Dementsprechend gilt es, die Auswirkungen gesellschaftlicher Deregulierungen und Beschleunigungen auf das Soziale und das Individuum herauszuarbeiten; dazu werde ich Thesen gegenwärtiger Soziologie heranziehen. Sie geben Auskunft über Charakteristika heutiger Gesellschaft, wie diese sich auf die Befindlichkeit des Individuums auswirkt, und sie versuchen die Entwicklung von Individualität zu prognostizieren. Allerdings benutzen die einzelnen soziologischen Texte unterschiedliche Begriffe, um die Befindlichkeit unserer Gegenwart zu benennen: Post-, Spät- oder Übermoderne sind nur einige von ihnen. Um im weiteren Verlauf keine Unklarheiten zu verursachen, werde ich im Abschnitt 2 zum Problem der zeitlichen Zuordnung Stellung nehmen. Erst mit dieser Klärung ist es möglich die Eigenart herauszuarbeiten, ein Individuum in heutiger – westindustrieller – Gesellschaft zu sein. Dabei geht es um die soziologischen Beobachtungen eines elementaren Wandels von Individualität und der damit verbundenen Problemfelder des Einzeldaseins. Anschließend stelle ich eine Verbindung her zwischen dem soziologischen und dem dramatischen Diskurs. Beide versuchen durch das Allgemeine das Konkrete zu fassen, in dem sie Phänomene des Einzeldaseins typologisieren. Mit Hilfe der besonders fruchtbaren Vorarbeit des Soziologen Zygmunt Bauman und eigener Typenentwürfe, verdeutliche ich, wie aktuelle Theaterautoren Ausprägungen des Individuellen wahrnehmen. Die theatralen Figuren werden sich auf die dramatischen Texte von Dea Loher, Jon Fosse, Mark Ravenhill und Botho Strauß beschränken. Alle vier Autoren leben, schreiben und beziehen sich auf genau jene Gesellschaft, deren Zustand ich beschreibe. Ihre Relevanz kennzeichnet sich dadurch, dass sie auf den Bühnen durchaus präsent sind und ihre Texte diskutiert werden. Und schließlich äußern sie sich auf eine Art und Weise, die für den hiesigen Kontext sehr nachvollziehbar und für meinen Ansatz besonders gut anwendbar ist. Der Schlussteil der Arbeit wird die Arbeitsergebnisse kurz zusammenfassen und zurückführen auf die hier formulierten Fragen zu den Spielarten von Individualität. Dort wird es auch darum gehen, inwiefern die Ansätze der Gesellschaftswissenschaft und der Dramatik vergleichbare Deutungen anbieten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Theater als Membran gesellschaftlicher Phänomene
1.2. Zur Vorgehensweise der Arbeit
2. Begriffserklärungen: Moderne/Postmoderne
3. Merkmale heutiger Gesellschaft
3.1. Individualisierung
3.1.1. Die Ehe. Ein veraltetes System?
3.1.2. Paralyse durch Wahlüberangebot
3.1.3. Die Kehrseite des erfolgreichen Lebens: das Problem von Sucht und Abhängigkeit
3.2. Vom Identitätswechsel zur Identitätskrise
3.3. Orientierungsproblematik
3.3.1. Religionssubstitution
3.3.1.1. Konsum
3.3.1.2. Der gefühlesammelnde Konsument
3.3.1.3 . Liebe
3.3.2. Wertewandel: Von der Stabilität zur Mobilität
3.4. Aspekte der Singlegesellschaft
4. Von der Gesellschaft zur Dramatik
4.1. Typologisierung des Individuums. Problematik von Typen
4.2. Baumans Typen
4.2.1. Mobilität und Involviertsein als Kategorien der Typisierung
4.2.2. Eine Entwicklung: vom Pilger zum postmodernen Typ
4.2.3. Drei postmoderne Typen
4.2.3.1. Tourist
4.2.3.2. Vagabund
4.2.3.3. Flaneur
4.3. Entwicklung weiterer Typen
4.3.1 Die glücklichen Single: Pioniere der Spätmoderne?
4.3.2. Die gelangweilten Spaßtypen
4.3.3. Der konsumgesteuerte Typ
4.3.4. Die reflektierten Orientierungslosen
4.3.5. Die Einsamen: Verlierer der Spätmoderne?
4.4. Fosses Typen, die Paralysierten
5. Schlussteil
5.1. Anything goes?
5.2. Zwei Diskurse, eine Ansicht
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Theater als Membran gesellschaftlicher Phänomene
Es vergeht keine Woche, in der nicht im Fernsehen, in den Zeitungen, in öffentlichen und privaten Debatten von den (Um)Brüchen in unserer Gesellschaft gesprochen, kein Tag, an dem nicht mit Verweis auf Sachzwänge von Kürzungen am Sozialstaat, Liberalisierung des Marktes und Eigenverantwortlichkeit des Bürgers gesprochen wird. Zur Rettung der (finanziellen) Handlungsfähigkeit von Staat und Ländern steht fast alles zur Disposition, am meisten die sozialen und kulturellen Sektoren, am wenigsten die Belange der Wirtschaft.
Die Kassen sind leer und von den Menschen – auf sich selbst zurückgeworfen – wird verlangt, ihr Leben als eigene Sache zu managen. Euphemistische Formulierungen begreifen die Veränderungen als Selbstbestimmung des Einzelnen, als Wege zu Wohlstandssicherung und Lebensfreude, als Freisetzungsschub des Individuums (Individualisierung). Ein pessimistischerer Tenor steckt demgegenüber in Begriffen wie der Egogesellschaft und der Vereinzelung, in der pejorativen Spaßgesellschaft oder in dem der Tempogesellschaft.
Wie verhalten sich die Menschen in einer Gesellschaft, die sich mit Rasanz sozial und kulturell radikal verändert, in der die Gesetze der Ökonomie zu denen des sozialen Miteinanders werden? Gibt es in dieser sich verändernden Gesellschaft verallgemeinerbare Verhaltensweisen der Einzelnen?
Mit dem oben genannten Verschiebungen und Infragestellungen hat sich auch die Kommunikation der Gesellschaft verändert. Im Privaten wie Öffentlichen scheint mittlerweile alles sagbar, so dass es bereits Rufe nach dem Schutz des Öffentlichen vor dem Privaten gibt. Mit der zunehmenden Medialisierung des Kommunizierten wird zwar auch enttabuisiert, doch gleichzeitig verliert sich damit der Reiz daran (am bislang Ungewussten bzw. Geheimen); das Interesse am Anderen wird angekurbelt, um umso schneller zu vergehen.
„Die Kunst einer solchen Gesellschaft bezieht ihre energetischen Reserven nicht länger aus antiliberalen, antikapitalistischen Quellen, sondern ihre Pilotfiguren radikalisieren die im Kapitalismus selbst angelegten Tendenzen: zur Beschleunigung, Mobilisierung, Verflüssigung.“[1]
Theater als Teil und Reflexionsfläche von Gesellschaft wird also von dem o. g. Veränderungen nicht unberührt bleiben. Im Gegenteil: Wenn es auf der Höhe seiner Zeit ist, funktioniert es als Vorhut[2], die sensibel gegenüber gesellschaftspolitischen Strömungen ist und ihre Auswirkungen auf der Bühne auslotet.
Deutlich wird diese Leistung in den von Oberender genannten Pilotfiguren. Sie sind Überspitzungen des Typischen, in denen sich solche gesellschaftlichen Phänomene manifestieren, an denen sich zeitgenössische Dramatik reibt. Die vorliegende Arbeit interessiert sich genau für jene Manifestationen: Welche Variationen des Individuellen entwickeln heutige Autoren angesichts der von ihnen beobachteten Gesellschaft? Und lassen sich diese in Einklang bringen mit gegenwärtiger Typensoziologie? Auf den folgenden Seiten wird es also um die Spielarten der Individualität ausgewählter Autoren zeitgenössischer Dramatik gehen und um eine Art von Parallelisierung mit den Beobachtungen soziologischer Texte.
1.1. Zur Vorgehensweise der Arbeit
Dementsprechend gilt es, die Auswirkungen gesellschaftlicher Deregulierungen und Beschleunigungen auf das Soziale und das Individuum herauszuarbeiten; dazu werde ich Thesen gegenwärtiger Soziologie heranziehen. Sie geben Auskunft über Charakteristika heutiger Gesellschaft, wie diese sich auf die Befindlichkeit des Individuums auswirkt, und sie versuchen die Entwicklung von Individualität zu prognostizieren. Allerdings benutzen die einzelnen soziologischen Texte unterschiedliche Begriffe, um die Befindlichkeit unserer Gegenwart zu benennen: Post-, Spät- oder Übermoderne sind nur einige von ihnen. Um im weiteren Verlauf keine Unklarheiten zu verursachen, werde ich im Abschnitt 2 zum Problem der zeitlichen Zuordnung Stellung nehmen.
Erst mit dieser Klärung ist es möglich die Eigenart herauszuarbeiten, ein Individuum in heutiger – westindustrieller – Gesellschaft zu sein. Dabei geht es um die soziologischen Beobachtungen eines elementaren Wandels von Individualität und der damit verbundenen Problemfelder des Einzeldaseins.
Anschließend stelle ich eine Verbindung her zwischen dem soziologischen und dem dramatischen Diskurs. Beide versuchen durch das Allgemeine das Konkrete zu fassen, in dem sie Phänomene des Einzeldaseins typologisieren. Mit Hilfe der besonders fruchtbaren Vorarbeit des Soziologen Zygmunt Bauman und eigener Typenentwürfe, verdeutliche ich, wie aktuelle Theaterautoren Ausprägungen des Individuellen wahrnehmen. Die theatralen Figuren werden sich auf die dramatischen Texte von Dea Loher, Jon Fosse, Mark Ravenhill und Botho Strauß beschränken. Alle vier Autoren leben, schreiben und beziehen sich auf genau jene Gesellschaft, deren Zustand ich beschreibe. Ihre Relevanz kennzeichnet sich dadurch, dass sie auf den Bühnen durchaus präsent sind und ihre Texte diskutiert werden. Und schließlich äußern sie sich auf eine Art und Weise, die für den hiesigen Kontext sehr nachvollziehbar und für meinen Ansatz besonders gut anwendbar ist.
Der Schlussteil der Arbeit wird die Arbeitsergebnisse kurz zusammenfassen und zurückführen auf die hier formulierten Fragen zu den Spielarten von Individualität. Dort wird es auch darum gehen, inwiefern die Ansätze der Gesellschaftswissenschaft und der Dramatik vergleichbare Deutungen anbieten.
2. Begriffserklärungen: Moderne/Postmoderne
Bevor ich auf die Gesellschaft mit ihren verschiedenen Ausprägungen der Individualität eingehe, möchte ich die Begriffe Moderne und Postmoderne eingehender erläutern. Beide Begriffe werden oft mit der zeitgenössischen Gesellschaft in Verbindung gebracht und kommen deswegen in meiner Arbeit gelegentlich zur Sprache. Es ist daher notwendig die Systeme von Moderne und Postmoderne zu skizzieren, dies allerdings in der für diese Arbeit notwendigen Kürze.
Was ist die Postmoderne? Eines ist der Begriff ganz sicher: unscharf. Es gibt, wie Walter Reese-Schäfer in seinem Buch Lyotard zur Einführung erklärt, eine Reihe von Gründen, warum der Begriff der Postmoderne unklar und schillernd ist:
Zum einen hängt es von der Definition der Moderne ab, was letztendlich unter postmodern zu verstehen ist. So kann man, wie es in der Literaturwissenschaft nicht selten gehandhabt wird, die Moderne mit der Romantik beginnen lassen; oder mit Baudelaire (Les fleur du mal, 1857). In der Architektur hingegen beginnt die Moderne mit dem Bauhaus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.[3] Alle drei Ansätze haben ihre Berechtigung. Von einem einheitlichen Beginn der Moderne kann also nicht gesprochen werden.
„Zweitens bezeichnet ‚postmodern’ in den meisten Fällen etwas, das noch im Entstehen ist. Der Begriff läßt sich schon aus diesem Grund nicht verbindlich festlegen.“[4]
Und nicht zuletzt enthält der Begriff postmodern einen inneren Widerspruch. Denn normalerweise bezeichnet schon der Begriff modern das Neueste. „Eigentlich müsste der Begriff ‚modern’ immer in der Gegenwart mitlaufen; ‚postmodern’ könnte es dann gar nicht geben.“[5]
Weder die Moderne noch die Postmoderne sind abgeschlossene Systeme. Sie sind auch keine oppositionellen Begriffe. Das Suffix Post bedeutet zwar ein Nach-Etwas, das muss aber nicht bedeuten, dass die Phase des Nach schon eingetreten ist.
Die Bezeichnung Postmoderne ist daher, wie Martin J. Jandl[6] vertritt, vielleicht nicht ganz passend gewählt, da sie andeutet, wir befänden uns in einem neuen Zeitalter mit neuen Problemen. Die Probleme seien aber weitestgehend die gleichen geblieben: Die soziale Frage, die Ungerechtigkeiten in einer kapitalistischen Gesellschaft und die wissenschaftlichen Probleme. Diese Fragen, für die die Moderne keine endgültigen Antworten gefunden hat, sind bis heute unbeantwortet. Moderne und Postmoderne lassen sich vor diesem Hintergrund sicherlich nicht als Epochen verstehen. „Postmoderne ist keine Epoche, weil sie den Epochenbegriff in seinen Fundamenten widerlegt.“[7]
Brian McHale[8] vertritt die Ansicht, dass die Postmoderne keinen nachweisbaren Gegenstand bezeichnet, sondern eine Konstruktion sei. Auf dieser Linie argumentiert auch Zima. „Die Postmoderne als ‚Ding an sich’ gibt es nicht, sondern nur konkurrierende Konstruktionen, von denen man hofft, daß sie sich irgendwann vergleichen lassen.“[9] Moderne und Postmoderne werden bei letzterem als Problematiken konstruiert und nicht als Perioden, Ideologien oder stilistische Systeme.
Wenn also die Definition von postmodern weitestgehend ungenau und willkürlich ist, dann gilt es, sie wenigstens für den jeweiligen Kontext, also für die vorliegende Arbeit, zu liefern.
Es macht Sinn, den Beginn der europäischen Moderne mit dem 17. Jahrhundert einsetzten zu lassen: In einer Zeit nämlich, in der die Selbstverständlichkeiten des Mittelalters ins Wanken gerieten. Man kann sie deshalb als Bändigung der inneren und äußeren Natur verstehen. Die bezeichnensten Merkmale der Moderne sind der Aufschwung der Wissenschaft, die Stadt- und Bevölkerungsplanung und der Fortschritt der Technik. Der Mensch machte sich und die Natur zum Objekt der Beherrschung. Moderne kann unterteilt werden, und die Phase der Spätmoderne grenzt Peter V. Zima auf die Zeit von 1850 bis 1950 ein.
In diesem Sinne stellt die Postmoderne einen Bruch mit der Moderne dar. Die zahlreichen Naturkatastrophen oder der Treibhauseffekt verdeutlichen, dass die Unterwerfung der Natur an einer Grenze angelangt ist. In der Moderne wurde das Individuum aus Tradition und Prägung freigesetzt. Nun ist es auf sich selbst gestellt und nicht einmal mehr die eigene Biographie ist etwas Selbstverständliches. „Daher ist unter Postmoderne eine Verunsicherung zu verstehen, in der die Moderne reflexiv wird.“[10]
Ulrich Becks Begriff für die Gegenwart lautet bezeichnenderweise nicht Postmoderne, sondern: reflexive Moderne. Eindeutig negativ sieht er den Umgang mit dem Suffix Post:
„’Post’ ist das Codewort für Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt. Es bedeutet ein darüber hinaus, das es nicht benennen kann, und verbleibt in den Inhalten, die es nennt und negiert, in der Erstarrung des Bekannten. Vergangenheit plus ‚post’ – das ist das Grundrezept, mit dem wir in wortreicher, begriffsstutziger Verständnislosigkeit einer Wirklichkeit gegenüberstehen, die aus den Fugen geraten zu sein scheint.“[11]
Die Postmoderne kann man ihm gemäß also als Eintritt in eine Reflexionsphase verstehen, als eine Geisteshaltung, die aus dem Bruch in der Moderne hervorgegangen ist. So ist sie weniger das Ende der Moderne als vielmehr der Eintritt in ihre Reflexionsphase; doch sie ist mehr als ein rein geistiges Phänomen. Die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, angefangen bei der Kunst bis hin zur Wissenschaft und zum Alltag eines jeden, erlauben es erst, überhaupt von einem Bruch in der Moderne zu sprechen.
Auch Peter V. Zima spricht in bezug auf die Postmoderne von radikalen Veränderungen als ihr Merkmal. „Ein Symptom für tiefgreifende Veränderungen in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften.“[12] Darüberhinausgehend konstatiert er eine sich klarer abzeichnende Verwandlung der Gesellschaft in eine eindimensionale Tausch- oder Wirtschaftsgesellschaft. Für Erika Fischer-Lichte hingegen scheint
„der wesentliche Unterschied zwischen Moderne/Avantgarde und Postmoderne [...] nun darin zu liegen, daß die zu Beginn des Jahrhunderts als Ausdruck und Konsequenz einer tiefgreifenden Kulturkrise formulierten Postulate in den achtziger Jahren längst Realität geworden sind.“[13]
Anthony Giddens gebraucht den Begriff Hochmoderne, Ulrich Beck bezieht seine Theorie auf die reflexive Moderne und George Balandier wiederum spricht von der Übermoderne. Das sind nur drei Begriffe von vielen. Das Neue oder Nach oder Jenseits der Moderne scheint demnach evident, doch ein einheitliches Vokabular zur Phänomenbezeichnung gibt es nicht. So bleibt auch „Postmoderne“ ein Modebegriff mit unscharfen Konturen.
So muß an dieser Stelle der Schluss gezogen werden, dass es keine Eindeutigkeit gibt, was postmodern und Postmoderne ist. Für die folgende Analyse ist der Begriff allerdings weniger relevant als die Beobachtung einer Zäsur der Moderne. Darum wird es im weiteren Verlauf nicht um eine zeitliche Phase und deren Betitelung gehen, sondern um die Beschreibung der den Einzelnen betreffenden phänomenalen Veränderungen einer nicht mehr nur modernen Gesellschaft. Ich setzte daher den Terminus spätmodern für die im weiteren Verlauf zu beschreibenden Beobachtungen ein.
3. Merkmale heutiger Gesellschaft
Wenn man über das Individuum sprechen möchte, darf die Betrachtung der Gesellschaft nicht außen vor gelassen werden. Gesellschaft und Individuum sind eng miteinander verbunden. Deswegen werde ich im 3. Kapitel einige Aspekte der spätmodernen Gesellschaft veranschaulichen. Ich erhebe jedoch nicht den Anspruch, die heutige Gesellschaft mit all ihren Einzelheiten umfassend zu beschreiben, sondern werde nur auf einige Aspekte der Gesellschaft näher eingehen:
Was verbirgt sich hinter Begriffen wie Individualisierung, Enttraditionalisierung oder Singlegesellschaft? Was unterscheidet die heutige Gesellschaft von der unserer Großeltern? Wie reagiert der Mensch der Gegenwart auf die gesellschaftlichen Veränderungen?
Die Frage nach der Individualisierung scheint mir die Wichtigste zu sein, wenn es um Typen gehen soll. Was bedeutet sie und welche Konsequenzen zieht sie für jeden einzelnen nach sich?
3.1. Individualisierung
Zygmunt Bauman zufolge leben wir in einer Gesellschaft der Deregulierung, in der nicht mehr die soziale Stabilität, sondern die individuelle Freiheit zum non plus ultra geworden ist. Die traditionellen Lebensmuster haben ausgedient und sind für den spätmodernen Menschen nicht mehr praktikabel; insbesondere gilt dies für die spätmodernen Frauen im Zuge der Kritik an den patriarchalen Zusammenhängen. Alte Autoritäten und Machtstrukturen haben in vielen Bereichen ihre Bedeutung verloren. Der Mensch ist heute zeitlich, örtlich und biographisch aus der Starrheit und Voraussagbarkeit früherer Lebensläufe herausgelöst. Er kann und muss zunehmend selbst entscheiden.
„Erheblich vereinfacht könnte man sagen, das Leben der vormodernen Menschen barg wenig Ungewissheit. In einer Welt, die innerhalb des individuellen Lebenshorizontes praktisch unveränderlich war, erwartete die Bewohner, angesichts ihrer von Geburt an klar vorgezeichneten Lebenswege, wenig Überraschendes.“[14]
Das hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Die westlichen Industriestaaten sind keine Mangelgesellschaften mehr. Der tägliche Kampf ums Überleben mit dem sich frühere Generationen auseinandersetzen mussten, ist überwunden. In den spätmodernen Industriestaaten leben breite gesellschaftliche Gruppen auf einem hohen materiellen Niveau.
„Es gibt – bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“[15]
Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einem Fahrstuhl-Effekt. Der Effekt beschreibt das Resultat eines Lebens, das sich durch eine längere Lebenszeit, weniger Erwerbsarbeitszeit und mehr finanziellen Spielraum auszeichnet. Dieser Freisetzungsschub des Individuums verändere nicht primär die Erwerbsarbeit, sondern vor allem die Lebensbedingungen außerhalb dieser.[16]
Für das Individuum bieten sich heute eine Reihe verschiedenster Gestaltungsmöglichkeiten. Viel mehr Menschen als früher haben die Möglichkeit ihr Leben in eigener Regie nach den persönlichen Bedürfnissen und Interessen auszurichten. Beck bezeichnet dies als eine Individualisierung und Diversifizierung der Lebenslagen. Die verschiedensten Lebensstile existieren heute nebeneinander.
Eng verbunden mit der Individualisierung ist der Individualismus. Im Fremdwörterlexikon findet sich unter Individualismus folgender Eintrag:
„Anschauung, die dem Individuum, seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt [...] individualistische, besonders auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ausgerichtete Haltung, die dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum läßt.“[17]
Welche verschiedenen Formen des Individualismus kann man in der spätmodernen Gesellschaft differenzieren?
Schroer unterscheidet bei dem Phänomen des Individualismus drei Hauptauffassungen. Zum einen meint es einen weit verbreiteten Egoismus und Hedonismus, der solidaritätsstiftende Zusammenhänge zunehmend auflöst. Diesem sich ganz dem Genuss verschreibenden Sozialcharakter gehe es in erster Linie um eine Nutzenmaximierung. Individualismus beschreibt zweitens eine Herauslösung aus traditionellen Gemeinschaften und wird in diesem Kontext daher stärker als Befreiung erlebt. Drittens und letztens gibt es die Auffassung, dass das Individuum den gesellschaftlichen Entwicklungen ohnmächtig gegenübersteht. In diesem Zusammenhang spricht Schroer nicht von einer steigenden Individualität, sondern im Gegenteil, von dem „Ende des Individuums“[18].
„Von dieser Seite wird geltend gemacht, daß nur dem Anschein nach die Individuen immer selbständiger in ihren Entscheidungen und Handlungen würden, in Wahrheit aber das Individuum durch übermächtige Systeme und bürokratische Strukturen nahezu vollständig determiniert sei.“[19]
Das Individuum treffe keine eigenen Entscheidungen mehr, sondern reagiere lediglich auf die vorgegebenen Muster einer allmächtigen Kulturindustrie, die die Auflösung des Individuums bewirke.
Wie reagieren die Menschen in dieser vermeintlichen Multioptions-Gesellschaft auf die Chance der Selbstgestaltung, oder negativ formuliert, auf die Qual der Wahl?
Die Welt der Gegenwart erscheint zunehmend als ein unendlich wachsender Supermarkt und der Alltag wird für das spätmoderne Individuum zu einem Multiple Choice Problem. Schnell kann dabei das beunruhigende Gefühl aufkommen, die falsche Wahl getroffen zu haben. Die vielfältigen Lebensoptionen zwingen jeden, sich ständig neu zu positionieren und zu definieren. Gemeinverbindliche leitendende Verhaltensmuster fallen weg. Dieser zunehmende Wegfall von Stabilitätsfaktoren zwingt das Individuum, eigene Stabilisatoren zu entwickeln.
„Die Biographie der Menschen wird aus traditionellen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt.“[20]
Natürlich gab es auch schon früher, vor der Moderne, selbstverantwortliches Handeln; dieses ist keine Erfindung der spätmodernen Gesellschaft, doch findet es unter einer veränderten Prämisse statt. Denn nicht Stabilität und Ewigkeit sind heute wichtige Direktiven, sondern die Norm der Revidierbarkeit.
„Nach dem neuen Leitbild wird der gesamte Lebenslauf entworfen als fortlaufende Reihe von Entscheidungen, die immer wieder neu gefällt, bestätigt oder korrigiert werden müssen.“[21]
Wie reagieren die spätmodernen Menschen auf den Zugewinn an Freiheit? Welche Fähigkeiten brauchen sie, um mit und in der Freiheit zurecht zu kommen? Die neu gewonnene Freiheit muss strukturiert werden, sonst wird sie zur Belastung. Der Philosoph Wolfgang Welsch beschreibt dies als eine „radikale Pluralität“[22]. Das heißt, die Menschen müssen selbst versuchen, „Zusammenhang in zusammenhangslosen Zeiten zu stiften, Stabilisatoren für die eigene Existenz zu konstruieren und einen Lebenssinn zu finden.“[23]
Das ist offensichtlich keine einfache Aufgabe. Denn ganz genau betrachtet basieren die spätmodernen, freien Gesellschaften auf Voraussetzungen, die der Mensch im Laufe seiner Sozialisation erst erlernen muss: Sie gründen auf einem System der Selbstverbote und Instinktunterdrückungen, auf zivilisierenden Werten, Normen und Regeln.
Der Mensch muss sich disziplinieren, um in der Zivilisation leben zu können. In einer freien Gesellschaft müssen sich alle anderen Werte der individuellen Freiheit unterordnen.
Daher verwundert es nicht, dass einige an dieser Problemstellung scheitern. Im Folgenden möchte ich deshalb gezielt auf die negativen Seiten der Individualisierung eingehen, wie zum Beispiel den Verlust an Geborgenheit. Joachim Fest nennt sogar einen ganzen Katalog negativer Konsequenzen:
„Sinnverlust, Mehrdeutigkeit, Vereinzelung und Daseinsunsicherheit gehören zur Gegenwart und sind der Preis für die gegen alle Vergangenheit ungemein erweiterten Entscheidungsspielräume und Beteiligungschancen jedes Einzelnen. Sie sind nur der Preis dafür.“[24]
Weitere Symptome sind in aller Munde: Stress, Erschöpfung, Entfremdung, Isolation, Entgrenzung, aggressives und selbstzerstörerisches Verhalten, Suchten oder psychosomatische Krankheiten.
Viele Menschen der Gegenwart, vor allem Großstädter, haben einen hohen, persönlichen Freiheitsspielraum, können ihre Lebenssituation flexibel verändern und einen ganz eigenen, individuellen Weg verfolgen. Auf diesem Weg fühlen sie sich aber zusehends allein. Die Kehrseite individueller Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung stellen mangelnde Verlässlichkeit sozialer Beziehungen sowie ein Verlust an Geborgenheit dar.
„Viele Bewohner von Großstädten teilen die emotional negativ getönte Haltung von der ‚verlorenen Gemeinschaft’, obwohl sie in multiplen Netzwerken leben, die ihnen vielfältige soziale Zugangsmöglichkeiten und Unterstützung vermitteln.“[25]
Das hochmobile spätmoderne Individuum ist offensichtlich, trotz der vielfältigen losen Assoziationen zu verschiedenen Gruppen, Subkulturen und Institutionen, kein Mitglied einer Solidargemeinschaft. Oft gehört es keiner Gruppe mit starker Integrationskraft an. Treffend spricht Keupp daher von der „Verlorenen Gemeinschaft “ [26]. Anfänglich bildeten stabile, überschaubare Gemeinschaften den Rahmen des menschlichen Lebens. So war das ganze Haus, die Großfamilie, mit der Verwandtschaft, den Mägden und Knechten als ökonomische und menschliche Funktionseinheit sehr übersichtlich. Heute kann kaum mehr auf quasi natürlich gegebene soziale Beziehungen zurückgegriffen werden. Die Familien sind im Laufe der Entwicklung zu immer kleiner werdenden Einheiten geworden. Wo vor zweihundert Jahren noch bis zu 15 Menschen eine Familie bildeten, sind derzeitig meist drei- bis vierköpfige Familien die Regel.
Die Familie hat in der in der heutigen Zeit eine neue Funktion, nämlich emotionalen Rückhalt, und ist zu einer letzten Bastion der verloren gegangenen Gemeinschaft geworden. Die Loslösung vom Elternhaus allerdings
„ist eigentlich der letzte Schritt vom Wir zum wir-losen Ich, das allein den Erfordernissen des Marktes entspricht: so wie es einstmals überlebensnotwendig war, einer Gemeinschaft anzugehören, so ist es heute aus Gründen der ökonomischen Existenzsicherung zweckmäßig, ungebunden zu sein.“[27]
Ist die Grundfigur der Spätmoderne also der oder die jungbleibende Alleinstehende? Die fortschreitende Vergesellschaftung des Menschen isoliert den Einzelnen zunehmend. Menschen werden in immer größere und komplexere Formen des Zusammenlebens gedrängt. „Einsamkeit, soziale Isolierung, Verlassenheitsgefühl sind jedenfalls ein weit verbreitetes Problem im Zeitalter der Massengesellschaften.“[28] Die Balance zwischen Wir und Ich, zwischen Gemeinschaft und Individuum verändert sich.
„Bei jedem Übergang von einer Stufe zur nächsten, etwa vom Stamm zum Staat, verlagert sich das Schwergewicht zunehmend von der Wir– zur – Ich–Identität, bis sich die Menschen im Extremfall als ‚wir-lose Iche’ empfinden.“[29]
Als Beispiel hierfür nennt Norbert Elias den römisch–republikanischen Staat der Antike. Dort besaß die Wir-Identität des einzelnen Menschen ein höheres Gewicht als heute. Die antiken Sprachen kennen kein Äquivalent zu dem Begriff „Individuum“.[30]
Der Preis für hohe Selbstbestimmung und Chancenvielfalt scheint also Vereinzelung, und daraus folgend Einsamkeit und Orientierungsverlust zu sein.
„Normal biographie verwandelt sich in Wahl biographie mit allen Zwängen und ‚Frösten der Freiheit’ (Gisela von Wysocki), die dadurch eingetauscht werden.“[31]
Zusammenfassend lässt sich das Leben heute unter dem Motto mehr Freiheit weniger Sicherheit charakterisieren. Das soziale Sicherheitsnetz stützt die Menschen auf die Suche nach ihrem persönlichen Glück immer weniger. Sie suchen alleine, auf eigene Faust, ohne Unterstützung von außen.
„Nahezu alle Beobachtungen und Bestandsaufnahmen konvergieren in einem Punkt: Die Evolution des Individuums hat ein Stadium erreicht, in dem der einzelne wie nie zuvor auf sich selbst gestellt ist.“[32]
Was erschwerend hinzu kommt ist eine Gesellschaft, die sich vor allem durch ein enormes Maß an Unsicherheit auszeichnet. Ein Leben kann nicht mehr wie auf einem Reißbrett geplant werden. Ereignisse wie der Terroranschlag auf das World Trade Center bringen vormals als unerschütterlich gedachte Gefüge ins Wanken. Die Welt erscheint zunehmend unbestimmbar, unkontrollierbar und daher furchteinflößend. Es ist eine Welt ohne erkennbare Struktur und Logik.
3.1.1. Die Ehe. Ein veraltetes System?
Um die Auswirkungen der Individualisierung innerhalb spätmoderner Gesellschaft besser verstehen zu können, werde ich sie am Beispiel der Ehe im folgenden Abschnitt genauer erläutern.
Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten und Spielräume der Individuen wirken sich natürlich auf die verschiedenen Institutionen[33] aus. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Ehe. Es gibt sie nicht mehr gezwungenermaßen im Komplettpaket:
„Die einzelnen Elemente [Haus, Kinder, Sexualität...] sind gegebenenfalls ‚isolierbar’ und für sich zugänglich, aber auch in verschiedenen Varianten kombinierbar.“[34]
Die Heiratsneigung der Bevölkerung in der gesamten Bundesrepublik nimmt seit 1989 stetig ab.[35] Die Scheidungshäufigkeit nimmt deutlich zu. Die Ehe hat sich verändert. So wie sie noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt wurde gibt es sie heute nur noch selten. Die spätmoderne Gesellschaft distanziert sich von einem Heiratssystem, das die Menschen zwingt, verheiratet zu bleiben, auch wenn sie sich nicht mehr lieben.
Für viele Menschen ist die Ehe keine reibungslos funktionierende Konzeption mehr, mit der sie leben können. Das Misstrauen gegenüber institutionellen Zwängen wächst. Treue ja – Trauschein nicht unbedingt. „Die Individuen selbst, die zusammenleben wollen, sind oder, genauer: werden mehr und mehr die Gesetzgeber ihrer eigenen Lebensform.“[36]
Die Form der Paarbeziehung und die Ehe selbst sind jedoch noch lange nicht abgeschafft. In Zeiten des Orientierungsverlustes hat die Ehe das Erbe der verlorenen Gemeinschaft angetreten. Sie muss den Menschen Beständigkeit und Zuverlässigkeit gewährleisten.
„Traditionelle Beziehungen, also Beziehungen, die als lebenslang angesehen werden können und deren grundlegende Voraussetzungen sich nicht ändern, existieren zwar weiterhin als Wunsch– und Leitvorstellungen in den Köpfen der Menschen, immer seltener jedoch in der Realität.“[37]
Die gesellschaftliche Mehrheit, ob verheiratet oder nicht, lebt immer noch in der Grundstruktur der Paarbeziehung. Andere Beziehungsformen haben sich bis heute nicht durchsetzen können.
Nicht selten wird jedoch zu voreilig von der Krise der Familie gesprochen. Scheidungshäufigkeit muss kein Alarmzeichen für einen Bedeutungsverlust der Paarbeziehung sein, sondern kann lediglich ein Indiz dafür sein, dass man sich heute nicht mehr mit unbefriedigenden Partnerschaftsstrukturen zufrieden gibt. Qualität in der Partnerschaft ist zunehmend gefragt.
„Der Familienforscher Robert Hettlage interpretiert sie [die Scheidung; C.B.] sogar als ein Indiz für einen ‚Bedeutungsgewinn der Ehe’: Wenn wir unsere hohen Erwartungen und Ansprüche in einer Beziehung nicht erfüllt sehen, dann stecken wir nicht zurück und arrangieren uns mit einer nur ‚mittelmäßigen’ Ehe, sondern versuchen sie in einer neuen Beziehung zu verwirklichen. Ehe und Familie mögen heute weniger dauerhaft sein als früher, dafür sind sie befriedigender.“[38]
Alles muss heute beredet und diskutiert werden. Die prinzipielle Aufkündbarkeit kann eine Beziehung zu einer anstrengenden Angelegenheit machen. Sie zwingt die Beteiligten, ihre Beziehung und sich selbst ständig zu prüfen. „Beide Ehepartner stehen vor der Notwendigkeit, einander immer wieder zu wählen, den niemals dauerhaften Anspruch des einen auf den anderen neu zu sichern und zu festigen.“[39] Es geht nicht darum, die Last der Liebe endlich durch die austauschbar praktizierte Beziehung loszuwerden, sondern dem Gesetz der Liebe zu folgen.
„Die Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen steigt, und mit dieser Steigerung wächst ebenfalls der Anspruch an die Liebe und deren konkrete Umsetzung in einer vom aktuellen Gesellschaftssystem und seinem kulturellen Erbe geforderten adäquaten Partnerschaft.“[40]
Die Herauslösung aus traditionellen Bindungen und Lebensentwürfen erweitert zwar das Freiheitsspektrum der Individuen, traditionelle Bindungen bieten aber auf der anderen Seite stützende Hilfestellungen, Vertrautheit und Schutz. Sie sind grundlegend wichtig für eine Stabilität und innere Identität des Individuums.
3.1.2. Paralyse durch Wahlüberangebot
Ist die Kenntnis vieler Handlungsmöglichkeiten entscheidungsfördernd oder hemmt es die Handlung eher?
Die bereits beschriebenen Expansionen der Wahlmöglichkeiten und Freiheiten beschreibt Heiko Ernst deutlich negativ als „Tyrannei der Möglichkeiten“[41]. Komplexe Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns gibt, als vom Menschen aktualisiert werden kann. Dabei ist es für die Individuen entscheidend, die Fähigkeit zu entwickeln, „aus einer Vielzahl möglicher Handlungen (Gesten usw.) die für sie ‚richtigen’ zu wählen.“[42] Nur so kann eine Orientierung in einer komplexen Welt möglich werden[43].
Bei einem fast unendlich erscheinenden Angebot an Wahlmöglichkeiten wird aus der Wahl schnell ein wählen müssen. Dies kann den Einzelnen leicht überfordern. Die Angst, die falsche Wahl zu treffen, kann dazu führen, sich dem Zyklus ganz entziehen zu wollen: die totale Verweigerung.
Das andere Extrem ist der rasende Stillstand. Alles wird gewählt, aber nichts richtig.
„Für diese permanenten Wahlzwänge im Entscheidungsdschungel steht paradigmatisch der Fernsehkonsument, der sich zwischen den immer zahlreicheren Kanälen nicht zu entscheiden weiß, deshalb permanent, in immer schnelleren Intervallen zwischen den Programmen hin und her zappt, ohne die Geduld aufzubringen, irgendwo für eine gewisse Zeit verbleiben zu können.“[44]
Diese sogenannte Zappermentalität dehnt sich auch auf andere Bereiche aus. Dem Überangebot an miteinander konkurrierenden Sinnangeboten steht der Mensch zuletzt gänzlich überfordert gegenüber. Es kommt zu einem Überdruss am Überfluss. Armin Nasseki spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Lähmung.
„Die Enttraditionalisierung der Lebensführung und die radikale Erosion von Erfahrungsweisen aufgrund der Beschleunigung von Ereignissen, die vielfältigen und oft beschriebenen Freisetzungsprozesse aus alten Versorgungsbezügen in materieller und sinnhafter Hinsicht, die Rationalisierung und Versachlichung von Sozialbezügen und Weltanschauungen haben ein kulturelles Syndrom hervorgebracht, das in der Moderne eher eine Lähmung denn aktive Gestaltungskraft freizulegen scheint.“[45]
Das Individuum kann von diesen Umständen also vielmehr gelähmt als angeregt werden. Mit Nasseki kann dann von einer paralysierenden Verunsicherung gesprochen werden.
3.1.3. Die Kehrseite des erfolgreichen Lebens: das Problem von Sucht und Abhängigkeit
Das Postulat des erfolgreichen, spätmodernen Lebens lautet: Selbstbestimmung und unbegrenzte Souveränität. Was passiert, wenn der Einzelne diesen enormen Anforderungen nicht standhalten kann und an seiner Selbstbestimmung scheitert. Heiko Ernst beschreibt die Reaktion der spätmodernen Individuen auf dieses zu viel so: In Zeiten in denen die Arbeit am Selbstbild, an der Selbstvervollkommnung und der Selbstdarstellung unerträglich wird, sucht das Selbst Wege, um zu verschwinden.[46] Das können psychische Zustände sein, in denen sich das überforderte Individuum für eine Zeit selbst vergessen kann.
Das Gegenteil von Freiheit sind Sucht und Abhängigkeiten, ein weitverbreitetes Phänomen, das ich hier aber nur kurz erläutern möchte.
„Viktor Frankl sieht die teuflische Dreifaltigkeit aus Depression, Aggression und Sucht als Hauptproblem der westlichen Wohlstandsgesellschaften, die allmählich in Zynismus, Richtungslosigkeit und Sinnleere versinken.“[47]
Über Abhängigkeiten und ihre Konsequenzen und Ursachen gibt es verschiedene Meinungen. Lasch ist davon überzeugt, dass die Lockerung der sozialen Bindungen eine narzisstische Abwehr von Abhängigkeiten spiegele.[48] Mit Ehrenberg ist zu ergänzen, dass Abhängigkeit als das Krankheitsbild eines Bewusstseins erscheine, das nicht aktiv genug sei, nie ausreichend von Identität erfüllt, nie befriedigend es selbst sei. Es sei zu spannungsgeladen oder zu unentschieden. Die Depression sei das Krankheitsbild eines Bewusstseins, das nur es Selbst ist.
„Die Abhängigkeit ist für Freiheit und Selbstbestimmung, das, was der Wahnsinn für die Gesetzte der Vernunft war. Sie erzeugt ein selbst, das sich nie genügt (Identitätskrise) und konfrontiert mit Aktionsforderungen, denen man gleichfalls nie genügen kann (die Unentschiedenheit des Gehemmten, die unkontrollierten Handlungen des Impulsiven).“[49]
Die weitverbreitete Entwicklung der Emanzipation und des autonomen Handelns erweitere die individuelle Verantwortlichkeit stark und sensibilisiere das Bewusstsein, nur man selbst zu sein.
„Parallel zur Entbindung des Individuums aus traditionellen Verpflichtungen und Rollenzuweisungen gerät es nämlich in neue Abhängigkeiten von Markt, Mode und Konjunktur, die zu durchschauen aber gerade durch Idee und Ideal der Autonomie des einzelnen verhindert wird.“[50]
Die Abhängigkeiten in der heutigen Gesellschaft sind nicht mehr transparent. Das hat zur Folge, dass die relativ neu erworbenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung ihre Grenzen finden in den nur schwer vorhersehbaren Erscheinungen des Wirtschaftsmarktes. Alle Gesellschaftsmitglieder können ihren Weg mehr oder weniger frei wählen, doch am Ende der Reise steht immer wieder das Spiel von Angebot und Nachfrage. Das Individuum wiegt sich also in dem Glauben, alles sei möglich, doch es herrschen die Gesetze des Marktes.
3.2. Vom Identitätswechsel zur Identitätskrise
Im Zuge der gesellschaftlichen Deregulierung hat auch die Identität des Individuums eine Entwicklung durchgemacht: Von einer stabilen zu einer unsicheren oder verunsicherten Form. Warum fällt es den Mitgliedern der Gesellschaft immer schwerer, unter den Bedingungen der Spätmoderne ein Bewusstsein von sozialer Zugehörigkeit und eine daraus erwachsende Identität auszubilden?
In traditionellen Gesellschaften war die Identität stabil, solide und fixiert. Sie war unproblematisch und kein Gegenstand der Reflexion.
„Identity was a function of predefined social roles and a traditional system of myths which provided orientation and religious sanctions to one’s place in the world, while rigorously circumscribing the realm of thought and behaviour.“[51]
Der Lebensweg in solch vormodernen Gesellschaften war für die Menschen von Geburt an vorgezeichnet. Die Menschen blieben in dem Stamm oder der Kaste, in die sie hinein geboren wurden. In diesem Sinne machten die vormodernen Individuen keine Identitätskrisen durch oder veränderten gar ihre Identität.
Ganz anders sieht dies in der frühen Moderne aus. Mit der Vertiefung und Weiterentwicklung der Selbst-Reflexion wurde die Identität mobiler, mannigfaltiger, persönlicher und Subjekt von Veränderung und Erneuerung. Zwar war in der frühen Moderne die Form der Identität recht stabil und relativ starr definiert, jedoch lange nicht mehr so fest wie noch in der Vormoderne. Bis zur Spätmoderne haben sich die Grenzen der Identität immer weiter verschoben.
Heutzutage kann man eine Identität auswählen, überdenken, umstoßen und wiederum im Zuge des Wandels von Mode und Lebensperspektiven neu annehmen. Das Resultat dieses kreativen Prozesses der Selbstorganisation wird gerne als Patchworkidentität bezeichnet. Keupp sieht das positiv: „Wir haben es nicht mit ‚Zerfall’ oder ‚Verlust der Mitte’ zu tun, sondern eher mit einem Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten, denn eine innere Kohärenz ist der Patchworkidentität keineswegs abhanden gekommen.“[52]
Um die alltäglichen Anforderungen einer Gesellschaft, die ihre Geschwindigkeit, Ausdehnung und Komplexität zunehmend erhöht, ohne ständige Verwirrung erfüllen zu können, müssen die Menschen der Gegenwart verschiedene Rollen und die dazugehörigen Identitäten leben können.
[...]
[1] Oberender, Thomas: Theater der Vergleichgültigung. Theater der Zeit. Zeitschrift für Politik und Theater. Berlin, März/April 1998, S. 87.
[2] Ich vermeide den Begriff der Avantgarde, um nicht seine kulturhistorischen Implikationen mittragen zu müssen; mir geht es um einen antizipierenden und der eigenen Zeit gegenüber kritischen Blick der Kunstform Theater.
[3] Reese-Schäfer, Walter: Lyotard zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1989, 41.
[4] Ebd., 42.
[5] Ebd., 42.
[6] Jandl, Martin J.: Kritische Psychologie und Postmoderne. Campus Verlag. Frankfurt a. M. 1999, 33.
[7] Ebd., 33.
[8] McHale, Brian: Constructing Postmodernism. Routledge. London 1992.
[9] Zima, Peter V: Moderne/Postmoderne. Francke. Tübingen 2001, 22.
[10] Jandl, 34.
[11] Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1986, 12.
[12] Zima, 11.
[13] Fischer-Lichte; Erika: Postmoderne-Fortsetzung oder Ende der Moderne? Theater zwischen Kulturkrise und kulturellem Wandel. S. 229-2399. In: Fischer-Lichte, Erika: Theater im Prozeß der Zivilisation. Francke Verlag, Tübingen 2000. 238.
[14] Bauman, Zygmunt: Das Unbehagen in der Postmoderne. Hamburger Edition. Hamburg 1999, 313.
[15] Beck: 1986, 122.
[16] Ebd., 24.
[17] Duden. Deutsches Universal Wörterbuch A-Z. Dudenverlag. Mannheim 1996, 759.
[18] Schroer, Markus: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 2001, 10.
[19] Ebd., 10.
[20] Beck/Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe. Suhrkamp. Frankfurt a. M 1990, 12.
[21] Beck-Gernsheim, Elisabeth: Liebe, Ehe, Scheidung. S. 42-63. In: Thomsen, Christian (Hrsg.): Aufbruch in die neunziger. Ideen, Entwicklungen, Perspektiven der achtziger Jahre. DuMont. Köln 1991, 54.
[22] Zitiert nach Ernst, Heiko: Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert. Piper. München 1996, 21.
[23] Ebd., 21
[24] Fest, Joachim: Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft. Siedler. Berlin 1931, 20.
[25] Keupp, Heiner: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. S. 47-69. In: Keupp/ Bilden (Hrsg.): Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Verlag für Psychologie. Göttingen 1989, 57.
[26] Angelehnt an Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (zuerst 1887).
Tönnies unterschied zwischen den gemeinschaftlichen und den gesellschaftlichen Formen des Handelns. Gemeinschaftliches Handeln heißt: Die Interaktion in Familie, Sippe, Nachbarschaft basieren auf genauer Kenntnis des Gegenübers. Das Handeln ist nie nur zweckrational. Gesellschaftliches Handeln: das ist die Anonymisierung und Funktionalisierung des Handelns. Gesellschaftliches Verhalten setzt die radikale Trennung von Familie und Arbeit, von Privatheit und Öffentlichkeit voraus.
[27] Szczesny –Friedmann, Claudia: Die kühle Gesellschaft. Von der Unmöglichkeit der Nähe. Kösel-Verlag. München 1991, 12.
[28] Ebd., 11.
[29] Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, zitiert nach Szczesny-Friedmann, 11f.
[30] Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1987, 212.
[31] Beck/Beck-Gernsheim: 1990, 13.
[32] Ernst, 14.
[33] Institution im soziologischen Sinne, wie ihn Gehlen, Scheler und Berger/Luckmann angedacht haben; vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1996.
[34] Beck-Gernsheim: 1991, 49.
[35] Leimbach, Carsten: Das betrogene Paar. Zur Sexualmoral im Roman der Postmoderne. Tectum Verlag. Marburg 2000, 10.
[36] Beck/Beck-Gernsheim: 1990, 13.
[37] Szczesny-Friedmann, 11.
[38] Ernst, 35.
[39] Szczesny-Friedmann, 17.
[40] Leimbach, 10.
[41] Ernst, 19.
[42] Schäfers, Bernhard: Die Grundlagen des Handelns: Sinn, Normen, Werte. S. 17-34. In: Korte/ Schäfers (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Leske+Buderich. Opladen 1998, 23f.
[43] In der Soziologie spricht man in diesem Zusammenhang von Reduktion von Komplexität.
[44] Schroer, 421.
[45] Nasseki, Armin: Das Problem der Optionssteigerung. Überlegungen zur Risikokultur der Moderne S. 37-58. In: Postmoderne Kultur?: soziologische und philosophische Perspektiven. Rademacher/Schweppenhäuser (Hrsg.). Westdeutscher Verlag. Opladen 1997, 37.
[46] Ernst, 112.
[47] Ernst, 188.
[48] Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. Verlag Steinhausen. München 1980, 75.
[49] Ehrenberg, Alain: Depression. Die Müdigkeit man selbst zu sein. In: Hegemann, Carl (Hrsg.): Endstation Sehnsucht. Kapitalismus und Depression I. Alexander Verlag. Berlin 2000, 127f.
[50] Szczesny-Friedmann, 73.
[51] Kellner, Douglas: Popular culture and the construction of postmodern identities. S. 141-177. In: Lash/Friedman (Hrsg.): Modernity and Identity. Blackwell. Oxford 1993, 141.
[52] Keupp, 64.
- Citation du texte
- M.A. Caroline Buyken (Auteur), 2002, Spielarten der Individualität in der zeitgenössischen Dramatik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29276
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