Schleier der sichtbaren Erscheinung entreißen, hinter den Schein der Dinge blicken, um so ein wahrhaftigeres Bild der Welt zu bekommen. Dazu bedurfte es einer neuen Bildsprache, auch im Hinblick auf die sich wandelnde Wahrnehmung des neuen Menschen, der durch die Technisierung Dynamik und Beschleunigung ausgesetzt war.[6] All die umwälzenden Entwicklungen nach 1900 wurden von der jungen Künstlergemeinschaft jedoch weit weniger euphorisch aufgenommen als noch 30 Jahre zuvor von den Impressionisten die Neuerungen ihrer Tage.
Die Kehrseiten der Modernisierung wie Entfremdung, Entindividualisierung etc. waren, besonders in den Metropolen nicht länger zu übersehen. Das zerrissene Lebensgefühl einer Generation, die nicht nur im täglichen Dasein, sondern auch für die Kunst neue Werte suchte, entlud sich gleichermaßen in pessimistischer Weltuntergangsstimmung und utopischen Visionen einer neuen Welt. Die Künstlergemeinde war auf der Suche nach einer neuen Kunst für den neuen Menschen. Ihre emotionsgeladenen Bilder sollten den Betrachter bei seinen innersten Empfindungen packen.
Die wohl bekannteste expressionistische Gruppe ist die Künstlergemeinschaft Brücke, deren Gründungsmitglieder Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt–Rottluff und Friz Bleyl sich explizit gegen die muffige Kunstszene des wilhelminischen Kaiserreiches auflehnten. Kennzeichnend für die Brücke -Maler ist ein bewusst vereinfachtes, ästhetisches Vokabular mit knappen, auf das Wesentliche reduzierten Formen, deformierten Körpern und a–perspektivisch aufgelösten Räumen. Leuchtende, abgesättigte Farben, die losgelöst von der Lokalfarbigkeit mit breitem Pinsel flächig aufgetragen und oftmals mit einer harten Konturlinie eingefasst wurden, verleihen den Bildern einen derben, holzschnittartigen Charakter. Die Brücke –Expressionisten, wie die Expressionisten im Allgemeinen, arbeiteten häufig mit Komple- mentärkontrasten, durch die sich die Farben gegenseitig in ihrer Leuchtkraft verstärken. Ihre leidenschaftlich farbige Malerei entsprach dem Wunsch, der Farbe sowohl eine neue emotionale als auch eine neue kompositorische, d. h. allein unter innerbildlich ästhetischen Aspekten relevante Bedeutung zu geben, und somit die Bilder ganz aus reiner Farbe und Form aufbauen zu können.
In dieser vom individuellen Erleben – sowohl des Künstlers als auch des Betrachters – getragenen Malerei sahen die Künstler die Möglichkeit einer unmittelbaren und unverstellten Äußerung, wie sie sie in ihrem Programm eingefordert hatte.
Den Malern war die sichtbare Außenwelt zwar Ausgangspunkt, doch im Grunde nur noch Vorwand für den eigentlichen Bildinhalt. In der ausdruckssteigernden Deformation sollte das Wesen der Dinge, das nicht mehr gesehen, sondern nur noch erfühlt werden kann, aufscheinen.
Um 1911 entwickelte sich eine weitere namhafte Künstlergemeinschaft, die ebenfalls exemplarischen Charakter der Epoche trägt. Die Künstlergemeinschaft Blauer Reiter.
Die Maler des Blauen Reiter, allen voran Marc und Kandinsky, interessierten sich in erster Linie für die malerische Umsetzung von Empfindungen. Sie wollten Bilder malen, die die Seele zum Schwingen bringen sollten. Kandinsky war davon überzeugt, dass solche Seelenvibrationen besonders von Bildern ausgelöst werden können, die keinen abbildlich konkreten Verweis auf die sichtbare Wirklichkeit mehr enthalten. Die Künstler wollten mit ihren Arbeiten keine begrifflich fassbare Aussagen mehr transportieren, sondern das Bild war ihnen zugleich Projektionsfläche und Auslöser für Empfindungen. Die Maler des Blauen Reiters stellten sich die Vermittlung von Gefühlen wie eine Kette zwischen Künstler und Betrachter vor. Beginnend mit der Gefühlsregung der Künstlerseele, die der Maler in seinem Kunstwerk umsetzt, wird vom Bild beim Betrachter eine bestimmte Gefühlsregung ausgelöst. Die Bedeutungszuweisung liegt hierbei ganz alleine beim Betrachter. Das Kunstwerk wird so zu einer inspirierenden Vorgabe, die den Betrachter auf die eigene Seelenvibration aufmerksam machen will, sie erwecken will.
3.3. Kubismus 1907 bis 1925
Auch die Kubisten glaubten nicht mehr an die illusionistische Abbildbarkeit der Wirklichkeit. Allerdings gingen sie bei ihren Bildfindungen im Gegensatz zu den Expressionisten nicht von der bloßen Empfindung bei der Bildproduktion und –betrachtung aus, sondern entwickelten einen analytischen Ansatz.
An die Stelle des Bildinhalts im gegenständlichen Sinn setzen die Kubisten die Demonstration bildnerischer Probleme. Die Bedingungen des Darstellens, bis dahin der abbildenden Funktion des Werkes nachgeordnet, wird jetzt ins Zentrum des Interesses gerückt, wird selbst zum Thema der Darstellung. Damit wird nicht nur eine gegebene Form der Malerei um neue Möglichkeiten erweitert, sondern Aufgabe und Sinn der Malerei überhaupt neu definiert.
Diese Neubestimmung ist das Werk zweier Künstler: Pablo Picasso und George Braques, die sich 1907 in Paris erstmals begegnen. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt finden die beiden Künstler, sowie der gesamte Kubismus an sich, in Cézannes These der Reduktion von Objekten in ihre Grundelemente Würfel (lat. Cubus), Zylinder, Kegel und Kugel. Für die Ikonographie der Bilder aus dieser Zeit ist der Verzicht auf den bedeutenden, pompösen Inhalt bezeichnend. Historie und Allegorie bleiben ausgeklammert, nur das der Anschauung unmittelbar Gegebene kommt in Betracht: Landschaften, Stilleben und Figuren. Die Beschränkung auf Motivbereiche ohne Handlung und ohne Gedanklichkeit entspricht der Konzentration des Kubismus auf die körperhafte Erscheinung des Gegenständlichen und die Probleme ihrer Vergegenwärtigung im Bild.
Für die erste Phase des Kubismus, bis 1909, bleibt die drastische Annäherung aller Formen an geometrische Gebilde das augenfälligste Merkmal. Diese Phase wird als analytischer Kubismus bezeichnet, angelehnt an die akribisch analytische Zertrümmerung und Neuverteilung der Formen. Die Kubisten ersetzen den eindimensionalen, standpunktfixierten Blick auf den Gegenstand durch eine mehrperspektivische Sicht der Dinge. Durch diese Simultanperspektive bekommt der Betrachter das Gefühl, als gehe er um den abgebildeten Gegenstand herum, er bekommt ihn trotz der eindimensionalen Leinwand mehrdimensional zu sehen. Das Bild war für die Kubisten kein illusionistisches als ob mehr, sondern ein Eigengesetzlichkeiten unterworfener und in Beziehung zur Bildebene und zum Bildformat stehender Organismus. Sie schafften es sogar, durch die a- perspektivische Darstellung den Faktor Zeit mit in ihre Werke einzubeziehen. Besonders deutlich an Marcel Duchamps Werk Akt, die Treppe herabsteigend.
Von der Auflösung der einheitlichen Vorstellung des Raumes schreiten Picasso und Braque fort zur Auflösung der kompakten Erscheinung des Körpers. Die Zertrümmerung der Form erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt, die Volumen werden immer stärker aufgegliedert und zerspalten, bis schließlich die Wiedergabe des Dreidimensionalen in ihre zweidimensionalen Elemente zerfällt, in Flächen und Linien. Die traditionelle Unterscheidung von Körper und Raum ist damit aufgegeben; an die Stelle des eindeutigen Gegenstandes treten Verschränkung, Durchdringung und fließende Übergänge. Die Beschreibung der Objekte schrumpft zur Chiffre, die Illusion unmittelbarer Sicht wird vollends preisgegeben, das Gegenständliche weicht bis zur Unkenntlichkeit zurück.
Die innerbildlichen Bezüge, der Rhythmus der Formen, wird auf der Fläche betont. Die Farbe tritt nicht als eigener Wert hervor, sondern dient modulierend und kontrastierend der Verdeutlichung der Form. Die Palette ist beschränkt auf erdige Tön, auf Abstufungen von Ocker, Braun und Grün.
1912 durchbrechen Picasso und Braque die Grenzen der klassischen Mittel der Zeichnung und Malerei, indem sie dazu übergehen, Materialien wie bedrucktes Wachstuch, Tapetenfetzen, Zeitungen und ähnliches in ihre Arbeiten aufzunehmen. Diese zweite Phase des Kubismus, der synthetische Kubismus, manifestierte das künstlerische Streben nach der Autonomie der bildnerischen Mittel und der Kunst an sich. Diese Erweiterung der bildnerischen Mittel diente dazu, das Bild mit noch größerer Direktheit als materielles Faktum bewusst zu machen. Die sogenannten „Objets Trouves“ brachten die Wirklichkeit quasi leibhaftig in die Darstellung mit ein und so wird das irritierende Spiel mit dem Widerspruch zwischen dem faktischen und dem illusionistischen Aspekt des Bildes um neue Register bereichert. Das Kunstwerk kann durch seine eigenen Gesetze unterworfene Gefüge die Kraft, dem Alltagsgegenstand seine eigentliche Funktion nehmen und ihn zu einem ästhetischen Objekt machen.
Somit sind die kubistischen Kollagen höchst abstrakt und real zugleich. Durch diese Kombination geraten sie zu einer künstlerischen Hinterfragung des Verhältnisses zwischen Kunst und Wirklichkeit, eine Frage, die Künstler auf unterschiedliche Weise immer wieder beschäftigen wird.
4. Die Großstadt: Wahrnehmung und Darstellung
4.1. Die Psychologie des Großstädters
Nur weiter, nur weiter! Diese Losung der Atemlosigkeit gehört zur Existenzform des großstädtischen Stadtlebens.[7]
Die Zeit um 1900 ist gekennzeichnet von wirtschaftlichem Wachstum, Entwicklungen im technischen Bereich und Expansion der Städte. Die Moderne lässt sich am besten an der Entwicklung der Städte ablesen und der damit einhergehenden Ereignisse, wie der Elektrifizierung der öffentlichen Verkehrsmittel und der Erfindung von Telegraph und Telefon. Die Erfahrungen der Großstadtbewohner waren geprägt von neuen Entwicklungen, die sich rasend schnell verbreiteten und den Menschen Anpassung an dieses Tempo abverlangten. Der Verkehr spielt hierbei eine tragende Rolle, denn er brachte einen völlig neuen Rhythmus in die Abläufe der Stadt. Während sich zu Zeiten von Pferdefuhrwerken das Tempo auf natürliche Weise regulierte, sahen sich die Menschen um die Jahrhundertwende konfrontiert mit Transportmitteln, die sie immer schneller und schneller von A nach B brachten. Nicht nur sie selbst waren in Bewegung, sondern die Maschine mit ihnen. Die daraus resultierende Flut von vorbeiziehenden Bildern und Eindrücken war kaum noch zu bewältigen. Der fließende Verkehr wird zum Sinnbild für das prickelnde Leben der Moderne. Beleuchtete Bahnen gleiten durch nächtliche Straßen und suggerieren so ein Bild, als wären die Straßen die Adern der Stadt, durch die das Blut pulsiert.
Dem Reisenden wird die vorbeiziehende Landschaft zur Leinwand, aus der er nur einzelne Szenen aufnehmen kann, die sich in der Menge der Eindrücke jedoch wieder verlieren. Die Sehweise der Menschen ändert sich, sie müssen plötzlich in der Lage sein, eine riesige Menge von Einzeleindrücken und Momentaufnahmen über ihre Netzhaut flimmern zu lassen, ohne sie richtig wahrzunehmen. Einer Filmtechnik gleich werden die einzelnen Bilder aneinandergereiht. Ein Landbewohner wird bei seinem Besuch in der Großstadt wohl von den Eindrücken, die auf ihn einprasseln überfordert die Augen schließen. Sabina Becker formuliert in ihrem Buch Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900 – 1930: „Die Schnelligkeit des Bildwechsels und die Flüchtigkeit der einzelnen Bilder nehmen zu. Diese Flüchtigkeit wird zum wichtigsten Kennzeichen der Moderne.“[8] Die urbane Wahrnehmung ist um 1900 also beeinflusst von Bewegung, Tempo und Flüchtigkeit.
Theorien zur Großstadtwahrnehmung laufen im Prinzip auf den Kernpunkt, die Reizüberflutung hinaus. Der Sozialpsychologe Willy Hellpach betont diese Problematik der engen Verbindung zwischen großstädtischer Reizüberflutung und der verstandesmäßigen Reaktion der Menschen 1952 in seinem Buch Mensch und Volk der Großstadt.
Bedrohlich sieht Hellpach den „Tatbestand der Menge“[9] und die daraus resultierende Enge im Gedränge für den Großstadtmenschen. Die dadurch veränderte Wahrnehmung fußt auf einer extremen Massendynamik, die Hellpach wie folgt beschreibt:
Zugleich aber befinden sie sich in unablässiger Bewegung – miteinander, gegeneinander, durcheinander; es ist nicht die Massenstatik einer Riesenversammlung, einer gewaltigen Feier, es ist eine ungeheuerliche Massendynamik, ein Strömen und Fluten, Wirbeln und Strudeln von Menschen, in dem sich unaufhörlich alles verschiebt – darum ein ewiger Wechsel.[10]
Diese ständige Bewegung ruft im Menschen eine Reaktion hervor, die Hellpach „Reizsamkeit“ nennt, eine veränderte Art, auf all die äußeren Reize anzusprechen. Man kann von einer erhöhten Wachsamkeit des Großstadtmenschen sprechen. Aus dieser Wachsamkeit resultiert die übersteigerte Nervosität, die Hellpach dem Großstädter attestiert. Für die urbane Wahrnehmung ergibt sich daraus ein Aneinanderreihen von Eindrücken, die zwar wahrgenommen, jedoch nicht verinnerlicht oder verarbeitet werden können, da sie in der vorliegenden Menge nicht zu bewältigen sind. Hellpach formuliert:
Die Beobachtungsweise des Großstadtmenschen ist rasch und scharf, aber sie kann, denn sie darf weder tief noch innig sein. Jeder der zahllosen Eindrücke ist nur dazu da, um erfasst und bewältigt, keiner aber, um festgehalten und bewahrt zu werde. Der Gesamtinnenzustand, der sich auf solche Weise entfaltet, die „sensuelle Disposition“ des Großstädters, wird vorzüglich mit dem Wort Reizsamkeit bezeichnet.[11]
Doch die Reizsamkeit und Nervosität, die der Mensch im Inneren trägt, ist nicht nur problematisch im Bezug auf sein Innenleben, sondern vor allem in Bezug auf das Miteinander, im Bezug auf das Zwischenmenschliche.
Nach Hellpach ist die Großstadt der Ort der schnell voranschreitenden Entfremdungsprozesse. Die Menschen kennen sich nicht mehr untereinander, sie eilen aneinander vorbei, ohne sich konkret wahrzunehmen. Das Interesse am Mitmenschen, am Nachbarn schrumpft, ja verkümmert sogar. Hellpach formuliert:
Wo so viele Mitgeschöpfe ununterbrochen durchs Gesichtsfeld eilen, immer wieder andere, dort bleibt nicht bloß keine Zeit, mich mit ihnen innerlich zu verknüpfen, dort entführt sie mir die atemlose Dynamik dieses Engraumes nicht bloß in den nächsten Augenblick wieder, sondern dort ermattet und verkümmert auch das innere Interesse an ihnen.[12]
Georg Simmel hat diesen Zustand in seinem Beitrag Die Großstädte und das Geistesleben schon 1900 erforscht und wurde weitgehend von Hellpach bestätigt.
Nach Simmel kommt der sogenannte Reizschutz des Großstädters zum Tragen. Der Verstand des Menschen wird zum Schutzschild vor der Reizüberflutung, das Bewusstsein bildet mit der „Verstandesmäßigkeit“[13] einen Panzer. Dieser Panzer funktioniert automatisch und macht auch vor der Zwischenmenschlichkeit nicht halt. Simmel spricht von der „Blasiertheit“ der Großstädter und deren „Reserviertheit“ gegenüber zweiten.
Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien; (...) Die so entstehende Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren, ist eben jene Blasiertheit, die eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt.[14]
Grundsätzlich sieht Simmel die Wandlung des modernen Bewusstseins als Prozess der Abstraktion. Der Schock der überwältigenden, unmittelbaren sinnlichen Erfahrung wird mit dem abstrahierenden, unsinnlichen Intellekt überwunden. Es regiert die Vorherrschaft des Verstandes in der Stadt, nicht die romantische Versenkung in einen einzelnen Augenblick. So kommt es, dass die urbane Wahrnehmung zum Lebensmotto der Masse wird. Hellpach folgert:
Viel rascher als der Kleinstädter und Dörfler ist der Großstadtmensch genötigt, aber auch bereit, die Wohnung, den Posten, die Gaststätte zu wechseln; er kann es auch weit unauffälliger, denn es fragt niemand weiter nach.[15]
Der entscheidende Zug der großstädtischen Persönlichkeit ist für Simmel die Vorherrschaft des Verstandes, was sowohl in der Psyche des Großstädters als auch in der gesellschaftlichen Struktur verankert ist. Die Geldwirtschaft, in Simmels Analyse der Moderne das entscheidende Phänomen, bedingt den rechnenden Intellekt. Das Geld verändert den Blick der Menschen auf die Dinge, wie auf die Mitmenschen.
Die Städte, von jeher Zentren des Handels, sind auch der Sitz der Geldwirtschaft. Somit ist der Großstädter gezwungen, sich mit der Wechselwirkung zwischen Geldprinzip und städtischem Lebensstil auseinanderzusetzen. Die durch die Vorherrschaft des Geldprinzips bestimmte moderne Geisteshaltung fasst Simmel als eine rechnende auf. Das Bewusstsein der Großstädter ist unentwegt mit dem Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt.
Erfahren wir doch in einer Studie des Magazins Psychologie heute, dass die Frau der Großstadt in erster Linie an einem Partner mit wohlsituiertem Lebensstil interessiert ist, wohingegen die Frau aus ländlicher Gegend Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit und Kommunikationsfähigkeit an erste Stelle setzt.
Die Bewohner der Stadt sind sich also äußerlich sehr nahe, innerlich jedoch entfremdet. Hellpach benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff „Kaltschnäuzigkeit“, der der „Blasiertheit“ von Simmel sehr nahe kommt und auch „dissoziale Lebensform“ genannt werden kann. Eindeutig kommt es zum Gegeneinander zwischen Entfremdung und Freiheit. Der Spruch „Stadtluft macht frei“ beinhaltet diese Gegensatzpaare.
So beschreibt Robert E. Park in seinem Buch The City as social laboratory:
Another thing that makes the city an advantageous place to study social life and gives it the character of a social laboratory is the fact that in the city every characteristic of human nature is not only visible but is magnified.
In the freedom of the city every individual, no matter how eccentric, finds somewhere an environment in which he can expand and bring what is peculiar in his nature to some sort of expression. A smaller community sometimes tolerates eccentricity, but the city often rewards it. Certainly one of the attractions of a city is that somewhere every type of individual – the criminal and beggar, as well as the man of genius – may find congenial company and the vice or the talent which was suppressed in the more intimate circle of the family or in the narrow limits of a smaller community, discovers here a moral climate in which it flourishes.[16]
Das Überangebot an Anregungen lässt den Menschen abstumpfen gegenüber den Unterschieden der Dinge. Analog zur Verstandesherrschaft ist das Phänomen der Blasiertheit jedoch nicht bloß physiologischer Reflex, sondern, nach Simmel, eine Folge der Geldwirtschaft. Das Geld tritt bei Simmel als Nivellierer auf, denn es ebnet die Unterschiede der Dinge ein, indem es sie vergleichbar macht. Indem das Geld die Dinge quantitativ vergleichbar macht, ohne ihre qualitativen, spezifischen Unterschiede anzuerkennen, entwertet es die objektive Welt.[17]
Hier drängt sich die Analogie zu Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ auf. Benjamins Begriff der Aura, die durch die Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes bedroht wird, ähnelt durchaus dem, was Simmel als Kern der Dinge durch das Geldprinzip ausgehöhlt sieht. Benjamin definiert die Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“[18] Die Aura ist somit ein Ausdruck innerer Distanz, sozusagen Unnahbarkeit. Sie entspricht dem, was Benjamin als den Kultwert des Kunstwerkes bezeichnet. Ihm gegenüber steht der Begriff des Austellungswertes. Für den Kultwert ist die innere Qualität entscheidend, der Ausstellungswert hingegen ist quantifizierbar. Die moderne Massenkultur ist bei Benjamin die Ursache für das Anwachsen der Ausstellbarkeit und den Verfall der Aura. „Die Dinge sich räumlich und menschlich näher zubringen ist genauso leidenschaftliches Anliegen der Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.“[19]
Die Analyse vom Verlust des Einmaligen verbindet Simmel und Benjamin. So lässt sich Benjamins These als Fortführung von Simmels lesen, wenn er schreibt:
Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur der Wahrnehmung, deren „Sinn für das Gleichartige in der Welt“ so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.[20]
Die Nivellierung der Unterschiede erscheint hier als Phänomen der durch gesellschaftliche Entwicklungen (großstädtische Geldwirtschaft bei Simmel, moderne Massenkultur bei Benjamin) veränderten Wahrnehmung.
Hellpach sieht in dem Mengendasein a priori die unausweichliche Nivellierung des Einzelnen, denn:
Die Menge in der Enge kann wiederum nur bestehen – bestehen vor den Anforderungen des Alltags – weder jeder sich jeden Augenblick den eintönigen Gesetzen anpasst, die für das (äußerliche und innerliche) Vorankommen unter so gearteten Umständen gelten.[21]
Der einzelne Bewohner ist einsam und pflegt sozusagen seine Subjektivität. Er ist ganz auf sich gestellt und beschäftigt sich auch in erster Linie nur mit sich selbst. Das so entstehende Spannungsfeld zwischen Nivellierung und Subjektivität findet sich in dem oben erwähnten Slogan „Stadtluft macht frei“ wieder. Die Subjektivität bezeichnet Simmel als Individualismus, den er nicht als Alternative zu einer entfremdeten Welt sieht, sondern als Produkt einer solchen.
Sicherlich ist die Entfremdung ausschlaggebend für wachsende Kriminalität und ungeklärte Verbrechen in den Großstädten. Der Einzelne kann leicht untertauchen in einer Masse, die nur auf sich selbst fixiert ist, wo keiner seinen Nachbarn kennt. Dieses Stück „Freiheit“, die Anonymität, findet sich auf dem Land oder Dorf sicherlich nicht. Hier haben die Bewohner oftmals unter ihrer Bekanntheit zu leiden. Hellpach formuliert weiter:
Es gibt in kleinen Städten und auf dem Lande eine ganze Gattung von Gemütsbewegungen und Charakterzügen, die in den Umständen der Großstadt viel weniger Nährböden finden und darum hier minder üppig gedeihen.[22]
Gemeint sind Zustände wie Nachbarschaftsstreitereien, Nachbar- schaftsneid, Klatschsucht, Eifersucht oder Missgunst.
So scheint es, als kreiere die Großstadt ihren eigenen, passenden Menschentypus, dessen Angewohnheiten und Lebensweise ganz auf den ihn umgebenden Lebensort angepasst sind. Hellpach formulierte provokant:
Ja, kann denn die Stadt, wie bescheiden oder wie riesenhaft sie sei, kann irgendein Daseinsschauplatz, ein Lebensstandort aus irgend einem Wesen, ob Pflanze, ob Tier oder Mensch, etwas anderes machen, als dieses Wesen ist?[23]
Diese Frage haben sowohl er selbst als auch Georg Simmel schon 1900 tieflegend durchdacht und geklärt. Die anfängliche Flucht vor der Überreizung in die, wie Helmut Lethen sie in seinem Buch Verhaltenslehre der Kälte beschreibt, „Coolness“[24] wird zur inneren Einstellung, zur Lebenshaltung, die den Menschen nachweislich verändert. Sicherlich verändert sich kein Tier zum Mensch, kein Mensch zum Tier, aber dennoch muss durchaus von einer Wesensveränderung gesprochen werden.
Eine interessante Ergänzung zu Simmel und Hellpach zeigt Sabina Becker, wenn sie beschreibt:
Die Begegnung mit der städtischen Realität konstituiert sich aus flüchtigen Wahrnehmungen, die keine Erinnerung hinterlassen und sich zum momentanen Erlebnis verdichten. Somit entspricht dem Gegensatzpaar Erfahrung – Erlebnis der Kontrast zwischen der ländlichen und der städtischen Lebensform.[25]
Während der Dorfbewohner quasi einen ankommenden Reiz nach dem anderen wahrnehmen und verarbeiten kann, ist der Großstädter genötigt, seine Sinne auf ein Maximum zu strapazieren und seine Wahrnehmung zu selektieren. So entwickelt sich der Mensch in der Metropole automatisch zu einem anderen Typus hin, der den Gegebenheiten gewachsen ist. Urbane Wahrnehmung geht also einher mit einer Veränderung des Städters sowohl in seinem Verhalten als auch in seinem Inneren.
4.2. Formen der Darstellung in der Literatur
Die neue Stadtkultur ist dynamisch aber inhaltsleer, insofern bedarf sie der künstlerischen Transformation entweder im prophetischen Vorgriff auf eine neue Ordnung des Bewusstseins (...) oder aber in der Übersetzung von materieller Energie in die Dynamik des künstlerischen Ausdrucks.[26]
Die Darstellung der Großstadt tritt als wichtiges Thema in der Moderne auf. Man kann zu recht behaupten, die Moderne ist die Kunst der Städte. Die Untrennbarkeit von Moderne und Stadt ist eine auffällige Parallele zum Verhältnis zwischen Literatur und Malerei. Betrachten wir das Motiv der Großstadt in der Literatur, werden wir automatisch zur bildenden Kunst hingeführt und umgekehrt. So manifestiert sich der Zusammenhang zwischen Moderne und Stadt sowohl in impressionistischer als auch in expressionistischer Stilrichtung der Malerei. An dieser Stelle möchte ich allerdings die beiden Stilrichtungen nur in ihrem literarischen Zusammenhang untersuchen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, Großstadt in der Literatur zu erfahren. Zum einen sehen wir sie durch die Augen der Protagonisten und Figuren im Allgemeinen, zum anderen ist es der Erzähler selbst, der die Wahrnehmung des Rezipienten lenkt.
Wie bereits ausgeführt, ist die Wahrnehmung durchzogen von flüchtigen Impressionen, deren Manifestation in der Beschreibung der Massen- transportmittel gipfelt. Die vorbeiziehenden Bilder bleiben kurzfristig als Impressionen haften, um sich dann zu verflüchtigen. Kein Großstadtroman kommt ohne diese Beschreibungen aus, von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz über Edgar Allen Poes The Man of The Crowd, bis zu James Joyces Ulysses. Es stellt sich die Frage, welche Wahrnehmung für die Großstadt angemessen ist? Die Literaten um 1900 waren selbst konfrontiert mit neuen Entdeckungen, Erfindungen und der Fortschrittsmaschine Stadt. Sie selbst waren mittendrin im großstädtischen Leben, waren selbst Beobachter und Rezipient in einem. Im Vordergrund ihrer Beobachtungen steht die Anonymität der Großstadt. In diesem Zusammenhang ist der Begriff Stadt doppelt besetzt: Zum einen isoliert die Anonymität, zum anderen befreit sie. Die sinnliche Reizung der Stadt stimuliert und zerstreut zugleich. Die Dynamik überwältigt und bedroht in einem. Die Ambivalenz der Stadt manifestiert sich in ihrer zerstörerischen Kraft und in ihrer geistigen Energie. Daraus ergeben sich in der künstlerischen Darstellung verschiedene Ansätze zur Rezeption der Maschine Großstadt. Als Sinnbild für die Mechanisierung des Menschen wird deutlich auf die Entfremdung von der Natur hingewiesen. Die Stadt erstarkt mit der industriellen Welt zu einer zweiten, einer gemachten Natur, in der nicht der Bruch mit der Natur, sondern die Kontinuität mit dem amerikanisierten Westen thematisiert wird.
[...]
[1] Zitiert nach: Townsend Ludington, John Dos Passos. A Twentieth Century Odyssey ( New York, 1980), S. 120.
[2] Glen Mcleod, “The Visual Arts,“ in: Michael Levenson (Hg.), The Cambridge Campanion to Modernism (Cambridge, 1999), S. 194.
[3] Vgl. Gerd Hurm, Fragmented Urban Images (Frankfurt/Main, 1991), Kapitel ”Politics and the Cubist City” ab Seite 226.
[4] Vgl. 6.1.1, 6.1.2., 6.1.3. , 6. 2. 1..
[5] Vgl. 6.1.4., 6.1.5., 6.2.1., 6.2.3..
[6] Vgl. 4.1.
[7] Willy Hellpach, Mensch und Volk der Großstadt (Stuttgart, 1939), S. 67.
[8] Sabina Becker, Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930 (St. Ingbert, 1993), S. 40.
[9] Hellpach, S. 67.
[10] Ebd. S. 68.
[11] Hellpach, S. 71.
[12] Ebd. S. 74.
[13] Vgl. Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit (Frankfurt, 1970).
[14] Simmel, S. 196.
[15] Hellpach, S. 72.
[16] Robert E. Park, The City as social laboratory, (Chicago, 1968), S. 19.
[17] Vgl. Simmel .
[18] Walter Benjamin Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt, 1998), S. 480.
[19] Benjamin, S. 479.
[20] Ebd. S. 479 f.
[21] Hellpach, S. 75.
[22] Hellpach, S. 75.
[23] Ebd. S. 35.
[24] Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (Frankfurt, 1994).
[25] Becker, S. 5.
[26] Hubert Zapf (Hg.), Amerikanische Literaturgeschichte (Stuttgart, 1997), S. 262.
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