1. 'DIE HOREN' - HISTORISCHE HINTERGRÜNDE & ZIELSETZUNG
Im Sommer 1794 begann Friedrich Schiller mit den Vorbereitungen zu einer Monatsschrift, die er zu Beginn des folgenden Jahres in Zusammenarbeit mit Johann Gottfried Fichte, Wilhelm von Humboldt und Karl Ludwig Woltmann herausgeben wollte. 'Die Horen' sollte der Titel lauten - nach den Töchtern des Zeus Eunomia, Dike und Irene; die Verkörperungen von gesetzlicher Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden. Dieser Name allein eröffnet schon den Blick auf die Hintergründe, die zur Entstehung dieses Unternehmens geführt hatten, und auf die programmatischen Forderungen, die den Mitarbeitern gestellt wurden:
im Mittelpunkt geisteswissenschaftlichen Interesses stand zu jener Zeit natürlich die Französische Revolution, die seit einigen Jahren die Welt in Atem hielt. Die kriegerische Außenpolitik des revolutionären Frankreich und seine innenpolitischen Exzesse der Gewalt und des Terrors, die 1793/94 einen traurigen Höhepunkt erreicht hatten, waren es, die das französische Volk und "mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europas, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert" hatten. Die Ambivalenz zwischen den großen revolutionären Grundideen und den verheerenden Auswirkungen des Versuchs ihrer Umsetzung in die Realität erregte die Gemüter und spaltete die Gesellschaft in zwei Lager.
Diese Situation der Zerrissenheit, die auch das deutsche Bildungsbürgertum erfaßt hatte, und der Wunsch nach Wiederherstellung der Einheit und des Friedens zwischen den zerstrittenen Parteien veranlaßte Schiller zur Gründung der 'Horen'. In ihnen sollte nichts zur Sprache kommen, "was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht" . Stattdessen sollte "die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit vereinigt werden; die Autoren sollten der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Austausch der Idee beitragen" .
Doch eine solche bewußte Auslassung des Themas Nr.1 zu dieser Zeit war letztlich ja schon wieder eine Thematisierung. Zudem lief vieles, was vom politischen Interesse des Tages ablenken sollte, darauf zu - nur auf einer anderen Ebene. Schiller selbst konnte sich nicht an seine eigenen Auflagen halten: in seinen 'Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen' zielt er ab auf die Entwicklung zur meschlichen Freiheit des Einzelnen, sprich: auf die sittliche Selbsterziehung und
INHALTSVERZEICHNIS
1. 'Die Horen'- Historische Hintergründe & Zielsetzung
2. Goethes Mitarbeit und sein Verhältnis zur Französischen Revolution
3. Zur 'erzieherischen' Effektivität der Literatur
4. Darstellung der Revolutionsthematik in den 'Unterhaltungen'
4.1. Zunehmende Abstraktion der Thematik auf die psychologische Ebene
4.2. Die 'sittliche Entwicklung' des Menschen in den Novellen
5. Bedeutung der 'Prokurator'-Novelle für die 'Unterhaltungen'
5.1. Die Quelle und Goethes Leistung als Bearbeiter
5.2. Der 'Prokurator' als Ausgangspunkt der 'Unterhaltungen'
5.3. Die Zentrale Rolle des 'Prokurator' im Novellenzyklus
6. Darstellung der 'sittlichen Entwicklung' in der 'Prokurator'-Novelle
6.1. Konflikt und Konfliktlösungsprozeß
6.2. Unabhängigkeit 'sittlicher Entwicklung' von sozialem Status
6.3. Die individuelle Entwicklung als Modell für die gesellschaftliche
6.4. 'Sittliche Entwicklung' als repetitiver Prozeß
7. Betrachtung des 'Prokurator' nach psychoanalytischen Aspekten
7.1. Das 'Strukturmodell des psychischen Apparats' nach Freud
7.2. 'Es' & 'Über-Ich'; zur Charakterstruktur des Kaufmanns
7.3. Die Kaufmannsfrau: Personifikation der Triebseite
8. Konklusion
1. 'DIE HOREN' - HISTORISCHE HINTERGRÜNDE & ZIELSETZUNG
Im Sommer 1794 begann Friedrich Schiller mit den Vorbereitungen zu einer Monatsschrift, die er zu Beginn des folgenden Jahres in Zusammenarbeit mit Johann Gottfried Fichte, Wilhelm von Humboldt und Karl Ludwig Woltmann herausgeben wollte. 'Die Horen' sollte der Titel lauten - nach den Töchtern des Zeus Eunomia, Dike und Irene; die Verkörperungen von gesetzlicher Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden. Dieser Name allein eröffnet schon den Blick auf die Hintergründe, die zur Entstehung dieses Unternehmens geführt hatten, und auf die programmatischen Forderungen, die den Mitarbeitern gestellt wurden:
im Mittelpunkt geisteswissenschaftlichen Interesses stand zu jener Zeit natürlich die Französische Revolution, die seit einigen Jahren die Welt in Atem hielt. Die kriegerische Außenpolitik des revolutionären Frankreich und seine innenpolitischen Exzesse der Gewalt und des Terrors, die 1793/94 einen traurigen Höhepunkt erreicht hatten, waren es, die das französische Volk und "mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europas, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert"[i] hatten. Die Ambivalenz zwischen den großen revolutionären Grundideen und den verheerenden Auswirkungen des Versuchs ihrer Umsetzung in die Realität erregte die Gemüter und spaltete die Gesellschaft in zwei Lager.
Diese Situation der Zerrissenheit, die auch das deutsche Bildungsbürgertum erfaßt hatte, und der Wunsch nach Wiederherstellung der Einheit und des Friedens zwischen den zerstrittenen Parteien veranlaßte Schiller zur Gründung der 'Horen'. In ihnen sollte nichts zur Sprache kommen, "was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht"[ii]. Stattdessen sollte "die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit vereinigt werden; die Autoren sollten der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Austausch der Idee beitragen"[iii].
Doch eine solche bewußte Auslassung des Themas Nr.1 zu dieser Zeit war letztlich ja schon wieder eine Thematisierung. Zudem lief vieles, was vom politischen Interesse des Tages ablenken sollte, darauf zu - nur auf einer anderen Ebene. Schiller selbst konnte sich nicht an seine eigenen Auflagen halten: in seinen 'Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen' zielt er ab auf die Entwicklung zur meschlichen Freiheit des Einzelnen, sprich: auf die sittliche Selbsterziehung und Humanisierung der Triebe als "Voraussetzung zur politischen Freiheit des Staatsbürgers"[iv].
Also reduzierte Schiller im ersten Stück der 'Horen' seine Forderung nach politischer Abstinenz des philosophischen Geistes auf politische Neutralität und gab somit Philosophie und Dichtung "die Möglichkeit [...], mittelbar der politischen Bildung zu dienen"[v], da er der Undurchführbarkeit seines Anspruchs gewahr wurde; "denn worauf kann dieser [der Philosoph] sich am Ende überall beziehen wollen, wenn nicht auf Staatsverfassung und Religion?"[vi]
2. GOETHES MITARBEIT & SEIN VERHÄLTNIS ZUR FRANZÖSISCHEN REVOLUTION
So konnte sich auch Goethe, der bereits am 24.Juni 1794 begeistert zugesagt hatte, an Schillers Projekt mitzuarbeiten, und "nicht nur der wichtigste Mitherausgeber, sondern einer der tätigsten Beiträger"[vii] wurde, der Behandlung der gesellschaftlichen Revolutionsproblematik und seiner individualpsychologischen Hintergründe nicht entziehen. Er hatte schon mehrmals versucht, das Thema Revolution literarisch zu verarbeiten[viii] ; nun wollte er -nach Absprache mit Schiller- zunächst nur eine kleine Erzählung[ix] liefern, doch schon bald sollte daraus "eine zusammenhängende Suite von Erzählungen im Geschmack des 'Decameron' des Boccaz"[x] werden. Freilich sollte es sich hierbei nur um "eine leichte angenehme Erholung"[xi] handeln, wenn sich "die Gesellschaft, nach einer ernsthaften Unterhaltung, auf eine kurze Zeit ausruhen"[xii] möchte; ein Gegenstück zu den philosophischen Aufsätzen, die Schiller für die ersten 'Horen'-Hefte vorgesehen hatte. Doch schon der Titel seines Novellenzyklus -'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten'- verrät, daß Goethe das Thema Revolution nicht umgehen konnte und wollte.
Zusehr fühlte er sich betroffen von den politischen Vorgängen und deren gesellschaftlichen Auswirkungen. Zwar war für ihn klar, daß die Revolution die logische Folge des Versagens des ancien régime war, da dieses "den berechtigten Reformforderungen der verschiedensten Volksschichten nicht entsprochen hatte"[xiii]. Doch die zunehmende Entartung der großen Revolutionsideen und ihr Mißbrauch zur Rechtfertigung grausamster Greueltaten führte dazu, daß Goethe dieses bedeutende geschichtliche Ereignis in seiner Frühphase entschieden ablehnte, während die meisten anderen deutschen Intellektuellen sich von der Welle der revolutionären Begeisterung eher fortreißen ließen. Zudem widersprach jener "gewaltsame Umsturz [...] des Bestehenden" seiner "dem Prinzip des organischen Wachstums verhaftete[n] Lebensanschauung"[xiv] zutiefst. So empfand er die geschichtliche Entwicklung seiner Zeit in persönlicher Hinsicht doppelt schmerzlich:
-zum einen litt er unter der Spaltung der Gesellschaft, da der politische Kampf zwischen Altem und Neuem auch schon auf zwischenmenschlicher Ebene ausgetragen wurde,
-zum anderen spürte er diese Zerrissenheit in seiner Person selbst, indem er die Notwendigkeit einer Erneuerung zwar anerkannte, die damit in der Realität verbundene völlige Auflösung bestehender moralischer Ordnungsprinzipien aber ablehnen mußte. Diese bipolare Haltung stellte Goethe 30 Jahre später in einem Gespräch mit Eckermann (1824)[xv] aus einer für eine sachliche Retrospektive angemessenen epochalen wie mentalen Distanz heraus eindrucksvoll dar.
Das Chaos, das in Frankreich und seinen Nachbarländern die Oberhand zu gewinnen drohte durch die Zerrüttung der großen Körperschaft Staat als gesellschaftlich notwendigem Ordnungsprinzip, veranlaßte Goethe dazu, die Revolution als Ursache des staatlichen Siechtums mit einer Krankheit zu vergleichen[xvi], die es zu bekämpfen und auszurotten galt, umsomehr als diese 'Influenz' schon bis in die einzelnen Organe und Zellen vorgedrungen war. Das determinierte auch gleichsam den Ansatzpunkt für die Kur, die dem gesamten Organismus Heilung bringen sollte.
3. ZUR 'ERZIEHERISCHEN' EFFEKTIVITÄT DER LITERATUR
So kam Goethe das Schillersche Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hatte, neue revolutionäre Fieberanfälle zu vermeiden, indem der politische Diskurs außenvor-gelassen werden sollte, gerade recht. Hier sollte das Übel bei der Wurzel gepackt werden, nämlich bei der jeder Zelle eigenen genetischen Fehlinformation, die die reibungslose Zusammenarbeit der einzelnen Organe störte, statt sie zu fördern: der einzelne Mensch sollte ästhetisch zu einem Besseren erzogen, ja mit sich selbst befriedet werden als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft[xvii].
Im Gegensatz zu Schiller schätzte Goethe jedoch hierbei den Einfluß des Schriftstellers auf das Publikum wesentlich geringer ein. Eine Umerziehung in Schillers Sinn hielt er für utopisch; lediglich die Bestärkung bereits vorhandener Gesinnungen und die Lenkung derjenigen, deren Denken noch nicht in befestigten Bahnen verläuft, schien ihm möglich, wie er in seiner ersten Epistel, die die 'Horen' einleitet, schreibt:[xviii]
"Ganz vergebens strebst du daher,
durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und
seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn
wohl in seiner Gesinnung,
Oder, wär er noch neu, in dieses
tauchen und jenes [...]".
Und schließlich kommt Goethe zu dem Schluß:
"Sag ich, wie ich es denke, so
scheint durchaus mir: es bildet
Nur das Leben den Mann, und
wenig bedeuten die Worte [...]".
Die alleinige Wirksamkeit ernsthafter philosphischer Schriften in Schillers Manier, die auf einer abstrakten theoretischen Ebene ihre Absicht zu bilden und zu erziehen zu Markte tragen, stellte er damit in Frage. Vielmehr suchte Goethe, durch eine weniger direkte, lebensnahe und zudem leichte Form des Schrifttums die zu vermittelnden Werte an den Mann zu bringen:
"Für die Horen habe ich
fortgefahren zu denken und
angefangen zu arbeiten, besonders
sinne ich auf Vehikel und Masken,
wodurch und unter welchen wir
dem Publiko manches zuschieben
können."[xix]
Als ein solches 'Vehikel' arbeitete Goethe die 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' aus, die er mit allerlei Geschichten versah, die -scheinbar fernab jeglicher theoretischer Diskussion- auch die Werte beförderten, die Schiller am Herzen lagen; Geschichten, die das Leben schrieb; denn 'nur das Leben bildet den Mann'.
Sie sollten die Funktion eines "leichten Nachtischs"(36) efüllen, der "den ermüdeten Geist [...] durch den ruhigen Ton, der darin herrscht, zur Sammlung einladet"[xx] und die Verdauung der zuvor gebotenen schweren philosophischen Kost unterstützt und befördert, und somit die Aufnahme ihrer heilsamen Essenzen dem vom politischen Exkurs geschwächten Körper erleichtert.[xxi]
4. DARSTELLUNG DER REVOLUTIONSTHEMATIK IN DEN 'UNTERHALTUNGEN'
Die erste Abteilung dieses Erzählwerks, die ausschließlich der Rahmenhandlung vorbehalten ist, nutzte Goethe zur Illustration des Schillerschen 'Horen'-Programms[xxii], indem er an die damalige politische wie gesellschaftliche Situation anknüpft. Er beschreibt hier die politische Spaltung der Gesellschaft zunächst in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit, indem er die Flucht einer adligen Familie vor den Revolutionstruppen vom linksrheinischen zum rechtsrheinischen Gebiet darstellt[xxiii], und projiziert sie dann auf die persönliche Ebene, indem er -nach ausführlicher Charakterisierung der Personen- die konträren politischen Auffassungen am Beispiel des Streits zwischen Karl und dem Geheimen Rat (17-21) aufeinanderprallen läßt. Diese vordergründige Verletzung der ursprünglichen programmatischen Auflagen Schillers schien für Goethe geradezu unumgänglich[xxiv], wollte er die Rechtmäßigkeit der Forderung darlegen, "gänzlich alle Unterhaltungen über das Interesse des Tages zu verbannen"(27), als einzige Möglichkeit, den Frieden wiederherzustellen.
4.1. ZUNEHMENDE ABSTRAKTION DER THEMATIK AUF DIE PSYCHOLOGISCHE EBENE
Darüber hinaus setzt Goethe die Behandlung der Revolutionsthematik auf subtilere Art und Weise fort. Denn Karl und der Geheime Rat sind nicht nur Stellvertreter für die beiden gegensätzlichen politischen Richtungen der Gesellschaft, sondern sie verkörpern auch jeweils "einen Aspekt von Goethes Haltung zur Revolution. Diese Personifikation einer Ambivalenz [...] ist eines von Goethes wichtigsten poetischen Mitteln [...]"[xxv].
So wie er den gesellschaftspolitischen Konflikt in der Rahmenhandlung verpersonifiziert und damit veranschaulicht, so abstrahiert er ihn in den einzelnen Novellen auf die individuell-psychologische Ebene zum universellen Konflikt zwischen einer vernunftgemäßem Handeln entspringenden Ordnung und der diese gefährdenden, unberechenbaren Leidenschaft. In der Rahmenhandlung taucht also zuerst auf, "was in den Geschichten als Metamorphose wiederkehrt"[xxvi].
Die durch Fehlinterpretation des revolutionären Freiheitsgedankens entstandene Unmäßigkeit und Schrankenlosigkeit einerseits und das unnachgiebige Festhalten an überholten Paragraphen und Vorschriften andererseits stellen sich in der Rahmenhandlung als unvereinbare Gegenpole im äußeren, persönlichen Konflikt zwischen dem von Leidenschaft verblendeten Karl und dem streng legalistischen Geheimen Rat dar. In den Novellen wird hingegen der Konflikt in zunehmendem Maße in ein Individuum übertragen und der Kampf auf psychologischer Ebene zwischen zwei Charakterseiten einer Person ausgetragen. Das Individuum steht hier also pars pro toto für die Gesellschaft[xxvii], und der Streit zwischen reaktionär-konservativem und revolutionär-progressivem Lager wird in individualpsycho-logischer Ausgestaltung zum Kampf zwischen Pflicht und Neigung, zwischen verstandesmäßigem Kalkül und unkontrollierbarem Trieb.[xxviii]
4.2. DIE 'SITTLICHE ENTWICKLUNG' DES MENSCHEN IN DEN NOVELLEN
In allen Novellen der 'Unterhaltungen' wird dieser aus der Rahmenhandlung transformierte Gegensatz thematisch behandelt, allerdings in einer "aufsteigenden Stufenfolge [...] der sittlichen Entwicklung"[xxix]. Dabei kommt es darauf an, was zur Bewältigung der entstandenen Krise getan wird: "ob nichts, etwas oder das Bestmögliche"[xxx].
Die ersten drei Geschichten (die 'Antonelli'-, die 'Klopfgeist'- und die 'Bassompierre'-Novelle) sind der ersten Kategorie zuzurechnen. Die Akteure lassen ihren Neigungen freien Lauf, so daß letztlich auch kein versöhnliches Ende erreicht wird, und -zumindest in den ersten beiden Erzählungen- die unselige Leidenschaft über den Tod hinaus ihr Unwesen treibt. In der vierten, der 'Schleier'-Geschichte wird dann durch Entsagung "eine Stufe erreicht, die sich über den rein naturhaften Zustand erhebt und so die Überleitung bildet"[xxxi] zur dritten Stufe, auf der die Protagonisten der 'Prokurator'- und der 'Ferdinand'-Novelle stehen. Hier vollzieht sich "die Wandlung zum höheren Sein [...], indem die Überwindung und damit die Vermittlung geleistet wird"[xxxii] ; das seelische Gleichgewicht des Menschen zwischen Pflicht und Neigung wird also hergestellt, wobei erst in der letzten Novelle der Konflikt der beiden konträren Positionen völlig innerhalb eines Individuums ausgetragen wird[xxxiii]. Ferdinand erringt aus eigener Kraft den Sieg über sich selbst, während die junge Ehefrau der vorhergehenden Geschichte dazu der Hilfe eines Außenstehenden bedarf. All diesen Erzählungen ist aber eine Wertung der konkurrierenden Gegenpole gemein: stets muß die unheilvolle Neigung zugunsten der 'seligmachenden' Bindung an die Pflicht weichen, was durchaus im Sinne der Goetheschen Revolutionskritik ist. Doch eine endgültige 'Heilung' verspricht das nicht. Erst im Schlußstück der 'Unterhaltungen' -dem 'Märchen'- kommt es zu einer dauerhaften Überbrückung der "von Anbeginn herrschenden Getrenntheit der Ufer"[xxxiv]. Dies bewerkstelligt die Schlange; doch dazu muß sie "sich selbst opfern, sich aufgeben, um etwas anderes zu werden"[xxxv]. Sie wird zur Brücke, zur beständigen Verbindung des Getrennten, zur vermittelnden Instanz der Gegensätze.
[...]
[i] Friedrich Schiller zitiert nach Günter Schulz: Schillers Horen. Politik und Erziehung. Analyse einer deutschen Zeitschrift. Heidelberg: Quelle & Meyer 1960, S.8 (Deutsche Presseforschung, Bd.2)
[ii] Schiller in seiner Einladung an Goethe zit. nach Sigrid Bauschinger: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795). In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler und James E. McLeod. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1985, S.136
[iii] Bernhard Gajek: Sittlichkeit statt Revolution. Die Versöhnung von Pflicht und Neigung als 'Unerhörte Begebenheit'. Zu Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten'(1794/95). In: Vielfalt der Peryspektiven ... Hrsg. von H.-W. Eroms u.a., Passau, 1984, S.152f.
[iv] G. Schulz: Schillers Horen, S.8
[v] G. Schulz: Schillers Horen, S.13
[vi] Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Brief an Schiller vom 10. September 1794. Zit. nach G. Schulz, S.13
[vii] B. Gajek: Sittlichkeit statt Revolution, S.152
[viii] Das Lustspiel 'Der Großkophta'(1791) über die bekannte Halsbandaffäre, sowie 'Der Bürgergeneral'(1793) und 'Die Aufgeregten'(1793/94), letzteres blieb unvollendet.
[ix] eine Bearbeitung der "Geschichte des ehrlichen Prokurators aus dem Boccaz" (aus Schillers Brief an Goethe vom 28.10.1794)
[x] aus Schillers Brief an Körner vom 07.11.1794
[xi] August Wilhelm Schlegel: Aus einer Rezension über "Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von Schiller"(1796). In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil I, 1773-1832. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. München: Verlag C.H. Beck, 1975, S.122
[xii] Der 'Alte' in der Rahmenhandlung der 'Unterhaltungen' über seine Geschichten. Zit. nach: Goethe Novellen. Hrsg. v. Katharina Mommsen. 1.Aufl., Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1979, S.36. (Insel Taschenbuch 425) -Im folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe direkt im Text ohne Fußnote mit der entsprechenden Seitenzahl kenntlich gemacht.
[xiii] Werner Schwan: Goethes 'Wahlverwandtschaften'. Das nicht erreichte Soziale. München: Wilhelm Fink Verlag 1983, S.223
[xiv] ebd.
[xv] W. Schwan: Goethes 'Wahlverwandtschaften', S.222
[xvi] "[...] dass dergleichen Influenzen sich nach Deutschland erstrecken [...]" (Goethe, zit. nach Sigrid Bauschinger: Unterhaltungen..., S.135)
"[...] die Revolution -wie der Krieg eine 'Erbkrankheit der Menschheit'-[...]" (nach Bernhard Gajek: Sittlichkeit statt Revolution, S.156)
Implizit ist dieser Vergleich auch in den 'Unterhaltungen' selbst vorhanden: 1. Die Rahmenhandlung ist dem 'Decamerone' des Boccaccio nachempfunden, bei dem der Grund für die Flucht der Akteure die Pest ist, bei Goethe ist es die Revolution.
2. In der 'Prokurator'-Novelle hat Goethe als Grund für das Gelübde der Titelfigur eine schwere Krankheit genannt, während in allen vorherigen Fassungen dieser Novelle von einem Aufstand, einer Revolution die Rede ist (vgl. dazu auch: Gero von Wilpert: Revolution als Krankheit? Goethes 'Prokurator'-Novelle und die 'Cent nouvelles nouvelles'. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft. Bd. 26 (1991), S.74f.)
[xvii] In diesem Zusammenhang schreibt Helmut Brandt: Entsagung und Französische Revolution. Goethes Prokurator- und Ferdinand-Novelle in weiterführender Betrachtung. In: Deutsche Klassik und Revolution. Hrsg. v. Paolo Chiarini und Walter Dietze. Rom: Edizioni dell' Ateneo 1981, S.225:
"Goethe [...] bedeutete mit dem Blick auf die entwickelte bürgerliche Gesellschaft, daß die scheinbar nur privaten Geschichten in Wahrheit sozial und politisch relevant waren, ja er versuchte den privaten Bereich als jenen darzustellen, von dem her das soziale Leben entscheidend geprägt werden kann."
[xviii] zit. nach G. Schulz: Schillers Horen, S.28
[xix] Goethe in seinem Brief an Schiller vom 01.Oktober 1794
[xx] A.W. Schlegel: Rezension über "Die Horen", S.122
[xxi] Diese Funktion der 'Unterhaltungen' hätte vorausgesetzt, daß die hier dargebotenen Geschichten mit einem ähnlichen Vergnügen von der Leserschaft aufgenommen worden wären, als Goethe beim Erzählen empfand. Dem war nicht so: "[...] sie missfallen durchaus und total [...]"(W.von Humboldt in einem Brief an Goethe, zit. nach S. Bauschinger, S.157). Und Goethe schreibt am 03.Dezember 1795 resigniert zurück: "Sie wissen, weit darf man nicht in's deutsche Publikum hineinhorchen, wenn man den Muth zu arbeiten behalten will."
[xxii] In der Einleitung zum 1.Heft, in dem auch jenes erste Stück der 'Unterhaltungen' erschien.
[xxiii] Der Rhein hat neben der Rolle als geographische Trennlinie der politischen Gebiete auch die Funktion einer symbolischen Grenze zwischen den beiden politischen Anschauungen. Insofern kann hier durchaus eine Beziehung gesehen werden zu dem Fluß im 'Märchen'.
[xxiv] Die Baronesse in den 'Unterhaltungen': "Es wäre töricht, wenn ich das Interesse abzulenken gedächte, das jedermann an den großen Weltbegebenheiten nimmt, deren Opfer wir leider selbst schon geworden sind."(24f.)
[xxv] B. Gajek: Sittlichkeit statt Revolution, S.157
[xxvi] Ilse Jürgens: Die Stufen der sittlichen Entwicklung in Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten". In: WW 6 (1955/56), S.336
[xxvii] Bei diesem thematischen Vergleich zwischen Rahmenhandlung und Novellen wird man unwillkürlich an Goethes Brief an Iken vom 23. September 1827 erinnert: "Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren." Diese Spiegelung läßt sich auch auf das Verhältnis zwischen Schillers 'ästhetischen Briefen' und den 'Unterhaltungen' beziehen. Goethe illustriert z.B. Schillers 5.Brief "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" in der 'Ferdinand'-Novelle (vgl.: S.Bauschinger, S.155). Auch die Novellen unter sich sind als Parallelgeschichten konzipiert.
[xxviii] vgl. dazu auch I.Jürgens: Die Stufen der sittlichen Entwicklung, S.336: Hierin findet sich die "Grundeinsicht der Goetheschen Lebensschau, daß alles Lebendige naturhaft dem Gesetz der Polarität unterworfen ist", wieder. Doch im Unterschied zur Natur, in der sich "Systole und Diastole, [...] Zusammenzug und Ausdehnung, Beschränkung und Entschränkung" gegenseitig bedingen und ergänzen, kann der Mensch als gesellschaftlichen Zwängen ausgesetztes "sittliches Wesen" diesen "Ur-Gegensatz [...] oft nicht zur Vermittlung" bringen.
[xxix] ebd.
[xxx] ebd.
[xxxi] I.Jürgens: Die Stufen ..., S.338
[xxxii] I.Jürgens: Die Stufen..., S.339
[xxxiii] entsprechend dem Gedanken Fichtes, daß man sich nicht durch andere, sondern durch sich selbst bestimmen lassen müsse (vgl. G. Schulz: Schillers Horen, S.95)
[xxxiv] Erich Trunz: Kommentar zu den 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten'. In: Goethes Werke (=Hamburger Ausgabe). Band VI, Romane und Novellen. 10.Aufl., München: C.H.Beck 1981, S.621 (vgl. auch Anm. 23)
[xxxv] ebd.
- Citar trabajo
- M.A. Jürgen Grohs (Autor), 1994, Die 'Prokurator'-Novelle in Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' - Ein Exempel für die soziale Relevanz individueller Selbstbeherrschung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29222
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