Seit den Anfängen der Internetseelsorge im Jahr 1995 im deutschsprachigen Raum ist eine fast unüberblickbare Anzahl von Seelsorgeangeboten in dem neuen Medium entstanden. Dafür werden alle Kommunikationsformen genutzt, die das Internet bietet: E-Mail, Foren, Newsgroups und Chat stehen gleichermaßen Seelsorgesuchenden zur Verfügung. Die Diskussion der ersten Jahre, ob Seelsorge über diese Medien der Kommunikation überhaupt möglich sei, scheint mir mittlerweile positiv beantwortet zu sein. Die steigende Menge der Ratsuchenden und die Hilfe, die sie durch Seelsorge im Internet finden, sprechen für sich. Unbeantwortet ist allerdings die Frage, wie christliche Seelsorge im Internet geschehen sollte. So schreibt ein Besucher von ChatSEELsorge.de: „Hier zieht es mich doch immer wieder her - und ich denke das hat damit zu tun, dass "Seelsorge" da oben drüber steht. Dieses Wort weckt irgendwie Erwartungen, Sehnsüchte. Fast zu diffus um sie zu greifen. Aber doch da. Sehnsüchte nach etwas das tiefer ist als das Alltagsgerede, nach etwas was meine Seele berührt, ernährt... Aber wie soll das gehen mit einer handvoll Leuten die ich nicht kenne, über die ich nichts weis.... Wer "macht" eigentlich "Seelsorge" die anwesenden "Seelsorger", die Teilnehmenden, die liebe Gott...? Und wie "macht" man Seelsorge?“1 Die Frage, was das Spezifische an Seelsorge ist und wie es unter den Bedingungen des Chat zum Tragen kommen kann, beschäftigt nicht nur die Nutzer, sondern auch die Anbieter von Seelsorge im Internet. Das habe ich in meiner Mitarbeit bei ChatSEELsorge.de, dem Seelsorgeportal der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, selbst erlebt. Die gängigen poimenischen Konzeptionen gehen meist von dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht als Setting der Seelsorge aus und kommen an ihre Grenzen, wenn ausschließlich durch das geschriebene Wort kommuniziert wird. Eine spezifische Konzeption für den Chat gibt es bislang noch nicht. Dazu soll in der vorliegenden Arbeit ein erster Ansatz gelegt werden. Ich beschränke mich dabei auf Seelsorge im Chat, der von allen schriftbasierten computervermittelten Kommunikationsmöglichkeiten die größte Ähnlichkeit mit dem mündlichen Gespräch aufweist. [...] 1 Orthographisch unverändert zitiert aus einem Eintrag im Forum von ChatSEELsorge.de vom 7.06.2004, http://chatseelsorge.ponton-lab.de/forum.php?action=lesen&threadID=386&forumID=4.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Weit geöffnete Fenster: Bedingungen für Seelsorge im Chat
2.1 Kommunikation unter den Bedingungen des Chats
2.1.1 Was ist ein Chat?
2.1.2 Sprache im Chat
2.1.3 Anonymität, Pseudonymität, Identität
2.1.4 Kontakt allein durch das geschriebene Wort
2.1.4.1 Emoticons
2.1.4.2 Handlungsangaben, Akronyme und Hervorhebungen
2.1.5 Niedrigschwelligkeit
2.1.6 Nähe und Distanz
2.1.7 Virtualität
2.2 Seelsorgerliche Angebote im Chat
2.2.1 Einzel- und Gruppenchat
2.2.2 Erreichbarkeit
2.2.3 Die Seelsorger
2.2.4 Die Seelsorgesuchenden
2.2.5 Themen
2.2.6 Selbstverständnis und Intention
3 Auf der Suche nach einem Rahmen: Leitlinien für seelsorgerliche Gespräche
3.1 Exemplarische Konzeptionen
3.1.1 Kerygmatische Seelsorge: Eduard Thurneysen
3.1.2 Therapeutische Seelsorge: Joachim Scharfenberg
3.2.3 Evangelikale Seelsorge: Jay Adams
3.2 Welche Leitlinien ergeben sich? Auswertung der Konzeptionen
3.2.1 Der Mensch unter dem Wort Gottes
3.2.2 Seelsorge im Raum der Kirche
3.2.3 Das Seelsorgerliche im Gespräch
3.2.4 Spezifische Gesprächsformen
3.2.5 Seelsorge als Hilfe für den Nächsten
4 Welcher Rahmen passt? Leitlinien für Seelsorge im Chat
4.1 Die bisherigen Kriterien und das neue Medium
4.1.1 Der Mensch als Person
4.1.2 Kirchliche Chaträume
4.1.3 Seelsorgerliche Kommunikation im Chat
4.1.4 Methodische Möglichkeiten
4.1.4.1 Die Beichte im Chat als Problemanzeige
4.1.4.2 Der Heilige Geist im Internet
4.1.5 Niedrigschwellige Hilfe
4.2 Entwurf einer Konzeption für Seelsorge im Chat
4.2.1 Grundlage
4.2.2 Setting
4.2.3 Form und Inhalt
4.2.4 Intention
5 Zusammenfassung
Anhang
I Literaturverzeichnis
II Konzept von ChatSEELsorge.de
III TelefonSeelsorge Elbe-Weser: Jahresbericht 2003
IV Zugriffsdaten von ChatSEELsorge.de nach Ländern
1 Einleitung
Seit den Anfängen der Internetseelsorge im Jahr 1995 im deutschsprachigen Raum ist eine fast unüberblickbare Anzahl von Seelsorgeangeboten in dem neuen Medium entstanden. Dafür werden alle Kommunikationsformen genutzt, die das Internet bietet: E-Mail, Foren, Newsgroups und Chat stehen gleichermaßen Seelsorgesuchenden zur Verfügung.
Die Diskussion der ersten Jahre, ob Seelsorge über diese Medien der Kommunikation überhaupt möglich sei, scheint mir mittlerweile positiv beantwortet zu sein. Die steigende Menge der Ratsuchenden und die Hilfe, die sie durch Seelsorge im Internet finden, sprechen für sich. Unbeantwortet ist allerdings die Frage, wie christliche Seelsorge im Internet geschehen sollte. So schreibt ein Besucher von ChatSEELsorge.de: „Hier zieht es mich doch immer wieder her - und ich denke das hat damit zu tun, dass "Seelsorge" da oben drüber steht. Dieses Wort weckt irgendwie Erwartungen, Sehnsüchte. Fast zu diffus um sie zu greifen. Aber doch da. Sehnsüchte nach etwas das tiefer ist als das Alltagsgerede, nach etwas was meine Seele berührt, ernährt...
Aber wie soll das gehen mit einer handvoll Leuten die ich nicht kenne, über die ich nichts weis Wer "macht" eigentlich "Seelsorge" die anwesenden "Seelsorger", die Teilnehmenden, die liebe Gott...? Und wie "macht" man Seelsorge?“[1]
Die Frage, was das Spezifische an Seelsorge ist und wie es unter den Bedingungen des Chat zum Tragen kommen kann, beschäftigt nicht nur die Nutzer, son-dern auch die Anbieter von Seelsorge im Internet. Das habe ich in meiner Mitarbeit bei ChatSEELsorge.de, dem Seelsorgeportal der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, selbst erlebt. Die gängigen poimenischen Konzeptionen gehen meist von dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht als Setting der Seelsorge aus und kommen an ihre Grenzen, wenn ausschließlich durch das geschriebene Wort kommuniziert wird. Eine spezifische Konzeption für den Chat gibt es bislang noch nicht.
Dazu soll in der vorliegenden Arbeit ein erster Ansatz gelegt werden. Ich beschränke mich dabei auf Seelsorge im Chat, der von allen schriftbasierten computervermittelten Kommunikationsmöglichkeiten die größte Ähnlichkeit mit dem mündlichen Gespräch aufweist. Dabei soll zunächst der Chat als Kommunikationsform in seinen Besonderheiten dargestellt werden, um die spezifischen Grenzen und Möglichkeiten zu erkennen. In einem zweiten Schritt werden anhand exemplarischer Seelsorgekonzeptionen Leitlinien für seelsorgerliche Gespräche herausgearbeitet. Diese Leitlinien werden dann auf ihre Übertragbarkeit auf die Kommunikationsform des Chat hin befragt, so dass schließlich in Auseinandersetzung mit den bisherigen Konzeptionen Leitlinien für Seelsorge im Chat formuliert werden können.
2 Weit geöffnete Fenster: Bedingungen für Seelsorge im Chat
2.1 Kommunikation unter den Bedingungen des Chats
Das Internet ist ein interaktives Medium, in dem jeder Nutzer[2] sowohl Sender als auch Empfänger von Informationen sein kann. Damit liegt es nahe, dieses Medium nicht nur für Information, sondern auch für Kommunikation zu nutzen. Da es sich beim Internet um ein Netzwerk von Computern handelt, ist Kommunikation darin grundsätzlich nur als Austausch digitaler Daten möglich, die von einzelnen Rechnern versendet oder empfangen werden können. Ein Rechner, der Datenangebote bereitstellt und auf Anforderung versendet, wird als Server bezeichnet.[3] Wer also via Internet jemandem etwas mitteilen möchte, sendet diese Mitteilung zunächst an einen Server, von dem aus der Empfänger sie abrufen kann. Die technischen Rahmenbedingungen wirken sich stark auf die Kommunikation und damit auf Seelsorge aus. Für den Chat soll dies nun näher betrachtet werden.
2.1.1 Was ist ein Chat?
Chat (von engl. chat: sich unterhalten, plaudern) ist eine Form nahezu synchroner Kommunikation über das Medium Internet, durch die zwei oder mehr Personen miteinander in Kontakt treten können.[4] Die Teilnehmer rufen über einen Browser ein Steuerprogramm auf, an dem sie sich mit einem Teilnehmernamen, dem so genannten ‚Nickname’ oder ‚Nick’, anmelden können. Alternativ können sie sich auch eine Nummer zuweisen lassen. Danach gelangen sie in den ‚Chatraum’, ein Programmfenster, in dem die Textbeiträge der Teilnehmer in der Reihenfolge ihres Eintreffens beim Server angezeigt werden. Eigene Beiträge können in einem Textfeld eingetippt und durch Drücken der Return-Taste versendet werden. Sie erscheinen dann nahezu unmittelbar in der Liste der Teilnehmerbeiträge. Auf diese Weise ist es möglich, auf Äußerungen anderer fast unmittelbar zu antworten. Dazu wird jeweils automatisch der Verfassername angegeben. Die Teilnehmer müssen zeitgleich im Chat sein; es wird oft nur eine begrenzte Anzahl Beiträge angezeigt, meist die 30-100 zuletzt eingegebenen Textzeilen. Die Beiträge lassen sich ähnlich wie das Textbuch eines Theaterstücks oder ein Gesprächsprotokoll lesen:
(SPOOKY) Na nu, wer ist denn da da ?´????
(Lt.Riker) hallöle SPOOKY
(PaRaNoiA) hi spooky[5]
In vielen Chats werden alle aktuell angemeldeten Teilnehmer in einer Liste angezeigt. Durch einen Mausklick auf einen Nickname aus der Liste kann diese Person quasi „angesprochen“ werden, d.h. vor dem Textbeitrag erscheint nicht nur der Nickname des Verfassers, sondern auch der Hinweis, an wen er adressiert ist. Ferner besteht die Möglichkeit des „Flüsterns“: Ein Chatter kann seinen Beitrag so versenden, dass er nicht für alle Anwesenden sichtbar wird, sondern ausschließlich für den Verfasser und den Adressaten. Im Unterschied zu einem Gruppengespräch außerhalb des Internet können die anderen nicht nur nicht hören, was da mitgeteilt wird, sondern sie nehmen nicht einmal wahr, dass überhaupt jemand flüstert.
2.1.2 Sprache im Chat
Als nahezu synchrone Kommunikationsform hat der Chat Ähnlichkeit zum mündlichen Gespräch; die Kommunikationspartner sind zeitgleich online und können spontan aufeinander reagieren. Da aber alle Beiträge bedingt durch das Medium schriftlich verfasst werden müssen, ist Chat-Kommunikation als ein „konzeptioneller Hybrid“ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelt.[6] Im Unterschied zur E-Mail ähnelt er stärker einem Telefonat als dem Briefeschreiben.[7] Die Beiträge im Chat werden allerdings nicht zeichenweise übertragen, sondern meist als halbe oder ganze Sätze verfasst und anschließend gesendet. Dadurch besteht die Möglichkeit, das Geschriebene vor dem Abschicken noch einmal zu kontrollieren. Das Mitgeteilte kann so stärker reflektiert werden, als es beim bloßen Aussprechen der Fall ist.[8] Das ist auch notwendig, da die Äußerungen nicht so flüchtig sind wie gesprochene Worte und dadurch einen höheren Verbindlichkeitscharakter besitzen.[9] Dennoch kommt es durch die Nähe des Chat zur mündlichen Kommunikation immer wieder zu sehr spontanen und unüberlegten Äußerungen. Die Chatter selbst empfinden die Beiträge überwiegend als gesprochene Sprache: So kann ich beispielsweise jemanden auffordern, auch einmal etwas zu ‚sagen’, obwohl der Betreffende faktisch nicht spricht, sondern schreibt.[10]
Chatkommunikation ist umgangssprachlich geprägt, zum Teil wird auch Dialekt verwendet. Um beim Abfassen von Beiträgen Zeit zu sparen, werden Tippfehler nicht korrigiert; auf Großschreibung wird für gewöhnlich ganz verzichtet. Dennoch kommt es vor, dass Beiträge nicht mehr in den Kommunikationsfluss passen, wenn sie im Chatfenster angezeigt werden, weil die Gesprächspartner in der Zwischenzeit bereits neue Mitteilungen versendet haben. Auch können Beiträge grundsätzlich nur nacheinander angezeigt werden, so dass Chatgespräche sehr unübersichtlich werden können, wenn sich viele Personen gleichzeitig im Chatraum befinden.[11]
Häufig können die Chatter ihre Beiträge in einer bestimmten Farbe erscheinen lassen, so dass die Zuordnung einfacher wird. Überhaupt ist es im Chat leichter als im Gruppengespräch möglich, mehreren Kommunikationssträngen auf einmal zu folgen, da alle Beiträge gleich gut wahrnehmbar sind und noch einige Zeit nach ihrer Äußerung sichtbar bleiben. Trotzdem ist dazu ein rasches Reaktionsvermögen gefragt.[12]
Der Chat ist grundsätzlich dialogisch angelegt: längere Beiträge werden meist in kürzere Sequenzen unterteilt, damit die durch das Eintippen bedingten Pausen nicht zu lang werden. Deshalb kommt es zu einem häufigen Sprecherwechsel, obwohl es nicht möglich ist, einen Chatteilnehmer zu unterbrechen. Wer schnell tippen kann, ist dabei deutlich im Vorteil.[13]
2.1.3 Anonymität, Pseudonymität, Identität
Im Chat muss niemand seinen tatsächlichen Namen angeben, sondern es wird unter Verwendung eines Nicknames als Pseudonym kommuniziert. Insofern bleiben die Teilnehmer anonym, obwohl sie bei jedem Datenaustausch im Internet Spuren hinterlassen, die eine Identifikation des Rechners ermöglichen, von dem aus jemand gechattet hat. Diese Möglichkeit, ausspioniert zu werden, ist den meisten Nutzern jedoch nicht bekannt oder hindert sie zumindest nicht daran, sehr private und persönliche Dinge zu äußern.[14]
Was für Menschen die Rechner benutzen, lässt sich jedoch nicht ermitteln. Sie bleiben unsichtbar, so dass körperliche Merkmale wie Geschlecht, Aussehen oder Alter eine weitaus geringere Rolle spielen, als in körperlich präsenter Kommunikation. Deshalb lassen sich im Chat neue Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen machen. Auch das Spiel mit fremden Identitäten kommt vor: Ein Mann kann sich z. B. als Kind ausgeben, ein alter Mensch als Kind usw.[15]
Die Identität der Chatter wird ausschließlich über ihren Nickname vermittelt. Jeder Name kann pro Chatraum nur einmal vergeben werden, damit keine Verwechslungen entstehen können. Regelmäßige Besucher eines Angebots erkennen einander mit der Zeit an ihren Nicknames, bei denen es sich häufig um Vornamen handelt, oder um Pseudonyme, die Assoziationen wecken und so eine Aussage über ihren Benutzer vermitteln, wie z.B. ‚derbösewolf’ oder ‚deepblue’.[16]
Die meisten Chatter nehmen keine völlig fiktive Identität an, sondern orientieren sich weitgehend an der Realität. Häufig werden dabei bestimmte Merkmale ausgeblendet, modifiziert oder übersteigert, um beispielsweise besonders attraktiv zu erscheinen. Wer ein bestimmtes Chatangebot über einen längeren Zeitraum nutzt, vermittelt dabei aber meist ein ziemlich realistisches Bild von sich.[17]
2.1.4 Kontakt allein durch das geschriebene Wort
Im Vergleich mit körperlich präsenter Kommunikation erscheint Chatkommunikation stark reduziert. Aussehen, Geruch, Gesten und Mimik fallen weg, so dass Mitteilung ausschließlich durch das geschriebene Wort möglich ist – und auch dieses liegt nicht in persönlicher Handschrift vor, sondern als neutraler, getippter Buchstabe. Dass diese Form der Kommunikation das Auftreten von Missverständnissen wahrscheinlicher macht, liegt nahe. Die häufig geäußerte Vermutung, sie müsse zwangsläufig auch unpersönlich und emotionslos sein, trifft jedoch nicht zu.[18] Vielmehr haben sich verschiedene Verfahren entwickelt, Emotionalität und Gestik auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen.
2.1.4.1 Emoticons
Charakteristisch für computervermittelte Kommunikation vor allem im Chat sind die so genannten ‚Emoticons’ (zusammengezogen aus Emotion und Icon): Zeichenkombinationen, die um 90° gedreht als Gesichter erkennbar sind und einen Ersatz für die fehlende Mimik darstellen. Das bekannteste ist vermutlich der smiley :-) , der Lächeln oder Grinsen symbolisiert und zum Darstellen anderer Stimmungen vielfach umgeformt wird. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt, aber die Zahl der häufig genutzten und mit einer eindeutigen Definition versehenen Emoticons dürfte bei ca. 10 liegen. Emoticons werden im Chat für gewöhnlich an das Ende einer Texteingabe gestellt. Sie wirken Missverständnissen entgegen, indem sie z.B. ein Augenzwinkern sichtbar machen ;-) . Allerdings bleibt es schwierig, z.B. den Unterschied zwischen Ironie und Sarkasmus zu erkennen.[19]
2.1.4.2 Handlungsangaben, Akronyme und Hervorhebungen
Auch auf Gesten und Handlungsangaben muss im Chat nicht vollständig verzichtet werden. Üblicherweise werden solche Angaben ohne Leerzeichen geschrieben und in spitze Klammern oder Sternchen gesetzt, so dass sie sofort von der eigentlichen Wortäußerung zu unterscheiden sind. Meist sind es sehr emotionsgeladene Gesten in Form von Verben, wie etwa *ganzdollknuddel* oder <schluchz>; aber auch eine virtuelle Tasse Kaffee kann auf diese Weise getrunken werden: *vorsichtignipp*. Diese Angaben ähneln Handlungsanweisungen in Textbüchern für Schauspiele, weswegen Kommunikation im Chat gerne als Inszenierung beschrieben wird.[20] Tatsächlich ist der Chat eine Art Rollenspiel, in dem nicht etwa jede unwillkürliche Geste mitgeteilt wird, sondern nur diejenigen, die jemand darstellen möchte. Gerade dieser Spielcharakter führt dazu, dass hier ähnlich wie bei den Emoticons manchmal unklar bleibt, wie ernst eine Handlungsangabe gemeint ist.
Zusätzlich zu den genannten Angaben werden im Chat häufig Akronyme verwendet: Dabei handelt es sich um aus den Anfangsbuchstaben einer Wortfolge zusammengesetzte Abkürzungen, die zumeist Handlungen oder Mimik benennen. Die gängigen Akronyme kürzen englische Wörter ab, wie z.B. afk (away from keyboard: gerade nicht am Rechner) oder rotfl (rolling over the floor laughing: sich vor Lachen am Boden wälzen). Kurze Akronyme können auch in Sternchen oder in Klammern gesetzt werden, damit sie im Satz nicht so leicht zu übersehen sind, wie etwa <gg> (great grin: breites Grinsen). Akronyme tragen dazu bei, beim Tippen Zeit zu sparen.[21]
Auch für die stimmliche Modulation hat sich im Chat ein Äquivalent entwickelt. So gilt es in der Regel als Schreien, wenn eine Äußerung in Großbuchstaben verfasst wird. Darüber hinaus werden oft Zeichen mehrfach getippt, um bestimmte Wörter oder ganze Sätze hervorzuheben, wie z.B. Waaaaaaaaaas???[22]
2.1.5 Niedrigschwelligkeit
Die Anonymität des Internet erleichtert es vielen Menschen, sich zu öffnen und Dinge zu äußern, über die sie unter körperlicher Präsenz auf keinen Fall sprechen würden. Dadurch ist auch die Hemmschwelle, Beratungs- und Seelsorgeangebote im Internet wahrzunehmen, extrem niedrig, sogar noch niedriger als bei einem Telefonanruf.[23] Im Chat braucht man weit weniger von sich preisgeben, da nicht einmal die Stimme zu hören ist. So sind auch die eigenen Emotionen viel stärker kontrollierbar. Darüber hinaus können Ratsuchende auch aus ihrer privaten Umgebung heraus kommunizieren, und Äußerlichkeiten spielen keine Rolle: Man kann sogar ungepflegt und schlecht gekleidet in den Chat kommen, ohne einen schlechten Eindruck zu machen.[24]
Diese Umstände bringen es mit sich, dass Ratsuchende im Chat sehr viel schneller zur Sache kommen als im Gespräch von Angesicht zu Angesicht.[25] Da es offenbar leichter ist, Belastendes aufzuschreiben, als es auszusprechen, kommt es zu „zum Teil erschreckend offenen, schonungslosen Mitteilungen“[26]. Manchmal fällt es Beratern deshalb schwer, den Hilfesuchenden zu glauben, da im Internet geschilderte Problemlagen oft sehr viel schwerwiegender sind als das, was ihnen im Gespräch von Angesicht zu Angesicht mitgeteilt wird. Aber gerade die Angst, nicht ernst genommen zu werden, hält die Chatter oft davon ab, sich außerhalb des Internet an Seelsorge- oder Beratungsstellen zu wenden.[27]
Dieser enthemmende Effekt hat allerdings auch eine negative Kehrseite: Auch Beleidigungen und verbale Verletzungen kommen im Chat sehr viel häufiger vor. Das ist einerseits durch Missverständnisse bedingt, andererseits aber auch dadurch, dass die möglichen Sanktionen im Chat nur den Nick treffen, nicht aber die Person dahinter.[28] Um solche Entgleisungen zu vermeiden, hat sich für Kommunikation im Internet die so genannte Netiquette (Neologismus aus Network und Etiquette) entwickelt, in der Normen für den Umgang miteinander festgelegt sind.[29] Zum großen Teil halten sich die Chatter daran und verweisen andere gegebenenfalls darauf. Für die Einhaltung der Netiquette und entsprechende Sanktionen ist im Chat vor allem der Moderator zuständig.[30]
2.1.6 Nähe und Distanz
Häufig wird die Befürchtung geäußert, dass die Kommunikation durch das Internet der Vereinsamung von Menschen nicht entgegenwirkt, sondern sie noch verstärkt, indem sie an die Stelle der Primärkommunikation tritt und bestehende soziale Bezüge zerstört.[31] Andererseits werden im Chat neue Verbindungen aufgebaut. Gerade die durch das Medium bedingte Distanz zwischen den Chattern führt dazu, dass sie sich in der Kommunikation schnell öffnen, so dass das Gefühl einer großen Nähe und Verbundenheit entsteht. Genau genommen ist die emotionale Nähe im Chat gerade durch die räumliche Distanz möglich: Denn die Vorsicht, die sonst Fremden gegenüber an den Tag gelegt wird, ist hier nicht notwendig, da man den Kontakt jederzeit unbehelligt abbrechen kann.[32]
Diese Möglichkeit der Kontrolle über Nähe und Distanz macht für viele den besonderen Reiz des Chat aus und kann dazu führen, dass Menschen sich in den Chat zurückziehen, um Kontakte unter körperlicher Präsenz zu meiden. Das bedeutet nicht, dass sich dort vor allem kontaktscheue Personen finden würden. Aktive Netznutzer sind in der Regel sogar „weniger einsam […] als der Bevölkerungsdurchschnitt“[33], und häufig entwickeln sich aus Chatkontakten soziale Beziehungen, die auch auf andere Kommunikationswege ausgedehnt werden.[34]
Die Möglichkeit, sich im Internet frei auszuprobieren, ohne Verletzungen und Konsequenzen fürchten zu müssen, kann sich sehr positiv auf das Selbstwertgefühl und die Kontaktfähigkeit der Chatter auch in der materiellen Welt auswirken. Denn die Reduktion der Kommunikation auf einen einzigen Wahrnehmungskanal führt dazu, dass Chatter eine höhere Fähigkeit zur Empathie entwickeln und dass die Chatpartner „u.U. intensiver wahrgenommen werden“[35], als es in körperpräsenter Kommunikation der Fall wäre.
Das Gefühl von Nähe ist auch deshalb im Chat leichter zu erreichen als in der materiellen Welt, weil durch die Anonymität auch traditionelle Hierarchien und soziale Barrieren aufgehoben sind. Dem entspricht es, dass man sich hier üblicherweise duzt und so einen tendenziell vertrauteren Ton anschlägt als bei der distanzierteren Anrede ‚Sie’.
2.1.7 Virtualität
Der Begriff ‚virtuell’ hat sich in den letzten Jahren zu einer Art Sammelbezeichnung für alles entwickelt, „was irgendwie mit dem Internet zu tun hat.“[36] So wird auch computervermittelte Kommunikation gerne als virtuell bezeichnet. Lexikalisch bedeutet Virtualität im Unterschied zu Realität die bloß gedachte Möglichkeit von Existenz.[37] In diesem Sinne ist Chatkommunikation sicher nicht virtuell, da hier tatsächlich reale Personen miteinander agieren und dadurch sogar auf das ‚reale’ Leben außerhalb des Internet einwirken.
Wenn ich im Folgenden von der Virtualität des Chat spreche, dann stütze ich mich dabei auf die psychologische Bedeutung dieses Begriffs, nach der ‚virtuell’ eine Realitätserfahrung beschreibt, die zwischen rein imaginierter und materieller Welt besteht.[38]
Insofern hat Virtualität eine große Nähe zum psychologischen Phänomen der
Übertragung. Denn nicht nur für Beziehungen im Internet, sondern auch für jede andere Art von Beziehung zwischen Menschen gilt, dass das Bild des Partners aus realitätskonformen und phantasierten Aspekten zusammengesetzt ist.[39]
2.2 Seelsorgerliche Angebote im Chat
Im Internet sind unüberschaubar viele Angebote für Seelsorge im Chat zu finden: Gibt man bei der Internet-Suchmaschine ‚google’ den Suchbegriff ‚Chatseelsorge’ ein, so werden allein im deutschsprachigen Web mehr als 9000 Treffer angezeigt. Im Folgenden soll deshalb nicht repräsentativ, sondern nur exemplarisch dargestellt werden, wie Seelsorge im Chat zurzeit geschieht. Dabei beschränke ich mich auf Angebote, die von offiziellen kirchlichen Institutionen innerhalb Deutschlands getragen werden und in denen ausgebildete Seelsorger tätig sind.
Dies sind neben der bereits erwähnten ChatSEELsorge.de die vom Bistum Hildesheim getragene Internetkirche der virtuellen Stadt Funama, das Chatangebot der Telefonseelsorge und das Kummernetz, das durch das Bistum Würzburg unterstützt wird.[40]
2.2.1 Einzel- und Gruppenchat
Auf den Internetseiten der Chatseelsorgeanbieter haben Seelsorgesuchende meist die Möglichkeit, sich in einem öffentlichen Chat mit mehreren Teilnehmern auszutauschen oder aber in einem privaten Chatraum allein mit einem Seelsorger zu kommunizieren. Dabei kann eine Differenzierung in bestimmte Altersgruppen vorgenommen werden.[41] Öffentliche Chats sind zum Teil moderiert und können ähnlich wie Gesprächskreise in der Gemeinde, zu einem bestimmten Thema angeboten werden.[42] Unmoderierte Gruppenchats haben oft den Charakter einer Selbsthilfegruppe[43] oder eines Wartezimmers[44]. Wenn Seelsorger im öffentlichen Chat anwesend sind, können Seelsorgesuchende hier einen ersten Eindruck von ihnen bekommen und z.B. im Flüsterchat Kontakte knüpfen, die dann oft zu einem Wechsel in den privaten Chatraum führen.
Professionelle Beratung oder Seelsorge findet meist im Einzel- oder Privatchat statt, zu dem keine dritte Person Zugang hat. Ein solcher Privatchatraum kann entweder nach vorheriger Terminvereinbarung oder direkt aus dem öffentlichen Chat heraus betreten werden. In der Kirche von Funama wird dafür ein „virtueller Beichtstuhl“[45] angeboten. Bei manchen Anbietern besteht zudem die Möglichkeit, dass Besucher der Seite selbst separate Chaträume anlegen, in die sie andere Besucher einladen können.[46]
[...]
[1] Orthographisch unverändert zitiert aus einem Eintrag im Forum von ChatSEELsorge.de vom 7.06.2004, http://chatseelsorge.ponton-lab.de/forum.php?action=lesen&threadID=386&forumID=4.
[2] Zur besseren Lesbarkeit beschränke ich mich in dieser Arbeit auf maskuline Endungen. Es sind jedoch grundsätzlich beide Geschlechter gemeint.
[3] Vgl. Beißwenger, Kommunikation, S. 13.
[4] Für verschiedene Arten von Chats sind spezielle Programme oder Hardware-Voraussetzungen nötig. Ich konzentriere mich auf die Darstellung des Webchats, für den nur ein Programm zum Anzeigen von Internetseiten (Web-Browser) benötigt wird. Der Webchat ist daher die häufigste Form für Seelsorgeangebote im Chat. Für die Definition und Übersicht des Chats vgl. Döring, Chat-Forschung, S. 144f.
[5] Mitschnitt aus einem offenen Chat, zitiert aus: Beißwenger, Kommunikation, S. 51.
[6] Beißwenger, Kommunikation, S. 44.
[7] Vgl. Knatz, Hilfe, S. 93.
[8] Vgl. Beißwenger, Kommunikation, S. 58; dort vor allem die Anmerkung 67.
[9] Vgl. Knatz, Hilfe, S. 124f.
[10] Weitere Beispiele finden sich in Beißwenger, Kommunikation, S. 119f.
[11] Vgl. Storrer, Besonderheiten, S. 10f.
[12] Vgl. Storrer, Besonderheiten, S. 8f.
[13] Vgl. Beißwenger, Kommunikation, S. 59.
[14] Vgl. Wenzel, Datensicherheit, S. 61. Durch Verschlüsselungstechniken können im Chat gesendete Daten sehr gut vor Fremdzugriffen geschützt werden; vgl. ders., S. 66f. Seelsorgesuchende fragen im Chat für gewöhnlich nicht nach Verschwiegenheit oder Datensicherheit, vgl. Kratzenstein, Chat-Beratung, S. 89f.
[15] Vgl. Knatz, Hilfe, S. 29.
[16] Vgl. Döring, Chat-Forschung, S. 169f.
[17] Vgl. Döring, Chat-Forschung, S. 170.
[18] Vgl. Neukirch, Individualität, S. 131.
[19] Die gängigsten Emoticons finden sich in typologischer Ordnung bei Beißwenger, Kommunikation, S. 99.
[20] Vgl. Beißwenger, Kommunikation, S. 163 und 173.
[21] Eine Liste der wichtigsten 10 Akronyme bietet Knatz, Hilfe, S. 34.
[22] Vgl. Beißwenger, Kommunikation, S. 69 sowie S. 104f., der weitere Beispiele anführt.
[23] Vgl. Götz, Netz, S. 34.
[24] Vgl. Kratzenstein, Chat-Beratung, S. 88f.
[25] Obwohl das Tippen einen sehr viel größeren Aufwand darstellt, ist ein Wort „schneller geschrieben als ausgesprochen“, Götz, Netz, S. 85.
[26] Knatz, Hilfe, S. 102.
[27] Vgl. Knatz, Hilfe, S. 91f.
[28] Letzteres beschreibt Löchel, Welten, S. 13f., als wesentlichen Grund für aggressives Verhalten im Chat. Schlimmstenfalls können der Nickname und die IP-Adresse eines Rechners für einen bestimmten Chatraum gesperrt werden; nach erneuter Einwahl und unter einem anderen Namen kann der Betroffene aber meist wieder am Chat teilnehmen.
[29] Für manche Chats gibt es auch eine spezielle Chatikette, vgl. für ChatSEELsorge.de http://chatseelsorge.ponton-lab.de/nutzungsbedingungen.php.
[30] Vgl. Götz, Netz, S. 62.
[31] Vgl. Kolb, Fluchtgesellschaft, S. 92.
[32] Vgl. Neukirch, Individualität, S. 134.
[33] Neukirch, Individualität, S. 135.
[34] Vgl. Döring, Chat-Forschung, S. 171.
[35] Götz, Netz, S. 25.
[36] Löchel, Welten, S. 7.
[37] Vgl. Beuscher, Tamagotchi, S. 73.
[38] Vgl. Löchel, Welten, S. 9.
[39] Vgl. Etzersdorfer, Interaktionen, S. 178-180. Zum Phänomen der Übertragung s.u. Abschnitt 3.1.2.
[40] Zu finden sind die Angebote unter www.chatseelsorge.de, www.kirche.funama.de, https://www.beranet.de/extern/chatberatung/?&id=11 (Telefonseelsorge) und www.kummernetz.de.
[41] So bietet das Kummernetz Chats für Erwachsene, Jugendliche und Kinder an, vgl. Holschuh, Kummernetz, S. 45.
[42] So der Sonntagschat bei ChatSEELsorge.de sowie die moderierten Chats in Funama, vgl. Ostermann, Cyberspace, S. 121.
[43] Vor allem das Kummernetz versteht sich ausdrücklich als „Angebot zu gegenseitiger Hilfe“, Holschuh, Kummernetz, S. 44.
[44] Dieser Begriff wird vor allem von der Telefonseelsorge im Internet verwendet, vgl. Kratzenstein, Chat-Beratung, S. 88.
[45] Ostermann, Cyberspace, S. 121. In diesem Beichtstuhl finden zwar vertrauliche Einzelgespräche statt, das Bußsakrament wird aber nicht gespendet.
[46] So z.B. beim Kummernetz, vgl. Holschuh, Kummernetz, S. 43.
- Quote paper
- Verena Selck (Author), 2004, Seelsorge allein durch das geschriebene Wort - Konzeption für Seelsorge im Chat, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29425
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.