Der Protestantismus hatte seit der Reformation bis zu Johann Sebastian Bach eine vielgestaltige Kirchenmusik hervorgebracht, die mehr von der weltlichen als von der katholischen Musik beeinflusst wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts verfiel die Bedeutung und das Niveau der evangelischen Kirchenmusik. Die Kantaten von Johann Sebastian Bach wurden schon bald nach seinem Tod nicht mehr aufgeführt, denn man kritisierte ihre Kompliziertheit. Auch die Kirchenkantate als eine speziell evangelische Musikgattung fiel den geänderten Umständen zum Opfer. Zwischen 1750 und 1790, also in der vorklassischen Epoche, klafft eine große Lücke in den musikgeschichtlichen Darstellungen über evangelische Kirchenmusik. Der Text wird zu einer allgemein frommen Betrachtungsweise und löst sich mehr und mehr vom liturgischen Sujet des Tages.
Erst Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn der Romantik und des Historismus nimmt auch die Bedeutung von Kirchenmusik wieder zu. Die alte Musik von Palestrina bis Bach wird neu entdeckt und viele Musiker versuchen wieder, Kirchenmusik zu schreiben und zur Aufführung zu bringen: meist jedoch im Konzertsaal. Doch Kirchenmusik bleibt eine Randerscheinung und wird von den Musikkritikern der Zeit entweder belächelt oder mit einer gewissen Sorge betrachtet, da sich die Komponisten der Funktion von Kirchenmusik im Gottesdienst gar nicht bewusst waren und diese ihrer Funktion beraubten.
Die vorliegende Hausarbeit versucht diesbezüglich zu klären, warum die Kirchenmusik im beginnenden
19. Jahrhundert kaum Beachtung fand und trotzdem heute wie damals kontrovers diskutiert wird und
wurde. Es soll versucht werden, die problematische Stellung der Kirchenmusik Anfang des 19. Jahrhunderts zu verdeutlichen und zu klären, welche Rolle Felix Mendelssohn - Bartholdy in diesem Zusammenhang spielte. Wo war Mendelssohn ein Kind seiner Zeit, wo griff er auf Vergangenes zurück? Und ist Mendelssohns kirchenmusikalisches Frühwerk als so unbedeutend zu werten, wie es wahrgenommen wird?
Anhand der Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“, welche Mendelssohn nach intensiver Beschäftigung mit Werken von Johann Sebastian Bach schon 1830 komponierte, soll versucht werden die musikalische Beziehung Mendelssohns zu seinem großen Vorbild Bach zu analysieren. Außerdem soll die Hausarbeit zeigen, dass Mendelssohn in seinem kirchenmusikalischen Schaffen schon relativ früh ganz eigene Wege beschritt. [...]
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
I. Einleitung
II. Die Voraussetzungen für Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen
2.1. Die ästhetische Problematik geistlicher Musik im 19. Jahrhundert
2.2. Der romantische Historismus oder die „Wiedererweckung Bachs“
III. Felix Mendelssohn Bartholdy – Traditionalist oder Erneuerer?
3.1. Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen – ein Überblick
3.2. Mendelssohns Frühwerk im Zusammenhang mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829
IV. Johann Sebastian Bach und die evangelische Kirchenmusik
4.1. Die Geschichte der evangelischen Kirchenmusik vor Bach
4.2. Die Bedeutung von Kontrafaktur in der evangelischen Kirchenmusik
4.3. Die besondere Stellung des Chorals in der evangelischen Kirchenmusik
4.4. Die Entstehungsgeschichte der Kantate
4.4.1. Die Kantatenentwicklung vor Bach
4.4.2. Die Choralkantate
4.4.3. Das Kantatenschaffen Bachs
4.5. Der II. Leipziger Jahrgang 1724/1725 und die späten Kantaten Bachs
4.5.1. Das „Choralkantatenjahr“ 1724/1725
4.5.2. Bachs Rückkehr zur älteren Kantatenform und seine deutliche Distanzierung von den Gattungsnormen der Zeit
V. Analyse
5.1. Die Entstehungsgeschichte des Kirchenliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“
5.2. Harmonische Analyse der Bach´schen Choräle auf das Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“
5.2.1. Die Verwendung des Kirchenliedes in der Matthäuspassion
5.2.1.1. „Befiehl du deine Wege“ (Matthäuspassion)
5.2.1.2. „O Haupt voll Blut und Wunden“ (Matthäuspassion)
5.2.1.3. „Wenn ich einmal soll scheiden“ (Matthäuspassion)
5.2.2. Choral: „Wie soll ich dich empfangen“ (Weihnachtsoratorium)
5.2.3. Choral: „Der Leib zwar in der Erden“ (Kantate BWV 161)
5.2.4. Arie „Ich folge dir nach“ mit dem Choral „Ich will hier bei dir stehen“ (Kantate BWV 159)
5.2.5. Eingangschor „Ach Herr mich armen Sünder“ (Kantate BWV 135)
5.3. Ein Vergleich der Choräle in Bezug auf Bachs Verhältnis zwischen Kontrapunktik und Harmonie
5.4. Die Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy
5.4.1. Die Entstehung der „Choralkantate“
5.4.2. Der allgemeine Aufbau des Werkes
5.4.3. 1. Chor. Andante
5.4.4. 2. Aria. Andante con moto
5.4.5. 3. Choral. Allegro moderato
5.5. Bach und Mendelssohn – ein Vergleich der Werke
VI. Zusammenfassung
VII. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Der Protestantismus hatte seit der Reformation bis zu Johann Sebastian Bach eine vielgestaltige Kirchenmusik hervorgebracht, die mehr von der weltlichen als von der katholischen Musik beeinflusst wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts verfiel die Bedeutung und das Niveau der evangelischen Kirchenmusik. Die Kantaten von Johann Sebastian Bach wurden schon bald nach seinem Tod nicht mehr aufgeführt, denn man kritisierte ihre Kompliziertheit. Auch die Kirchenkantate als eine speziell evangelische Musikgattung fiel den geänderten Umständen zum Opfer. Zwischen 1750 und 1790, also in der vorklassischen Epoche, klafft eine große Lücke in den musikgeschichtlichen Darstellungen über evangelische Kirchenmusik. Der Text wird zu einer allgemein frommen Betrachtungsweise und löst sich mehr und mehr vom liturgischen Sujet des Tages.
Erst Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn der Romantik und des Historismus nimmt auch die Bedeutung von Kirchenmusik wieder zu. Die alte Musik von Palestrina bis Bach wird neu entdeckt und viele Musiker versuchen wieder, Kirchenmusik zu schreiben und zur Aufführung zu bringen: meist jedoch im Konzertsaal. Doch Kirchenmusik bleibt eine Randerscheinung und wird von den Musikkritikern der Zeit entweder belächelt oder mit einer gewissen Sorge betrachtet, da sich die Komponisten der Funktion von Kirchenmusik im Gottesdienst gar nicht bewusst waren und diese ihrer Funktion beraubten.
Die vorliegende Hausarbeit versucht diesbezüglich zu klären, warum die Kirchenmusik im beginnenden 19. Jahrhundert kaum Beachtung fand und trotzdem heute wie damals kontrovers diskutiert wird und wurde. Es soll versucht werden, die problematische Stellung der Kirchenmusik Anfang des 19. Jahrhunderts zu verdeutlichen und zu klären, welche Rolle Felix Mendelssohn - Bartholdy in diesem Zusammenhang spielte. Wo war Mendelssohn ein Kind seiner Zeit, wo griff er auf Vergangenes zurück? Und ist Mendelssohns kirchenmusikalisches Frühwerk als so unbedeutend zu werten, wie es wahrgenommen wird?
Anhand der Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“, welche Mendelssohn nach intensiver Beschäftigung mit Werken von Johann Sebastian Bach schon 1830 komponierte, soll versucht werden die musikalische Beziehung Mendelssohns zu seinem großen Vorbild Bach zu analysieren. Außerdem soll die Hausarbeit zeigen, dass Mendelssohn in seinem kirchenmusikalischen Schaffen schon relativ früh ganz eigene Wege beschritt. Die Gründe für sein Interesse an alter Kirchenmusik liegen sowohl in seiner Biografie als auch an den zeitlichen Umständen. Mendelssohn verstand es, die barocke Kontrapunktik mit romantischer Harmonik zu verbinden und entwickelte so seinen ganz eigenen kirchenmusikalischen Stil.
II. Die Voraussetzungen für Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen
2.1. Die ästhetische Problematik geistlicher Musik im 19. Jahrhundert
Das spezifische Problem evangelischer Kirchenmusik entstand dort, wo sie nach ihrem eigenen Verständnis der Geschichte ausgesetzt war. Denn so, wie sich der protestantische Gottesdienst schon während der Aufklärung veränderte, änderten sich auch das Verständnis und die Bedeutung der Musik. Das wiederum stellte eine logische Konsequenz aus der reformatorischen Musikauffassung dar, wie sie schon Martin Luther vertrat. Denn die Musik im protestantischen Gottesdienst diente nicht, wie im katholischen Pendant, einem unveränderlichem Kultus. Vielmehr versuchte sie, sich den menschlichen Situationen in jeder Zeit anzupassen und diente dem Verständnis von Gottes Wort. So wurde der Choral das wichtigste Element im evangelischen Gottesdienst. Aus dieser Aufgabe heraus veränderte sich die evangelische Kirchenmusik aber auch die Liturgie des Gottesdienstes im Laufe der Zeit und war sehr von weltlichen Gegebenheiten abhängig.
Die geistliche Musik des 19. Jahrhunderts löste sich so immer mehr von ihrer liturgischen Funktion. Und schon im kirchenmusikalischen Schaffen von Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach wurden Ablösungstendenzen von strenger kirchlicher Einbindung sichtbar. Doch umso mehr sich die geistliche Musik von ihrer Zweckgebundenheit löste, desto mehr traten ihre ästhetischen und qualitativen Probleme hervor. Der subjektive Eigenwert und die individuelle Empfindung wurden die zwei maßgeblichen Kriterien der Musikwissenschaftler zur Beurteilung von Musik. Die Ästhetik als „Lehre vom Schönen“ gewann immer mehr an Bedeutung, da Kunst nicht mehr funktionsgebunden war oder sein sollte.
Die religiöse Musik Anfang des 19. Jahrhunderts war oft nicht mehr bestimmt von ihrer liturgischen Position oder ihrer kirchlichen Verwendung, sondern von den Empfindungen, die durch sie ausgelöst werden konnten. Und so unterteilte sich die geistliche Musik des 19. Jahrhunderts in religiöse Musik einerseits und streng kirchliche, also liturgisch gebundene, Musik andererseits. Die religiöse Musik war eher durch ästhetische Motive bestimmt. Durch den Autonomiebegriff, den „richtige“ Kunst für sich beanspruchte, geriet nicht nur die religiöse Vokalmusik in den Schatten der Instrumentalmusik, sondern auch die Möglichkeiten einer religiösen Instrumentalmusik wurden fragwürdig. „In dem Maß, in dem Musik als religiös definiert ist, droht ihr der Verlust des Kunstcharakters. In dem Maß aber, in dem sie Kunst wird, tendiert sie zur Einbuße kirchlicher Funktion.“ (Krummacher, S.385)
Der Musikwissenschaftler Walter Wiosa betrachtete diesen Verlauf als positiv: „Die außerliturgisch-religiöse Musik gehört zum Gehaltvollsten, was das 19. Jahrhundert an Musik hervorgebracht hat. Sie war nicht, wie die damalige Kirchenmusik, eine Provinz am Rande großer Kunst, sondern ein zentraler Bereich.“ („Religiöse Musik in nicht-liturgischen Werken von Beethoven bis Reger“, Regensburg 1978, S.8, in: Clostermann, S.16)
Die meisten seiner Zeitgenossen sahen der Entwicklung jedoch eher mit Skepsis entgegen. Denn wie sollte eine Musik autonom sein, wenn sie doch immer eine ganz bestimmte Intention vermittelt und für einen ganz bestimmten Zweck, der Verkündung von Gottes Wort (dies kann auch instrumental geschehen!), geschaffen wird?
2.2. Der romantische Historismus oder die „Wiedererweckung“ Bachs
Um all diesen ästhetischen Problemen und Erwägungen nicht ausgesetzt zu sein, bedienten sich gerade die Komponisten geistlicher Musik mehr und mehr historischen Vorbildern und wurden geprägt durch die historischen Modelle der Vergangenheit. Denn die frühere Phase der Kirchenmusik galt im Rückblick als die vollkommene und „klassische“, während die geistliche Musik des 19. Jahrhunderts nach Ansicht der Musikkritiker einen „Substanzverlust“ erlitt.
Dabei wurde jedoch im Grunde auf zwei verschiedene Vergangenheiten zurückgegriffen: Die katholische Bewegung der Restauration sah ihren Ausgangspunkt im italienischen A-Capella – Stil der Vokalpolyphonie der Renaissance, den vor allem Giovanni Pierluigi da Palestrina prägte. Die zeitlich fast parallel verlaufende Bewegung des protestantischen Historismus entstand auf der Grundlage der großen barocken Meister in Deutschland: Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Den Anstoß auf die Rückbesinnung zu Bach gab eine Aufführung der Matthäuspassion durch die Berliner Singakademie unter der Leitung von Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahre 1829.
In diesem Sog des aufkommenden Historismus wurde auch eine Reform des Kirchenliedes eingeleitet, wodurch die alten lutherischen Choräle wieder in den Gottesdienst aufgenommen werden sollten. In der kirchlichen Praxis fanden sie jedoch erst 1854, nach dem Tod Mendelssohns, wieder Eingang in den Gottesdienst. Außerdem bekam der vierstimmige Choralsatz eine ganz neue Bedeutung. Er galt als Mustersatz, der absolute Reinheit forderte. Für den damaligen Theologen Friedrich Schleiermacher hatte die Musik ihren Ort im christlichen Gottesdienst ursprünglich in der Form des Gesanges, und somit in Form des Chorals. „Gesang ist die Verbindung von Poesie und Musik.[..] Das poetische ist überwiegend, das musikalische bezieht sich nur auf das poetische.“ (Schleiermacher: „Praktische Theologie, Berlin 1850, S.168 in: Clostermann, S.19) Auch E.T.A. Hoffmann, Schriftsteller und praktischer Musiker, trat für die Wiederbelebung der Werke alter Meister ein. Jedoch machte er auf das entscheidende Problem der alten geistlichen Musik aufmerksam: „...das Hervorrufen der alten Werke ersetzt daher (aber) keineswegs ihr Verschwinden aus den Kirchen.“ (in: Musikalische Schriften, hrsg. Von H. vom Ende, Leipzig 1899, S.277) Die alten Meister wurden in großen Konzertsälen gespielt und so aus ihrem kirchlich liturgischen Rahmen herausgerissen. Doch Kirchenmusik und Liturgie bedingen sich gegenseitig. Und so war unter anderem Mendelssohn sehr darum bemüht, auch die alte geistliche Musik wieder in die Liturgie des Gottesdienstes einzubinden.
Es gab aber auch viele Musikkritiker und Komponisten, die strikt gegen eine Wiedererweckung Bach´scher und Händel´scher Werke waren. So zum Beispiel der Musikwissenschaftler Johann Christian Lobe, der die Werke der barocken Komponisten als „nicht gemäß“ empfand. (Lobe: Johann Sebastian Bach in: Musikalische Briefe. Die Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler. II.Teil, Leipzig 1852, S.7, in: Clostermann, S.64) Bach schrieb laut Lobe nicht Musik fürs Gefühl. Sie sei veraltet und kompliziert und daher nicht verständlich für die Gemeinde.
Trotz dieser ganz unterschiedlichen Ansichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es doch bei allen Komponisten und Musikkritikern der Zeit gemeinsame Grundzüge, die nicht zu übersehen waren: Es ging immer um die Frage, wie Kirchenmusik zu verändern beziehungsweise zu verbessern sei.
III. Felix Mendelssohn-Bartholdy – Traditionalist oder Erneuerer?
3.1. Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen – ein Überblick
Um Mendelssohns kirchenmusikalisches Werk und seine Intention zu verstehen, ist es erforderlich, die Zeitumstände zu betrachten, in die Mendelssohn buchstäblich hinein geboren wurde. Denn wie viele andere wurde auch er sehr von dem vorbereitenden, noch nicht endgültigen, Charakter der Zeit bestimmend beeinflusst. Mendelssohn war sowohl ein Zeitgenosse der Klassik als auch der Romantik. So starb Joseph Haydn im Geburtsjahr Mendelssohns und Beethoven war auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Schaffenskraft. Doch sein Spätwerk war und blieb für seine Zeitgenossen unverständlich. Und weil Beethoven zwar als genial galt, aber seine Musik nicht verstanden wurde, schlugen die jüngeren Komponisten einen völlig anderen Weg ein. Der Geist einer neuen Epoche wuchs heran und mit ihr kamen keine Symphonien, sondern Kunstlieder und Opern. Geprägt wurde diese Zeit durch Künstler und Komponisten wie Robert Schumann, Carl Maria von Weber, Franz Schubert oder eben Mendelssohn. Und während Schubert sich den Liedern widmete, Schumann Klavierstücke schrieb und Weber die Oper bevorzugte, hatte es Mendelssohn die Kirchenmusik angetan. Das heißt natürlich nicht, dass diese Komponisten nur Werke einer Gattung komponierten und auch Mendelssohn hat viele weltliche Stücke geschrieben. Durch diese wurde er zu seiner Zeit auch viel bekannter, als durch seine kirchlichen Werken, doch in der heutigen Zeit verbinden die meisten Menschen mit dem Namen Mendelssohn Kirchenmusik.
Neben diesen zeitlichen Umständen gab es auch viele biografische Gegebenheiten, die Mendelssohn dazu brachten, sich intensiv mit Kirchenmusik zu befassen. So könnte das Gefühl, der Kirchenmusik verpflichtet zu sein, auch durch den Schritt des Vaters beeinflusst worden sein, vom Judentum zum Christentum überzutreten. Um sich als richtiger Christ zu fühlen und anerkannt zu werden, könnte er sich besonders intensiv mit dem Christentum und der Kirchenmusik beschäftigt haben. Das ist jedoch reine Spekulation.
Fest steht, dass Mendelssohn ganz besonders durch seinen Musiklehrer mit alter Musik und Kirchenmusik in Berührung kam: Karl Friedrich Zelter. Zelter selbst war ein großer Verehrer von Johann Sebastian Bach und Friedrich Händel und gründete 1790 die Berliner Singakademie, die vornehmlich Stücke von Händel und Bach aufführte. Mendelssohn selbst war Mitglied der Singakademie, denn alte Musik galt in der sehr gebildeten Familie Mendelssohns als hohes Bildungsgut. Und so genoss Mendelssohn bei Zelter eine alles umfassende Ausbildung, bei der zeitgemäße Kompositionen in Tonsatzübungen jedoch keine Rolle spielten.
Doch auch der Sohn Bachs Carl Philipp Emanuel, ebenfalls Komponist und zu seiner Zeit wesentlich bekannter und erfolgreicher als sein Vater, übte großen Einfluss auf Mendelssohn aus, da beide in Berlin wohnten und sich deshalb gut kannten.
Durch die vollkommene Beherrschung der musikalischen Formen bekam Mendelssohn schon in sehr frühen Jahren den Ruf eines Klassizisten. Er konnte nicht naiv komponieren und leistete sich keinerlei formale Diskrepanzen, wie es Berlioz vielleicht tat. Über seine Sonderstellung bemerkte Richard Wagner in einem Tagebuch – Eintrag 1872: „Die Musik ist die einzige naive Kunst – bis zu Mendelssohn – Beethoven hat über das Wesen der Symphonie nicht nachgedacht.“ (Cosima – Tagebücher 1, S.569)
„Ernste“ Musik war für Mendelssohn geistliche Musik und oft schrieb er geistliche Stücke nicht aufgrund eines bestimmten Anlasses, sondern weil es sein inneres Bedürfnis war. In einem Brief an die Familie im Mai 1829 äußerte er einmal: „Im Grunde sind Gott, Kunst und Leben nur eins.“ (An die Familie, London, E. Werner, Neue Sicht, S.66) Beim Komponieren im „alten Stil“ entwickelte er dabei eine ganz eigene Qualität, denn er schrieb solche Werke nicht nur aus romantischer Sehnsucht nach der großen und fernen Vergangenheit. Er hatte auch das Bestreben, seiner Musik durch die Anlehnung an verehrte Vorbilder eine gewisse Objektivität, Gültigkeit und Dauer zu verleihen.
3.2. Mendelssohns Frühwerk in Zusammenhang mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829
Felix Mendelssohn – Bartholdy brachte als Komponist schon früh seine Erfahrungen mit alter Musik in seine Werke ein. Den Zeitraum zwischen 1820 und 1830 betrachten die Musikwissenschaftler heute als Mendelssohns kompositorisches Vorstadium. Er experimentierte mit den verschiedensten musikalische Formen, dem Klang und der Satztechnik. Die Lehrzeit endet um das Jahr 1830, als er zum ersten Mal Kirchenmusikstücke zur Veröffentlichung brachte. Oft wurde ihm schon zu Lebzeiten vorgeworfen, er richte sich zu sehr nach seinen historischen Vorbildern. Mendelssohn wies das vehement zurück. 1830 schrieb er in einem Brief an Zelter: „Freilich kann mir niemand verwehren, mich dessen zu erfreuen und an dem weiter zu arbeiten, was mit die großen Meister hinterlassen haben, denn von vorne soll wohl nicht jeder wieder anfangen. Aber es soll auch ein Weiterarbeiten nach Kräften sein, nicht ein totes Wiederholen des schon Vorhandenen.“ (Clostermann, S. 31f.)
Doch wenn Mendelssohn so überzeugt war von seiner Arbeit, warum wurde dann der größte Teil seiner Kirchenmusik, besonders die frühen Werke, erst posthum veröffentlicht? Und warum nahm kaum jemand von ihnen Notiz? War Mendelssohns Jugendwerk wirklich so unbedeutend? Der Musikwissenschaftler Friedrich Krummacher versuchte eine Erklärung dieser Situation in der Person Mendelssohns selbst zu finden. Er schrieb: „Kann man schon fragen, ob die posthumen Editionen solcher Werke, die vom Autor bewusst zurückgehalten wurden, berechtigt und förderlich gewesen sind, so gilt dies zumal für die lange Reihe jugendlicher Kompositionsversuche.“ (Clostermann, S.40). Mendelssohn hatte also schon in jungen Jahren eine sehr selbstkritische Haltung und traf eine bewusste Auswahl dessen, was veröffentlicht werden durfte. Damit wird es schwierig zu entscheiden, wie bedeutend oder unbedeutend Mendelssohns Frühwerk wirklich war. Denn Mendelssohn selbst hielt es zu großen Teilen für weniger gelungen. Und gerade mit seiner Arbeit an kirchenmusikalischen Werken war Mendelssohn bis 1830 fast nie zufrieden. Und wo er das Gefühl nicht hatte, „nach besten Kräften und bester Einsicht gethan zu haben, was [er] kann“, hielt er das Stück von einer Veröffentlichung fern.
Für erstes großes Aufsehen sorgte Mendelssohn aber nicht als Komponist, sondern als Dirigent mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach mit der von seinem Lehrer Zelter geleiteten Singakademie in Berlin. Er selbst wurde, wie schon erwähnt, sehr früh Mitglied dieser Singakademie, die zu seiner Eintrittszeit etwa 290 Mitglieder umfasste. Die Akademie spezialisierte sich, auch wegen ihres Leiters Zelter, vor allem auf barocke Musik und war zu dieser Zeit die bedeutendste Einrichtung für die „Wiedererweckung“ der Musik Bachs. So studierten sie kleinere Werke von Bach und Händel ein und brachten sie bei den so genannten Freitagsmusiken zur Aufführung. An die großen Chorwerke traute sich Zelter jedoch nicht heran. Die „Große Passion“, wie die Matthäuspassion auch genannt wurde, würde zu hohe Ansprüche an Ausführende und Zuhörer stellen und so gab es vor 1829 keine vollständige Erarbeitung oder öffentliche Aufführung. Wie schon erwähnt, war die Aufführung der Matthäuspassion für Karl Friedrich Zelter zu heikel. Doch der junge Mendelssohn, er war damals gerade 20 Jahre alt, war von der Idee begeistert und so kam es am 11. März 1829 zur ersten Aufführung der Matthäuspassion durch die Berliner Singakademie unter der Leitung von Felix Mendelssohn – Bartholdy. Die Aufführung war ein mediales Ereignis in Berlin. Fast die gesamte geistige Elite war anwesend, unter ihnen König Wilhelm III., Heine, Hegel, Droysen und Schleiermacher.
Das Werk wurde jedoch in hohem Maße den damaligen Verhältnissen angepasst. So verkürzte es Mendelssohn auf die Hälfte der eigentlichen Aufführungsdauer. Die Grundsubstanz der aufgeführten Matthäuspassion bestand aus den unmittelbar auf die Leidensgeschichte bezogenen Bibeltexten, also den Schilderungen der Evangelisten, den Reden von Jesu und seinen Gegenspielern und den Volkschören. Nicht enthalten waren die Passagen des biblischen Berichts, die nach Mendelssohn den zügigen dramatischen Verlauf aufzuhalten schienen. Außerdem verzichtete Mendelssohn auf 16 von 23 Soloeinschübe und 6 von 15 Choralsätze, was jedoch auch damit zu tun hatte, dass die Dichtungen Henricis unzeitgemäß erschienen. Der Chor bestand aus 150 Sängern und sieben Solostimmen. Dabei wurde der Knabenchor durch Sopranstimmen ersetzt. Auch die Instrumentalbesetzung erfuhr eine Wandlung. Anstatt der barocken Oboe d’amore kamen A – Klarinetten zum Einsatz, die Oboe da caccia wurde von der Viola ersetzt und der Generalbass wurde auf einem Hammerflügel und nicht dem Cembalo gespielt. Außerdem wurde der Choralsatz „Wenn ich einmal soll scheiden“ a – capella aufgeführt. Heute bezeichnet man diese Art der „Zuschneidung“ alter Stücke auf die damalige Zeit der Romantik als „romantische Aufführungspraxis“.
Die Aufführung war ein riesiger und wohl auch unerwarteter Erfolg für Mendelssohn und den aufkommenden Historismus. Carl Friedrich Rungenhagen schrieb in dem Bericht der Singakademie: „Ausführung gelungen; Wirkung groß; Einnahme bedeutend“. (Platen,S. 218) Zwei weitere Male kam die Matthäuspassion zur Aufführung und es wurde zur Tradition der Singakademie, die Passion am Palmsonntag aufzuführen, jedoch nie in seiner ursprünglichen Form. Schon 1830 folgte die Herausgabe des Erstdrucks der Matthäuspassion bei Schlesinger in Berlin. In Leipzig wurde die Passion erst 1841wieder aufgeführt. Zu der Zeit war Mendelssohn Musikdirektor in der Thomaskirche.
Die Matthäuspassion wurde mehr und mehr den Strukturen des Musikbetriebes zu dieser Zeit angepasst und eine feste Größe in den städtischen Abonnementkonzerten Ende des 19. Jahrhunderts. Und die Normierung der Wiedergabe durch Mendelssohn hatte weitreichende Konsequenzen. Denn bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hielt man am Beispiel der Berliner Wiederaufführung fest. Manchmal wurde das Werk sogar ohne Generalbass veröffentlicht und dieser in die Orchesterinstrumente übertragen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wendete man sich nach und nach wieder der historischen Aufführungspraxis zu.
IV. Johann Sebastian Bach und die evangelische Kirchenmusik
4.1. Die Geschichte der evangelischen Kirchenmusik vor Bach
Die evangelische Kirchenmusik im Zeitalter der Reformation, also in ihren Anfängen, war keine selbstständige Gattung. Sie ist aus der bereits entwickelten und schon sehr national betonten Kultur hervorgegangen. Sie ergriff Vorhandenes, um es in ihren Dienst zu stellen. „Die Musik im Dienste dessen, der sie geschaffen hat.“ (Blume, S.1) meinte Martin Luther zu diesem Vorgang. Zur Zeit der Reformation gehörte die Musik in all ihren Ausprägungen als unentbehrlicher Faktor sowohl zum Gottesdienst als auch zu den weltlichen Festen. Sie war weder Schmuck noch Verschönerung des Lebens, wie die Musik in der heutigen Zeit oft aufgefasst wird.
Die evangelische Kirchenmusik war vereinfacht gesehen von drei Faktoren bestimmt (s. Blume, S.2): Zum einen stellte sie die Kunst der (damaligen) Gegenwart in den Dienst der Sache. Das öffnete der Kunstmusik das Tor und so gelangten die bereits vorhandenen Gattungen wie Motette, Messe in die evangelische Kirche, wobei es egal war, welcher Konfession der Komponist der Werke angehörte. Alles, was Luther als Christenmensch erbaulich, erweckend und bewegend war, durfte es auch für die Gemeinde sein. Eine andere Eigenheit waren die Volksverbundenheit und der nationale Charakter der evangelischen Kirchenmusik. Die deutsche Musik, die seit Anfang des 16. Jahrhunderts eine selbstständige Kunst darstellte, welche aus dem deutschen Lied erwuchs, wurde in die kunstmusikalische Bearbeitungspraxis übernommen. Die dritte Besonderheit der evangelischen Kirchemusik war ihre Traditionsverbundenheit und der liturgische Charakter (Die Liturgie bezeichnet im Allgemeinen den Ablauf des Gottesdienstes.). Geschafft wurde das vor allem durch die Übernahme vieler vorreformatorischer Überlieferungen. Denn so wie die Lehre Luthers nicht auf der Gründung einer neuen Kirche, sondern der Reform der alten Kirche beruhte, wurde auch der alte Gottesdienst nicht komplett verändert, sondern nur im Sinne eines „neuen Geistes“ abgewandelt. Schon der Bau der römischen Liturgie schrieb die Melodie für den Tag und die Gelegenheit der kirchlichen Handlungen vor. So wurde mit einer bestimmten Melodie der Inhalt einer gottesdienstlichen Handlung erkannt. Diese festen Normen der kirchlichen Ordnung wollte Luther beibehalten.
Bald bildete die evangelische Kirchenmusik den Kern der gesamten deutschen Musik und integrierte auch immer neue musikalische Strömungen, die letztendlich das Zeitalter des Barock einleiteten. Jedoch zeigten sich sehr bald auch Schwächen der neu erwachsenen Kirchenmusik. Zuerst fand die liturgische Verbundenheit der evangelischen Kirchenmusik und damit die unabänderliche Verwurzelung der Musik im evangelischen Gottesdienst ihr Ende. Das stand in Zusammenhang mit der Spaltung der evangelischen Kirche in Landeskirchen. Somit wurde die bis dahin allgemein verbindliche Norm des Gottesdienstes zur Territorialangelegenheit und Angelegenheit der einzelnen Fürsten und Könige. Jedoch hatten diese sehr uneinheitliche Anschauungen vom Wesen der Liturgie und die Rituale der Kulthandlungen im evangelischen Gottesdienst begannen sich schon im 16. Jahrhundert aufzulockern.
Später starb dann auch die Volksverbundenheit der evangelischen Kirchenmusik, als die italienische Musik Deutschland „überschwemmte“ und in letzter Konsequenz natürlich auch Einfluss auf die evangelische Kirchenmusik hatte. Schließlich sollte die evangelische Kirchenmusik nach der Auffassung Luthers gegenwartsnah sein und nicht, wie die katholische Kirchenmusik, an strikten Gattungen und Normen festhalten. Und so drängten die Künste aus der Kirche hinaus und das Weltliche immer mehr in sie hinein.
Trotzdem wurde der spezifisch deutsche Charakter der evangelischen Kirchenmusik durch das volkstümliche Lied gewahrt. Es machte die aktive Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst aus und hatte auch in gewisser Weise schon für Luther eine erzieherische Aufgabe, denn: „Die Musica ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger machet“. (Blume, S.7) Durch das Lied wird die Gemeinde in den Stand versetzt, an der Verkündung von Gottes Wort aktiv mitzuwirken. Das volkstümliche Lied wurde so in Form des Chorals ein wichtiger Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes.
4.2. Die Bedeutung von Kontrafaktur in der evangelischen Kirchenmusik
Wie schon erwähnt war die evangelische Kirchenmusik keine selbstständige Gattung, sondern übernahm viele vorhandene weltliche und geistliche Lieder, die dem Volk geläufig waren. Das lag zum einen daran, dass die Lieder schon bekannt waren und es so für die Menschen nicht schwer war, sich in die neue Religion einzufinden. Zum anderen bezweckte Luther mit der Reformation sowieso keine Schaffung einer neuen Kirche, sondern die Reformation der alten und schon vorhandenen. Es spiegelte aber auch die damalige Musikauffassung wider. Zur Zeit der Reformation gab es noch keinen Unterschied zwischen weltlichem und geistigem Musikstil. Erst die Musikauffassung späterer Jahrhunderte ging davon aus, dass Musik entweder sakralen oder profanen Charakter haben muss. Es bestand also kein Widerspruch darin, weltliche oder katholische Lieder in die evangelische Kirchenmusik zu übernehmen. Außerdem erhoben die damaligen Komponisten noch keinen Originalitätsanspruch an ihre Werke, wie es seit der Klassik der Fall ist, sondern schrieben vorwiegend Gebrauchsmusik für bestimmte Anlässe und achteten mehr auf die Innehaltung der Tradition. Diesen Ansichten folgend meinte Luther: „...der Teufel brauche nicht alle schönen Melodien für sich allein besitzen“. (Blume, S.12)
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- Citation du texte
- Katja Schirmer (Auteur), 2003, Bach-Renaissance in der Romantik. Die frühe Choralkantate "O Haupt voll Blut und Wunden" von Felix Mendelssohn Bartholdy, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30061
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