1985 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs die Schaffung eines gemeinsamen eur opäischen Marktes ohne jegliche Handelshindernisse zum 1.1.1993. Der Binnenmarkt wurde als histor ischer Schritt hin zu einem vereinten und starken Europa gewertet und sollte Vorteile für jedermann bringen. Doch was damals mit so viel Enthusiasmus in Angriff genommen wurde, scheint heute, genau zehn Jahre nach dem offiziellen Start des Binnenmarktes, vergessen. Vergeblich suchte man Anfang dieses Jahres in den Zeitungen und Nachrichten nach feierlichen Rückblicken, Lob- oder Dankesreden über das zehnjährige Jubiläum. Ist der Gemeinsame Markt also verwirklicht, haben wir uns an die Realität eines ungehinderten grenzüberschreitenden Handels vielleicht bereits so gewöhnt, dass es niemand für nötig befunden hat, den damals feierlich zelebrie rten Integrationsschritt und die daran ge knüpften Hoffnungen rückblickend zu würdigen? Oder gab es Versäumnisse, Probleme, Hindernisse bei der Umsetzung, die man lieber unerwähnt lässt? Die vorliegende Arbeit versucht nun einen Bogen zu spannen zwischen den Aufbruchsjahren während der Erstellung des Konzeptes und der heutigen Situation mit dem Ziel, dabei die Schwierigkeiten und Versäumnisse aufzuzeigen, welche der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes im Wege standen und immer noch stehen. Dabei wird zuerst die Entwicklung des Binnenmarktprojekts von den Römischen Verträgen bis zur Unterzeichnung der die Vollendung des Gemeinsamen Marktes beschließenden Einheitlichen Europäischen Achse vorgestellt, um im Folgenden die Erwartungen verschiedener gesellschaftlicher und politischer Akteure an den Binnenmarkt zu beschreiben mit Konzentration auf die differenziert zu betrachtende deutsche Sichtweise. Danach werden der Inhalt des Projektes und die Vorschläge der Kommission dargestellt, um in Anschluss die Umsetzungsschwierigkeiten und –mängel aufzuzeige n, welche bis heute existieren. Im letzten Kapitel wird schließlich ein kurzes Resümee des Binnenmarktprojektes gezogen.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG DES BINNENMARKTES
2.1. Ist das Binnenmarktprojekt zum Scheitern verurteilt? – Die Jahre der Eurosklerose
2.2. Die Wiederaufnahme des Integrationsprozesses – Das Delors-Arbeitsprogramm
2.3. Die Verwirklichung des Binnenmarktes – Das Weißbuch der Kommission
2.4. Die Verankerung des Binnenmarktes in den Europäischen Verträgen –
Die Einheitliche Europäische Akte
3. ERWARTUNGSHALTUNGEN GEGENÜBER DEM BINNENMARKT
3.1. Der Cecchini-Bericht
3.1.1. Mikroökonomische Auswirkungen
3.1.2. Makroökonomische Auswirkungen
3.2. Die Europäische Kommission
3.3. Die deutsche Bundesregierung
3.4. Die Gewerkschaften
3.5. Die Arbeitgeberverbände
4. DER GEMEINSAME MARKT – DIE VIER GRUNDFREIHEITEN
4.1. Warenverkehr
4.1.1. Technische Handelsschranken
4.1.2. Materielle Handelsschranken
4.1.3. Steuerliche Handelsschranken
4.2. Dienstleistungsverkehr
4.2.1. Transportdienstleistungen
4.2.2. Finanzdienstleistungen
4.2.3. Telekommunikationsdienstleistungen
4.3. Kapitalverkehr
4.4. Personenverkehr
5. PROBLEME UND VERSÄUMNISSE IM PROZESS DER BINNENMARKTVERWIRKLICHUNG
5.1. Warenverkehr
5.2. Dienstleistungsverkehr
5.3. Kapitalverkehr
5.4. Personenverkehr
5.5. Die Wirtschafts- und Währungsunion
5.6. Die soziale Dimension
5.7. Die politische Dimension
6. DER EUROPÄISCHE BINNEMARKT HEUTE – VON LUXEMBURG NACH LISSABON
7. LITERATURVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
1985 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes ohne jegliche Handelshindernisse zum 1.1.1993. Der Binnenmarkt wurde als historischer Schritt hin zu einem vereinten und starken Europa gewertet und sollte Vorteile für jedermann bringen. Doch was damals mit so viel Enthusiasmus in Angriff genommen wurde, scheint heute, genau zehn Jahre nach dem offiziellen Start des Binnenmarktes, vergessen. Vergeblich suchte man Anfang dieses Jahres in den Zeitungen und Nachrichten nach feierlichen Rückblicken, Lob- oder Dankesreden über das zehnjährige Jubiläum. Ist der Gemeinsame Markt also verwirklicht, haben wir uns an die Realität eines ungehinderten grenzüberschreitenden Handels vielleicht bereits so gewöhnt, dass es niemand für nötig befunden hat, den damals feierlich zelebrierten Integrationsschritt und die daran geknüpften Hoffnungen rückblickend zu würdigen? Oder gab es Versäumnisse, Probleme, Hindernisse bei der Umsetzung, die man lieber unerwähnt lässt?
Die vorliegende Arbeit versucht nun einen Bogen zu spannen zwischen den Aufbruchsjahren während der Erstellung des Konzeptes und der heutigen Situation mit dem Ziel, dabei die Schwierigkeiten und Versäumnisse aufzuzeigen, welche der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes im Wege standen und immer noch stehen. Dabei wird zuerst die Entwicklung des Binnenmarktprojekts von den Römischen Verträgen bis zur Unterzeichnung der die Vollendung des Gemeinsamen Marktes beschließenden Einheitlichen Europäischen Achse vorgestellt, um im Folgenden die Erwartungen verschiedener gesellschaftlicher und politischer Akteure an den Binnenmarkt zu beschreiben mit Konzentration auf die differenziert zu betrachtende deutsche Sichtweise. Danach werden der Inhalt des Projektes und die Vorschläge der Kommission dargestellt, um in Anschluss die Umsetzungsschwierigkeiten und –mängel aufzuzeigen, welche bis heute existieren. Im letzten Kapitel wird schließlich ein kurzes Resümee des Binnenmarktprojektes gezogen.
2. GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG DES BINNENMARKTES
Die Geburtsstunde des europäischen Binnenmarkts liegt im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der zum 1.1.1958 in Kraft trat. Dieser beinhaltete bereits das Ziel der Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes mit freiem Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr bis Ende 1969 auf dem Gebiet der Mitgliedsstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und der Niederlande.[1]Das Ziel wurde jedoch verfehlt; bis 1968 hatte man lediglich den schrittweisen Abbau der Binnenzölle hin zu einer Zollunion erreicht.[2]
2.1. IST DAS BINNENMARKTPROJEKT ZUM SCHEITERN VERURTEILT? – DIE JAHRE DER „EUROSKLEROSE“
Ein großer Teil der Handelshemmnisse bestand weiter fort, vor allem im Bereich der Grenzformalitäten, Steuerarten und –sätze sowie der beruflichen Freizügigkeit, woran sich auch in den folgenden 15 Jahren nicht viel änderte. Das lag zum einen an der Praxis der Rechtsangleichung: Die erhofften Handelserleichterungen durch die Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften und Bestimmungen traten nicht ein, da sich die Suche nach Kompromissen zwischen den unterschiedlichen nationalen Regelwerken als äußerst kompliziert und zeitaufwändig erwies. Meistens waren die Richtlinien beim Zeitpunkt ihrer Verabschiedung bereits von der technischen Entwicklung eingeholt worden, denn „hierbei neigte der europäische Gesetzgeber dazu, nicht nur die Ziele des gemeinsamen Rechtes zu definieren, sondern auch die Mittel zur Erreichung der Ziele im Detail zu beschreiben“.[3]So dauerte beispielsweise die Einigung über die 1984 verabschiedete Richtlinie über nahtlose Gasflaschen aus unlegiertem Aluminium allein mehr als zehn Jahre.[4]Selbst die im Cassis-de-Dijon Urteil von 1979 geäußerte Ansicht des Europäischen Gerichtshofs, dass nach in einem Mitgliedsstaat geltenden Vorschriften hergestellte und in den Handel gebrachte Waren grundsätzlich Verkehrsfreiheit im gesamten Gemeinschaftsgebiet genießen, änderte an der schwerfälligen Umsetzung des Binnenmarktgedankens kaum etwas.[5]
Der ausschlaggebende Grund für die mangelhafte Realisierung des Binnenmarktes stellten allerdings die wirtschaftlichen Probleme dar, welche die Europäische Gemeinschaft seit Anfang der siebziger Jahre heimsuchten und ihre Mitglieder dazu bewegten, sich eingehender mit innerstaatlichen Problemen als mit dem europäischen Integrationsprozess zu befassen. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg war vorüber, Stagnation herrschte in vielen Sektoren der Wirtschaft, Arbeitslosigkeit wuchs stark an. Die 1973 eintretende Ölkrise und die darauf folgende weltweite Wirtschaftsrezession verschärfte diese Probleme weiter. Hinzu kam die zunehmende wirtschaftliche Überrundung der EG-Staaten durch Japan und die USA. Dieser Misere versuchten die Mitgliedsstaaten jedoch nicht durch gebündelte, gemeinschaftsweite Anstrengungen zu begegnen, sondern durch nationale, auf das eigene Land beschränkte Maßnahmen. Die eigenen Probleme hatten damit auch die früher so beschworene Notwendigkeit eines Gemeinsamen Marktes vergessen lassen.[6]
Diese neuen Probleme und zugleich die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen – der Zusammenbruch der Kolonialreiche, das „nukleare Gleichgewicht“ zwischen Ost und West und die nachlassende Bedrohung des Kommunismus – ließen die Einigung Europas weniger dringlich erscheinen, als dies noch in den fünfziger Jahren der Fall gewesen war. Vielmehr trat nun der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung hervor, sowohl im rüstungspolitischen als auch im wirtschaftlichen Bereich.[7]
2.2. DIE WIEDERAUFNAHME DES INTEGRATIONSPROZESSES – DAS DELORS-ARBEITSPROGRAMM
Obwohl bereits in den folgenden Jahren die Europäische Kommission mehrmals ihren Willen nach Forttreibung des Integrationsprozesses bekundete, trat die Wende in dieser Entwicklung erst 1985 mit dem Amtsantritt Jacques Delors als Kommissionspräsidenten ein, der das Binnenmarktprojekt zum Schwerpunkt seiner Kommissionsarbeit machte. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellte das im April 1985 verabschiedete „Arbeitsprogramm der Kommission für 1985“ dar, in dem die Mitgliedsstaaten zur Verwirklichung des Binnenmarktes aufgefordert wurden, also alle bestehenden Arten von Schranken abzuschaffen, ihre unterschiedlichen Vorschriften, Normen und Regeln zu harmonisieren, ihre Steuerstrukturen anzugleichen und die Zusammenarbeit bezüglich einer gemeinsamen europäischen Währung zu intensivieren. Damit trat die Kommission an den Europäischen Rat mit der Bitte heran, sich die Realisierung des Gemeinsamen Marktes bis 1992 mit Hilfe eines verbindlichen Programms mit genauem Zeitplan zum Ziel zu machen. Der Rat entsprach dieser Bitte und so legte die Kommission bereits im Sommer des selben Jahres auf dem Treffen des Rates in Mailand das „Weißbuch zur Vollendung des EG-Binnenmarktes“ vor, welches durch die Staats- und Regierungschefs der EG angenommen wurde.[8]
2.3. DIE VERWIRKLICHUNG DES BINNENMARKTES – DAS WEIßBUCH DER KOMMISSION
Die Erstellung des Weißbuches war „rapid, bold and radical…, covered a vast series of topics and left no stone unturned.“[9]Es gliederte sich in zwei Abschnitte: Der erste war den der Verwirklichung der vier Verkehrfreiheiten (Güter-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) im Weg stehenden Problemen und den zu verwendenden Lösungsansätzen gewidmet. Die hier behandelten Hindernisse wurden wiederum in drei Arten unterteilt:
Erstere umfasstenmaterielle Schranken, also aufgrund steuerlicher, handelspolitischer, gesundheitlicher, statistischer, wirtschaftlicher und polizeilicher Bestimmungen erfolgender Grenzkontrollen von Gütern und Personen, und deren Kompensation durch andere, nicht mehr an der Grenze erfolgender Kontrollen. Diese sollten allerdings von nun an gegenseitig anerkannt werden, um ein erneutes aufwändiges Angleichen der unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu vermeiden. Kritisch stellte sich der Bereich der Personenkontrollen dar, da hier noch kaum Übereinstimmung über ein gemeinsames Vorgehen herrschte; zu umstritten waren (und sind immer noch) Fragen des Asyl- und Ausländerrechts und der Verfolgung grenzübergreifender Strafdelikte.
Zu Zweiteren zähltentechnische Handelsbarrierenin Form technischer Normen und Vorschriften und die grenzüberschreitende Vergabe öffentlicher Aufträge. Im Bereich der technischen Regeln forderte die Kommission die Erstellung gemeinsamer EG-weiter Mindeststandards unter Beteiligung der europäischen und nationalen Normeninstitute, welche die Details regeln sollten. Öffentliche Aufträge sollten ohne die Bevorzugung nationaler Unternehmen gemeinschaftsweit vergeben werden.
Die dritte Art der Hindernisse umfasstesteuerliche Schranken. Hier sollten die indirekten Steuern, insbesondere die Mehrwertsteuer, harmonisiert werden.[10]
Zur Verwirklichung dieser Vorhaben enthielt das Weißbuch in seinem zweiten Abschnitt knapp 300 Richtlinienentwürfe und Verordnungen, welche von der Kommission bis Ende 1992 vorgeschlagen und vom Rat verabschiedet werden sollten.[11]
2.4. DIE VERANKERUNG DES BINNENMARKTES IN DEN EUROPÄISCHEN VERTRÄGEN – DIE EINHEITLICHE EUROPÄISCHE AKTE
Die Inhalte des Weißbuchs fanden nach der Einleitung eines Vertragsänderungsverfahrens schließlich Aufnahme in den EG-Vertrag im Rahmen der Erstellung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1985 in Luxemburg (1987 in Kraft getreten). Durch die EEA wurde die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes als Vertragsziel mit einem festen Zeitplan im EG-Vertrag verankert. Demnach sollte die Europäische Gemeinschaft zum 1.1.1993 einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit freiem Güter-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr umfassen. Die Forderung nach der Harmonisierung der verschiedenen Wirtschafts- und Währungspolitiken und dem Vorantreiben der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion Aufnahme fand ebenfalls Aufnahme in das Dokument.[12]
Die erneute Inangriffnahme des europäischen Integrationsprozesses erfolgte allerdings nicht nur auf der wirtschaftlichen Schiene. Auch die politische Integration sollte wieder vorangetrieben werden; zu diesem Zweck enthielt die EEA Maßnahmen und Beschlüsse, welche die Phase der Eurosklerose endgültig beenden sollten.
So erfuhren die Politikbereiche, in denen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden sollte, eine Ausweitung und das Europäische Parlament erhielt darüber hinaus das Recht, mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Ratsentscheidungen zustimmen zu müssen bzw. ablehnen zu können (Mitentscheidungsprinzip). Dies galt auch für Beitrittsanträge und Assoziationsabkommen. Mit Umweltschutz und Forschung und technologische Entwicklung kamen zwei weitere Integrationsbereiche hinzu. Nicht zuletzt durch den Beitritt Spaniens und Portugals wurden die Sozial-, Regional- und Agrarförderungsfonds gestärkt mit dem Ziel, den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt der Gemeinschaft zu stärken und die Disparitäten zwischen den einzelnen Ländern abzutragen. Und schließlich erfolgte die vertragliche Vereinbarung der gemeinsamen Außenpolitik, die Europäische Politische Zusammenarbeit.[13]
Damit stellte die EEA den Schlusspunkt des bis jetzt gelähmten Integrationsprozesses, hauptsächlich wegen der Ausweitung der Anwendung des Mehrheitsprinzips, welches die europäische Entscheidungsfindung maßgeblich behindert hatte, dar, aber auch infolge der Abkehr vom Detailregulierungsgrundsatz bei der Erstellung von Richtlinien.[14]
Das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EEA aus integrationstheoretischer Sicht rein funktional angelegt war und ihre Wirkung hauptsächlich marktintegrierender Art war, obgleich die positiven Auswirkungen des Binnenmarkts auf die politische Vertiefung der Gemeinschaft nicht zu leugnen sind. Die Kritik an der negativen Integration, also die mangelnde Kompensation der wegfallenden einzelstaatlichen Zuständigkeiten an die Gemeinschaft durch einen Ausbau der politischen Dimension der EG, soll jedoch erst in Abschnitt 5 besprochen werden. Zu betonen ist dennoch, dass die starke wirtschaftliche Ausrichtung der EEA der Grund für die, europäische Verhältnisse bedenkend, ungewöhnlich schnelle Einigung über die Realisierung des Gemeinsamen Marktes verantwortlich gewesen ist.[15]
Während nämlich die Vorstellungen über die politische Ausgestaltung der EG weit auseinander klafften, verfolgten alle Mitgliedsstaaten die selben wirtschaftlichen Interessen, welche sie durch das Binnenmarktprogramm zu verwirklichen hofften: Wachstumsimpulse für die eigene Volkswirtschaft, Anreize für die einheimischen Unternehmen, Senkung der Arbeitslosenquote, Steigerung des Wohlstands etc. Die in den achtziger Jahren herrschende wirtschaftlicher Flaute, die schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit, das zunehmende Ausgeliefertsein gegenüber globalen Wirtschaftsereignissen und nicht zuletzt die technische und ökonomische Überflügelung durch Japan und die USA ließen den Wunsch nach einem wirtschaftlich starken Europa übermächtig werden. So herrschte seltene Einmütigkeit über den Abbau nationaler Handelsschranken, wettbewerbsverzerrender Subventionen für die einheimische Wirtschaft und des zersplitterten europäischen Marktes, welche sogar die ansonsten notorisch europaskeptischen Briten zur Annahme der EEA bewegte.[16]
Wichtige Überzeugungsarbeit leisteten hier Wirtschaftsprognosen wie der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Cecchini-Bericht, welche versuchten, die Chancen des gemeinsamen freien Marktes zu berechnen. Die Ergebnisse verdeutlichen, welche Hoffnungen sich mit dem Binnenmarktprojekt verbanden. Im folgenden Abschnitt soll daher zunächst der Inhalt des Cecchini-Berichts beschrieben werden und im Anschluss auf die Erwartungen verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure eingegangen werden.
3. ERWARTUNGSHALTUNGEN GEGENÜBER DEM BINNENMARKT
3.1. DER CECCHINI-BERICHT
1986 beauftragte der damalige Vizepräsident der Kommission, Lord Cockfield, eine von dem Italiener Paolo Cecchini geleitete Expertengruppe unter Einbeziehung nationaler Wirtschafts- und Umfrageinstitute zur Bezifferung der Auswirkungen der Marktzersplitterung innerhalb der EG. Mithilfe von mikro- und makroökonomischen Analysen, Befragung von rund 11 000 Unternehmen und europaweiten Preisvergleichen in allen Mitgliedsländern und Industriebranchen sollten die Kosten der „Nichtverwirklichung Europas“ ermittelt werden.[17]Das Ziel bestand darin, durch das Aufzeigen der Wachstums- und Einsparpotenziale eines integrierten Marktes die Skeptiker des Binnenmarktprojekts zu überzeugen; man dachte hierbei besonders auch an die EG-Bürger, an denen der bisher verlaufene Integrationsprozess weitgehend vorübergegangen war. Im Zeitraum von 1986 bis 1988 wurden so dreizehn Studien auf den Gebieten „multisektorale Schranken“ (alle Wirtschaftsbranchen betreffend), „Dienstleistungen“ und „Industrie“ durchgeführt, wobei zuerst die Kosten der multisektoralen Handelshemmnisse errechnet wurden und dann in den einzelnen Wirtschaftsbereichen getrennte Untersuchungen durchgeführt wurden. Die gewonnenen Ergebnisse wurden danach auf die mikro- und makroökonomische Ebene übertragen, um die positiven Auswirkungen des Binnenmarktes auf Verbraucher, Unternehmen und die nationalen Volkswirtschaften benennen zu können.
Der Cecchini-Bericht geht bei den Berechnungen davon aus, dass die drei Arten der im Weißbuch genannten Handelshemmnissen wegfallen müssen, um einen freien Markt schaffen und dessen Vorzüge voll ausschöpfen zu können. Im folgenden verzichte ich darauf, alle branchenspezifischen Handelsbarrieren sowie die spezifischen Auswirkungen ihres Abbaus aufzuzählen, sondern möchte nur die allgemeinen mikro- und makroökonomischen Effekte der Marktliberalisierung nennen, welche der Cecchini-Bericht prognostizierte.
3.1.1. Mikroökonomische Effekte
In mikroökonomischer Hinsicht sollten sich für die Verbraucher die Vorteile des Binnenmarktes, namentlich Preissenkungen, eine größere Produktauswahl sowie eine größere Produktqualität, aus dem Konkurrenzdruck ergeben, dem die europäischen Unternehmen durch die Marktliberalisierung ausgesetzt wären.
Der durch die wegfallenden nationalen Schranken und Protektionsmechanismen zunehmende Wettbewerb unter den Unternehmen zwänge diese dazu, Rationalisierungsmaßnahmen zu ergreifen, sich also mit anderen Betrieben zusammenzuschließen, Unternehmensanteile zu verkaufen oder auszulagern, kurz: eine Modernisierung der betriebsinternen Strukturen vorzunehmen, um auf dem gemeinschaftsweiten wie auch globalen Markt bestehen zu können. Einsparungen seien also zum einen hier zu erzielen.[18]
Zum anderen brächte aber nicht nur der Wegfall materieller, sondern auch technischer Schranken (Vorschriften und Normen bezüglich der Herstellungsweise und Beschaffenheit eines Produkts sowie seiner Prüf- und Zulassungsverfahren) hohe Einsparungen vor allem im Bereich von Größenvorteilen, „economies of scale“, da die Unternehmen von nun an nicht mehr für jeden nationalen Markt, für den sie produzierten, aufgrund der jeweils unterschiedlichen Vorschriften und Produktnormen auch verschiedene Forschung und Entwicklung betreiben müssten, um den jeweiligen nationalen Produktanforderungen zu genügen. Vielmehr sei nun eine Konzentration und effektivere Nutzung der Ressourcen möglich, die nun gemeinschaftsweit gültigen Regelungen Mehrarbeit in Forschung und Entwicklung und damit Mittelvergeudung überflüssig machten.[19]Folglich kann ein Produkt nun in einer weitaus höheren Stückzahl und deshalb billiger hergestellt werden.
Somit seien die Unternehmen bei erfolgreicher Liberalisierung des gemeinsamen Marktes in der Lage, ihre Gesamteinsparungen in der geschätzten Höhe von 200 Milliarden ECU als doppelten Preisvorteil an die Verbraucher weiterzugeben. Die sinkenden Preise lösten dann einen „Angebotsschock“ und zögen die Kaufbereitschaft der Konsumenten nach sich. Die gesteigerte Nachfrage führe dann – so die optimistische Einschätzung – zu einem gemeinschaftsweiten Wirtschaftsaufschwung, so dass die Wirtschaftstätigkeit der EG um etwa 4,5% zunehme. Diese Gewinne beträfen jedoch die jeweiligen Industrie- und Dienstleistungsbranchen in unterschiedlichem Umfang; die Hauptprofiteure des Binnenmarkts seien dabei die mittelständischen Unternehmen.[20]
3.1.2. Makroökonomische Auswirkungen
Gesamtwirtschaftliche Effekte seien zum einen durch die den zurückgehenden Produktionskosten und Preise folgenden Deflation, obgleich für kurze Zeit die Inflation steigen würde wegen des Angebotsschocks und der dadurch zeitweilig gestiegenen Preise um ungefähr 1%.
Billigere Produktionskosten und Preise erhöhten aber nicht nur die Nachfrage, sondern auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit, so dass sich die Außenhandelsposition der Mitgliedsstaaten im Einzelnen und der EG als Ganzes um ca. 1% europäisches Bruttoinlandsprodukt verbessere, unterstützt durch die zu erwartende Exportsteigerung. Ebenfalls nicht zu vergessen sei die Zurückeroberung der führenden Rolle der Gemeinschaft in Forschung und Technologie.[21] Auch steigerten ein liberalisierter Kapitalverkehr und demzufolge günstigere Kredite die Investitionsbereitschaft und brächten eine Steigerung des europäischen Bruttoinlandsprodukts um 1,5%. Handele es sich hier um eher mittel- und langfristig eintretende Phänomene, so seien durch den Wegfall der Binnengrenzkontrollen und damit auftretenden Grenzformalitäten nur kurzfristige Einsparungen zu erzielen. Zudem müsse in diesem Bereich mit einigen tausend Entlassungen gerechnet werden. Zu erwarten seien daher nur Entlastungen im Rahmen von 0,2% europäisches BIP.[22]
[...]
[1]Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (25.03.1957), Artikel 2 und 3.
[2]Werner, Horst: Perspektiven und Probleme des Gemeinsamen Marktes 1993, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24-25 (1989), S. 3.
[3]Dicke, Hugo: Der Europäische Binnenmarkt, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Europa Handbuch, Bonn 2002, S. 440.
[4]Anselmann, Norbert: Technische Vorschriften und Normen in Europa. Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung, Bonn 1991, S. 29.
[5]Werner (1989), S. 10.
[6]Wistrich, Ernest: After 1992: The United States of Europe, London 1989, S. 4.
[7]Gasteyger, Curt: Europa von der Spaltung zur Einigung, Bonn 2001, S. 209.
[8]Scherpenberg, Jens van: Ordnungspolitik im EG-Binnenmarkt, Baden-Baden 1992, S. 15f.
[9]Schmitt von Sydow, Helmut: The Basic Strategies of the Commission´s White Paper, in: Bieber, Roland et.al. (Hg.): 1992: One European Market? A Critical Analysis of the Commission´s Internal Market Strategy, Baden-Baden 1988, S. 88.
[10]Brindlmayer, Maria et.al.: Wege zum EG-Binnenmarkt 1992, Bonn 1989, S. 12.
[11]Fielder, Nicola: Western European Integration in the 1980s. The Origins of the Single Market, Frankfurt am Main etc. 1997, S. 22f.
[12]Siebert, Gerd (Hg.): Wenn der Binnenmarkt kommt... Neue Anforderungen an gewerkschaftliche Politik, Frankfurt am Main 1989, S. 106.
[13]Gasteyger (2001), S. 339.; Wistrich (1989), S. 4.
[14]Seliger, Bernhard: Ubi certamen, ibi corona: Ordnungspolitische Optionen der Europäischen Union zwischen Erweiterung und Vertiefung. Frankfurt am Main 1999, S. 225; Dicke (2002), S. 444.
[15]Kreile, Michael: Politische Dimensionen des europäischen Binnenmarktes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24-25 (1989), S. 29f; ders.: Einleitung. In: Kreile, Michael (Hg.): Europa 1992 – Konzeptionen, Strategien, Außenwirkungen, Baden-Baden 1991, S. 10ff.
[16]Scherpenberg (1992), S. 16f.
[17]Cecchini, Paolo: Europa ´92: Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden 1988, S. 16f.
[18]ebd., S. 100.
[19]Cecchini (1988), S. 46ff.
[20]ebd., S. 59f.
[21]ebd., S. 113.
[22]ebd., S. 125.
- Citar trabajo
- Ruth Heidingsfelder (Autor), 2002, Der Europäische Binnenmarkt Geschichte Ergebnisse Versäumnisse, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29273
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